Wolf Günter Thiel Suplement_1
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Anstelle eines Editorials zum Verständnis<br />
Wir leben in einem alten, renovierten Schulgebäude auf<br />
der Stadtinsel Havelberg innerhalb der Havel zwischen<br />
Berlin und Hamburg. Der Ort ist umgeben von zwei großen<br />
Biosphären, dem Biosphärenreservat Mittelelbe und dem<br />
Elbe-Havel Winkel. Ein Biosphärenreservat ist eine Naturund<br />
Kulturlandschaft, in der der nachhaltige Umgang mit<br />
den Ressourcen der Natur beispielhaft erprobt, erforscht<br />
und gelebt wird. Ein Großteil des Elb-Havel-Winkels ist Teil<br />
des UNESCO Biosphärenreservates Mittelelbe. Aus diesem<br />
Grund ist die Landwirtschaft in Havelberg zu 100%<br />
nachhaltig und ökologisch. Es gibt zudem eine aus dem<br />
Mittelalter bis heute andauernde Tradition der Selbstversorgung.<br />
Im weiteren Umfeld befinden sich Windparks.<br />
Wir leben so zu sagen in einem real-utopischen Szenario.<br />
In den Jahren 2000 bis heute gab und gibt es eine ganze<br />
Vielzahl von Künstlern und Freiberuflern, die sich mit dem<br />
Leben im Berliner Umland beschäftigten. Die Lebenshaltungskosten<br />
in Berlin stiegen durch Effekte der Gentrifizierung<br />
sehr stark an und wurden durch Effekte der Pandemie<br />
oftmals unbezahlbar. So haben eine ganze Vielzahl<br />
von Künstler*Innen und Freiberufler*Innen teilweise große<br />
Häuser zuerst sehr günstig und heute immer teuerer im<br />
Umland gekauft. Örtlichen Investoren waren an ihnen<br />
nicht interessiert, weil man sich so schien es mitten im<br />
Prozess der Landflucht befand. Für uns und andere stellte<br />
sich das anders da, da wir in den Häusern von Anfang an<br />
provisorisch gelebt und gearbeitet haben. Oftmals hat<br />
man uns als Freaks oder einfach als die Künstler abgetan.<br />
Erst in diesem Januar 2022. Nach sieben Jahren haben<br />
wir die Renovierung und Restaurierung des Gebäudes<br />
abschliessen können. Sehr schnell wurde uns bewusst<br />
das das Haus im kollektiven Gedächtnis der Kleinstädter<br />
eine wichtige Rolle spielte. Alles was wir machten wurde<br />
kritisch beobachtet und hinter vorgehaltener Hand<br />
kommentiert. Dem sind wir proaktiv begegnet indem wir<br />
zu kulturellen Veranstaltungen eingeladen haben haben.<br />
Wir strebten einen möglichst hohen Grad an Transparenz<br />
an und wurden so über die Jahre als die sogenannten<br />
„Künstler“ sozialisiert.<br />
Wir arbeiten als Grafikerin und Fotografin seit 2018 vor<br />
Ort und gestalten Einladungskarten, Plakate, Broschüren,<br />
Magazine und Kataloge für Vereine, Kultureinrichtungen<br />
und einzelne Künstler im regionalen, überregionalen und<br />
internationalen Zusammenhang. Wir arbeiten als Kunstund<br />
Kulturwissenschaftler und seit 2016 als Dozent in<br />
der Erwachsenenbildung im Bereich Reintegration von<br />
Arbeitslosen ALG1 Empfängern in den ersten Arbeitsmarkt.<br />
Diese Kombination scheint im ersten Moment ungewöhnlich<br />
und erst bei näherer Betrachtung wird der Zusammenhang<br />
verständlich. Angewandte Sozialforschung<br />
ist eine gute Bezeichnung für unsere eigene Aufbauarbeit.<br />
Ich wurde von dem sozialen Bildungsträger BVH Anfang<br />
2017 angefragt, ob ich nicht als Dozent in der Erwachsenenbildung<br />
arbeiten wollte. Da sich das Büro nur 200<br />
Meter entfernt von unserem Haus befand entschied ich<br />
dies zu tun. Ich arbeite seither in der Erwachsenenbildung<br />
zuletzt in der Kreisstadt Stendal. Diese Arbeit brachte es<br />
mit sich, das sich unsere Vermittlungskompetenz nicht<br />
nur im sozialen sondern auch im kulturellen Feld erheblich<br />
steigerte. Ich verstand das die Vermittlung von Kultur im<br />
ländlichen Raum nur durch eine begleitende soziale Arbeit<br />
wirklich möglich sein würde.<br />
Seit 2018 veranstalten wir Ausstellungen, Lesungen und<br />
Symposien und Workshops. Wir haben Schriftsteller*Innen,<br />
Architekt*Innen und Wissenschaftler*Innen zu Vorträgen<br />
und Künstler*Innen zu Präsentationen ihrer Arbeit<br />
eingeladen. Wir haben mit anderen Vereinen und Trägern<br />
zusammen gearbeitet. Mit diesem STAR Heft stellen wir<br />
erstmals unsere Arbeit in Wien vor und wir sind unserem<br />
Freund Heidulf Gerngross sehr dankbar für diese Möglichkeit.<br />
SUSANNE KNAACK | o. T. , Acryl auf Leinwand, 200 x 150cm, 2014<br />
Copyright Bildrechte: bei den Künstlern und Anke Leonhardt<br />
SUSANNE KNAACK<br />
OLD SCHOOL ICA | Havelberg<br />
2023