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Herman Nohl und der Pädagogische Bezug als ... - hannahdenker.de

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Vertiefungsseminar: Klassiker/innen <strong><strong>de</strong>r</strong> Sozialpädagogik<br />

Dozentin: Anja Wilharm<br />

Modul: 19605000 Sozial- <strong>und</strong> I<strong>de</strong>engeschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> SA/SP<br />

<strong>Herman</strong> <strong>Nohl</strong> <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Pädagogische</strong> <strong>Bezug</strong> <strong>als</strong> Professionsverständnis<br />

Vorgelegt von:<br />

Dipl.-Psych. Hannah Uhle<br />

Veerßer Str. 20<br />

29525 Uelzen


Inhaltsverzeichnis<br />

1. Einleitung...............................................................................................................................1<br />

2. Biographischer Abriss..........................................................................................................1<br />

3. Der „pädagogische <strong>Bezug</strong>“ <strong>als</strong> praxisnahe Leiti<strong>de</strong>e <strong>Herman</strong> <strong>Nohl</strong>s................................4<br />

4. Menschenbild.........................................................................................................................9<br />

5.1 Der „pädagogische <strong>Bezug</strong>“ in <strong><strong>de</strong>r</strong> Sozialpädagogischen Praxis.....................................11<br />

5.2 Die Lehrerpersönlichkeit.................................................................................................13<br />

6. Schlusswort..........................................................................................................................13<br />

Literatur...................................................................................................................................15


1. Einleitung<br />

Schon Bittner (1997: 358) hat in seiner Pestalozzi-Studie <strong>de</strong>utlich gemacht, dass „je<strong>de</strong><br />

Wahrheit über Menschliches <strong>und</strong> Geschichtliches, <strong>als</strong>o auch je<strong>de</strong> ‚pädagogische’ Wahrheit“<br />

aus <strong>de</strong>m „Kontext einer je individuellen Biographie“ (ebd.) entsteht. Dabei bezieht Bittner<br />

sich explizit auf einen „Vater“ <strong>Nohl</strong>s, Wilhelm Dilthey, wenn er von <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

„erkenntnistheoretisch f<strong>und</strong>amentale Be<strong>de</strong>utung <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbstbiographie“ (ebd.) <strong>als</strong> Gr<strong>und</strong>lage<br />

<strong>de</strong>s geisteswissenschaftlichen Erkenntnisgewinns schreibt. „Je<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> etwas von <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

menschlichen, <strong><strong>de</strong>r</strong> sozialen Welt mit ihren Be<strong>de</strong>utungshorizonten verstehen will, sieht sich<br />

zuerst auf sein eigenes Leben verwiesen, das für ihn das unmittelbar gegebene Stück Welt <strong>und</strong><br />

Leben überhaupt darstellt“ (ebd.).<br />

In diesem Sinne wird, ausgehend von einer biographischen Skizze <strong>Herman</strong> <strong>Nohl</strong>s, eine<br />

zentrale Frage seiner ‚Theoriebildung’ dargelegt <strong>und</strong> in Anbetracht <strong><strong>de</strong>r</strong> Fülle seiner Werke<br />

(<strong>und</strong> Kontexte) auf <strong>de</strong>n für das pädagogische – o<strong><strong>de</strong>r</strong> spezieller lehren<strong>de</strong> - Umfeld zentralen<br />

Aspekt <strong>de</strong>s „<strong>Pädagogische</strong>n <strong>Bezug</strong>es“ fokussiert, um daraus Rückschlüsse über <strong>Nohl</strong>s<br />

Menschenbild ableiten zu können. Schließlich wird diese historische <strong>und</strong> theoretische<br />

Annäherung in kritischen Überlegungen zur Anwendbarkeit in sozialpädagogischen<br />

Einrichtungen <strong>und</strong> berufsbil<strong>de</strong>nen Schulen mün<strong>de</strong>n.<br />

2. Biographischer Abriss<br />

<strong>Herman</strong> <strong>Nohl</strong> ist am 7. Oktober 1879 in Berlin geboren. Er wächst mit zwei Geschwistern,<br />

Ella <strong>und</strong> Johannes, auf. (Vgl. Blickenstorfer 1998: 27, Klika 2000: 133) Dabei stammt er aus<br />

einer Pädagogenfamilie, <strong><strong>de</strong>r</strong> Vater arbeitet <strong>als</strong> Gymnasiallehrer (vgl. Blickenstorfer 1998: 27)<br />

<strong>und</strong> die Mutter – über die allerdings wenig bekannt ist – hat zumin<strong>de</strong>st in Berlin einen Kurs<br />

für Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gärtner 1 absolviert (vgl. Klika 2000: 133). Nach Klika (ebd.) war <strong><strong>de</strong>r</strong> Verlust seiner<br />

Mutter mit drei Jahren schmerzlich <strong>und</strong> konnte durch die Zuwendungen seitens <strong>de</strong>s Vaters<br />

nicht kompensiert wer<strong>de</strong>n. Die Autorin sieht darin einen Gr<strong>und</strong> für <strong>Nohl</strong>s Hinwendung zur<br />

Tiefenpsychologie <strong>und</strong> seinem anthropologischen Mo<strong>de</strong>ll (vgl. ebd.: 137). <strong>Nohl</strong> selbst<br />

bezeichnet die Familie „<strong>als</strong> das vitale Gehäuse, das <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch fast schneckenhaft wie ein<br />

Stück seines eigenen Seins sein lebenslang mit sich herumträgt, <strong>und</strong> wo sie einen Bruch hatte,<br />

1 Im Folgen<strong>de</strong>n wird das generische Maskulinum verwen<strong>de</strong>t, um die Leserlichkeit <strong>de</strong>s Textes zu bewahren. Es<br />

wird darum gebeten, dabei das weibliche Geschlecht mitzu<strong>de</strong>nken.<br />

1


macht sich das im Charakter <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s bemerkbar“ (<strong>Nohl</strong> 1970: 171) <strong>und</strong> beschreibt damit<br />

auch ein Stückweit seine eigene Lebenserfahrung. Der Vater holt zur haushälterischen<br />

Unterstützung seine Schwester Hermine nach Berlin, die resolut <strong>de</strong>n Haushalt führt <strong>und</strong> damit<br />

für die Wilheminische Ära ein ungewöhnliches Frauenbild verkörpert (vgl. Klika 2000: 138f).<br />

Auch hier muss <strong>Nohl</strong> erneut <strong>de</strong>n Verlust einer Verwandten hinnehmen, <strong>als</strong> diese 1889 in ihr<br />

Elternhaus zurückkehrt. Hinzu kam nun die Verantwortung für <strong>de</strong>n Hausstand. 1891 heiratet<br />

<strong>Herman</strong> <strong>Nohl</strong>s Vater erneut. Aus dieser Ehe gehen zwei weitere Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>, Doris Elise Lotte<br />

<strong>und</strong> Marie Hil<strong>de</strong>gard, hervor. (Vgl. Klika 2000: 141). Nach Klika (2000: 187) wird durch die<br />

Trennungserfahrungen die Be<strong>de</strong>utung von Gemeinschaft für <strong>Nohl</strong> bereits biographisch<br />

einsichtig.<br />

Nach <strong>de</strong>m Besuch <strong>de</strong>s „Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster“ studiert <strong>Nohl</strong> von<br />

