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Wissenschaftliche Analyse einer ... - Hannahdenker.de

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Universität Lüneburg<br />

Wintersemester 2007/2008<br />

Einzelveranstaltung:<br />

Einführung in die literarische und Lesesozialisationsforschung<br />

Dozentin: Prof. Dr. Christine Garbe<br />

Modul: 23020000 - Orientierung auf Literatur<br />

Abgabetermin: 17. März 2008<br />

<strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong> <strong>einer</strong> Lektüreautobiographie<br />

Dipl.-Psych. Hannah Uhle<br />

Veerßer Str. 20<br />

29525 Uelzen<br />

Telefon: 0581-2118660<br />

Fax.: 0581-2118661<br />

E-Mail: Hannah-Uhle@gmx.<strong>de</strong><br />

Studiengang: Berufliche Bildung in <strong>de</strong>r Sozialpädagogik (B.A.)<br />

Matrikel-Nr.: 3006898<br />

Fachsemester: 3


Fächerkombination: Deutsch/ Sozialpädagogik<br />

2


Inhaltsverzeichnis<br />

Glie<strong>de</strong>rung ................................................................................................................................. 1<br />

1. Einleitung ............................................................................................................................... 2<br />

2. Familien- und Leseklima ...................................................................................................... 3<br />

2.1 Individuelle Leseautobiographie ....................................................................................... 3<br />

2.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong> ............................................................................................... 5<br />

3. Mediennutzungsmuster ........................................................................................................ 7<br />

3.1 Individuelle Leseautobiographie ....................................................................................... 7<br />

3.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong> ............................................................................................... 9<br />

4. Primäre literarische Sozialisation .................................................................................... 11<br />

4.1 Individuelle Leseautobiographie ..................................................................................... 11<br />

4.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong> ............................................................................................. 12<br />

5. Alphabetisierung ................................................................................................................. 13<br />

5.1 Individuelle Leseautobiographie ..................................................................................... 13<br />

5.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong> ............................................................................................. 13<br />

6. Selbstständige kindliche Lektüre ....................................................................................... 15<br />

6.1 Individuelle Leseautobiographie .................................................................................... 15<br />

6.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong> ............................................................................................. 16<br />

7. Lesekrise .............................................................................................................................. 18<br />

7.1 Individuelle Leseautobiographie ..................................................................................... 18<br />

7.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong> ............................................................................................. 19<br />

8. Sekundäre literarische Initiation ....................................................................................... 20<br />

8.1 Individuelle Leseautobiographie ..................................................................................... 20<br />

8.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong> ............................................................................................. 21<br />

9. Lesen in <strong>de</strong>r Schule ............................................................................................................. 24<br />

9.1 Individuelle Leseautobiographie ..................................................................................... 24<br />

9.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong> ............................................................................................. 29<br />

10. Lesen als Erwachsene ....................................................................................................... 31<br />

10.1 Individuelle Leseautobiographie ................................................................................... 31<br />

10.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong> ........................................................................................... 32<br />

11. Schlussbemerkung ............................................................................................................ 33<br />

Literaturverzeichnis ............................................................................................................... 35<br />

Anhang A: Schaubild zu Graf (1995) ...................................................................................... I<br />

Anhang B: Leseliste ................................................................................................................. II<br />

Anhang C: Kin<strong>de</strong>r- und Elternfragebogen zur Leseklima-Studie .................................. XII<br />

Anhang D: Schriftliche Erinnerung an <strong>de</strong>n Deutschunterricht .................................. XLIV<br />

Anhang E: Leseklima in <strong>de</strong>r Herkunftsfamilie .............................................................. XLIX<br />

Anhang F: Reflexion eines literarischen Gesprächs ......................................................... LIV<br />

Anhang G: <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong> <strong>einer</strong> fiktiven Leseautobiographie .................... LIX<br />

Leseanregungen in <strong>de</strong>r Kindheit ......................................................................................... LIX<br />

Schulische Lesesozialisation .............................................................................................. LXI<br />

Leseerfahrungen als Erwachsener ................................................................................... LXIII<br />

Schlussbemerkung ........................................................................................................... LXV<br />

Anhang H: Literaturliste für Anhang F und G ............................................................ LXVII<br />

Anhang I: Intuitive Leseautobiographie ..................................................................... LXVIII


Glie<strong>de</strong>rung<br />

Thesen<br />

Familien- und Leseklima<br />

Mediennutzungsmuster<br />

Primäre literarische Sozialisation<br />

Alphabetisierung<br />

Selbstständige kindliche Lektüre<br />

Sekundäre literarische Initiation<br />

Lesen in <strong>de</strong>r Schule<br />

Lesen als Erwachsene<br />

Fazit<br />

1


1. Einleitung<br />

„Das Schlimmste aber, wenn man ein Gefängnis mit unsichtbaren Mauern<br />

bewohnt, ist, dass man sich <strong>de</strong>r Schranken nicht bewusst wird, die <strong>de</strong>n Horizont<br />

versperren; ich irrte in einem Nebel umher, <strong>de</strong>n ich für durchscheinend hielt. Von<br />

<strong>de</strong>m, was mir entging, ahnte ich nicht einmal, dass es vorhan<strong>de</strong>n war“ (<strong>de</strong><br />

Beauvoir 1998, S. 329).<br />

In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Hausarbeit wird versucht Licht in das Dunkel <strong>de</strong>r eigenen<br />

Leseautobiographie und <strong>de</strong>r mangeln<strong>de</strong>n Selbstreflexivität zu bringen und sich <strong>de</strong>r eigenen<br />

Grenzen o<strong>de</strong>r Schranken bewusst zu wer<strong>de</strong>n. Dazu wird das Leseverhalten von mir selbst,<br />

Hannah Uhle, von <strong>de</strong>r Kindheit an bis zum Erwachsenenalter beschrieben und im Anschluss<br />

nach wissenschaftlichen Kriterien analysiert. Ein rein chronologisches Vorgehen ist nicht<br />

möglich, da die 28 jährige Frau Zeitsprünge macht, weshalb die Leseautobiographie sowohl<br />

thematisch als auch – wo möglich- chronologisch analysiert wird:<br />

Zunächst wird ihre familiäre Lesesozialisation auf <strong>de</strong>r Basis von B. Hurrelmanns (1993)<br />

Untersuchungen zur Lesesozialisation von Kin<strong>de</strong>rn zwischen 9 und 11 Jahren <strong>de</strong>r<br />

beschriebenen Gruppe <strong>de</strong>r „erwarteten Leser“-innen (B. Hurrelmann 1993, S. 53f)<br />

zugeordnet und dabei die Schwierigkeiten <strong>einer</strong> solchen Zuordnung aufgezeigt sowie das<br />

familiäre Medienutzungsverhalten eingeordnet. Dabei wird davon ausgegangen, dass Hannah<br />

ein an<strong>de</strong>res Mediennutzungsverhalten als ihre Eltern aufweist.<br />

Des Weiteren soll belegt wer<strong>de</strong>n, dass Hannah zu verschie<strong>de</strong>nen Lebensphasen und -zeiten<br />

über unterschiedliche Lesemodi nach Graf (1995, 2002, 2004, 2007) verfügt und diese<br />

situationsspezifisch einzusetzen vermag. Allerdings wird auch die unscharfe Verwendung <strong>de</strong>s<br />

Begriffs „Lesemotivation“ (Graf 2002, S. 37) bei Graf thematisiert, da sich in Hannahs<br />

Leseautobiographie immer wie<strong>de</strong>r gewisse Ambivalenzen in <strong>de</strong>r Lesemotivation und in <strong>de</strong>r<br />

Lesefreu<strong>de</strong> auf<strong>de</strong>cken lassen, die sich aufgrund ihrer Biographie und <strong>de</strong>s familiären sowie <strong>de</strong>s<br />

Leseverhaltens <strong>de</strong>r Freun<strong>de</strong> und Freundinnen auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeitigen<br />

Leseautobiographieforschung nicht hinreichend erklären lassen. Außer<strong>de</strong>m wird durch die<br />

Form <strong>de</strong>r <strong>Analyse</strong> darauf aufmerksam zu machen versucht, dass eine strikte Zuordnung zu<br />

einem Lesemodus im Sinne <strong>einer</strong> Typologie fraglich ist und eher von einem Kontinuum, das<br />

phasenspezifisch unterschiedlich Schwerpunkte aufweist, auszugehen ist. Der<br />

autobiographische Teil <strong>de</strong>r <strong>Analyse</strong> wird in <strong>de</strong>r ersten Person Singular geschrieben,<br />

2


wohingegen die wissenschaftlich-kritische Auseinan<strong>de</strong>rsetzung in <strong>de</strong>r dritten Person<br />

beschrieben wird, um die nötige wissenschaftliche Distanz zu gewährleisten.<br />

2. Familien- und Leseklima<br />

2.1 Individuelle Leseautobiographie<br />

Zu irgen<strong>de</strong>inem Zeitpunkt in meinem Erwachsenenleben ist mir das Bild eingefallen, das<br />

meine eigene Lesebiographie wohl am treffendsten charakterisiert. Ich sehe ein kleines Baby,<br />

das unter einem riesigen, schweren Haufen von Büchern fast erstickt und um Luft ringt. Dazu<br />

muss ich wohl Folgen<strong>de</strong>s erklären: ich bin in <strong>einer</strong> sehr klassisch-bürgerlichen Familie<br />

aufgewachsen. Mein Vater ist Professor für Erziehungswissenschaft und meine Mutter war<br />

früher Lehrerin für Deutsch, Philosophie und Geschichte (inzwischen Schulleiterin am<br />

Gymnasium). Im Haus m<strong>einer</strong> Eltern türmen sich die Bücher bis unter die Decke. Es gibt in<br />

einem doch sehr geräumigen Haus keine einzige Ecke, in <strong>de</strong>r es keine Bücher gibt.<br />

Entsprechend <strong>de</strong>m Bildungshintergrund m<strong>einer</strong> Eltern war (und ist) Lesen <strong>einer</strong> <strong>de</strong>r<br />

be<strong>de</strong>utendsten Faktoren von Bildung und – nach ihrer Interpretation – <strong>de</strong>r Möglichkeit zur<br />

Teilhabe an gesellschaftlichem Leben und <strong>de</strong>m Verständnis von Welt. Vielleicht gibt es in<br />

Nuancen unterschiedliche Schwerpunkte. Mein Vater betont wohl eher Weltverständnis durch<br />

tägliche Zeitungslektüre (natürlich nicht eine Zeitung, son<strong>de</strong>rn neben „Süd<strong>de</strong>utscher Zeitung“<br />

und „Frankfurter Rundschau“ auch noch „Die Zeit“) und meine Mutter legt <strong>de</strong>n Schwerpunkt<br />

auf literarische Bildung im Sinne klassischer Literatur, aber auch gegenwärtiger, hochwertiger<br />

Belletristik.<br />

Bücher sind und waren für meine Eltern immer ein selbstverständlicher und alltäglicher<br />

Lebenshintergrund, wenn nicht gar Lebensmittelpunkt. Das beginnt mit <strong>de</strong>r allmorgendlichen<br />

Zeitungslektüre meines Vaters, geht über in die samstäglichen Einkaufsbummel m<strong>einer</strong><br />

Mutter in <strong>de</strong>n Buchla<strong>de</strong>n – nie ohne min<strong>de</strong>stens drei neue Bücher mit nach Hause zu nehmen<br />

und schließt mit einen gefüllten Urlaubskoffer mit Freizeitlektüre. Und spiegelt sich<br />

außer<strong>de</strong>m in <strong>de</strong>r jährlichen Ankunft eines neuen Philosophie-Lexikon Ban<strong>de</strong>s wie<strong>de</strong>r. (Seit<br />

neuestem nicht mehr, da die 1970 bestellte Reihe nun ihren letzten Band veröffentlicht hat.)<br />

Der Bücherhaushalt m<strong>einer</strong> Eltern (über-)entspricht <strong>de</strong>r Voraussetzung, dass ein großer<br />

Buchbesitz im Haushalt vorhan<strong>de</strong>n ist (siehe auch Elternfragebogen im Anhang C).<br />

3


Neben <strong>de</strong>n Sach- und Fachbüchern im Arbeitszimmer meines Vaters, reihen sich Trivial- und<br />

Hochliteraturbän<strong>de</strong> von Harry Potter über Schwanitz bis Goethe in <strong>de</strong>n Flurregalen und im<br />

Arbeitszimmer m<strong>einer</strong> Mutter aneinan<strong>de</strong>r. Das sog. „Fernsehzimmer“ enthält dann die<br />

Sammlung an Geschichtsliteratur. Die Lesevorlieben von m<strong>einer</strong> Schwester und mir waren<br />

(und sind) <strong>de</strong>n Eltern bekannt. Meine Schwester liebte als Kind vor allem Pfer<strong>de</strong>bücher aller<br />

Colleur und liest heute vor allem historische Liebesromane in ihrer Freizeit. Meine Eltern<br />

haben immer viel gelesen, allerdings ist schwer zu entschei<strong>de</strong>n, ob es sich dabei immer um<br />

Freizeitlektüre han<strong>de</strong>lt o<strong>de</strong>r dies beruflich bedingt ist. Es scheint so zu sein, dass die Genussund<br />

Schmökerliteratur vor allem auf die Urlaubszeit beschränkt ist und im Alltag die<br />

Fachliteratur dominiert. Manchmal betrauern meine Eltern, insbeson<strong>de</strong>re meine Mutter, dass<br />

nach anstrengen<strong>de</strong>n beruflichen Schrift- und Lesearbeiten einfach nicht mehr die Zeit und<br />

Kraft für Freizeitlektüre bleibt. Eine Ausnahme hierzu bil<strong>de</strong>t die Mittagslektüre meines<br />

Vaters, <strong>de</strong>r allerdings auch nur in <strong>de</strong>r vorlesungsfreien Zeit nachgegangen wird (wer<strong>de</strong>n<br />

kann).<br />

Ich erinnere mich intensiv an kontroverse Diskussionen am Frühstückstisch über Literatur,<br />

wenn beispielsweise über die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Sprachgenies <strong>de</strong>r Hauptfigur von „Nachtzug<br />

nach Lissabon“ (Mercier, 2006 1 ) doziert und philosophiert wird, an<strong>de</strong>rerseits hat sich mit<br />

zunehmen<strong>de</strong>m Alter die Lektüre zur Privatsache <strong>de</strong>s Einzelnen entwickelt. So könnte man fast<br />

sagen, dass mein Vater seine „Trivialliteratur“ verstohlen aus <strong>de</strong>r Bibliothek schmuggelt und<br />

meine Mutter sich mit ihrer häufig anspruchsvolleren kanonischen Literatur ins Ba<strong>de</strong>zimmer<br />

zurückzieht. Meine Schwester hat sich generell weniger an <strong>de</strong>n Kommunikationsprozessen<br />

beteiligt. Allerdings muss dabei klar gesagt wer<strong>de</strong>n, dass dies auch eine rein zeitliche<br />

