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D A S K U L T U R M A G A Z I N - Strandgut

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Andreas Maier schreibt seine Wetterau-Weltgeschichte weiter<br />

Ein schwieriges Kind<br />

Maier, das war nicht unbedingt zu erwarten, ist ein Markenname<br />

geworden. Als Schriftsteller. Sogarals Heimatschriftsteller? Nein!<br />

Oder doch? Dann nämlich, wenn die Heimat, im vorliegenden<br />

Fall die Wetterau, jene Kante zwischen Bad Nauheim und<br />

Friedberg, so klein und provinziell sie auch sein mag, sich,<br />

wie immer bei ihm, öffnet: zur Welt. Andreas Maier hat sich<br />

tatsächlich viel vorgenommen. Er greift, wie vor ihm die Größten<br />

seiner Zunft, nach den Sternen. Er will erzählend, in einem Zyklus,<br />

der auf stolze elf Bände angelegt ist, eine ganze Welt entwerfen.<br />

Vom »Zimmer«, so hieß das erste Buch, im vergangenen Jahr<br />

erschienen, über das »Haus«, dem zweiten Band, bis hin, so<br />

sagt er es selbst, bis hin zum lieben Gott. Das alles könnte<br />

aufgeblasen klingen. Ist es aber nicht. Im Gegenteil.<br />

Es ist kurz vor sieben, der sechsjährige<br />

Andreas, gerade aufgewacht,<br />

liegt wie gelähmt im Bett. Voller<br />

Panik denkt er daran, was ihm<br />

bevorsteht. Seine Mutter wird ihn<br />

gleich aus dem Bett treiben. Aber<br />

vielleicht, hofft er inständig, ist<br />

»noch nicht alles völlig zerstört«.<br />

Er hofft auch, daß seine Angst vor<br />

der Schule, den Kindern, die herumtoben,<br />

schreien, ihn hänseln<br />

und schlagen, »vielleicht nur ein<br />

schlimmer Traum« war. Dabei<br />

hatte er doch in seinen ersten<br />

Lebensjahren so etwas wie Glück<br />

erlebt. Zumindest den Reden<br />

seiner Eltern zufolge war er »ein<br />

unkompliziertes Kind mit einem<br />

sonnigen Gemüt«. Urgroßmutter<br />

Else kümmerte sich um ihn, nannte<br />

ihn liebevoll »mein Bubchen« und<br />

ließ ihn die Enten im Kurpark von<br />

Bad Nauheim füttern. Denn seine<br />

Eltern hatten nur wenig Zeit für<br />

ihre Kinder. Die Mutter leitete als<br />

Chefin den ererbten Familienbe-<br />

trieb, ein Steinmetz-Unternehmen.<br />

Der Vater war Abteilungsleiter bei<br />

der Henninger Brauerei in Frankfurt.<br />

Andreas ist drei Jahre alt, als<br />

die Eltern ein riesiges Haus bauen.<br />

Es hat diesem Roman den Titel gegeben.<br />

In der protzigen Villa, einem<br />

Marmorpalast, fühlt sich der kleine<br />

Andreas völlig verloren, er liebte<br />

die alte, enge, mit Möbeln voll gestellte<br />

Wohnung. Vom »Foyer«, wie<br />

er die Diele nennt, führt eine breite<br />

Marmortreppe in den Keller. Dem<br />

Kind kommt es »wie ein Schlund«<br />

vor, in den man hineingezogen<br />

wird. Die ältere boshafte, deshalb<br />

auch gefürchtete Schwester liebt<br />

es, ihn dort einzusperren. Der<br />

kleine Junge ist inzwischen zum<br />

»Problemandreas« geworden. Er<br />

weigert sich zu sprechen, doch<br />

schon nach dem ersten Tag im<br />

Kindergarten droht er, »er würde<br />

unter das nächste Auto laufen,<br />

(...) wenn sie mich noch einmal<br />

dorthin brächten«. Die gemeinsa-<br />

men Abendessen werden zu den<br />

»schlimmsten Stunden des Tages«.<br />

Andreas leidet besonders unter<br />

den hysterischen Wutanfällen der<br />

zwei Jahre älteren Schwester, »die<br />

plötzlich laut aufschrie oder zu<br />

heulen begann oder ihr Käsebrot<br />

gegen die Wand warf«. »Hatte sie<br />

das Brot geworfen, schrie sie noch<br />

lauter, denn nun hatte sie ja kein<br />

Brot mehr.« (Autobiographischen<br />

Gehalt vorausgesetzt, möchte man<br />

die Schwester gerne bei der Lektüre<br />

dieses Buches sehen: sie bekommt<br />

so richtig ihr Fett ab.) Selbst der<br />