1898 bis 1904 Philosophie, Germanistik, Geschichte <strong>und</strong> Pädagogik bei Paulsen <strong>und</strong> Dilthey<br />

(vgl. Blickenstorfer 1998: 27, Niemeyer 2005: 139). Für Niemeyer (2005: 139) ist <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Ausgangspunkt aus <strong><strong>de</strong>r</strong>en Philosophie für <strong>de</strong>n sozialpädagogischen Kontext <strong>und</strong> die<br />

geistesgeschichtliche Einordnung <strong>Nohl</strong>s relevant. Dilthey spielt im Leben <strong>Nohl</strong>s <strong>als</strong> Gönner<br />

<strong>und</strong> Unterstützer eine zentrale Rolle, verhilft ihm zu einem Stipendium <strong>und</strong> begleitet seine<br />

Dissertation (1904) über „Sokrates <strong>und</strong> die Ethik“. Er ernennt ihn zu seinem Assistenten <strong>und</strong><br />

empfiehlt ihn an Eucken in Jena, wo er sich 1908 mit <strong>de</strong>m Thema „Die Weltanschauungen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Malerei“ habilitiert. (Vgl. Blickenstorfer 1998: 27) In Jena pflegt er Umgang mit<br />

Persönlichkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt, v.a. Figuren <strong>de</strong>s romantisch-i<strong>de</strong>alistischen „Serakreises“. In <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Zwischenzeit hat <strong>Nohl</strong> (1905) Bertha Oser geheiratet. Die bei<strong>de</strong>n haben fünf gemeinsame<br />

Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>. (Vgl. Klika 2000: 189). Blochmann (1969: 49) stellt diese Jahre vor Ausbruch <strong>de</strong>s<br />

Krieges <strong>als</strong> ungetrübtes Familienglück dar. Hier zeigt sich ein Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spruch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Rezeption<br />

von <strong>Nohl</strong>s Leben: Sieht Niemeyer (2005: 139f) diese Zeit <strong>als</strong> eine Phase, in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Nohl</strong> kaum<br />

etwas veröffentlicht hat, so beschreibt Blochmann (1969: 49) diese Zeit <strong>als</strong> Jahre<br />

angestrengter wissenschaftlicher Arbeit.<br />

Ab 1915 leistet <strong>Nohl</strong> Militärdienst, wo er zur Besatzungsmacht in Gent gehört. Die anfänglich<br />

Kriegsbegeisterung – Niemeyer (2005: 141) spricht von einer völkischen <strong>und</strong><br />

monarchistischen Einstellung- <strong>und</strong> Überzeugung <strong><strong>de</strong>r</strong> Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>s Krieges schlägt im<br />

Verlauf <strong>de</strong>s Krieges – <strong>und</strong> nach <strong>de</strong>m Tod mehrerer Fre<strong>und</strong>e – immer mehr in Verzweiflung<br />

um. Er sieht die Verrohung seiner Mitmenschen mit Erschrecken <strong>und</strong> entwickelt Gedanken<br />

über ein besseres Deutschtum. (Vgl. Blickenstorfer 1998: 28) Blickenstorfer (ebd.: 29) <strong>und</strong><br />

2


Niemeyer (2005: 139f) sehen bei<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Kriegserfahrungen <strong>Nohl</strong>s <strong>de</strong>n Ansatzpunkt zur<br />

Hinwendung zu pädagogischen Fragen. Gemeinsam mit Flitner, <strong>de</strong>n er in Jena kennengelernt<br />

hatte (vgl. Klika 2000: 190), setzt sich <strong>Nohl</strong> nach Kriegsen<strong>de</strong> aktiv für die<br />

Volkshochschulbewegung ein (vgl. Blickenstorfer 1998: 29). Wilhelm Flitner hat zu seinem<br />

Lehrer <strong>Nohl</strong> ein enges Verhältnis. Dieser hat beispielsweise die Eigenheit, seine Studieren<strong>de</strong>n<br />

zu sich nach Hause einzula<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> scheint ernsthaft am Leben seiner Stu<strong>de</strong>nten interessiert<br />

zu sein. (Vgl. Klika 2000: 190f)<br />

Ab 1919 erhält <strong>Nohl</strong> einen Ruf auf eine außeror<strong>de</strong>ntliche Professur für Philosophie an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Universität Göttingen, die 1922 in ein Ordinat (auch für Pädagogik) umgewan<strong>de</strong>lt wird. (Vgl.<br />

Niemeyer 2005: 139) 1923 wird Erich Weniger sein Assistent, dieser wird dann 1949 <strong>Nohl</strong>s<br />

Nachfolger auf seinem Lehrstuhl (vgl. Blickenstofer 1998: 29). <strong>Nohl</strong> wird von seinen<br />

Schülern <strong>als</strong> charismatisch erlebt <strong>und</strong> von Flitner <strong>als</strong> „begna<strong>de</strong>ter Lehrer“ (Flitner 1991: 22,<br />

zitiert nach Niemeyer 2005: 140) bezeichnet. Niemeyer (2005: 141) sieht seinen großen<br />

Einfluss auf die (Sozial-)Pädagogik dann auch eher in seiner Ausstrahlung <strong>als</strong> in seinen<br />

Theorien begrün<strong>de</strong>t <strong>und</strong> meint, dass <strong>Nohl</strong> <strong>als</strong> Theoretiker eher mit Skepsis zu behan<strong>de</strong>ln sei.<br />

Er ist „für die Profession weit wichtiger (…) <strong>als</strong> für die Disziplin“ (Niemeyer 2005: 141) –<br />

will heißen: Für die (sozial-)pädagogische Praxis ist <strong>Nohl</strong> be<strong>de</strong>utsamer <strong>als</strong> für die<br />

wissenschaftliche Theoriebildung. Er führt in pädagogischen Seminaren spezifische<br />

didaktische Kurse für Lehrer <strong>und</strong> verbin<strong>de</strong>t in einer angeschlossenen Schulklasse theoretische<br />

Erkenntnisse mit <strong><strong>de</strong>r</strong> pädagogischen Praxis. Außer<strong>de</strong>m stellt die sozialpädagogische<br />

Ausbildung einen weiteren Schwerpunkt in seiner Arbeit dar: <strong>Nohl</strong> führt während <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

zwanziger Jahre regelmäßig sozialpädagogische Kurse durch <strong>und</strong> regt die Gründung<br />

sozialpädagogischer Einrichtungen an. (Vgl. Blickenstorfer 1998: 29) Zwischen 1933/1935<br />

veröffentlichte er sein Hauptwerk „Die pädagogische Bewegung in Deutschland“ <strong>und</strong><br />

gemeinsam mit Pallat das „Handbuch <strong><strong>de</strong>r</strong> Pädagogik“ (vier Bän<strong>de</strong> 1928-1933). Trotz <strong>de</strong>s<br />

Hinweises von Niemeyer (2005: 141), dass <strong>Nohl</strong> missverständliche Äußerungen gegenüber<br />