Entwicklung ist: so ist meine Schwester mit jungen 18 Jahren zum Studium nach Konstanz<br />

ausgezogen. Ich erinnere mich an eine kleine Anekdote bezüglich <strong>de</strong>s<br />

Kommunikationsverhaltens in m<strong>einer</strong> Familie. Im Jugendalter übernachtete eine gute<br />

Freundin von mir bei uns zu Hause und wir frühstückten gemeinsam. Dabei kreiste das<br />

Gespräch um die Frage, was Theorie sei (ich erinnere mich nicht mehr genau an <strong>de</strong>n Anlass<br />

zu <strong>de</strong>m Gespräch). Je<strong>de</strong>nfalls brachte mein Vater die Frage auf, wie viele Engel auf eine<br />

Na<strong>de</strong>lspitze passen wür<strong>de</strong>n und dass eine solche Frage eine rein theoretische sei. Ein paar<br />

Tage später rief meine Freundin mich an und erklärte mir, dass sie sich mit ihrer Mutter<br />

gestritten hätte. Sie hätte ihr gesagt, dass die Uhles immer so interessante Fragen am<br />

1<br />

Die in <strong>de</strong>r individuellen Leseautobiographie genannte Literatur, fin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>r Leseliste im Anhang B<br />

wie<strong>de</strong>r und wird nicht in das Literaturverzeichnis aufgenommen.<br />

4


Frühstückstisch diskutieren wür<strong>de</strong>n, während sie sich immer nur über Alltäglichkeiten<br />

unterhalten wür<strong>de</strong>n und hatte das genannte Beispiel gebracht.<br />

Ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen sollte, Eltern zu haben, die mich mit Literatur<br />

versorgt haben und mir die Möglichkeit zu schulischem Erfolg eröffnet haben. Was allerdings<br />

bei <strong>de</strong>n neidvollen Blicken bildungsärmerer Schichten oft vergessen wird, ist, dass die Chance<br />

auf (Lese-)Bildung auch ein Zwang zum Lesen und ein Verlust an innerer Freiheit und<br />

selbstentwickeltem Interesse darstellen kann. Ich sehe mich selbst <strong>de</strong>shalb auch nicht als<br />

Leseratte. Es ist schwer, dass in Worte zu fassen. Meine Eltern haben mich nicht zum Lesen<br />

„gezwungen“, aber um sie zu verstehen, um ihren Ansprüchen gerecht zu wer<strong>de</strong>n, „musste“<br />

ich lesen und so war ich – und bin es heute noch nicht – sicher, ob ich jemals „gern“ gelesen<br />

habe.<br />

2.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong><br />

Die Autorin dieser Leseautobiographie beschreibt eine aka<strong>de</strong>misch gebil<strong>de</strong>te Familie, in <strong>de</strong>r<br />

sowohl Bücher als auch <strong>de</strong>r diskursive Austausch über und mit Literatur einen zentralen<br />

Stellenwert einnimmt. Dabei zeichnet sich das Leseverhalten <strong>de</strong>r Eltern durch einen flexiblen<br />

Umgang mit Literatur ab. Die Autorin selbst hat Schwierigkeiten, die Freizeitlektüre von <strong>de</strong>r<br />

Arbeitslektüre zu trennen.<br />

Bettina Hurrelmann (1993, S. 30) zeigt in ihrer Studie auf, dass „das Leseverhalten <strong>de</strong>r<br />

Kin<strong>de</strong>r nach wie vor eng mit <strong>de</strong>r Bildung <strong>de</strong>r Eltern zusammen[hängt]“. Dass sich die<br />

Bildungsschicht anhand <strong>de</strong>r Anzahl <strong>de</strong>r Bücher in einem Haushalt abschätzen lässt, zeigt sich<br />

gera<strong>de</strong>zu plastisch in dieser Leseautobiographie (vgl. B. Hurrelmann 1993, S. 35). Nach <strong>de</strong>r<br />

Typologie von B. Hurrelmann et al. (1993, S.26, S.53f) müsste Hannah eigentlich zur Gruppe<br />

<strong>de</strong>r „erwarteten Leser“innen gehören (ebd., S. 53). Die Familien mit „erwarteten Lese“-<br />

Kin<strong>de</strong>rn nach B. Hurrelmann zeichnen sich durch einen „überdurchschnittlichen z.T. sehr<br />

hohen Buchbesitz“ (B. Hurrelmann 1993, S. 53) aus wie es in dieser Familie sowohl im<br />

Elternfragebogen (siehe Anhang C) als auch in <strong>de</strong>r Hausbeschreibung von Hannah <strong>de</strong>utlich<br />

wird. Bücher stellen in diesen Familien einen „selbstverständliche[n] und alltägliche[n]<br />

Gebrauchsgegenstand“ (ebd.) dar. Das Lesen <strong>de</strong>r Eltern „ist in <strong>de</strong>n Alltag und in die familiale<br />

Interaktion integriert“ (ebd.) und entspricht damit nahezu prototypisch <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll <strong>einer</strong><br />

„erwarteten Leser“inn nach B. Hurrelmann (1993 S. 53). Dass sich hier keine scharfe<br />

Trennung zwischen Freizeitlesen und beruflicher Lektüre aufzeigen lässt, ist ebenfalls ein<br />

klassisches Merkmal, das sich in <strong>de</strong>r Studie zum „Leseklima in <strong>de</strong>r Familie“ von B.<br />

5


Hurrelmann (1993) gezeigt hat. Die Eltern von Hannah sind durch ihr Leseverhalten ein<br />

Mo<strong>de</strong>ll für verschie<strong>de</strong>ne Funktionen <strong>de</strong>s Lesens – wie es prototypisch für die Eltern von<br />

„erwartenen Leser“-Innen (B. Hurrelmann 1993, S. 53f) ist. So liest <strong>de</strong>r Vater zur<br />

Entspannung Unterhaltungsliteratur und zu Fortbildungszwecken Fachtexte. Es ist<br />

anzunehmen, dass sich das Leseverhalten <strong>de</strong>r Mutter auch durch ihre berufliche Situation als<br />

Deutschlehrerin nahezu automatisch überschnei<strong>de</strong>t. Allerdings scheint es Schwerpunkte zu<br />

geben und die Freizeitlektüre wird offensichtlich vermehrt im Urlaub gelesen. Das Betrauern<br />

von mangeln<strong>de</strong>r Zeit zur Freizeitlektüre ist nach Graf (1995, S.109) eine klassische Ausre<strong>de</strong><br />

bzw. Rationalisierung von Menschen mit geringen Leseambitionen. Allerdings spricht die<br />

Buchpräsenz in diesem Haushalt <strong>de</strong>utlich gegen eine solche Einordnung.<br />

Die Eltern kennen die Lesevorlieben ihrer bei<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r und gehen entsprechend darauf ein.<br />

Des Weiteren betont Bettina Hurrelmann <strong>de</strong>n leseför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Effekt von Gesprächen über<br />

situationsabstrakte Themen (vgl. B. Hurrelmann 1993, S.46f), was sich nahezu beispielhaft an<br />

<strong>de</strong>r kindlichen Anekdote mit <strong>de</strong>r Freundin von Hannah zeigen lässt. Auf <strong>de</strong>r Basis dieser<br />

Typologie scheint eine Zuordnung zunächst ein<strong>de</strong>utig. Allerdings ist das Leseverhalten <strong>de</strong>r<br />

Autorin nicht einfach <strong>einer</strong> „erwartenen Leser[in]“ (ebd.) zurechenbar. So beschreibt sie<br />

gleich zu Beginn ihrer Leseautobiographie einen Druck, <strong>de</strong>r sie zum Lesen zwingt, sie<br />

beschreibt sogar, dass sie von Büchern regelrecht erschlagen wird und schließt diesen<br />

Abschnitt ebenfalls mit einem Rekurs auf ihr ambivalentes Verhältnis zur Literatur. Ist sie<br />

damit eine „unerwartete Wenig-Leser[in]“ (B. Hurrelmann 1993, S. 55)? Es gibt mehrere<br />

Argumente, die gegen eine solche Zuordnung sprechen: zum einen beschreibt B. Hurrelmann<br />

eine Familie, in <strong>de</strong>r es zu <strong>einer</strong> „unerwarteten Wenig-Leser[in]“ (ebd.) kommt als eine<br />

Familie, in <strong>de</strong>r zwar viel gelesen wird, <strong>de</strong>ren Leseambititionen allerdings aus <strong>de</strong>m familiären<br />

Rahmen ausgelagert sind und in <strong>de</strong>r Lesen als Privatssache aufgefasst wird, was in dieser<br />

kommunikativen Familie eher nicht <strong>de</strong>r Fall zu seien scheint. Außer<strong>de</strong>m wird Lesen in<br />

solchen Familien einseitig funktionalisiert, was bereits oben <strong>de</strong>utlich wi<strong>de</strong>rlegt ist. Außer<strong>de</strong>m<br />

sind solche Familien von distanzierten und spannungsreichen Kommunikationsarten geprägt,<br />

worauf es in diesem Leseautobiographieausschnitt keinen Hinweis gibt (vgl. B. Hurrelmann<br />

1993, S. 55). Das Familienklima, verstan<strong>de</strong>n im Sinne B. Hurrelmanns (1993, S. 55),<br />

entspricht also <strong>de</strong>utlich nicht <strong>de</strong>n Bestimmungsstücken für die Kategorie <strong>einer</strong> „unerwarteten<br />

Wenig-Leser[in]“ (ebd.). Das zweite Gegenargument fin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>r Literaturliste (Anhang<br />

C), das darauf verweist, dass Hannah sowohl in <strong>de</strong>r Kindheit als auch im Erwachsenenalter<br />

eine Leserin gewor<strong>de</strong>n ist, allerdings beschreibt sie sich selbst nicht als „Leseratte“. Wie lässt<br />

6


sich dann die ambivalente Haltung <strong>de</strong>r Tochter erklären? B. Hurrelmann (1993, S. 41) konnte<br />

in ihrer Studie zeigen, dass insbeson<strong>de</strong>re ein hoher Leistungsanspruch <strong>de</strong>r Mutter sich negativ<br />

auf das Leseverhalten <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r auswirkt. Ist das nun die retten<strong>de</strong> Erklärung? Nein, <strong>de</strong>nn die<br />

Leistungserwartungen wirken nur dann beson<strong>de</strong>rs negativ auf das Leseverhalten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s,<br />

wenn das Kind die Eltern selbst als buchfern erlebt (ebd.). Hier zeigt sich, dass es auch eine<br />

Diskrepanz zwischen (Lese-)Verhalten und emotionaler, gratifikatorischer Beteiligung geben<br />

kann, die in dieser Form nicht Eingang in die Untersuchung von B. Hurrelmann (1993)<br />

gefun<strong>de</strong>n hat. In dieser Typologie wird schließlich nicht direkt berücksichtigt, dass auch das<br />

Lesen in <strong>de</strong>r Freizeit innerlich mit einem erhobene Zeigefinger vonstatten gehen kann, <strong>de</strong>r<br />

daran mahnt, dass Lesen schließlich Bildung be<strong>de</strong>utet. Es wird außer<strong>de</strong>m nicht berücksichtigt,<br />

dass das Lesen aufgrund von Sekundärtugen<strong>de</strong>n – o<strong>de</strong>r Schwächen- bedingt sein kann, z.B.<br />

gebil<strong>de</strong>t o<strong>de</strong>r intellektuell erscheinen wollen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r rigi<strong>de</strong>n Moral geschul<strong>de</strong>t sein kann:<br />

„Was man einmal anfängt, führt man auch zu En<strong>de</strong>!“.<br />

3. Mediennutzungsmuster<br />

3.1 Individuelle Leseautobiographie<br />

Ich erinnere mich nur schwach an das Gerät selbst, aber ich weiß, dass ich als kleines Kind<br />

lei<strong>de</strong>nschaftlich gern „Hui Buh“ und „Graf Dracula“ auf Schallplatte gehört habe, <strong>de</strong>shalb<br />

nehme ich an, dass ich schon sehr früh einen Schallplattenspieler besessen habe. Die<br />

gruseligen Geschichten ängstigten und begeisterten mich. Ich habe noch heute das Bild von<br />

„Hui Buh“ vor Augen, einem silbrig-blau, etwas durchsichtig schimmern<strong>de</strong>m Geist, <strong>de</strong>r<br />

seinen Kopf zeitweise unter <strong>de</strong>m Arm trug und eine breite, schwarze Hutkrempe besaß, die in<br />

m<strong>einer</strong> Erinnerung mit <strong>einer</strong> roten Fe<strong>de</strong>r verziert war. Es dauerte aber auch nicht lange, dann<br />

bekam ich einen Kassettenrekor<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m ich u. a. „Bibi Blocksberg“ - Kassetten hörte. Ich<br />

muss peinlicherweise gestehen, dass ich noch heute in melancholischen Momenten die<br />

fröhliche Anfangsmusik höre und mich sehnsüchtig an diese vermeintlich sorgenlosen<br />

Kin<strong>de</strong>rtage erinnere. Die Geschichten sind mir inzwischen aber etwas zu trivial gewor<strong>de</strong>n.<br />

Etwa mit meinem Eintritt ins Gymnasium kaufte meine Mutter ihren ersten Computer, es war<br />

noch eines <strong>de</strong>r sehr frühen Mo<strong>de</strong>lle, Atari, wenn auch nicht <strong>de</strong>r aller erste Computer auf <strong>de</strong>m<br />

Markt. Meine Mutter war (und ist) sehr progressiv, was neue Technologien anbelangt, wenn<br />

sie auch nicht die Zeit hat, sich mit <strong>de</strong>n technischen Details intensiver auseinan<strong>de</strong>rzusetzen.<br />

Als die Schule es erfor<strong>de</strong>rte, dass Hausarbeiten auf <strong>de</strong>m Computer geschrieben wer<strong>de</strong>n,<br />

7


ekam ich zeitweise <strong>de</strong>n Laptop meines Vaters. Ich hatte sehr lange keinen eigenen<br />

Computer.<br />

Fernsehen spielte in m<strong>einer</strong> Familie immer eine untergeordnete Rolle (siehe Elternfragebogen<br />

im Anhang C). Ich erinnere mich daran, dass meine Schwester und ich als kleine Kin<strong>de</strong>r die<br />

Klassiker sehen durften („Sandmännchen“ und „Sesamstraße“) und dass wir feste<br />