drei Jahre ältere, an sich nette und<br />

in sich gekehrte Bruder, wird von<br />

dem Mädchen terrorisiert. Lustvoll<br />

zerstört sie zum Beispiel seine mit<br />

viel Geduld gebastelten Modellflugzeuge.<br />

Die Eltern halten sich<br />

aus diesen Auseinandersetzungen<br />

hilflos heraus und überlassen die<br />

Kinder sich selbst. Sie sind überfordert,<br />

schreien nicht, schlagen nicht,<br />

machen nichts. Schlimmer noch,<br />

sie interessieren sich nicht wirklich<br />

für ihre Kinder.<br />

Das »Haus« besteht aus zwei<br />

gleichlangen Teilen, die mit »Drinnen«<br />

bzw. »Draußen« überschrieben<br />

sind. Drinnen bleibt, trotz vieler<br />

Angst erregender Erfahrungen,<br />

immer noch ein Raum der Geborgenheit.<br />

Bis zum Schulbeginn. Da<br />

geht es dann richtig los.<br />

Im zweiten Teil, »Draußen« beginnt<br />

die Hölle, ein echtes Martyrium.<br />

Dem kleinen Andreas steht<br />

eine Zeit der Qualen bevor. Er fühlt<br />

sich gepeinigt, gefoltert.<br />

Nur schreibend, und zwar aus der<br />

Geborgenheit des Zimmers, in dem<br />

einst der Onkel (aus dem Roman<br />

»Das Zimmer«) lebte, kann sich<br />

der erwachsene Andreas in die Zeit<br />

seiner Kindheit zurückversetzen,<br />

»um von dort aus alles weitere<br />

aufzubauen, das Haus, meine<br />

Kindheit darin, die Schulzeit,<br />

meine Umgebung, die anderen<br />

Menschen… meine ganze Herkunft<br />

und schließlich die ganze Welt<br />

bis zum lieben Gott.« Da hat sich<br />

Andreas Maier viel vorgenommen.<br />

Aber wie es scheint, gibt diese stark<br />

an der eigenen Biographie entlang<br />

geschriebene Geschichte dieser<br />

Familie noch viel, viel Stoff her. Wir<br />

sind gespannt.<br />

Sigrid Lüdke-Haertel<br />

Andreas Maier:<br />

»Das Haus«.<br />

Roman.<br />

Suhrkamp Verlag,<br />

Berlin, 2011,<br />

165 S., 17,95 €<br />

Literatur<br />

Isolde Ohlbaums neue<br />

»Photographien«:<br />

»Der Mensch möchte Fisch<br />

sein und Vogel«<br />

Natürlich<br />

wirken die Tiere<br />

nicht immer<br />

Es sind einfach dolle Fotos. Ein<br />

Mädchen mit einer Ziege auf<br />

der Schulter. Zwei junge Frauen,<br />

gebückt in dichtem Gebüsch, mit<br />

Bulldoggen zwischen den Knien.<br />

Drei Möpse, allein auf weiter Flur.<br />

Ein Dackel, der aus Groß-Gerau<br />

stammt, wie das Kennzeichen<br />

des Cabriolets verrät, allein in<br />

dem Auto, in München fotografiert.<br />

Robert Gernhardt mit seiner<br />

Bella. Beide präsentieren sich,<br />

Blick zur Kamera, mit einem ähnlichen<br />

Gesichtsausdruck, ernst<br />

und zugleich freundlich, wenn<br />

auch leicht melancholisch der<br />

ganzen Welt. Dazu Meerschweinchen,<br />

Echsen und Schlangen.<br />

Schweine, Affen und Schnecken.<br />

Und viele, viele Katzen, die als<br />

Kinderspielzeug dienen, Joseph<br />

von Westphalen aus dem Pullover<br />

wachsen, mit Elke Heidenreich<br />

schmusen, oder, wie Olga, aus<br />

Berg/Starnberg, über die Tasten<br />

eines Flügels schleichen, und oft<br />

vor oder zwischen Büchern herumspazieren.<br />

Ähnlich wie Joseph<br />

von Westphalen in seiner großartigen<br />

Einleitung durch die nicht<br />

immer einfachen Beziehungswege<br />

führt, die Mensch und Tier<br />

verbinden. Isolde Ohlbaum, als<br />

Schriftsteller-Porträtistin bekannt,<br />

mit ihren »Engel-Büchern«<br />

berühmt geworden, schreibt mit<br />

ihren Bildern Kulturgeschichte.<br />

Man blättert in dem Buch und<br />

erkennt eine Epoche.<br />

slh<br />

Isolde Ohlbaum: »Der Mensch möchte<br />

Fisch sein und Vogel«.<br />

Haus Tier Mensch. Photographien.<br />

Verlag Schirmer/Mosel, 151 S., 29,80 €<br />

<strong>Strandgut</strong> 02/2012 | 27

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