<strong>de</strong>n Nation<strong>als</strong>ozialisten geäußert haben soll, wird <strong>Nohl</strong> 1937 seines Amtes enthoben <strong>und</strong> 1943<br />

zur Fabrikarbeit herangezogen. <strong>Nohl</strong> konnte in dieser Phase weiterarbeiten <strong>und</strong> veröffentlichte<br />

u.a. „Einführung in die Philosophie“, „Die ästhetische Wirklichkeit“ (1935) <strong>und</strong> „Charakter<br />

<strong>und</strong> Schicksal“ (1938) sowie „Die sittlichen Gr<strong>und</strong>erfahrungen“ (1939). (Vgl. Blickenstorfer<br />

1998: 30) Im Zuge <strong><strong>de</strong>r</strong> Entnazifizierung im Anschluss an <strong>de</strong>n Zweiten Weltkrieg ist <strong>Nohl</strong> am<br />

Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>aufbau <strong><strong>de</strong>r</strong> Universität <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Lehrerbildung in Göttingen beteiligt, wo er 1946/47<br />

Dekan wird. 1947 wird <strong>Nohl</strong> emeritiert <strong>und</strong> widmet sich <strong><strong>de</strong>r</strong> seit 1945 erscheinen<strong>de</strong>n<br />

3


Zeitschrift „Die Sammlung. Zeitschrift für Kultur <strong>und</strong> Erziehung“. (Vgl. Blickenstorfe 1998:<br />

30; Niemeyer 2005: 139) <strong>Herman</strong> <strong>Nohl</strong> stirbt nach kurzer Krankheit am 27. September 1960<br />

in Göttingen (vgl. ebd.).<br />

3. Der „pädagogische <strong>Bezug</strong>“ <strong>als</strong> praxisnahe Leiti<strong>de</strong>e <strong>Herman</strong> <strong>Nohl</strong>s<br />

<strong>Herman</strong> <strong>Nohl</strong> gilt <strong>als</strong> einer <strong><strong>de</strong>r</strong> Stammväter <strong><strong>de</strong>r</strong> geisteswissenschaftlichen Pädagogik, <strong><strong>de</strong>r</strong> in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Tradition seines Doktorvaters, Wilhelm Dilthey, <strong><strong>de</strong>r</strong> Pädagogik im Gewan<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Sozialpädagogik <strong>de</strong>n Rang eines geisteswissenschaftlichen Zentrums sowohl im<br />

wissenschaftlichen Feld <strong>als</strong> auch im Praxisfeld zuweisen wollte. (Vgl. Niemeyer 2001: 1065,<br />

2005: 150f) In seinem Hauptwerk „Die pädagogische Bewegung in Deutschland <strong>und</strong> ihre<br />

Theorie“ (<strong>Nohl</strong> 1933/35) bemüht er sich darum, die pädagogische Bewegung seiner Zeit <strong>als</strong><br />

sozialpädagogische Bewegung zu lesen <strong>und</strong> strebt die Anwendung allgemein-pädagogischen<br />

Wissens in <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit mit einer beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Klientel an. (Vgl. Niemeyer 2001: 1065)<br />

<strong>Nohl</strong>s Gr<strong>und</strong>lage ist dabei die „Erziehungswirklichkeit“, die im <strong>als</strong> Ausgangspunkt für eine<br />

allgemeingültige Theorie <strong><strong>de</strong>r</strong> Bildung dient. Gr<strong>und</strong>lage seines Bildungsbegriffs ist Diltheys<br />

Konzept, das Bildung <strong>als</strong> eine „planmäßige Tätigkeit, durch welche Erwachsene das<br />

Seelenleben von Heranwachsen<strong>de</strong>n zu bil<strong>de</strong>n suchen“ (GS IX: 190, zitiert nach Uhle 2003:<br />

69) zu verstehen ist. <strong>Nohl</strong> misst im Bildungsprozess <strong>de</strong>m „pädagogischen <strong>Bezug</strong>“ eine<br />

zentrale Rolle zu. Er sieht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gewinnung eines pädagogischen <strong>Bezug</strong>es die Voraussetzung<br />

für ein pädagogisches Verhältnis überhaupt. (Vgl. Colla 1999: 347f)<br />

Was aber be<strong>de</strong>utet „pädagogischer <strong>Bezug</strong>“ im Kontext <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehungswirklichkeit? Der<br />

„pädagogische <strong>Bezug</strong>“ im Sinne <strong>Nohl</strong>s ist von ihm selbst mit folgen<strong>de</strong>n Parametern bestimmt<br />

wor<strong>de</strong>n:<br />

„Gr<strong>und</strong>lage <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung ist die Bildungsgemeinschaft zwischen <strong>de</strong>m Erzieher <strong>und</strong> <strong>de</strong>m<br />

Zögling mit seinem Bildungswillen“ (<strong>Nohl</strong> 1933: 21) Dieses wesentliche Element <strong>de</strong>s<br />

pädagogischen <strong>Bezug</strong>s rekurriert auf zwei zentrale Sachverhalte: So wird hier einerseits die<br />

Wechselseitigkeit im Erziehungsprozess betont. Nur in einer Gemeinschaft ist ein<br />

Bildungsprozess vollziehbar. Gemeinschaft im Sinne <strong>Nohl</strong> be<strong>de</strong>utet eine Arbeitsgemeinschaft<br />

<strong>de</strong>s Aufeinan<strong><strong>de</strong>r</strong>angewiesensein von Zögling <strong>und</strong> Erzieher. An<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits zeigt sich hier <strong>Nohl</strong>s<br />

Menschenbild, wenn er darauf verweist, dass je<strong><strong>de</strong>r</strong> Heranwachsen<strong>de</strong> einen Bildungswillen,<br />

ein Wachstumspotential wie Rogers es wohl nennen wür<strong>de</strong> (vgl. Biermann-Ratje 2003: 86ff),<br />

4


hat. Nach Uhle (2008) be<strong>de</strong>utet Bildung im Sinne <strong>Nohl</strong>s, dass je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch an seiner<br />

Weiterentwicklung bzw. Höherentwicklung interessiert ist, <strong>als</strong>o einen Bildungswillen besitzt.<br />

„Die Gr<strong>und</strong>lage <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung ist das lei<strong>de</strong>nschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu<br />

einem wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Menschen, <strong>und</strong> zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben <strong>und</strong><br />

seiner Form komme“ (<strong>Nohl</strong> 1933: 22)<br />

Wie bei seinem Ziehvater Dilthey bil<strong>de</strong>t auch für <strong>Nohl</strong> das Verhältnis eines erwachsenen<br />

Menschen zu einem jüngeren Menschen die Gr<strong>und</strong>lage für erzieherisches Han<strong>de</strong>ln. Auf diese<br />

Weise wird Erziehung nicht mehr nur in <strong>de</strong>n asymmetrischen Verhältnissen (z.B. Eltern-<br />

Kind), son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch <strong>als</strong> eine persönliche, von Sympathie getragene Wahl nach <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gleichaltrigen-Gruppe gedacht (vg. Colla 1999: 347f). Uhle (2008) verweist darauf, dass<br />

<strong>Nohl</strong> durch diese Bestimmung <strong>de</strong>s pädagogischen <strong>Bezug</strong>es <strong>de</strong>n reformpädagogischen<br />