Fernsehzeiten hatten. Allerdings habe ich das seltsamerweise nie vermisst o<strong>de</strong>r höchstens in<br />

einem kindlichen Anfall von Autonomieansprüchen wutentbrannt in Frage gestellt. Wir<br />

wohnten damals in <strong>einer</strong> Mietwohnung, in welcher mehrere Familien lebten. Meine Eltern<br />

waren mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Eltern befreun<strong>de</strong>t, so dass sie sich, was die Kin<strong>de</strong>rbetreuung<br />

anbelangte, ablösten. Eine Art mo<strong>de</strong>rne Kommune, wür<strong>de</strong> ich aus heutiger Perspektive sagen.<br />

Je<strong>de</strong>nfalls hatten wir immer an<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r zum Spielen. Hinzukam, dass an das Haus ein sehr<br />

großer Innenhof angrenzte, <strong>de</strong>r sogar einen eigenen Spielplatz umfasste. Wir hatten also fast<br />

immer die Möglichkeit, draußen zu spielen und uns gemeinsam auszutoben. Ich habe das<br />

Fernsehen also wenig vermisst. Zu<strong>de</strong>m brachten meine Eltern mir schon früh ein an<strong>de</strong>res<br />

Medium näher: das Theater. Meine Mutter nahm mich in jungen Jahren mit zu <strong>einer</strong><br />

Schüleraufführung von Shakespeares „Sommernachtstraum“. Es war sehr amüsant, meine<br />

Schwester und mich zu vergleichen: während Esther das Ganze ernst beobachtete, habe ich<br />

mich scheckig gelacht und laut applaudiert – vielleicht nicht immer an <strong>de</strong>n richtigen Stellen,<br />

aber mit Enthusiasmus. Und ich erzähle noch heute gern vom kleinen Puck, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />

Aufführung grüne Haare hatte. Ich mache allerdings heute eine klare Differenz zwischen<br />

Sprechtheater und Oper. Sprechtheater liebe ich immer noch heiß und innig, Opern lehne ich<br />

fast kategorisch ab.<br />

Später wur<strong>de</strong> das Fernsehen für mich allerdings unter einem an<strong>de</strong>ren Aspekt interessant. Mit<br />

24 Jahren hatte ich einen Freund, <strong>de</strong>r ein begeisterter DVD-Fan war. Er modifizierte meine<br />

eher kritische Haltung zum Fernsehen, <strong>de</strong>nn Fernsehen und DVDs schauen sind zwei ganz<br />

verschie<strong>de</strong>ne Dinge! Zum einen sah er sich nicht irgendwelche Filme an, son<strong>de</strong>rn eher<br />

künstlerisch-intellektuell angehauchte Filme, beson<strong>de</strong>rs von Stanley Kubrick o<strong>de</strong>r<br />

gesellschaftskritische Varianten wie von Michael Moore. Er interessierte sich für die Machart,<br />

die musikalische Umsetzung und die Kameraführung. Wir sahen uns nun öfter gemeinsam<br />

Filme an und diskutierten sowohl über <strong>de</strong>n Inhalt als auch über die künstlerische Umsetzung.<br />

Inzwischen hat sich das Verhältnis, was Anregungen zum Medium Film anbelangt, im<br />

Gegensatz zum Medium Buch in m<strong>einer</strong> Familie umgekehrt. Nun bin ich es, die m<strong>einer</strong><br />

8


Mutter <strong>de</strong>n Hinweis gibt, das „Eyes Wi<strong>de</strong> Shut“ eine freie Interpretation von Arthur<br />

Schnitzlers „Traumnovelle“ ist. Bevor ich mir diesen Film ansah, habe ich allerdings<br />

sicherheitshalber zuerst die Novelle gelesen, damit ich mir ein klareres Bild machen konnte.<br />

Es ist eine gelungene Literaturverfilmung gera<strong>de</strong> weil sie sich vom Original, dass ein<br />

spezifisches Zeitcoloriet aufweist, entfernt hat und damit von einem direkten Vergleich<br />

Abstand nimmt. Um mit meinem damaligen Freund intellektuell Schritt halten zu können,<br />

kaufte ich mir das Grundlagenwerk für Filmstudieren<strong>de</strong> („Film verstehen – Kunst- Technik-<br />

Sprache- Geschichte und Theorie <strong>de</strong>s Films und <strong>de</strong>r neuen Medien“).<br />

3.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong><br />

Hannah beschreibt eine von verschie<strong>de</strong>nen Medien geprägte Kindheit (Schallplattenspieler,<br />

Kassettenrekor<strong>de</strong>r, Theater, Computer, Fernsehen und DVD-Player). Dabei bleiben die<br />

Erinnerungen an die kindlichen Hörspiele plastisch-anschaulich, während die<br />

Fernseherfahrungen gegenüber an<strong>de</strong>ren Freizeitaktivitäten sekundär erscheinen. Die Eltern<br />

erwiesen sich neuen Medien gegenüber aufgeschlossen, wobei Hannah vorwiegend von<br />

arbeitsorientierten Erfahrungen mit <strong>de</strong>m Computer spricht und Computerspiele unerwähnt<br />

lässt. Ein häufig nicht genanntes Medium fin<strong>de</strong>t in dieser Leseautobiographie Erwähnung: das<br />

Theater, welches <strong>de</strong>utlich von Opernbesuchen abgegrenzt wird. Während das Fernsehen in<br />

<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rjahren be<strong>de</strong>utungslos scheint, wird es im Erwachsenenalter durch die<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit Filmen für Hannah relevant, dabei zeigt sich eine Wechselwirkung<br />

mit <strong>de</strong>m Medium Buch, das sowohl als Informationsmaterial als auch als Filmvorlage gelesen<br />

und interpretiert wird.<br />

Bettina Hurrelmann (1993, S. 36f) unterschei<strong>de</strong>t in ihrer Studie zum<br />

Mediennutzungsverhalten in Familien fünf sog „Mediencluster“ (ebd.), die sich in ihrer<br />

Intensität <strong>de</strong>r Mediennutzung unterschei<strong>de</strong>n. Ein zentrales Ergebnis von Bettina Hurrelmann<br />

(ebd.) ist, dass sich bezogen auf das Medium Buch we<strong>de</strong>r die Verdrängungshypothese noch<br />

eine einfache Ergänzungshypothese bestätigen lassen. Laut ihrer Studie sollte man eher von<br />

<strong>einer</strong> „>>gemischten Nutzung<br />

Intensivnutzer[Innen] vieler MedienIntensivnutzer[Innen] von BüchernIntensivnutzer[Innen] von ComputermedienDurchschnittliche<br />

Mediennutzer[Innen]>Intensivnutzer[Innen] weniger MedienIntensivnutzer[Innen] von Büchern


Buchnutzung aus und eine geringe Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Fernsehens im Alltag. Die obere<br />

Bildungsschicht – zu <strong>de</strong>r Hannahs Eltern gehören – ist in diesem Cluster überrepräsentiert<br />

(vgl, B. Hurrelmann 1993, S. 36f). Obwohl in dieser Familie auch an<strong>de</strong>re Medien genutzt<br />

wer<strong>de</strong>n – neben Kassettenrekor<strong>de</strong>rn auch Computer – scheint diese Zuordnung gerechtfertigt,<br />

da es sich bei <strong>de</strong>n Eltern vorwiegend um eine arbeitsbedingte Computernutzung han<strong>de</strong>lt.<br />

Hannah selbst ist nicht ganz in diesem Cluster wie<strong>de</strong>r zu fin<strong>de</strong>n, da sie ihren DVD-Konsum<br />

zwar nicht quantitativ beschreibt, dieser aber scheinbar eine zentralere Stellung in ihrem<br />

Erwachsenenleben einnimmt Es lässt sich vermuten, dass ihr heutiges Medienverhalten eher<br />

<strong>de</strong>m Cluster vier „>>Durchschnittliche Mediennutzung>>“ entspricht. Hier fin<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r<br />

Durchschnitt aller MediennutzerInnen wie<strong>de</strong>r (ebd.). Gegen die These, dass Hannah eine<br />

„>>Intensivnutzer[in] weniger Medien


4. Primäre literarische Sozialisation<br />

4.1 Individuelle Leseautobiographie<br />

„Na, du kleine Raupe Nimmersatt, immer noch nicht genug vorgelesen?“ So o<strong>de</strong>r ähnlich<br />

könnte eine Frage m<strong>einer</strong> Mutter früher ausgesehen haben, wenn sie an meinem Bett saß und<br />

mir die „Kleine Raupe Nimmersatt“ vorgelesen hat. Ich musste immer wie<strong>de</strong>r lachen, wenn<br />

<strong>de</strong>r kleine Vielfraß sich durch die Seiten futterte. Aber die Erinnerungen an die ersten<br />

Vorlesesituationen sind eher verschwommen und und scharf, eher ein Gefühl, <strong>de</strong>nn eine<br />

Erinnerung. Ein sanftes Dahingleiten in <strong>de</strong>n sicheren Armen m<strong>einer</strong> Mutter. Bildhaft vor<br />

Augen habe ich noch die Geschichte vom Esel Benjamin, die alle Facetten meines kindlichen<br />

Gemütes bewegten: ein schönes Tier, eine bezaubern<strong>de</strong> Landschaft und wahre Freundschaft.<br />

Manchmal las meine Mutter mir vor, manchmal erzählte ich selbst Geschichten zu <strong>de</strong>n<br />

Bil<strong>de</strong>rn.<br />

Klare Erinnerungen verbin<strong>de</strong> ich aber beson<strong>de</strong>rs mit m<strong>einer</strong> Lieblingsgeschichte, die meine<br />

Mutter mir immer und immer wie<strong>de</strong>r erzählen musste: Die antike Sage <strong>de</strong>r Entführung <strong>de</strong>r<br />

Europa. Meine Mutter war (und ist es noch heute) eine grandiose Geschichtenerzählerin.<br />

Wenn Zeus sich in <strong>de</strong>n Stier verwan<strong>de</strong>lte war das immer <strong>de</strong>r spannenste Augenblick, <strong>de</strong>nn<br />

je<strong>de</strong>s Mal beschrieb meine Mutter ein an<strong>de</strong>res Detail: eine gol<strong>de</strong>ne Kette um seinen Hals mit<br />

<strong>einer</strong> Gravur, einen weißen Fleck am Hinterbein o<strong>de</strong>r das energetische Umsichschlagen mit<br />

<strong>de</strong>m kräftigen Stierschwanz. Und immer rief ich in kindlichem Enthusiasmus, dass das letztes<br />

mal doch ganz an<strong>de</strong>rs war – wie ein kleines Ritual, das uns bei<strong>de</strong> verband.<br />

Aber auch mein erster Kin<strong>de</strong>rgarten ist mir positiv in Erinnerung. Einmal fan<strong>de</strong>n wir einen<br />

toten Maulwurf auf <strong>de</strong>m großen Gelän<strong>de</strong> und im Anschluss las uns unsere Kin<strong>de</strong>rgärtnerin<br />

eine Geschichte über einen Maulwurf und seine Tunnel vor.<br />

11


4.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong><br />

In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Leseautobiographie zeigen sich ausschließlich positive erste Erfahrungen<br />

mit Literatur. Sie sind durch emotionale Nähe und Wärme gekennzeichnet und durch einen<br />

spielerischen Umgang mit Literatur und weisen gewisse Glorifizierungsten<strong>de</strong>nzen <strong>de</strong>r Tochter<br />

gegenüber ihrer Mutter auf. Der Kin<strong>de</strong>rgarten wird mit <strong>einer</strong> Verbindung von Literatur und<br />

Biologie ebenfalls positiv erlebt.<br />

Petra Wieler (1997) konnte in ihrer Vergleichsstudie zum Vorleseverhalten von<br />

nie<strong>de</strong>rländischen und <strong>de</strong>utschen Familien Unterschie<strong>de</strong> im Hinblick auf kommunikative<br />

Austauschprozesse in Unterschicht- und Mittelschichtfamilien aufzeigen. Dabei zeigte sie in<br />

Anlehnung an das Mo<strong>de</strong>ll von Vygotski, dass <strong>de</strong>r Umgang mit Bil<strong>de</strong>rbuchgeschichten die<br />

eine gewisse Überfor<strong>de</strong>rung darstellen („Zone of proximal <strong>de</strong>velopment“), dass<br />

Mittelschichtfamilien sich durch eine „offene Vorlesungspraxis“ auszeichnen (vgl. Wieler<br />

1997, S. 317f). In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Leseautobiographie zeigen sich <strong>de</strong>utliche Elemente <strong>einer</strong><br />

solchen Vorlesepraxis: so beharrt die Mutter nicht auf das geschriebene Wort, son<strong>de</strong>rn lässt<br />

ihre Tochter partizipativ mit eigenen I<strong>de</strong>en und Geschichten teilnehmen. Auch <strong>de</strong>r ritualisierte<br />

Prozess von <strong>de</strong>r Sagenerzählung und <strong>de</strong>m Einspruch <strong>de</strong>r Tochter verweist auf eine solche<br />

Vorlesepraxis.<br />

„Die Öffnung <strong>de</strong>r Vorlesekonzepte, wie sie sich in <strong>de</strong>n Interviews analog zur<br />

steigen<strong>de</strong>n sozialen Schichtzugehörigkeit, vor allem aber analog zum steigen<strong>de</strong>n<br />

Ausbildungsniveau <strong>de</strong>r Mütter dokumentiert, ist verknüpft mit <strong>de</strong>r immer stärkeren<br />

Übernahme <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>m vorgelesen wird (…)“ (Wieler 1997, S. 318).<br />

Die „primäre literarische Initiation“ beschreibt die erste Phase <strong>de</strong>r Leseentwicklung eines<br />

Individuums (vgl. Graf 1995, S. 99). Der Hinweis auf Literaturerfahrungen im Kin<strong>de</strong>rgarten<br />

ist dabei nach Graf (1995, S. 100) eine eigentlich zu gering gewürdigte literarische<br />

Sozialisationsinstanz und es ist eher untypisch, dass diese Eingang in Leseautobiographien<br />

fin<strong>de</strong>t. Wie Wieler (1997) sieht auch Graf (1995, S, 37) eine Erhöhung <strong>de</strong>r<br />

Verstehenskompetenz durch eine Vorlesepraxis realisiert, die „Fragen zu <strong>de</strong>n<br />

unverständlichen Stellen auf <strong>de</strong>m erreichten Sinngebungsniveau beantwortet“ (ebd.). Graf<br />

(1995, S. 99) verweist zwar darauf, dass in <strong>de</strong>r Vorlesezeit nicht im eigentlichen Sinn von<br />

Lesen gesprochen wer<strong>de</strong>n darf, aber er betont dass die ersten Vorlese- und Erzählerlebnisse<br />

bei späteren Viellesern zu <strong>de</strong>n ersten Erfahrungen von Geborgenheit gehören – wie an dieser<br />