Gedanken, Jugend erzieht Jugend, ablehnt. Erziehung im Kontext <strong>de</strong>s pädagogischen <strong>Bezug</strong>es<br />

geschieht zwischen Eltern <strong>und</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n, Lehrer <strong>und</strong> Schüler o<strong><strong>de</strong>r</strong> Sozialpädagogen <strong>und</strong><br />

Jugendlichen (Uhle 2008). Es wird nicht bestimmt, wer dieser „reifere Mensch“ sein soll. Das<br />

kann ein Pädagoge sein, aber auch eine <strong>Bezug</strong>sperson aus einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Kontext. Die<br />

Beziehung zwischen Erzieher <strong>und</strong> Zögling soll dabei ein „lei<strong>de</strong>nschaftliches Verhältnis“ sein.<br />

Uhle (2008) gibt zu be<strong>de</strong>nken, dass die Bindungsforschung Belege dafür liefert, dass quasi-<br />

erotische Körperkontakte zu Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n eine notwendige Wachstumsbedingung sind. Dabei<br />

wehrt sich <strong>Nohl</strong> (1933) gegen ein rein sexuelles Verständnis vom Liebesverhältnis <strong>de</strong>s<br />

Erziehers zum Zögling, es hat durchaus sexuelle Implikationen, soll aber zunehmend eine<br />

Lei<strong>de</strong>nschaft für die Talente <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n. Es enthält „viel mehr <strong>als</strong> das sexuelle<br />

Moment“ (<strong>Nohl</strong> 1933: 23). Die Lei<strong>de</strong>nschaft – mit seinen Lei<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Qualen – soll darauf<br />

verweisen, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Erzieher kein bezahlter Profi ist, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n über pädagogischen Eros<br />

verfügt <strong>und</strong> dass Ziel hat, die Potentiale <strong>de</strong>s Heranwachsen<strong>de</strong>n hervorzulocken <strong>und</strong> seine<br />

Individualität wahrzunehmen <strong>und</strong> zu för<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>und</strong> gleichzeitig sicherstellen, dass er<br />

gesellschaftsfähig bleibt. Für <strong>Nohl</strong> liegt dabei <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwerpunkt auf <strong>de</strong>m Aspekt „um seiner<br />

selbst willen“, d.h. <strong><strong>de</strong>r</strong> Erzieher ist nicht Agent objektiver Mächte, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n muss <strong>de</strong>n<br />

hilfsbedürftigen Menschen in seinem Selbst-Sein absolut bejahen. Nicht die Ansprüche <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Gesellschaft, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n die Befindlichkeiten <strong>und</strong> Lernbedürftigkeiten <strong>de</strong>s Heranwachsen<strong>de</strong>n<br />

selbst sind <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausgangspunkt. Die Erziehung geht hier davon aus, welche Schwierigkeiten<br />

das Kind hat, nicht von <strong>de</strong>nen, die es <strong>de</strong>m Erzieher o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Eltern macht. (Vgl. Colla 1999:<br />

348)<br />

5


„Die wahre Liebe <strong>de</strong>s Lehrers ist die heben<strong>de</strong> Liebe <strong>und</strong> nicht die begehren<strong>de</strong>… Die<br />

pädagogische Liebe zum Kind ist die Liebe zu seinem I<strong>de</strong>al... So for<strong><strong>de</strong>r</strong>t die pädagogische<br />

Liebe Einfühlung in das Kind <strong>und</strong> seine Anlagen, in die Möglichkeiten seiner Bildsamkeit,<br />

immer im Hinblick auf sein vollen<strong>de</strong>tes Leben“ (<strong>Nohl</strong> 1933: 23)<br />

Ein pädagogischer <strong>Bezug</strong> im Sinne <strong>Nohl</strong>s for<strong><strong>de</strong>r</strong>t vom Erzieher gleichzeitig Nähe zum<br />

Zögling <strong>und</strong> Distanz zu seinen I<strong>de</strong>alen. <strong>Nohl</strong> verlangt vom Erzieher Respekt vor <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

„Spontaneität <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Eigenwesen <strong>de</strong>s Zöglings“ (<strong>Nohl</strong> 1933: 24). Die F<strong>und</strong>ierung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

pädagogischen Beziehung ist für <strong>Nohl</strong> die pädagogische Liebe nach <strong>de</strong>m Vorbild <strong><strong>de</strong>r</strong> Mutter-<br />

<strong>und</strong> Vaterliebe, die von ihrem instinktiven Verhalten gelöst wird, aber mit sinnlichen<br />

Momenten behaftet bleibt. <strong>Nohl</strong> versteht „heben<strong>de</strong> Liebe“ <strong>als</strong> ein geistiges Verhalten eigener<br />

Art, dass sich auf die höhere Form <strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Menschen richtet. (Vgl. Colla 1999: 349)<br />

Colla (2006: 102) verweist darauf, dass in <strong><strong>de</strong>r</strong> aktuellen Pädagogik, <strong><strong>de</strong>r</strong> pädagogische Eros in<br />

Ungna<strong>de</strong> gefallen ist. Bei Pestalozzi, Ziller, Don Bosco, Wichern, Korczak <strong>und</strong> Spranger<br />

hatte er noch einen großen Stellenwert. Heute spricht man anstelle von Liebe eher von<br />

Verlässlichkeit, Orientierung an Gerechtigkeit (vgl. Colla 2006.: 102) <strong>und</strong> einfühlen<strong>de</strong><br />

Führsorge im Sinne Rogers (vgl. Bierman-Ratjen et al. 2003). Uhle (2004) benennt für diesen<br />

Perspektivwechsel zum einen ein professionsstrategisches Moment, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung <strong>als</strong><br />

bezahlte Dienstleitung vollzogen wird sowie <strong>de</strong>n Erkenntnissen zum sog. Helfersyndrom, die<br />

zeigen, dass selbstlose Hilfe für an<strong><strong>de</strong>r</strong>e eigene Schwächen kompensieren soll. Zu<strong>de</strong>m verweist<br />

Uhle (2004) auf Giesecke, <strong><strong>de</strong>r</strong> eine Gefahr darin sieht, dass affektive <strong>Bezug</strong>ssystem von<br />

Familie in öffentliche Einrichtungen hineinzutragen. Die Qualität eines speziellen<br />

Interaktionsverhältnisses ist inzwischen ein zentraler Gegenstand <strong><strong>de</strong>r</strong> (klinischen)<br />

Therapieforschung gewor<strong>de</strong>n, wobei die Forschungsbef<strong>und</strong>e zu einer rein auf Empathie<br />

gegrün<strong>de</strong>ten Hilfe nicht ein<strong>de</strong>utig ausfallen (vgl. Davison et al. 2002: 37).<br />

„Das Verhältnis <strong>de</strong>s Erziehers zum Kind ist immer doppelt bestimmt: von <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe zu ihm in<br />

seiner Wirklichkeit <strong>und</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe zu seinem Ziel: <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s.“ Die<br />

pädagogische Gemeinschaft wird getragen „von zwei Mächten: Liebe <strong>und</strong> Autorität, o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

vom Kin<strong>de</strong> aus gesehen: Liebe <strong>und</strong> Gehorsam.“ (<strong>Nohl</strong> 1933: 25)<br />

<strong>Nohl</strong> konkretisiert hier das Verhältnis von Erzieher <strong>und</strong> Zögling, in<strong>de</strong>m er auf die<br />

Wechselseitigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Beziehung hinweist. Dabei stehen sich die gegenseitige Liebe <strong>de</strong>s<br />

Erziehers <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Zöglings <strong>und</strong> die Autorität <strong>de</strong>s Erziehers <strong>und</strong> das Gehorsam <strong>de</strong>s Zöglings<br />

gegenüber. Die Liebe im Sinne <strong>Nohl</strong>s darf nicht einseitig sein, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n muss beim<br />

6


Heranwachsen<strong>de</strong>n auf Gegenliebe stoßen. Erziehung <strong>als</strong> Beziehung wie <strong>Nohl</strong> sie versteht,<br />

muss hergestellt wer<strong>de</strong>n, d.h. <strong><strong>de</strong>r</strong> Erzieher muss sich durch Kenntnisse <strong>und</strong> Einfühlung die<br />

Gunst <strong>de</strong>s Zöglings erwerben. Die Autorität <strong>de</strong>s Erziehers soll sich aus <strong>de</strong>n personalen<br />

Eigenschaften <strong>de</strong>s Erziehers entwickeln. <strong>Pädagogische</strong> Beziehungen herzustellen be<strong>de</strong>utet<br />

<strong>de</strong>mnach Anerkennungsverhältnisse aufzubauen. Dies wird einerseits durch Zuwendung <strong>und</strong><br />

Eros an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits durch die Wertschätzung von Leistungen erreicht. (Vgl. Uhle 2008) <strong>Nohl</strong> ist<br />

sich Bewusst, dass erzieherisches Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>n Charakter eines Wagnisses besitzt, das<br />

scheitern kann (vgl. Colla 1999: 350).<br />

„Die Erziehung en<strong>de</strong>t da, wo <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch mündig wird, das heißt nach Schleiermacher, wenn<br />

die jüngere Generation auf selbständige Weise zur Erfüllung <strong><strong>de</strong>r</strong> sittlichen Aufgabe<br />

mitwirkend <strong><strong>de</strong>r</strong> älteren Generation gleichsteht, die Pädagogik hat <strong>als</strong>o das Ziel sich selbst<br />

überflüssig zu machen <strong>und</strong> zur Selbsterziehung zu wer<strong>de</strong>n.“ (<strong>Nohl</strong> 1933: 21)<br />

<strong>Nohl</strong>s Erziehungsziel besteht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Auflösung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft sobald <strong><strong>de</strong>r</strong> Heranwachsen<strong>de</strong><br />

selbst eine reife Persönlichkeit gewor<strong>de</strong>n ist, d.h er verlangt vom Erzieher, dass er sich eng<br />

auf eine Beziehung einlässt <strong>und</strong> gleichzeitig die Ent-Bindung zum obersten Ziel erklärt. (Vgl.<br />

Uhle 2008) Das zunächst asymmetrische Verhältnis soll sich im zeitlichen Verlauf <strong>de</strong>s<br />

<strong>Bezug</strong>es verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Die Autorität sowie das Gehorsam sollen mit zunehmen<strong><strong>de</strong>r</strong> Reife<br />

abnehmen <strong>und</strong> in ein symmetrisches Verhältnis mün<strong>de</strong>n. Gelingt <strong><strong>de</strong>r</strong> pädagogische <strong>Bezug</strong><br />

nicht, dann muss ein Milieuwechsels in Betracht gezogen wer<strong>de</strong>n. (Vgl. Colla 1999: 350f)<br />

Klika (2000: 43) veranschaulicht dieses Spannungsverhältnis graphisch (siehe Abbildung 1),<br />

in<strong>de</strong>m sie Erzieherverhalten <strong>und</strong> Zöglingsbedürfnisse einan<strong><strong>de</strong>r</strong> gegenüberstellt.<br />

7


Zögling<br />

Selbstbewahrung �� Hingabe<br />

Doppelte Spannung <strong>de</strong>s pädagogischen <strong>Bezug</strong>es:<br />

Abbildung 1: Struktur <strong><strong>de</strong>r</strong> pädagogischen Beziehung nach Klika (2000: 43)<br />

Der Erzieher hat bei <strong>Nohl</strong> eine Doppelfunktion: Er ist sowohl Anwalt <strong><strong>de</strong>r</strong> Kultur <strong>und</strong> ihrer<br />

Werte <strong>und</strong> Sinngehalte <strong>und</strong> er ist Anwalt <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Diese Spannungszustän<strong>de</strong> muss <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Erzieher bei <strong>Nohl</strong> aushalten können. (Vgl. Uhle 2008)<br />

Erzieher<br />

Zurückhaltung � � Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungswille<br />

Liebe �� Gehorsam Liebe �� Autorität<br />

Beziehung ist getragen von zwei Potentialen,<br />

realisiert in Bildungsgemeinschaft � keine Zweck-Mittel-Beziehung<br />

Basis: gegenseitiges Vertrauen<br />

Ein zentrales Element in <strong><strong>de</strong>r</strong> Theorie <strong>de</strong>s pädagogischen <strong>Bezug</strong>es ist <strong><strong>de</strong>r</strong> auf Herbart (1802)<br />

zurückgehen<strong>de</strong> Gr<strong>und</strong>gedanke eines pädagogischen Taktes, <strong><strong>de</strong>r</strong> es <strong>de</strong>m Erzieher erst<br />

ermöglicht die genannten Spannungszustän<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n Zögling för<strong><strong>de</strong>r</strong>lich umzu<strong>de</strong>uten (vgl.<br />

Colla 1999: 349). „(…) <strong><strong>de</strong>r</strong>en feinster Ausdruck ein pädagogischer Takt ist, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m Zögling<br />

auch da nicht ‚zu nahe tritt’, wo er ihn steigern o<strong><strong>de</strong>r</strong> bewahren möchte, <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> spürt, wenn<br />

eine große Sache nicht pädagogisch klein gemacht wer<strong>de</strong>n darf“ (<strong>Nohl</strong> 1933: 24).<br />

Colla (1999: 349) sieht im pädagogischen Takt das Bin<strong>de</strong>glied zwischen (empirischer)<br />

pädagogischer Wissenschaft <strong>und</strong> pädagogischer Praxis verwirklicht. Das Wissen um die<br />

Komplexität <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufgabe bei gleichzeitiger Sensibilität für die Situation gibt <strong>de</strong>m Erzieher<br />

Sicherheit für sein tägliches han<strong>de</strong>ln. Der pädagogische Takt ist seit Herbart ein Element <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

pädagogischen Kunst, das angewiesen ist auf <strong>de</strong>n Beitrag <strong><strong>de</strong>r</strong> Theorie. Als kontaktsteuern<strong>de</strong><br />

Funktion ermöglicht er <strong>de</strong>m Erzieher im richtigen Moment situationsadäquat zu han<strong>de</strong>ln. Er<br />

kann auf dieser Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>m Zögling <strong>de</strong>n notwendigen Freiraum geben, damit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zögling<br />

unter <strong><strong>de</strong>r</strong> Dominanz <strong>de</strong>s Erwachsenen seine Selbständigkeit bewahren kann <strong>und</strong> ermöglicht<br />