Leseautobiographie <strong>de</strong>utlich wird (vgl. Graf 1995, S. 99f). Prototypisch ist auch die<br />

12


Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Mutter als zentrale Figur <strong>de</strong>r primären literarischen Sozialisation (vgl. Graf<br />

1995, S. 104).<br />

5. Alphabetisierung<br />

5.1 Individuelle Leseautobiographie<br />

An meine ersten Leseerfahrungen hatte ich zunächst k<strong>einer</strong>lei Erinnerung. Ich wusste we<strong>de</strong>r,<br />

ob es mir leicht noch ob es mir schwer fiel lesen zu lernen. M<strong>einer</strong> Erinnerung wur<strong>de</strong> durch<br />

zwei Ereignissen in <strong>de</strong>r Gegenwart belebt: zum einen haben wir in <strong>einer</strong> Vorlesung eine<br />

Anlerntabelle zum Lesen bearbeitet und mussten diese Zeichen übersetzten, meine<br />

Langsamkeit und die Anstrengung und Konzentration, die mich diese Arbeit gekostet hat,<br />

erinnerten mich tatsächlich an meine ersten eigenen Leseversuche. Zum an<strong>de</strong>ren fragte ich<br />

meine Mutter (siehe Interview im Anhang E), die beschrieb, dass ich Lesen zunächst als<br />

Anstrengung empfand und sie mit mir gemeinsam gelesen hat. Wir haben dann wechselseitig<br />

gelesen, mal sie und mal ich. Und manchmal habe ich sie gebeten zu lesen nach ihrer<br />

Aussage, weil das schneller ging. Daraufhin fiel mir wie<strong>de</strong>r mein erstes Buch ein, das ich<br />

gelesen habe, d.h. <strong>de</strong>n Titel kenne ich nicht mehr, aber es war die Geschichte eines kleinen<br />

Jungen, <strong>de</strong>r seinen Hund mit in die Schule brachte. Ich sehe die schönen, bunten Bil<strong>de</strong>r mit<br />

<strong>de</strong>nen das kindliche Lesebuch geschmückt war wie<strong>de</strong>r bildhaft vor Augen. Und ich erinnere<br />

mich auch vage daran, eine Mischung aus Anstrengung und Stolz empfun<strong>de</strong>n zu haben, dass<br />

ich jetzt lesen konnte.<br />

5.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong><br />

Die Autorin dieser Leseautobiographie beschreibt Unsicherheiten in <strong>de</strong>r Rückbesinnung auf<br />

ihre ersten Erfahrungen mit <strong>de</strong>m Medium Schrift und kann sich nur unter zur Hilfenahme <strong>de</strong>r<br />

Mutter und Erfahrungen an <strong>de</strong>r Universität an ihre ersten Leseversuche erinnern. Der<br />

Übergang zur Schriftlichkeit war für sie mit Mühsal und Stolz gleichermaßen verbun<strong>de</strong>n.<br />

Graf (1995, S. 100) konstatiert: „Erinnerungsunsicherheiten sind typisch für die<br />

Rekonstruktion jener Phase <strong>de</strong>r eigenen Lebensgeschichte, in <strong>de</strong>ren Mittelpunkt das<br />

Lesenlernen steht“. Diese Leseautobiographie zeigt dies <strong>de</strong>utlich, in<strong>de</strong>m die Autorin ihre<br />

Gedanken damit beginnt, dass sie sich gar nicht an die ersten Leseerfahrungen erinnert.<br />

Aufgrund <strong>de</strong>r vorangegangen <strong>Analyse</strong> <strong>de</strong>r familiären Interaktion und <strong>de</strong>r Rolle von Büchern<br />

im Haushalt ist es erstaunlich, dass das Mädchen Schwierigkeiten mit <strong>de</strong>m Übergang zur<br />

13


Schriftsprachlichkeit aufweist. Sowohl die „primäre literarische Initiation“ (Graf 1995,<br />

S.100), die Vorlesepraxis (Wieler 1997, S. 317) und das Familienklima (B. Hurrelmann 1993)<br />

verweisen auf positive Erfahrungen mit Schriftlichkeit und einem gelungenen Zusammenspiel<br />

zwischen Bild und Schrift. Graf (1995, S. 103) beschreibt, dass <strong>de</strong>r Übergang vom Oralen zur<br />

Schriftsprachlichkeit ten<strong>de</strong>nziell eher von späteren „Wenig- bzw. Nichtlesern“ (Graf 1995, S.<br />

115) als problematisch erlebt wird. Ist hier vielleicht ein erster Erklärungsansatz für Hannahs<br />

ambivalentes Verhältnis zur Literatur zu erahnen? Trotz <strong>de</strong>r guten Ausgangsbedingungen, die<br />

Wieler (1997, S. 320) als literarisch-kulturellen Vorsprung von Mittelschichtkin<strong>de</strong>rn<br />

beschreibt, hat Hannah Schwierigkeiten beim Übergang zur Schriftlichkeit. Möglicherweise<br />

könnte dies ein Hinweis auf kognitive Defizite sein, die durch die guten familiären<br />

Sozialisationsbedingungen abgefe<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>n.<br />

Ein gera<strong>de</strong>zu pradigmatisches Beispiel für eine solche kompensatorische Strategie ist das<br />

wechselseitige Lesen mit <strong>de</strong>r Mutter. Bettina Hurrelmann (1993, S. 58) verweist darauf, dass<br />

Vorlesen von Kin<strong>de</strong>rn beson<strong>de</strong>rs akzeptiert wird, wenn diese die Situation mitgestalten<br />

können und es über Gespräche hinaus auch zum Rollentausch beim Lesen kommt. Graf<br />

(2007, S. 38f) verweist darauf, dass die kindlichen Wege zum Text durch unterschiedliche<br />

Konstellationen bedingt sein können. So kann das Interesse über die Begleittexte zu Bil<strong>de</strong>rn<br />

hervorgerufen wer<strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r das Kind kann von <strong>de</strong>m Wunsch beseelt sein, sich selbst<br />

Vorzulesen o<strong>de</strong>r kleine Erfolgserlebnisse können eine positive Einschätzung für das Medium<br />

Buch bewirken (ebd.). In <strong>de</strong>r Leseautobiographie von Hannah scheinen vor allem die Bil<strong>de</strong>r<br />

in Erinnerung geblieben zu sein und es lässt sich <strong>de</strong>shalb vermuten, dass diese ein zentrales<br />

Anregungszentrum für sie ist. Außer<strong>de</strong>m beschreibt sie einen gewissen „Stolz“ selbst lesen zu<br />

können, was unter die Kategorie Erfolgserlebnisse subsumiert wer<strong>de</strong>n kann. Der umsichtige<br />

und liebevolle Umgang <strong>de</strong>r Mutter mit <strong>de</strong>n anfänglichen Leseschwierigkeiten <strong>de</strong>r Tochter<br />

scheint eine Versinnbildlichung von Grafs (2007, S. 41) mahnen<strong>de</strong>n Worten: „Die<br />

Notwendigkeit von Leseanregungen erinnern daran, dass die Leseentwicklung nicht<br />

naturwüchsig fortschreitet, son<strong>de</strong>rn als ein Sozialisationsprodukt umsichtiger Interventionen<br />

bedarf“. Hierbei ist unter Rückgriff auf Bettina Hurrelmanns (1993) Studie hinzuzufügen: und<br />

unter Verzicht auf Leistungsdruck und Zwang umzusetzen.<br />

14


6. Selbstständige kindliche Lektüre<br />

6.1 Individuelle Leseautobiographie<br />

Ich glaube, dass es eine Zeit gab, in <strong>de</strong>r ich freiwillig und aus einem inneren Antrieb gelesen<br />

habe. Eines <strong>de</strong>r wenigen Bücher, die ich spontan in Erinnerung habe war von dtv-Pocket <strong>einer</strong><br />

anonymen Autorin („Fragt mal Alice“, 1992). Es ging darin um eine junge Frau, die in das<br />

Drogenmilieu hineinrutschte. Ich weiß nicht, ob meine Erinnerung an dieses Buch auf mein<br />

beson<strong>de</strong>res Interesse an dieser Thematik zurückzuführen ist o<strong>de</strong>r vielleicht auch nur, weil die<br />

bildhafte Beschreibung beson<strong>de</strong>rs eindrücklich, ja, schockierend für mein junges Alter war.<br />

Aber ich glaube, dass ich mich beson<strong>de</strong>rs an dieses Buch erinnere, weil es eine <strong>de</strong>r wenigen<br />

Augenblicke war, in <strong>de</strong>nen ich zweifellos gern gelesen habe.<br />

Noch ein paar Jahre früher habe ich „Jeremy James“ (D.H. Wilson, 1978, 1979, 1980, 1983)<br />

gelesen. Seltsamerweise muss ich immer lächeln, wenn ich an diese Buchreihe <strong>de</strong>nke. Ich<br />

habe alle Ausgaben gelesen und auch hier habe ich noch lebhafte Erinnerungen, allerdings<br />

kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es im Nachhinein hineingelegte Erinnerungen an<br />

<strong>de</strong>n Jungen Jeremy sind, <strong>de</strong>r die Welt aus so süßen Kin<strong>de</strong>raugen betrachtete o<strong>de</strong>r ob spätere<br />

schulische Kontexte die Erinnerung nur lebendig gehalten haben. (Bei einem<br />

Vorlesewettbewerb in <strong>de</strong>r 5. o<strong>de</strong>r 6. Klasse las <strong>einer</strong> „Jeremy James“ vor und holte die fast<br />

schon verschütteten Erinnerungen wie<strong>de</strong>r hervor.) Ich glaube aber, dass ich „Jeremy James“<br />

tatsächlich begeistert gelesen habe, da es eines <strong>de</strong>r wenigen Bücher war, bei <strong>de</strong>nen ich auch<br />

mal lachen konnte. Auch hier spielen aber meine Eltern eine zentrale Rolle, da sie mir die<br />

Bücher gegeben haben. Ich kann mich nicht daran erinnern, selbst auf die Suche nach<br />

Literatur gegangen zu sein.<br />

So o<strong>de</strong>r so, wur<strong>de</strong> ich je<strong>de</strong>nfalls an klassische Kin<strong>de</strong>rliteratur, insbeson<strong>de</strong>re Christine<br />

Nöstlinger herangeführt („Ein Mann für Mama“ ,1978; „Luki-live“,1978; „Gretchen mein<br />

Mädchen“, 1988; u.a.). An „Gretchen mein Mädchen“ und „Luki-live“ erinnere ich mich<br />

noch, da diese bei<strong>de</strong>n Bücher mich erstmals mit Beziehungsfragen konfrontiert haben.<br />

Damals habe ich mir verständlicherweise noch wenig Gedanken über Frauen und Männer<br />

gemacht und dass sie sich gegenseitig schlecht behan<strong>de</strong>ln könnten. „Luki-live“ hat mir sogar<br />

etwas Angst vor Verän<strong>de</strong>rung beigebracht, da ich sah, wie Verän<strong>de</strong>rungen Freundschaften<br />

zerstören können. Auch das dtv-Pocket Buch „Drei Freun<strong>de</strong>“ von Myron Levoy (1986)<br />

faszinierte mich ausschließlich wegen eines einzigen Satzes, <strong>de</strong>n ich in einem Buch – naiv<br />

15


wie ich war – niemals erwartet hatte. Es han<strong>de</strong>lte um die Dreiecksbeziehung eines Jungen mit<br />

zwei Mädchen aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>s Jungen erzählt. Der beeindrucken<strong>de</strong> und bis heute<br />

präsente Satz lautete: „Sein Ding wur<strong>de</strong> steif.“ Und so was in einem Buch! Das geht doch gar<br />

nicht! Darf man so was überhaupt? Meine bürgerliche Sozialisation schlug Alarm und<br />

kämpfte mit m<strong>einer</strong> jungen, sich entwickelten Geschlechtsreife und Neugier.<br />

Gudrun Pausewangs (1993) „Der Schlund“ las ich 1993. Ich war damals 13 Jahre alt. Ich weiß<br />

dieses Datum nur <strong>de</strong>shalb noch so genau, weil ich bei <strong>de</strong>r Erstveröffentlichung dieses Buches<br />

zu <strong>einer</strong> Lesung von Frau Pausewang ging und enttäuscht war, dass sie lediglich vorlas und<br />

nichts erklärte und mit uns nicht diskutierte. Das war ich einfach an<strong>de</strong>rs gewöhnt! Außer<strong>de</strong>m<br />

hatte sie bei <strong>de</strong>r Lesung fast das ganze Buch vorgelesen, so dass das eigene Lesen wenig<br />

Neues erbrachte. So je<strong>de</strong>nfalls meine Erinnerung. In diesem Alter fing ich auch in etwa an<br />

Klaus Kordon zu lesen. Hatte er eine Be<strong>de</strong>utung für mein Leben? Ja, <strong>de</strong>nn seine Werke („Die<br />

roten Matrosen“, 1984; „Mit <strong>de</strong>m Rücken zur Wand“, 1990; „Der erste Frühling“, 1993; u.a.)<br />

befassten sich vorwiegend mit <strong>de</strong>n 30iger Jahren und dann <strong>de</strong>r Nachkriegszeit. Aus Ihnen<br />

habe ich meinen Geschichtsunterricht bestritten. Sie hatten also für meinen schulischen Erfolg<br />

Be<strong>de</strong>utung – für mich selbst jedoch wenig. Ich glaube, dass das Buch „Die Welle“ von<br />

Morton Rheue (1984) mich persönlicher beeinflusst hat, da ich anfing mich mit <strong>de</strong>r Frage<br />

auseinan<strong>de</strong>rzusetzen, ob ich mir stärkere Disziplinierungsmaßnahmen wünschen wür<strong>de</strong> und<br />

ob ich mutig genug wäre, mich gegen eine Mehrheit von Freun<strong>de</strong>n zu wehren, wenn sie sich<br />

einem totalitären System anschließen wür<strong>de</strong>n. Ich kam damals zu <strong>de</strong>m traurigen Ergebnis,<br />

dass mein Wunsch nach Anpassung und Anerkennung wohl stärker wäre und ich vielleicht<br />

sogar beson<strong>de</strong>rs eifrig bei <strong>de</strong>r Befolgung von Regeln und Vorgaben gewesen wäre. Insofern<br />

haben mich Bücher auch zum Nach<strong>de</strong>nken veranlasst und die Diskussionen mit meinen Eltern<br />

darüber haben mir Freu<strong>de</strong> gemacht. Die Frage ist nur: Haben sie mir Freu<strong>de</strong> gemacht, weil<br />

meine Eltern diese Handlungen positiv verstärkt haben o<strong>de</strong>r weil ich ein immanentes Interesse<br />

an <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung hatte?<br />

6.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong><br />

Hannah berichtet von ihrer Zwiespältigkeit im Hinblick auf die Be<strong>de</strong>utung von Literatur in<br />

ihren Jugendjahren. So beschreibt sie beispielhaft Erfahrungen mit klassischen Werken aus<br />