8


<strong>de</strong>m Erzieher Raum für Beobachtung <strong>und</strong> Selbstkontrolle. (Vgl. Colla 1999: 349) <strong>Nohl</strong><br />

erweitert das dyadische Konzept <strong>de</strong>s pädagogischen <strong>Bezug</strong>es 1952 auf Gruppenprozesse. Die<br />

Spannung <strong>de</strong>s Schülers besteht dann eher zu <strong><strong>de</strong>r</strong> sozialen Gruppe, in die er hineinwachsen<br />

will. Der Lehrer bzw. Erzieher wird mehr zum Helfer bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Lebensbewältigung (vgl. Colla<br />

1999: 351)<br />

Ein kritischer Blick auf die Theorie <strong>de</strong>s pädagogischen <strong>Bezug</strong>es könnte mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage<br />

eingeleitet wer<strong>de</strong>n, ob eine pädagogische Beziehung generell so umfassend, eng, emotional<br />

<strong>und</strong> <strong>und</strong>istanziert sein darf, wie <strong>Nohl</strong> es in <strong>de</strong>n genannten Gr<strong>und</strong>lagen <strong>de</strong>s pädagogischen<br />

<strong>Bezug</strong>es for<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Uhle (2008) bemerkt, dass Lehrer o<strong><strong>de</strong>r</strong> Erzieher, die sich umfassend an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Person orientieren, schnell <strong>de</strong>m Vorwurf ausgesetzt sind, dass sie in die Privatsphäre <strong>de</strong>s<br />

Heranwachsen<strong>de</strong>n eingreifen. Ein sagenumwobener pädagogischer Takt ist nur scheinbar eine<br />

Lösung, da er in seiner Unschärfe <strong>und</strong> mit seiner Konnotation von „Kunst“ schwer<br />

realisierbar scheint. Uhle (2008) rekurriert auf Giesecke <strong>und</strong> for<strong><strong>de</strong>r</strong>t in seinem Sinne eine<br />

Form <strong><strong>de</strong>r</strong> affektiven Neutralität, die sowohl Ganzheitlichkeit <strong>als</strong> auch Professionalität<br />

einschließt. Giesecke spricht sich aber gleichzeitig gegen eine Überformung von affektiver<br />

Neutralität aus. Es soll nicht zu Gleichgültigkeit <strong>und</strong> Kälte führen. An die Stelle von Liebe<br />

sollte statt <strong>de</strong>ssen Verlässlichkeit, die Orientierung an Gerechtigkeit <strong>und</strong> empathische<br />

Einfühlung treten. Sowohl Colla (1999) <strong>als</strong> auch Uhle (2008) sehen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Theorie <strong>de</strong>s<br />

pädagogischen <strong>Bezug</strong>es ein Mo<strong>de</strong>ll – o<strong><strong>de</strong>r</strong> Schema – das zum Weiter<strong>de</strong>nken auffor<strong><strong>de</strong>r</strong>n soll.<br />

Für bei<strong>de</strong> Autoren heißt das, Erziehung nicht <strong>als</strong> Geschäftspartnerschaft misszuverstehen <strong>und</strong><br />

die problematische Relation von Nähe <strong>und</strong> Distanz wissenschaftsgeleitet zu reflektieren.<br />

4. Menschenbild<br />

Aus <strong>de</strong>n oben genannten Ausführungen zum pädagogischen <strong>Bezug</strong> lassen sich Rückschlüsse<br />

auf <strong>Nohl</strong>s Menschenbild ableiten. Das Primat <strong><strong>de</strong>r</strong> Person, <strong>als</strong>o die spezifische Eigenart <strong>de</strong>s<br />

Zöglings gegenüber gesellschaftlich bedingten Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen, zeigt <strong>Nohl</strong>s Ablehnung<br />

jeglicher Lenkung <strong><strong>de</strong>r</strong> pädagogischen Arbeit durch kulturelle, kirchliche, wirtschaftliche o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

politische Institutionen. Die individuelle Selbstentfaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Heranwachsen<strong>de</strong>n unter<br />

Anleitung eines reifen Menschen macht das Spezifikum eines gelungenen pädagogischen<br />

Verhältnisses <strong>und</strong> damit <strong><strong>de</strong>r</strong> Heranbildung eines mündigen Menschen aus. Ein „höheres<br />

Selbst“ bil<strong>de</strong>t sich jedoch nicht lediglich autopoietisch, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n muss intentional gesteuert<br />

wer<strong>de</strong>n (vg. Klika: 42). Damit grenzt er sich von <strong><strong>de</strong>r</strong> durchaus mit Hochachtung beobachteten<br />

Jugendbewegung ab.<br />

9


Nach <strong>Nohl</strong> gibt es zwei gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong> - <strong>und</strong> für Erziehung unverzichtbare- Sichtweisen <strong>de</strong>s<br />

Menschen: Eine realistische Sichtweise, die <strong>de</strong>n Menschen in seinem wirklichen So-Sein, <strong>de</strong>n<br />

Menschen mit seinen Gewohnheiten, seinem Verhalten <strong>und</strong> seinem Han<strong>de</strong>ln, seiner<br />

Lebenswelt, wahrnimmt. Und eine i<strong>de</strong>ale Sichtweise, die in <strong>de</strong>m Menschen die Potentiale,<br />

verborgenen Fähigkeiten <strong>und</strong> Bestimmungen erkennt. (Vgl. Maier 1992: 69) Uhle (2008)<br />

beschreibt diese zwei Positionen <strong>als</strong> Ist-Zustand <strong>und</strong> Soll-Zustand <strong>de</strong>s Menschen.<br />

„Die Gr<strong>und</strong>einstellung, mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Pädagoge <strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong> gegenübersteht, ist <strong>als</strong>o eine<br />

eigentümliche Mischung von realistischem <strong>und</strong> i<strong>de</strong>alem Sehen, die sich ergibt aus <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Einsicht in die Zweiseitigkeit im Wesen <strong>de</strong>s Menschen“ (<strong>Nohl</strong> 1979: 16).<br />

Die Beschreibung <strong>und</strong> Akzeptanz dieser dialektische Spannung ist die Gr<strong>und</strong>lage dafür, <strong>Nohl</strong><br />

einem i<strong>de</strong>alistisch-naturalistischen Menschenbild (Colla 1999: 352) zuordnen zu können. Als<br />

Ziehsohn Wilhelm Diltheys steht er in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tradition einer geisteswissenschaftlichen<br />

Pädagogik, wenn er sich auch von Dilthey entfernt, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>ssen Gr<strong>und</strong>legung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Pädagogik <strong>als</strong> psychologische interpretiert (vgl. Blickenstorfer 1998: 94f). Seinem<br />

Menschenbild folgend ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch zuallererst ein Geistesprodukt <strong>und</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s die<br />

Psychoanalyse droht mit ihrem <strong>de</strong>terministisch-materialistischen Blick auf die menschlichen<br />

Abgrün<strong>de</strong> die Freiheit <strong>de</strong>s Geistes zu beschnei<strong>de</strong>n (vgl. Niemeyer 2005: 156). Dies<br />

Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spricht <strong>Nohl</strong>s Bild von einem Individuum, dass die Fähigkeit zur Selbstständigkeit <strong>und</strong><br />

Mündigkeit besitzt. (Vgl. Maier 1992: 65ff)<br />

10


5. „<strong>Pädagogische</strong> <strong>Bezug</strong>“ <strong>als</strong> Element von pädagogischer Praxis <strong>und</strong> Professionalität?<br />

5.1 Der „pädagogische <strong>Bezug</strong>“ in <strong><strong>de</strong>r</strong> Sozialpädagogischen Praxis<br />

Thole <strong>und</strong> Cloos (2006: 123) behaupten, dass das Austarieren von Nähe <strong>und</strong> Distanz eine<br />

typische, pädagogische Herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung ist, die von <strong>de</strong>n professionellen Akteuren <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

verschie<strong>de</strong>n sozialpädagogischen Praxisfel<strong><strong>de</strong>r</strong> tagtäglich in <strong>de</strong>n unterschiedlichsten<br />

Situationen zu bewältigen ist. Fälschlicherweise nehmen sie jedoch an, dass dieses Thema in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> sozialpädagogischen Theoriebildung stiefmütterlich behan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>. Wie gezeigt wur<strong>de</strong><br />

bil<strong>de</strong>t das Spannungsverhältnis zwischen Nähe <strong>und</strong> Distanz im Bildungsprozess <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Heranwachsen<strong>de</strong>n ein zentrales Element in <strong><strong>de</strong>r</strong> Theorie <strong>de</strong>s pädagogischen <strong>Bezug</strong>es bereits<br />

seit <strong>Nohl</strong>.<br />

Colla (1999: 348) sieht im „pädagogischen <strong>Bezug</strong>“ die Voraussetzung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

sozialpädagogischen Arbeit impliziert. <strong>Nohl</strong>s Theorie setzt Verstehen im Sinne Dilthey<br />

voraus, d.h. in <strong><strong>de</strong>r</strong> Lesart von Colla (ebd.): Kenntnis <strong><strong>de</strong>r</strong> inneren <strong>und</strong> äußeren Zustän<strong>de</strong>,<br />

Milieus, <strong><strong>de</strong>r</strong> personalen <strong>und</strong> pädagogischen Situation <strong><strong>de</strong>r</strong> Heranwachsen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

somit eine sozialwissenschaftliche Analyse <strong><strong>de</strong>r</strong> Lebensbedingungen <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> individuelle<br />

För<strong><strong>de</strong>r</strong>bedürftigkeit. Dabei ist Colla zufolge jene Wirklichkeit ausschlaggebend, die Kind <strong>und</strong><br />

Erzieher bzw. Sozialpädagoge gemeinsam <strong>und</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong>selben Weise erfahren können.<br />

Verstehen grün<strong>de</strong>t sich – so Colla (ebd.) - im gemeinsamen Erleben. Colla (ebd.) berichtet,<br />

dass Jugendliche die Erfahrung eines signifikanten An<strong><strong>de</strong>r</strong>en, einer Beziehung, die mehr ist <strong>als</strong><br />

Zweck-Mittel-Relationen <strong>als</strong> positiv <strong>und</strong> för<strong><strong>de</strong>r</strong>lich erleben. Auch wenn nach Colla (1999) <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

pädagogische <strong>Bezug</strong> im Zeitalter massenmedialer Vernetzung <strong>und</strong> Indivualisierungsten<strong>de</strong>nzen<br />

neu justiert wer<strong>de</strong>n muss, so bietet er doch (immer noch) eine Basis zur Reflexion <strong>de</strong>s eigenen<br />

pädagogischen Han<strong>de</strong>lns. Thole <strong>und</strong> Cloos (2006: 124) bemängeln gera<strong>de</strong> die heutige<br />

Vernachlässigung <strong><strong>de</strong>r</strong> Erotik im pädagogischen Alltag, <strong><strong>de</strong>r</strong> damit verb<strong>und</strong>enen Ängste <strong>und</strong><br />

Verdrängungen durch <strong>de</strong>n Aufbau von Distanz bzw. umgekehrt <strong><strong>de</strong>r</strong> Angst, sich durch eine zu<br />

große Nähe zu <strong>de</strong>n Adressaten zu verlieren. Die sozialpädagogischen Praxisfel<strong><strong>de</strong>r</strong> z.B. in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Jugendarbeit unterliegen einem (impliziten) Verhaltensko<strong>de</strong>x, <strong><strong>de</strong>r</strong> von <strong>de</strong>n Akteuren for<strong><strong>de</strong>r</strong>t,<br />

sich an <strong>de</strong>n Aktivitäten <strong><strong>de</strong>r</strong> Jugendlichen aktiv zu beteiligen <strong>und</strong> sich dabei so zu verhalten,<br />

<strong>als</strong> sei man ein Teilnehmer unter an<strong><strong>de</strong>r</strong>en, d.h. es wird eine symmetrische Beziehung<br />

gefor<strong><strong>de</strong>r</strong>t, die Generationsdifferenzen <strong>und</strong> Rollendistanzen aufzuheben versucht. (Vgl. Thole<br />

11


et al. 2006: 129f) Im Sinne <strong>Nohl</strong>s wird versucht, eine Gemeinschaft entstehen zu lassen, die<br />

von gegenseitigem Vertrauen getragen ist. Problematisch wird es jedoch, wenn diese<br />

(scheinbar) symmetrisch-partnerschaftliche Beziehung institutionell verformt wer<strong>de</strong>n (muss).<br />

Thole et al. (2006: 127ff) führen dies exemplarisch an einem Fall vor, bei <strong>de</strong>m ein<br />

Sozialpädagoge die partnerschaftliche Beziehung zu einem Jugendlichen in eine<br />

Vertragsbeziehung umfunktionieren muss. Der Jugendliche möchte sich zwecks eines<br />

längeren Transportweges das Einrichtungsfahrzeug „ausborgen“. Der Einrichtungsleiter<br />

verweist auf die möglichen Konsequenzen einer Sachbeschädigung <strong>und</strong> muss eine<br />

vertragliche Regelung in Form einer Austauschbeziehung konstituieren. Die Gr<strong>und</strong>lagen eines<br />

i<strong>de</strong>altypisch verwirklichten pädagogischen <strong>Bezug</strong>es sind hierbei verletzt. Ein wissenschaftlich<br />

geschulter Sozialpädagoge kann diesen Konflikt zwar nicht auflösen, muss aber in <strong><strong>de</strong>r</strong> Lage<br />

sein, diesen Rollenwechsel wahrzunehmen <strong>und</strong> erkennen können, dass dieser feldspezifisch<br />

bedingte Rollenwechsel vom Partner zum Leiter für <strong>de</strong>n Jugendlichen nicht sofort einsichtig<br />

sein könnte. Man könnte das Fazit von Thole et al. (2006: 141) <strong>als</strong> eine Teilabsage an <strong>de</strong>n<br />

„pädagogischen <strong>Bezug</strong>“ lesen:<br />

„Das Verhältnis von Nähe <strong>und</strong> Distanz im sozialpädagogischen Alltag lässt sich folglich nicht<br />

allein <strong>als</strong> das Resultat einer situativ ausgehan<strong>de</strong>lten Beziehung zwischen Profesionellen <strong>und</strong><br />

AdressatInnen verstehen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>als</strong> ein durch habituelle Positionen geformtes, durch<br />

organisationskulturelles Gefüge gerahmtes <strong>und</strong> durch feldspezifische Regeln situiertes<br />