<strong>de</strong>m breiten Spektrum <strong>de</strong>r gängigen Kin<strong>de</strong>rliteratur, wobei eine Vorliebe für politische und<br />

persönliche Krisenthemen <strong>de</strong>utlich wird. Wie ihre Mutter (siehe Anhang E) es im Interview<br />

nennt, hat sie eine Präferenz für „Problemliteratur“. Es zeigt sich eine intensive, persönliche<br />

16


Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n genannten Werken und mit <strong>de</strong>r Rolle ihrer Eltern bei <strong>de</strong>r<br />

Literaturwahl.<br />

Graf (2002, S. 50) erklärt, dass sich das kindliche Lesen „nicht auf bewusste Entscheidungen,<br />

Intentionen und Motive reduzieren“ lässt, son<strong>de</strong>rn durch unbewusste und habitualisierte<br />

Motive charakterisiert wer<strong>de</strong>n kann. Und bezeichnet „[d]ie Gesamtheit <strong>de</strong>r psychischen<br />

Regeln und Mechanismen, die diese komplexe Lesehandlung steuern“ als „Lesekonstruktion“<br />

(ebd.) <strong>de</strong>r Kindheit. Die Autorin dieser Leseautobiographie unternimmt <strong>de</strong>n Versuch <strong>einer</strong><br />

Erklärung, in<strong>de</strong>m sie ihre Lesemotive auf Verstärkungsmechanismen im Sinne <strong>de</strong>s<br />

Behaviorismus zurückführt.<br />

Graf (2007, S. 48) stellt in seinen <strong>Analyse</strong>n von Leseautobiographien immer wie<strong>de</strong>r fest, dass<br />

sich das Genre <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rliteratur weitgehend mit <strong>de</strong>m klassischen Kin<strong>de</strong>rbuchkanon<br />

überschnei<strong>de</strong>t. Dies ist auch hier zu bemerken, insbeson<strong>de</strong>re im Hinblick auf die im Anhang<br />

B genannte Literatur. So erwähnt Graf (2007, S. 49) u.a. auch „Hanni und Nanni“ – wie auch<br />

die Autorin dieser Leseautobiographie (siehe Anhang B) - und erklärt eine solche Lektüre mit<br />

<strong>de</strong>r Erfüllung entwicklungsbedingter, kindlicher Bedürfnisse. Bereits in Grafs<br />

Veröffentlichung von 1995 geht er intensiv auf die kindliche Lustlektüre ein, die er in<br />

psychoanalytischer Couleur als „orale Suchtten<strong>de</strong>nz“ (Graf 1995, S. 108) bezeichnet und<br />

<strong>de</strong>ren häufig beschriebene Wie<strong>de</strong>rholungslektüre er mit <strong>einer</strong> Korrespon<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r<br />

Tiefenschichten <strong>de</strong>s Textes mit <strong>de</strong>m Unbewussten erklärt (ebd., S. 111). Da man in dieser<br />

Argumentation eine gewisse Gefahr <strong>de</strong>r Überstrapazierung psychoanalytischer<br />

Deutungsmuster sehen kann und zu<strong>de</strong>m die wissenschaftliche Ten<strong>de</strong>nz bemerkbar wird, sich<br />

in psychoanalytischen, diskursiv abgeschlossenen und damit nicht wi<strong>de</strong>rlegbaren zirkulären<br />

Argumentationskreisen zu bewegen, gehe ich auf diesen Aspekt nicht näher ein. Zu<strong>de</strong>m lässt<br />

sich dieser Standpunkt im Hinblick auf die vorliegen<strong>de</strong> Leseautobiographie gut vertreten, da<br />

Hannah we<strong>de</strong>r eine intensive Leselust beschreibt noch von <strong>einer</strong> häufigen<br />

Wie<strong>de</strong>rholungslektüre spricht. Graf (2007, S. 49) bezeichnet allerdings diese Lesephase als<br />

Grundstein für eine anhalten<strong>de</strong> Lesemotivation, geht auf <strong>de</strong>n Begriff allerdings sowohl in<br />

seinen früheren Texten (1995, 2002, 2004) als auch in seinem aktuellen Werk (2007) nicht<br />

näher ein.<br />

„Diese hingebungsvolle Lektüre erfüllt im Rahmen <strong>de</strong>r kindlichen<br />

Lesesozialisation die ganz entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Funktion, das Lesen mit <strong>de</strong>m Erlebnis<br />

17


<strong>de</strong>r Befriedigung zu verknüpfen und legt damit die Grundlage für die stabile<br />

Lesemotivation“ (Graf 2007, S. 49).<br />

Graf erklärt somit die „hingebungsvolle Lektüre“ (ebd.) als scheinbar notwendige (wenn auch<br />

nicht hinreichen<strong>de</strong>) Voraussetzung für eine stabile Lesepraxis. Folglich dürfte Hannah, in<br />

<strong>de</strong>ren Leseautobiographie eine Ambivalenz <strong>de</strong>utlich wird, keine stabile Lesepraxis aufweisen.<br />

Hier zeigt sich ein Erklärungsvakuum für an<strong>de</strong>re Lesemotivationen. Hannah selbst bietet<br />

einen Erklärungsansatz, <strong>de</strong>r sich auf einen eher verhaltenstheoretischen, behavioristischen<br />

Ansatz zu beziehen scheint. Im Sinne von Eggert und Garbe (1995, S.128) wird das Lesen in<br />

<strong>de</strong>r Forschung teilweise mit adoleszenter I<strong>de</strong>ntitätsbildung in Verbindung gebracht – auch<br />

wenn dies umstritten ist (ebd., S.134f). Dass Hannahs Lektüre auch mit ihrer<br />

Geschlechtsentwicklung, die unabdingbarer Bestandteil <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntitätsbildung ist,<br />

zusammenhängt, ist aus ihrer Lektüreautobiographie unverkennbar abzulesen.<br />

Eine Beson<strong>de</strong>rheit dieser Leseautobiographie sollte an dieser Stelle noch Erwähnung fin<strong>de</strong>n.<br />

So stellt Graf (2007, S. 48) fest, dass kindliche Lesepräferenzen sich u.a. auf realistische<br />

Erzählungen, Kriminalgeschichten und Tierbücher beziehen. Philipp und Garbe (2007) haben<br />

außer<strong>de</strong>m in ihrer Studie zu <strong>de</strong>n „Achsen <strong>de</strong>r Differenz“ geschlechtstypische Unterschie<strong>de</strong> auf<br />

<strong>de</strong>n Ebenen <strong>de</strong>r „Lesequalität und –frequenz“, <strong>de</strong>r „Lesestoffen und Lektürepräferenzen“, <strong>de</strong>r<br />

„Leseweisen und Lektüremodalitäten“, <strong>de</strong>r „Lesefreu<strong>de</strong> und –neigungen“ und <strong>de</strong>r<br />

„Lesekompetenz“ (Philipp et al., 2007, S.1) ausgemacht. Im Folgen<strong>de</strong>n wird nur auf die<br />

Beson<strong>de</strong>rheit dieser Lektüreautobiographie eingegangen, die sich auf die Ebene <strong>de</strong>s<br />

Lesestoffes bzw. <strong>de</strong>r Lesepräferenz bezieht. So weisen die genannten AutorInnen im Rekurs<br />

auf an<strong>de</strong>re Studien daraufhin, dass Kin<strong>de</strong>r „Bil<strong>de</strong>rbücher, Kriminalgeschichten, Tierbücher<br />

und realistische Geschichten, dass Kin<strong>de</strong>r spannen<strong>de</strong> Unterhaltung bevorzugen – und auf<br />

keinen Fall problemorientierte Kin<strong>de</strong>rliteratur o<strong>de</strong>r psychologische Kin<strong>de</strong>rromane“ (ebd., S.<br />

7). In Hannahs Leseautobiographie zeigt sich jedoch gera<strong>de</strong> eine Bevorzugung von<br />

problemorientierter Literatur und weicht damit vom typischen, kindlichen Leseverhalten nicht<br />

nur auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Leselust, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>r Wahl ihrer Lektüre ab.<br />

7. Lesekrise<br />

7.1 Individuelle Leseautobiographie<br />

Ich kann mich nicht erinnern mit <strong>de</strong>m Lesen jemals aufgehört zu haben. Es gab natürlich<br />

immer Phasen in <strong>de</strong>nen ich mehr o<strong>de</strong>r weniger gelesen habe, aber diese waren eher temporär<br />

18


und nicht auf ein bestimmtes Alter festgelegt. Manchmal habe ich eine gewisse<br />

Überfor<strong>de</strong>rung gespürt. Dann konnte ich nicht noch eines dieser Bücher lesen, die mir die<br />

Tragödie kindlicher Schicksale beschrieben wie beispielsweise „Und je<strong>de</strong>n Tag ein Stückchen<br />

weniger von mir“ (1987), die das grausame Schicksal eines magersüchtigen Mädchens<br />

kennzeichnete und eine psychologische Innenschau auf die Seele <strong>de</strong>r Hauptfigur warf.<br />

Manchmal empfand ich die sog. Erwachsenenliteratur sogar als entspannen<strong>de</strong>r und weniger<br />

von Sorgen geprägt als die Jugendliteratur. So erinnere ich mich noch an etwas peinliche<br />

Lachkrämpfe in <strong>de</strong>r Bahn bei <strong>de</strong>r Lektüre von Schwanitz „Der Campus“ (1996), die mich<br />

Neugierig auf <strong>de</strong>n Chaosla<strong>de</strong>n Universität gemacht hat.<br />

7.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong><br />

Hannah beschreibt sich als kontinuierliche Leserin, die keine signifikanten Brüche aufweist.<br />

Allerdings scheinen sich auch temporäre Phasen <strong>einer</strong> Überfor<strong>de</strong>rung durch die Lektüre<br />

bemerkbar zu machen und damit eine phasenweise Literaturabstinenz.<br />

Nach Graf (1995, S. 114) beginnt mit Eintritt in die Pubertät bei vielen jungen Erwachsenen<br />

eine sog. „Lesekrise“ (ebd.), die sich aus <strong>de</strong>r Durchschaubarkeit <strong>de</strong>r kindlichen<br />

Lektürepräferenz ergeben. Dabei treten Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Lesehäufigkeit auf, die sich in<br />

<strong>einer</strong> vollständigen Leseabstinenz, aber auch in <strong>einer</strong> Zunahme <strong>de</strong>r Lesehäufigkeit ausdrücken<br />

können (ebd.). „Zwischen Leseabstinenz und Lesesucht, zwischen Schwelgen im Trivialen und<br />

hochversierten ästhetischen Ambitionen ist alles möglich“ (Graf 2002, S. 56). Hannah selbst<br />

beschreibt eine solche Lesekrise nicht. Im Gegenteil zeigt sie sich sogar von kindlichen<br />

Lesestoffen streckenweise überfor<strong>de</strong>rt und verweist ironischerweise auf die einfachere<br />

Machart von erwachsenen Büchern. Auch Hannahs Mutter bestätigt im Interview das<br />

Ausbleiben <strong>einer</strong> klassischen „Lesekrise“ (ebd.) im Sinne Grafs und beschreibt Hannahs<br />

Spaziergänge mit Hund und Buch in <strong>de</strong>r Hand in diesen Lebensjahren (siehe Anhang E).<br />

Nach Graf (1995, S. 115) entschei<strong>de</strong>t allerdings die „Lesekrise“ über <strong>de</strong>n weiteren Umgang<br />

mit Literatur, u.z. ob man sich zum/ zur „Nicht- bzw. Wenigleser[in]“, <strong>de</strong>r/ die seine/ ihre<br />

Lesekarriere abbricht, <strong>de</strong>m/ <strong>de</strong>r „Sach- o<strong>de</strong>r Fachbuchleser[in]“, <strong>de</strong>r/ die (eher männliche)<br />

LeserIn konzentriert sich auf Informationstexte o<strong>de</strong>r zum/ zur „Belletristik-Leser[in]“ mit <strong>de</strong>r<br />

Aufrechterhaltung vom Interesse an fiktionalen Texten entwickelt (Graf 1995, S.115). Da<br />

Hannah nach Angaben ihrer Mutter (siehe Anhang E) einen fließen<strong>de</strong>n Übergang zur<br />

erwachsenen Belletristik-Literatur fin<strong>de</strong>t, ist anzunehmen, dass sie sich nach <strong>de</strong>m Ausgang<br />

dieser latenten „Lesekrise“ in <strong>de</strong>r Rolle <strong>einer</strong> „Belletristik-Leser[in]“ wie<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong>t.<br />

19


8. Sekundäre literarische Initiation<br />

8.1 Individuelle Leseautobiographie<br />

Später, als ich älter war, habe ich tatsächlich die Schränke, insbeson<strong>de</strong>re m<strong>einer</strong> Mutter,<br />

durchstöbert um Anregungen zu fin<strong>de</strong>n, allerdings kann ich <strong>de</strong>finitiv nicht sagen, ob dies aus<br />

wirklicher Neugier o<strong>de</strong>r gar Lust entstan<strong>de</strong>n ist o<strong>de</strong>r vielmehr, weil ich wusste, dass es von<br />

mir durch Schule und Eltern erwartet wur<strong>de</strong>.<br />

In späteren Jahren kam ich mit existenzialistischer Literatur (Simone <strong>de</strong> Beauvoir, Sartre und<br />

Camus, siehe Anhang B) in Kontakt. Hier zeigte sich ausnahmsweise einmal we<strong>de</strong>r ein<br />

schulischer noch ein elterlicher Einfluss. Eine Freundin hatte Simone <strong>de</strong> Beauvoirs<br />

„Memoiren <strong>einer</strong> Tochter aus gutem Hause“ (1997) gelesen und war davon überzeugt, dass<br />

diese Geschichte mein Leben wi<strong>de</strong>rspiegeln wür<strong>de</strong>. Natürlich machte mich das neugierig und<br />

so las ich das Buch. Ich war allerdings nicht ihrer Meinung. Aber seltsamerweise dachte ich<br />

die ganze Zeit an das Leben <strong>einer</strong> an<strong>de</strong>ren Freundin von mir, <strong>de</strong>r ich das Buch dann zum<br />

Geburtstag schenkte. Ich wur<strong>de</strong> dann eine begeisterte „Existenzialistin“, <strong>de</strong>nn ich fühlte mich<br />

ebenfalls zur „Freiheit verurteilt“ (Sartre, 1966, zitiert nach Möbuß, 2004, S.39) und teilte<br />

Simone <strong>de</strong> Beauvoirs Lebensgefühl. Ich las „Sie kam und blieb“ (1997) und ihre „Briefe an<br />