Verhältnis, das sich situativ stets neu herstellt“ (Thole 2006: 141)<br />

Die Autoren (2006: 136) stellen außer<strong>de</strong>m fest, dass je höher das Ausbildungsniveau, <strong>de</strong>sto<br />

mehr distanzierte, rollenspezifische Anteile ergeben sich in <strong>de</strong>n habituellen Profilen.<br />

Vielleicht erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t aber gera<strong>de</strong> diese empirische Tatsache die Rückbesinnung auf ein<br />

pädagogisches Eros im Sinne <strong>Nohl</strong>s, wenn Colla (1999: 344) in Befragungen Jungendlicher<br />

nachweisen kann, dass <strong>de</strong>m Moment <strong><strong>de</strong>r</strong> Nähe gera<strong>de</strong> eine heilsame pädagogische Wirkung<br />

zukommt. Die Frage nach <strong>de</strong>m Bildungsprozess <strong>und</strong> mithin auf die Qualität <strong>de</strong>s<br />

„pädagogischen <strong>Bezug</strong>es“ muss bei Erziehung außerhalb <strong>de</strong>s Unterrichts vielleicht mit<br />

beson<strong><strong>de</strong>r</strong>er Dringlichkeit (wie<strong><strong>de</strong>r</strong>?) gestellt wer<strong>de</strong>n. (Vgl. Niemeyer 2005: 148) <strong>Nohl</strong>s<br />

Interesse galt <strong><strong>de</strong>r</strong> Rehabilitierung <strong>de</strong>s Praktikers <strong>als</strong> eines nicht lediglich<br />

wissensanwen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n „erkennen<strong>de</strong>n Subkekts“ (in <strong><strong>de</strong>r</strong> Logik Diltheys), dass in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Lage ist über einen „pädagogischen Takt“ sowohl eine professionelle Distanz <strong>als</strong> eben auch<br />

12


eine „lei<strong>de</strong>nschaftliche“ Nähe herzustellen (vgl. Niemeyer 2005: 155). Ersteres scheint<br />

gelungen, letzteres erweiterungsbedürftig.<br />

5.2 Die Lehrerpersönlichkeit<br />

Thole <strong>und</strong> Kollegen (2006: 123) stellen fest, dass Schüler-Lehrer-Beziehungen an <strong>de</strong>n<br />

alteingessenesen Aka<strong>de</strong>mien durch große Distanz geprägt sind. Im Unterricht dominiert –<br />

trotz <strong>de</strong>s Ausrufs einer neuen Lernkultur - die Wissensvermittlung. Zwar kann sich <strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> in<br />

Lehrer-Schüler-Verhältnissen <strong>de</strong>nkt, nicht <strong>de</strong>s Auftrags entziehen, Bildungsinhalte zu<br />

vermitteln. Er kann aber immerhin – <strong>und</strong> dies ist die Lektion von <strong>Nohl</strong> – auf didaktischem<br />

Weg beeinflussen, ob <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler in <strong><strong>de</strong>r</strong> Rolle <strong>de</strong>s passiven Rezipienten verbleibt o<strong><strong>de</strong>r</strong> selbst<br />

aktiv an <strong><strong>de</strong>r</strong> Gestaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Lerninhalte <strong>und</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong><strong>de</strong>r</strong> Beziehung zwischen Lehrer <strong>und</strong><br />

Schüler mitwirkt bzw. mitwirken darf. (Vgl. Niemeyer 2005: 148) Dieses konstruktivistisch<br />

orientierte Vokabular kann <strong>als</strong> Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nisierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Sprache <strong>Nohl</strong>s verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> ja<br />

vom „Bildungswillen“ (<strong>Nohl</strong> 1933: 21) <strong>de</strong>s Heranwachsen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung „um<br />

seiner selbst willen“ (<strong>Nohl</strong> 1933: 22) spricht, <strong>als</strong>o von einem aktiven Individuum, dass sich<br />

sowohl durch Re-, <strong>als</strong> auch Dekonstruktionen vervollkommnen will.<br />

Auch <strong>Nohl</strong> selbst hat dieses beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Schüler-Lehrer-Verhältnis nicht nur theoretisch<br />

beschrieben, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n praktisch zu realisieren versucht. Durch gemeinsame Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen mit<br />

Seminarteilnehmern <strong>und</strong>, wie im biographischen Abriss beschrieben, durch persönliche<br />

Anteilnahme an seinen Stu<strong>de</strong>nten hat er versucht, einen „pädagogischen <strong>Bezug</strong>“ zu leben. Die<br />

Studieren<strong>de</strong>n sollten nicht nur theoretisch geschult wer<strong>de</strong>n, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n schon im Studium die<br />

Praxis aus eigener Anschauung kennenlernen. (Vgl. Klika 2000 : 200f) Dies mag ein Gr<strong>und</strong><br />

sein, warum Blickenstorfer (1998: 99) zu <strong>de</strong>m Ergebnis kommt, dass <strong>Nohl</strong> mehr durch seine<br />

Persönlichkeit <strong>als</strong> durch seine Theorie gewirkt hat.<br />

6. Schlusswort<br />

Die I<strong>de</strong>e einer pädagogischen Beziehung, die von Lei<strong>de</strong>nschaften, Wechselfällen <strong>de</strong>s Lebens,<br />

von Ambitionen <strong>und</strong> Realismus getragen ist, scheint auf allen Ebenen <strong><strong>de</strong>r</strong> Bildung relevant zu<br />

sein. Der Akzent von einer zu starken Nähe zum Heranwachsen<strong>de</strong>n - wie noch in Pestalozzis<br />

Erziehungsheimen- scheint sich im Zuge zunehmen<strong><strong>de</strong>r</strong> Professionalisierung verschoben zu<br />

haben. Heute löst eher die For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung nach emotionaler Hingabe Erstaunen aus. Ist <strong>de</strong>nn das<br />

13


noch eine professionelle Beziehung? Wo müssen dann die Grenzen gesetzt wer<strong>de</strong>n? <strong>Nohl</strong>s<br />

Theorie war auf Interaktionen zwischen reifen Menschen <strong>und</strong> Heranwachsen<strong>de</strong>n beschränkt.<br />

Aber die Fähigkeit, sich auf eine Bindung einzulassen, wird biographisch erworben. Ein<br />

Lehrer in <strong><strong>de</strong>r</strong> Berufsschule, <strong><strong>de</strong>r</strong> über sein gesamtes Studium hinweg keine Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong> erlebt<br />

hat, wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht in seiner Unterrichtsspraxis<br />

verwirklichen können. Ein Erzieher, <strong><strong>de</strong>r</strong> in seiner Ausbildung keine persönliche Anteilnahme<br />

eines Berufsschullehrers erfahren hat, wird diese professionelle Nähe vielleicht auch nicht in<br />

seiner sozialpädagogischen Praxis realisieren können. Ohne die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s doppelten Theorie-<br />

Praxis-<strong>Bezug</strong>es überstrapazieren zu wollen (vgl. Karsten 2003: 354), ergeben sich hieraus<br />

doch einige I<strong>de</strong>en für alle Bildungsebenen.<br />

14


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