Sartre“ (1998). Von ihren Briefen war ich allerdings sehr enttäuscht. Wie konnte eine so<br />

intelligente junge Frau Sartre von ihren Spaziergänge und ihrem Mittagessen erzählen? Ich<br />

war davon ausgegangen, dass sie nur hochtrabend-intellektuelle Briefe schreiben wür<strong>de</strong> und<br />

nicht so einen alltäglichen Kleinkram. Sehr interessant fand ich auch ein Psychogramm über<br />

Simone <strong>de</strong> Beauvoir von Toril Mori (1997), in<strong>de</strong>m endlich ein mal ihr doch fragwürdiges<br />

Verhältnis zu <strong>de</strong>m – man kann es wohl nicht an<strong>de</strong>rs sagen – „Casanova“ Sartre beleuchtet<br />

wur<strong>de</strong>. Wie konnte eine so hellsichtige Frau von einem Menschen so geblen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n?<br />

Zunächst las ich „Der Ekel“ (1998), was mich in m<strong>einer</strong> I<strong>de</strong>ntifikation mit <strong>de</strong>m<br />

existenzialistischen Lebensgefühl noch bestärkte, <strong>de</strong>nn dieses Gefühl <strong>de</strong>s Ekels vor und in <strong>de</strong>r<br />

Welt, teilte ich zeitweise mit <strong>de</strong>r Hauptfigur. Um <strong>de</strong>r Philosophie <strong>de</strong>r Existenzialisten näher<br />

zu kommen, versuchte ich kurz nach <strong>de</strong>m Abitur Sartres „Das Sein und das Nichts“ (1962) zu<br />

lesen. Mein erster intensiverer Kontakt zu <strong>de</strong>m, was wohl unter philosophische Abhandlungen<br />

fällt, scheiterte kläglich. Ich verstand nichts! Es war ein frustrieren<strong>de</strong>s Erlebnis, insbeson<strong>de</strong>re,<br />

weil meine Eltern noch versuchten, meine wil<strong>de</strong>n Zitaterinnerungen zu interpretieren und zu<br />

20


erklären. Trotz<strong>de</strong>m las ich während meines Erststudienbeginns 2 „Zeit <strong>de</strong>r Reife“ (1986) bei<br />

<strong>de</strong>m ich meine alte Begeisterung wie<strong>de</strong>r fand, <strong>de</strong>nn bestimmte Dialoge erlebte ich in <strong>de</strong>r<br />

Realität mit einem Studienfreund fast genauso wie<strong>de</strong>r.<br />

In meinem Freun<strong>de</strong>skreis war Lesen etwas Wertvolles, über das man sich auch außerhalb <strong>de</strong>s<br />

Schulalltages unterhielt. So schwärmte mir ein Freund von Hermann Hesses Weltsicht und<br />

insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r hinduistisch angehauchten Weltsicht von „Siddartha“ vor, so dass ich<br />

alsbald ihn auch las und wir wil<strong>de</strong> Diskussionen über die Hessesche Lebensphilosophie<br />

austauschten. Mit etwa 17 Jahren trat ich in die Jugendorganisation <strong>de</strong>r SPD ein und beteiligte<br />

mich dort an <strong>de</strong>r Einführung <strong>einer</strong> Bergedorfer Jugendzeitschrift und suchte Sachliteratur zu<br />

brisanten politischen Themen wie beispielsweise erneuerbaren Energien.<br />

8.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong><br />

In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Leseautobiographie erzählt die Autorin von drei literarischen<br />

Anregungszentren: zum einen bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r familiäre Bücherschrank weiterhin „Nahrung für die<br />

Seele“, an<strong>de</strong>rerseits wird sie durch ihre Peer-group in Literaturfragen beraten. Und schließlich<br />

for<strong>de</strong>rt ihre außerschulische Tätigkeit bei <strong>de</strong>n Jungen Sozialisten (Jusos) die Beschäftigung<br />

mit Sachliteratur heraus. Dabei zeigt sich im Hinblick auf <strong>de</strong>n elterlichen Bücherschrank<br />

weiterhin eine Abgrenzungsschwierigkeit zwischen freiwillig-neugieriger Lektüre und<br />

schulisch-normativ besetztem Pflichtlesen.<br />

Da im vorangegangen Abschnitt festgestellt wur<strong>de</strong>, dass Hannah zu <strong>de</strong>n sog „Belletristik-<br />

Leser“innen im Sinne Grafs (1995, S. 115) gerechnet wer<strong>de</strong>n darf, kann von <strong>einer</strong> gelungenen<br />

„sekundären literarischen Initiation“ (Graf 1995, S. 117; 2002, S. 56) gesprochen wer<strong>de</strong>n.<br />

Die „sekundäre literarische Initiation“ (ebd.) schließt an die Lesekrise an und ist dadurch<br />

gekennzeichnet, dass die Leseanregungen außerhalb <strong>de</strong>r Familie eine dominantere Rolle<br />

einnehmen. „Hinweise auf Bücher und Autoren geben nun überwiegend Freun<strong>de</strong> und<br />

Freundinnen, aber auch die Schule“ (Graf 2002, S. 56).<br />

Wie Eggert und Garbe (1995, S. 128) herausgearbeitet haben, ist eine zentrale Aufgabe <strong>de</strong>r<br />

Adoleszenz die Ablösung von <strong>de</strong>n Eltern und die Bildung <strong>einer</strong> eigenständigen I<strong>de</strong>ntität. Dem<br />

Autor und <strong>de</strong>r Autorin zur Folge individualisiert sich das Leseverhalten und die Be<strong>de</strong>utung<br />

<strong>de</strong>s Lesens für das Leben bil<strong>de</strong>t sich heraus (ebd.). In dieser Leseautobiographie zeigt sich<br />

keine ein<strong>de</strong>utige Ablösung von <strong>de</strong>n Eltern. Zum einen nutzt Hannah immer noch die elterliche<br />

2<br />

Sach- und Fachliteratur aus <strong>de</strong>m Erststudium (Psychologie) konnte aufgrund <strong>de</strong>s Umfangs <strong>de</strong>r Arbeit nicht<br />

berücksichtigt wer<strong>de</strong>n.<br />

21


Bibliothek als Anregung, zum an<strong>de</strong>ren scheinen die Lesestoffe sich nicht vom Kanon<br />

bildungsbürgerlicher Standardliteratur zu distanzieren, auch wenn das Anregungszentrum sich<br />

tatsächlich ausweitet.<br />

Graf (2004) unterschei<strong>de</strong>t verschie<strong>de</strong>ne „Lesemodi“ (ebd., S.120), die er wie folgt <strong>de</strong>finiert:<br />

„Modi wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>finiert als in <strong>de</strong>r literarischen Sozialisation erworbene<br />

Handlungsdispositionen, die spezifische Rezeptionsweisen ermöglichen, um<br />

Texte subjektbezogen zu nutzen, also um z.B. Bedürfnisse zu befriedigen, um<br />

Interesse zu realisieren o<strong>de</strong>r um Notwendiges zu bearbeiten, um Wissen zu<br />

erwerben, um Erfahrungen zu machen o<strong>de</strong>r um Kunst zu genießen“ (Graf 2004,<br />

S. 120).<br />

In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Leseautobiographie wer<strong>de</strong>n bereits verschie<strong>de</strong>ne Handlungsdispositionen<br />

zur subjektiven Textnutzung genannt: So beschreibt Hannah <strong>einer</strong>seits i<strong>de</strong>ntifikatorische<br />

Aspekte, da die Leseanregung zur „Existenzialistischen Literatur“ mit <strong>de</strong>m Hinweis auf die<br />

Ähnlichkeit von ihr mit <strong>de</strong>r Hauptfigur angereizt wur<strong>de</strong>. Zum an<strong>de</strong>ren ist sicher auch<br />

rollenkonformes Verhalten eine Ursache für die Hinwendung zur Literatur, die im<br />

Freun<strong>de</strong>skreis eine Statusfunktion einzunehmen scheint. Außer<strong>de</strong>m legt <strong>de</strong>r Hinweis auf<br />

kommunikative Austauschprozesse über Literatur ein Bedürfnis nach Teilhabe und<br />

Partizipation nahe. Graf (1995, S. 117) weist daraufhin, dass Leseanregungen nur dann<br />

wirksam wer<strong>de</strong>n, wenn sie eine „innere Lesemotivation aktivieren“ (ebd.). Diese scheint bei<br />

Hannah in diesem Fall geschehen zu sein, da sie sich weiter mit Literatur <strong>de</strong>rselben Autorin<br />

sowie mit Autoren <strong>de</strong>rselben philosophischen Ausrichtung (siehe Anhang B) beschäftigt hat.<br />

Auch <strong>de</strong>r Aspekt <strong>de</strong>s Interesses als Teil von „Lesemodi“ (Graf 2004, S. 120) wird hier im<br />

Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Freizeitgestaltung angeregt, die sich literarisch im eigenen Verfassen<br />

<strong>einer</strong> politischen Jugendzeitschrift und in <strong>de</strong>r Informationssuche zu spezifischen politischen<br />

Themen nie<strong>de</strong>rschlägt.<br />

Um die „Lesemodi“ (ebd.) von Hannah eingehen<strong>de</strong>r untersuchen zu können, ist ein Hinweis<br />

auf die Entwicklung <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen „Lesemodi“ (ebd.) nach Graf notwendig. So hat <strong>de</strong>r<br />

genannte Autor in seinen frühen Werken (1995) lediglich drei Modi unterschie<strong>de</strong>n: <strong>de</strong>n/ die<br />

„Konzeptleser[in]“, <strong>de</strong>r/ die nach literarischer Bildung strebt und sein/ ihr Interesse an<br />

sozialkritischer Literatur befriedigt und dabei sein/ ihr Lesekonzept bestätigt, <strong>de</strong>m/ <strong>de</strong>r<br />

„Gefühlsleser[in]“, <strong>de</strong>r/ die das intime, kindliche Leseverhalten beibehält und sich eines<br />

eingeschränkten literarischen Spektrums bedient sowie <strong>de</strong>m/ <strong>de</strong>r „ästhetischen Leser[in]“,<br />

22


<strong>de</strong>r/ die die schwierige Balance zwischen lustbedingter und künstlerischer Rezeptionsweise<br />

realisiert (Graf 1995, S. 119ff).<br />

Lediglich <strong>de</strong>m letztgenannten „Lesemodi“ (Graf 2004, S. 120) spricht Graf die produktive<br />

Lösung <strong>de</strong>r Lesekrise zu und betitelt diese mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>einer</strong> „literarischen Pubertät“<br />

(Graf 1995, S. 121). Wenn Graf dies auch nicht explizit äußert, so darf man doch<br />

interpretieren, dass in <strong>de</strong>r Art und Weise <strong>de</strong>r Beschreibung eine normative Hochschätzung<br />

<strong>de</strong>r letztgenannten Rezeptionsweise durchschimmert. Eggert und Garbe teilen meine<br />

Auffassung, wenn sie in Bezug auf die „literarische Pubertät“ von Graf schreiben: „Dieser<br />

Begriff ist insofern normativ, als er die Orientierung an <strong>einer</strong> literarischen<br />

>>Hochkultur


Lektüre und im Interview mit <strong>de</strong>r Mutter wird ebenfalls <strong>de</strong>utlich, dass Hannah auch<br />

frauentypische Liebesromane liest. Schön (1993, S. 225) weist als anschauliches Beispiel für<br />

die Vorliebe für „Trivialliteratur“ (ebd.) auf Liebesromane „á la >>Angelique


Leistungsanfor<strong>de</strong>rungen m<strong>einer</strong> Eltern internalisiert und strengte mich in allen Fächern<br />

<strong>de</strong>utlich mehr an. Ich bekam einen sehr anregen<strong>de</strong>n und unorthodoxen Deutschlehrer, <strong>de</strong>r sich<br />

offensichtlich nur sehr vage an institutionelle Lehrplanvorgaben hielt.<br />

Auch wenn ich mit ihm meine schlimmste schulische Leseerfahrung in Verbindung bringe:<br />

„Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm war er sehr anregend. Die Begleitung von Hauke<br />

Heien über die Staudämme von Nordfiesland hat mir aufgrund <strong>de</strong>r düsteren<br />

Novellenstimmung und aufgrund <strong>de</strong>r ausführlichen und langatmigen Diskussionen über <strong>de</strong>n<br />

Bau von Staudämmen überhaupt nicht gefallen und mich von jeglichem weiteren Werk<br />

<strong>de</strong>sselben Autors abgehalten.<br />

Ich wür<strong>de</strong> aber trotz<strong>de</strong>m auf keinen Fall sagen, dass die Schule in irgend<strong>einer</strong> Form daran<br />

Schuld sei, dass mein Verhältnis zur Literatur von durchdringen<strong>de</strong>r Ambivalenz geprägt ist,<br />

<strong>de</strong>nn sie hat mich auch an tiefere Interpretationsschichten herangeführt. So haben wir in <strong>de</strong>r<br />

neunten Klasse „Die Räuber“ von Schiller (1986) gelesen und ich war sehr fasziniert von <strong>de</strong>n<br />

Dialogen über <strong>de</strong>n metaphysischen Zweifel, <strong>de</strong>r sich in <strong>de</strong>r physischen und psychischen<br />

Hässlichkeit <strong>de</strong>s Franz Moor personalisiert und über die Schwächen eines i<strong>de</strong>alistischen<br />

Menschen wie Karl, <strong>de</strong>r als freiheitsdürsten<strong>de</strong>r Rebell in die Fänge <strong>de</strong>s unmoralischen<br />

Han<strong>de</strong>lns hineingleitet. Meine Mutter erzählte mir, dass ich mit diesem Werk gekämpft hätte,<br />

aber ich habe diesen Kampf offensichtlich gewonnen, <strong>de</strong>nn die verschie<strong>de</strong>nen Moralebenen,<br />

die zwei Gesichter <strong>de</strong>s Menschen, Karl und Franz, habe ich bis heute in sehr positiver<br />

Erinnerung. Entgegen <strong>de</strong>r damaligen Einschätzung m<strong>einer</strong> Deutschlehrer-Mutter empfand ich<br />

die Schiller-Lektüre überhaupt nicht als verfrüht. Je<strong>de</strong>nfalls hat sie mich dazu angeregt, <strong>de</strong>n<br />

Thalia-Theater-Plan in Hamburg immer wie<strong>de</strong>r nach Schillers „Sturm- und Drang-Stücken“<br />

zu durchforsten. Aber ich war auch ein bisschen enttäuscht über meine eigene<br />

Unzulänglichkeit und literarische Schwäche. Ich selbst – ohne Hilfe eines leiten<strong>de</strong>n Lehrers<br />

und m<strong>einer</strong> gebil<strong>de</strong>ten Mutter – wäre niemals selbst auf die verschie<strong>de</strong>nen Moralstufen im<br />

Text gekommen. In diesen Jahren begegnete mir ironischerweise auch erstmals Kants<br />

berühmter Satz (Kant, 1977, S.53): „Aufklärung ist <strong>de</strong>r Ausgang <strong>de</strong>s Menschen aus s<strong>einer</strong><br />

selbst verschul<strong>de</strong>ten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines<br />

Verstan<strong>de</strong>s ohne Leitung eines an<strong>de</strong>ren zu bedienen.“ Ich habe damals erkannt, dass ich<br />

bisher nicht gelernt hatte, „mich meines Verstan<strong>de</strong>s“ ohne Hilfestellung an<strong>de</strong>rer zu bedienen.<br />

Ich kam mir vor wie ein „unbeschriebenes Blatt“ eine „Tabula Rasa“ auf das meine<br />

Umgebung – die Schule, meine Eltern, meine Freun<strong>de</strong> – „schreiben“ konnten, was sie wollten<br />

und mir so etwas wie eine eigene Bewertungsinstanz fehlte. Daran hat sich bis heute nichts<br />

25


geän<strong>de</strong>rt. Wenn ich etwas lese und <strong>de</strong>r Autor einen Gedankengang stringent präsentiert, so<br />

glaube ich das, was ich lese. Meine Rettung bei dieser sich nicht än<strong>de</strong>rn wollen<strong>de</strong>n Realität ist<br />

wahrscheinlich, dass ich mich mit sehr intellektuellen Menschen umgebe, <strong>de</strong>nen ich dann die<br />

angelesenen Gedanken vorstelle und die sich dann argumentativ dagegen wehren, so dass ich<br />

nicht ganz eindimensional weiter<strong>de</strong>nke, son<strong>de</strong>rn mich mit verschie<strong>de</strong>nen Auffassungen<br />

auseinan<strong>de</strong>rsetzen muss.<br />

Wie ich bereits sagte, war mein Deutschlehrer ein eher unkonventioneller Lehrer, <strong>de</strong>r wohl<br />

nicht viel für Lehrbücher übrig hatte, <strong>de</strong>nn wir bekamen immer recht wild kopierte Zettel. Bei<br />

m<strong>einer</strong> Sammlung, welche Literatur mir im Deutschunterricht begegnet ist, fiel mir auf, wie<br />

wenig mir aus <strong>de</strong>n Jahren mit <strong>de</strong>m unkonventionellen Lehrer davon im Gedächtnis geblieben<br />

ist und das stimmt mich etwas traurig, da dieser Lehrer auf meine Persönlichkeitsentwicklung<br />

einen weitaus stärkeren Einfluss hatte als ein an<strong>de</strong>rer Deutschlehrer, an <strong>de</strong>ssen Lektüre ich<br />

mich intensiver erinnere. Ich glaube, dass man <strong>de</strong>n Deutschunterricht nicht an <strong>de</strong>r Quantität<br />

<strong>de</strong>r runtergeratterten Bücher messen sollte. Ich erinnere mich an intensive Diskussionen über<br />

die Universalität moralischer Maßstäbe – ohne Texte und Dilemmata von Kohlberg bearbeitet<br />

zu haben. Ich bin <strong>de</strong>r Ansicht, dass dieser Deutschlehrer meine gesellschaftskritische Position<br />

und meine streitbar-diskussionsfreudige Persönlichkeit be<strong>de</strong>utend mitgeprägt hat, ohne dass<br />

ich jetzt alle literarischen Werke aufzählen könnte, die Anlass zur Reflexion gegeben haben.<br />

(Diesen Lehrer hatte ich übrigens auch im Geschichtsunterricht, wo er mit uns „Im Namen <strong>de</strong>r<br />

Rose“ von Umberto Ecco als Beispiel mittelalterlicher Philosophie gelesen hat.) Außer<strong>de</strong>m<br />

haben wir dir Bücher und Novellen nicht einfach nur gelesen, son<strong>de</strong>rn nachempfun<strong>de</strong>n und<br />

„nachgelebt“. So haben wir mit <strong>de</strong>r Klasse nach <strong>de</strong>r Lektüre von Fontanes „Grete Min<strong>de</strong>“ ein<br />

paar Tage in Tangermün<strong>de</strong> verbracht, um dort zu recherchieren und die Orte zu besuchen, die<br />

im Text verarbeitet wur<strong>de</strong>n.<br />

In <strong>de</strong>r elften Klasse, <strong>de</strong>r wie ich fand und immer noch fin<strong>de</strong>, überflüssigsten Klassenstufe <strong>de</strong>r<br />

gesamten Schulzeit – Gott sei Dank ist sie jetzt abgeschafft – hatte ich <strong>de</strong>n furchtbarsten<br />

Deutschlehrer m<strong>einer</strong> gesamten Schullaufbahn. Allerdings erinnere ich mich genau an die mit<br />

ihm behan<strong>de</strong>lten Themen – er vermutlich auch, <strong>de</strong>nn er muss schließlich noch wissen, was er<br />

die letzten 20 Jahre unterrichtet hat! Wir lasen „Das Leben <strong>de</strong>s Galileo“ von Bertholt Brecht,<br />

„Der Richter und sein Henker“ von Friedrich Dürrenmatt und „Tonio Kröger“ von Thomas<br />

Mann. Verstehen Sie mich nicht falsch, die kurzen Dramen und Novellen von Brecht und<br />

Mann haben mich intensiv beschäftigt und ich habe sie gemocht. Aber ich empfand es als<br />

26


Verhöhnung im Unterricht, so kurze Texte in verteilten Rollen von Seite eins bis zum Schluss<br />

gemeinsam zu lesen. Des Lesens sollte man in <strong>de</strong>r elften Klasse wohl mächtig sein. Die<br />

kommunikativen Austauschprozesse dieser Zeit bestan<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Erkenntnis, dass <strong>de</strong>r gute<br />

Tonio Kröger die blauäugigen Menschen benei<strong>de</strong>t und zugleich verachtet. Das einzige Wort,<br />

das ich in diese Zeit lernte war „Ambivalenz“, das allerdings intensiv, da <strong>de</strong>r Deutschlehrer<br />

dieses wie ein Heiligtum verehrte und je<strong>de</strong> Stun<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>rholte. (Immerhin kann ich jetzt<br />

meine eigene Lesehaltung mit diesem Etikett umschreiben.)<br />

Aber auch in <strong>de</strong>r elften Klasse gab es Lichtblicke. So gab es für Deutsch-<br />

Leistungskursanwärter einen Deutsch-Ergänzungskurs, <strong>de</strong>n eine sehr fähige Lehrerin leitete.<br />

Außer<strong>de</strong>m bot sie einen Kreativen-Schreibkurs an, <strong>de</strong>n ich ebenfalls bei ihr besuchen durfte<br />

und mit <strong>de</strong>m wir regelmäßig an Schreibwettbewerben teilnahmen, von <strong>de</strong>nen ich immerhin<br />

zwei gewonnen habe („Ich habe einen Freund“, „Heinrich-Heine-Wettbewerb Hamburg“).<br />

Die Geschichte zum erstgenannten Thema kreiste um die Freundschaft eines jungen Mannes –<br />

in <strong>de</strong>r ersten Person geschrieben – <strong>de</strong>r sich an gemeinsame, vergangene Stun<strong>de</strong>n mit <strong>einer</strong><br />

Freundin zurückerinnert. Am En<strong>de</strong> wird – ohne die explizite Benennung – <strong>de</strong>utlich, dass die<br />

implizite Hauptfigur sich das Leben genommen hat. Im zweiten Wettbewerb sollten wir in<br />

völlig freier Form Texte von und mit Heinrich Heine zum Anlass seines To<strong>de</strong>stages<br />

schreiben. Ich ließ Heinrich Heine mit Thomas Mann in <strong>einer</strong> fiktiven Parallelwelt in Form<br />

eines Theaters zusammentreffen, in <strong>de</strong>m die bei<strong>de</strong>n Autoren ihre eigenen Figuren auf <strong>de</strong>r<br />

Bühne wie<strong>de</strong>rerleben mussten und sich über die freie Auslegung ihrer Charaktere ärgerten,<br />

d.h. eigentlich ärgerte sich nur <strong>de</strong>r bie<strong>de</strong>re Herr Mann, Heine fand es sehr amüsant. Die<br />

Geschichte en<strong>de</strong>te mit <strong>de</strong>r Wahl zwischen zwei Türen, die eine mit <strong>de</strong>r Aufschrift „Dr.<br />

Faustus“, welche dann auch von Herrn Mann gewählt wur<strong>de</strong>.<br />

Mit m<strong>einer</strong> Deutsch-Ergänzungsleherin lasen wir neben Klassikern wie „Irrungen Wirrungen“<br />

von Theodor Fontane und klassischen Gedichten von Eichendorff und Goethe auch mo<strong>de</strong>rne<br />

Literatur, z.B. „Wasserfarben“ von Thomas Brussig. In diesem Zusammenhang wies die<br />

Lehrerin daraufhin, dass <strong>de</strong>r Autor quicklebendig sei. Ich weiß nicht, ob <strong>de</strong>r Vorschlag, ihn zu<br />

<strong>einer</strong> Lesung in unsere Schule einzula<strong>de</strong>n von ihr o<strong>de</strong>r mir kam, aber ich übernahm die<br />

gesamte Organisation und setzte mich mit ihm in Verbindung. Dass <strong>de</strong>r Herr ein ziemlicher<br />

Halsabschnei<strong>de</strong>r war und eine Unsumme für seinen Besuch verlangte, war schließlich nicht<br />

die Schuld m<strong>einer</strong> Lehrerin. Im Gegenteil, sie setzte sich beim Schulleiter dafür ein, dass <strong>de</strong>r<br />

Schulverein die durch Einnahmen nicht erreichte Summe ergänzen sollte. So kam es zu <strong>einer</strong><br />

(enttäuschen<strong>de</strong>n) Lesung von Herrn Brussig an meinem Gymnasium. Sie war <strong>de</strong>shalb<br />

27


enttäuschend, weil er lediglich eine Werbeveranstaltung für sein neu erschienen Buch daraus<br />

machte und unsere ausgearbeiteten Fragen zu seinem Werk „Wasserfarben“ mit <strong>de</strong>m Hinweis<br />

abtat, dass sei nun einmal sein erstes Buch gewesen, außer<strong>de</strong>m sei er da jünger gewesen und<br />

das wäre ihm heute nicht mehr so wichtig.<br />

Schließlich schlossen sich die letzten zwei Schuljahre im Deutsch-Leistungskurs an <strong>de</strong>r<br />

Kooperationsschule (Hansa-Gymnasium) an. In m<strong>einer</strong> Erinnerung waren das die schönsten<br />

Schulstun<strong>de</strong>n. Er führte uns durch die (vorwiegend <strong>de</strong>utsche) Literaturgeschichte vom 18. bis<br />

20. Jahrhun<strong>de</strong>rt. Wir lasen je<strong>de</strong> Woche min<strong>de</strong>stens eine Novelle o<strong>de</strong>r ein Theaterstück, so<br />

dass ich hier nur die zentralen Werke aufzählen kann. Die Romantik-Epoche wur<strong>de</strong> mit<br />

<strong>Analyse</strong>n <strong>de</strong>r Texte von E.T.A. Hoffmann („Der gol<strong>de</strong>ne Topf“, „Meister Floh“, „Des Vetters<br />

Eckfenster“, „Der Sandmann“), Kurzgeschichten von Edgar Allen Poe und Novalis<br />

(„Heinrich von Ofterdingen“) beschie<strong>de</strong>n. Spannend war für mich insbeson<strong>de</strong>re die<br />

Textanalyse von Hoffmans „Der Sandmann“ auf <strong>de</strong>r Basis von Sigmund Freud. Ich erinnere<br />

mich zwar nicht mehr in allen Einzelheiten an die Fragen, die wir im Unterricht bearbeitet<br />

haben, aber es waren immer produktive und kontroverse Diskussionen, bei <strong>de</strong>nen man<br />

eigentlich immer <strong>de</strong>n Unterricht mit <strong>de</strong>m guten Gefühl im Bauch verließ, ein klein-bisschen<br />

mehr von <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Literatur verstan<strong>de</strong>n zu haben. Der Unterricht war klar strukturiert und<br />

gut vorbereitet. In <strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>s Vormärz widmeten wir uns intensiv „Woyzeck“ von George<br />

Büchner. Nach <strong>einer</strong> intensiven Bearbeitung in Form von Biographiestudien und<br />

Textanalysen bot Herr Dwenger uns an, Büchner in <strong>de</strong>r Oper im Stück „Wozzeck“ zu<br />

bewun<strong>de</strong>rn. Obwohl ich die unterrichtliche Bearbeitung in positiver Erinnerung habe, bin ich<br />

kein Anhänger von Büchner gewor<strong>de</strong>n. Ich habe dasselbe Stück dann noch ein paar Mal im<br />

Theater gesehen und dieses Auf-die-Bühne-Pinkeln als Ausdruck von menschlichen<br />

Bedürfnissen hat mein konservatives Herz (je<strong>de</strong>nfalls bei Literatur und Theater) doch immer<br />

irgendwie angewi<strong>de</strong>rt. Ich bin da schon eher ein Anhänger von Gerhart Hauptmann<br />

gewor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n wir ebenfalls im Deutschunterricht lasen („Rose Bernd“). Die Vorstellung,<br />

dass in früheren Stücken die Bühne auch hinter <strong>de</strong>n Kulissen aufgebaut war, fasziniert mich<br />

bis heute. (Obwohl ich stark annehme, dass diese Hauptmann Tradition sich nicht bis in die<br />

Gegenwart halten konnte!). Je<strong>de</strong>nfalls hat <strong>de</strong>r Lehrer, u.a., dazu beigetragen, dass ich immer<br />

nach Gerhart Hauptmann Stücken im Theater Ausschau halte. Auch in diesen Schuljahren bin<br />

ich wie<strong>de</strong>r mit Theodor Fontane in Berührung gekommen („Effi Briest“). Die <strong>Analyse</strong> <strong>de</strong>r<br />

Schreibperspektiven hat mich beeindruckt und auch meine eigenen Schreibversuche<br />

phasenweise experimentell beeinflusst. Vor kurzen gab es <strong>de</strong>n Roman als Theaterstück im<br />

28


Thalia Theater Hamburg. Dabei ist mir noch mal <strong>de</strong>utlich gewor<strong>de</strong>n, dass Fontane brillante<br />

Dialoge schreibt, <strong>de</strong>ren subtile Anspielungen auf <strong>de</strong>r Bühne wirklich überzeugen! Ich bin<br />

heute <strong>de</strong>r Ansicht, dass man Fontane weniger als Lesestoff, son<strong>de</strong>rn als Bühnenstoff<br />

verwen<strong>de</strong>n und anwen<strong>de</strong>n sollte, z.B. im „Darstellen<strong>de</strong>n Spiel“ in <strong>de</strong>r Schule. Wir haben<br />

relativ wenig ausländische Literatur gelesen und ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob Oscar<br />

Wil<strong>de</strong>s „Das Bildnis von Dorian Gray“ von unserem Deutschlehrer eigentlich von vornherein<br />

eingeplant war o<strong>de</strong>r ob <strong>de</strong>r dominante Einfluss eines Mitschülers, <strong>de</strong>r ein richtiger „Dandy“<br />

war und nicht selten freche Zitate aus Wil<strong>de</strong>s antifeminischischem Spektrum im Unterricht<br />

einstreute, <strong>de</strong>r Auslöser für die Buchlektüre war. Dem Expressionismus haben wir uns anhand<br />

von Strindbergs „Totentanz“ genähert und auch hier wie<strong>de</strong>r mit einem Theaterbesuch<br />

verbun<strong>de</strong>n. Das Werk von Erich Kästner „Fabian“ hat die Moralkontroversen (fast) <strong>de</strong>s<br />

ganzen Kurses erregt und mit Sicherheit meine Menschenkenntnis geprägt. Nach <strong>de</strong>n<br />

schriftlichen Abiturprüfungen durften wir unsere Literatur frei wählen. Wir lasen „Rituale“<br />

von Cees Noteboom und Margret Atwoods „Die Räuberbraut“. Wir sollten u.a. selbst Texte<br />

schreiben und sie in <strong>de</strong>n Textfluss <strong>de</strong>r Bücher so einordnen, dass möglichst kein Unterschied<br />

bemerkbar wur<strong>de</strong>, dann wur<strong>de</strong>n die Textpassagen vorgelesen und wir mussten begrün<strong>de</strong>t<br />

angeben, wo es sich nicht um <strong>de</strong>n Originalautor han<strong>de</strong>lte. Es war ein spielerischer und<br />

spaßiger Umgang mit Literatur. Hier durfte ich auch meinen ersten Essay schreiben. Wir<br />

sollten uns eine Fragestellung auf <strong>de</strong>r Basis eines <strong>de</strong>r gelesenen Bücher aus<strong>de</strong>nken. Nun<br />

konnte ich endlich literaturbasiert <strong>de</strong>r Frage nachgehen „Was unterschei<strong>de</strong>t Hochliteratur von<br />

Trivialliteratur – ein Literaturvergleich zwischen Margaret Atwoods „Die Räuberbraut“ und<br />

Gabi Hauptmanns „Suche impotenten Mann fürs Leben“. Die selbständige Entwicklung von<br />

Unterscheidungskriterien und Literaturstandards war sehr befruchtend. Mein Fazit, dass es<br />

sich um einen ungleichen Vergleich han<strong>de</strong>lte, da diese Bücher unterschiedliche<br />

Lesefunktionen verfolgen und sich hauptsächlich auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Tiefe <strong>de</strong>r<br />

Persönlichkeitszeichnungen und in <strong>de</strong>r Fülle literarischer Stilmittel unterschei<strong>de</strong>n, war m<strong>einer</strong><br />

eigenen Meinung nach aber etwas zu weichgespült.<br />

9.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong><br />

Hannahs Leseautobiographie beschreibt lediglich ihre Leserinnerung im Gymnasium – dies<br />

allerdings exzessiv (vieles überschnei<strong>de</strong>t sich allerdings mit <strong>de</strong>m Anhang D). Zunächst<br />

berichtet sie von <strong>einer</strong> Leistungssteigerung in <strong>einer</strong> Jugendphase, die typischerweise eher mit<br />

einem Leistungsabfall einhergeht. Hannah hat in ihrer schulischen Pflichtlektüre mannigfache<br />

Erfahrungen mit Literatur gemacht, die von quälen<strong>de</strong>r Lektüre bis zur genießerischen<br />

29


Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit Literatur (sogar in Form eigener Kurzgeschichten) reichen. Dabei<br />

weist sie auf die Erfahrung eigener Begrenzung im Verstehensprozess anspruchsvoller<br />

Literatur hin. Sie hebt verschie<strong>de</strong>ne Lehrer und Lehrerinnen im Deutschunterricht nahezu auf<br />

ein Po<strong>de</strong>st und wertet an<strong>de</strong>re massiv ab. Vorwiegend beschreibt sie aber einen<br />

handlungsorientierten Umgang <strong>de</strong>r genannten Lehrer und Lehrerinnen mit Literatur in Form<br />

von Ausflügen, Podiumsdiskussionen, Theater- bzw. Opernbesuchen und selbstständiger<br />

Textumgestaltung.<br />

Schön (1993, S. 220) weist daraufhin, dass <strong>de</strong>r Deutschunterricht in viele<br />

Leseautobiographien eher marginal eingeht. Die epische Breite <strong>de</strong>r Ausführungen über <strong>de</strong>n<br />

Deutschunterricht in dieser Leseautobiographie ist vermutlich nicht allein <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />

Deutschunterrichts geschul<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn richtet sich auch an die Adressatin dieser<br />

Leseautobiographie. Es war ein expliziter Teil <strong>de</strong>r Aufgabenstellung, <strong>de</strong>n Deutschunterricht<br />

mit einzubeziehen. Auch Schöns (1993, S. 221) Feststellung, dass die Grundschule zwar<br />

selten, aber wenn, dann positiv erwähnt wird und ein <strong>de</strong>utlicher Umschwung mit <strong>de</strong>r<br />

schulischen Pflichtlektüre höherer Klassenstufen eintritt, bestätigt sich in dieser<br />

Leseautobiographie nicht. Zwar erwähnt Hannah die Grundschule mit keinem Wort,<br />

allerdings zeigt sie in ihrer Gymnasialzeit eher ein ambitioniertes Pflichtlektüreverhalten, dass<br />

sich nicht allein Sekundärtugen<strong>de</strong>n zuordnen lässt, da sie eine intensive, innerliche<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung beispielsweise mit <strong>de</strong>r Schiller-Lektüre an<strong>de</strong>utet. Schön (1993, S. 221f)<br />

sucht die Grün<strong>de</strong> für eine Abwertung <strong>de</strong>r Literatur im Deutschunterricht sowohl in <strong>de</strong>r<br />

„Diskrepanz zwischen <strong>de</strong>n schulischen Lesestoffen und <strong>de</strong>n alterstypischen Interessen“ (ebd.,<br />

S. 121) als auch in <strong>de</strong>r Zwangssituation <strong>de</strong>s institutionellen Rahmen sowie in <strong>de</strong>r altersmäßig<br />

zu frühen Heranführung an kanonische Literatur. Diese Deutung enthält drei wichtige Punkte<br />

für die hier analysierte Leseautobiographie: So könnte Hannahs geringe Abwehrhaltung<br />

gegen die schulische Pflichtlektüre darin zu sehen sein, dass sie schon im familiären Kontext<br />

mit klassischer Hochkammliteratur in Berührung gekommen ist und die privaten wie<br />

schulischen Lesestoffe daher keine so <strong>de</strong>utliche Diskrepanz aufweisen, zum an<strong>de</strong>ren wird in<br />

<strong>de</strong>r untypischen Altersentwicklung eine <strong>de</strong>utliche Internalisierung von Leistungs- und<br />

Bildungsnormen <strong>de</strong>r Eltern <strong>de</strong>utlich, die die institutionelle Zwangssituation weniger spürbar<br />

wer<strong>de</strong>n lässt. Und schließlich enthält Schöns (ebd.) Hinweis auf eine zu frühe Heranführung<br />

an künstlerische Literatur möglicherweise eine erste Erklärung für Hannahs, auch in diesem<br />

Abschnitt erwähntem, wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>m Verhältnis zur Literatur. Ihr langer Abschnitt über<br />

30


eine fehlen<strong>de</strong> „Bewertungsinstanz“ zeigt vielleicht eine mangeln<strong>de</strong> literarische<br />

Rezeptionskompetenz auf.<br />

Es ist anzunehmen, dass Hannahs Erfahrungen mit <strong>de</strong>r schulischen „Pflichtlektüre“ (Graf<br />

2004, S. 121) im Sinne Grafs nicht als kontraproduktiv für die Privatlektüre ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n<br />

können, son<strong>de</strong>rn ihr eher „produktive Auswirkungen auf das private Lesen gutgeschrieben“<br />

wer<strong>de</strong>n können (Graf 2004, S. 122) auch im Sinne <strong>de</strong>r „Zone <strong>de</strong>r proixmalen Entwicklung“<br />

im Sinne von Vygotski - wie Wieler sie für Kleinkin<strong>de</strong>r nachgewiesen hat (Wieler 1997, S.<br />

241). So scheint <strong>de</strong>r Deutschunterricht – abgesehen von <strong>einer</strong> Lehrerwechselphase in <strong>de</strong>r<br />

elften Klasse – immer eine Stufe über <strong>de</strong>r Rezeptionskompetenz von Hannah gelegen zu<br />

haben und hat ihr so möglicherweise <strong>de</strong>n Weg zur nächst höheren Stufe eröffnet. Das <strong>de</strong>r<br />

Person <strong>de</strong>s Deutschlehrers und <strong>de</strong>r Deutschlehrerin bei <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> am ästhetischen Umgang<br />

mit Literatur (nicht eines „ästhetischen Lesemodus“ (Graf 2002, S. 124f), da dieser<br />

extrinsische Verpflichtungen ausschließt) eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung zukommt durch die<br />

Gestaltung <strong>de</strong>s Unterrichts, wird auch in dieser Leseautobiographie <strong>de</strong>utlich, die einem Lehrer<br />

sogar die Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit zuspricht. So bestätigt sich hier Grafs (2002,<br />

S. 56) Hinweis, dass nicht selten „die Person <strong>de</strong>s Deutschlehrers/ <strong>de</strong>r Deutschlehrerin<br />

ausgezeichnet“ wird.<br />

10. Lesen als Erwachsene<br />

10.1 Individuelle Leseautobiographie<br />

Ich hatte erhebliche Schwierigkeiten eine „eigene Leseautobiographie“ zu schreiben, da ich<br />

sowohl als Kind als auch als erwachsene Frau stark vom Leseverhalten m<strong>einer</strong> Eltern geprägt<br />

bin. Ich frage mich sequentiell in unterschiedlichen Lebensphasen immer wie<strong>de</strong>r, ob ich<br />

„gerne“ lese, ob ich es aus freien Stücken tue o<strong>de</strong>r ob ich einem abstrakten Bildungsi<strong>de</strong>al<br />

(m<strong>einer</strong> Eltern) atemlos hinterher renne.<br />

Eine sehr negative Leseerfahrung war beispielsweise Goethes „Wahlverwandtschaften“<br />

(1986), das ich auf Anraten m<strong>einer</strong> Mutter freiwillig las. Artig wie ich nun einmal bin, habe<br />

ich mich durch das gesamte Buch gequält. Und ich muss von Qual sprechen, <strong>de</strong>nn ich fand es<br />

trocken und sprö<strong>de</strong>, das naturwissenschaftlich Gleichnis langweilig und die gesamte<br />

Geschichte wirr und unverständlich. Bis heute ist dieses Werk ein Streitpunkt zwischen<br />

m<strong>einer</strong> Mutter und mir, die immer wie<strong>de</strong>r betont, wie brillant dieses Buch doch sei und das<br />

ich „einfach noch zu jung gewesen sei, um das nachvollziehen zu können“. Ganz an<strong>de</strong>rs die<br />

31


Lektüre von Goethes „Die Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s jungen Werthers“ (1984), <strong>de</strong>r mich durch seine Lebens-<br />

Lei<strong>de</strong>nsgeschichte tief bewegt hat. Spannend fand ich auch <strong>de</strong>n Hinweis m<strong>einer</strong> Mutter, dass<br />

sich aufgrund dieser Lektüre zu Goethes Zeiten viele Jünglinge das Leben genommen haben.<br />

Literatur bleibt für mich ein wichtiger, kommunikativer Austauschprozess. So habe ich in<br />

Zeiten meines Erststudiums einen privaten Literaturzirkel gegrün<strong>de</strong>t, weil ich mich zum einen<br />

selbst zum Lesen motivieren wollte, gera<strong>de</strong> im Hinblick darauf, dass die Fachliteratur die<br />

Privatlektüre zu verdrängen drohte, zum an<strong>de</strong>rn, weil ich immer noch darauf angewiesen war,<br />

an<strong>de</strong>re Positionen und Interpretationen über die gelesenen Werke zu hören, um die<br />

Vielschichtigkeit <strong>de</strong>r Werke zu verstehen. Heute hat sich <strong>de</strong>r Literaturzirkel lei<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>r<br />

aufgelöst, da viele Mitglie<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Studium an entlegenste Orte in <strong>de</strong>r Welt gezogen<br />

sind, zum Teil aber auch aufgrund <strong>de</strong>r schwierigen Einigungsprozesse über das zu lesen<strong>de</strong><br />

Werk. Es gab zumeist eine Fraktion, die lieber „mo<strong>de</strong>rne Literatur“ lesen wollte und zum<br />

an<strong>de</strong>ren die Gruppe <strong>de</strong>r „KlassikerInnen-Anhänger“. Ich gehörte eigentlich immer zur letzten<br />

Gruppe.<br />

Literatur hat mich in meinem Leben immer begleitet. Sie hat mich jedoch nicht immer in<br />

m<strong>einer</strong> Persönlichkeitsentwicklung gestärkt, son<strong>de</strong>rn auch für Risse und Unsicherheiten<br />

gesorgt und mein Selbstbewusstsein geschwächt. Immer gab – und gibt – es Personen, die<br />

alles schon einmal klüger, besser, intelligenter und philosophischer gesagt haben.<br />

10.2 <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong><br />

In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Leseautobiographie wird auf die Schwierigkeit hingewiesen, dass die<br />

eigene Leseautobiographie eng mit <strong>de</strong>r literarischen Sozialisation in Form elterlicher<br />

Leseanregungen verwoben sein kann und es auch einen impliziten Zwang zur literarischen<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung geben kann. Die Autorin zeigt <strong>de</strong>utlich, dass sie Werke auch gegen ihre<br />

innere Stimme durchgelesen hat. Eine gewisse Selbstverpflichtung kommt hier zum Tragen,<br />

die auch in <strong>de</strong>n Motiven zur Gründung eines Literaturkreises <strong>de</strong>utlich wird. Außer<strong>de</strong>m<br />

verweist Hannah darauf, dass literarische Bildung nicht unbedingt zur Stabilisierung <strong>de</strong>r Ich-<br />

I<strong>de</strong>ntität führen muss, son<strong>de</strong>rn auch gegenteilige Auswirkungen zeitigen kann.<br />

Hannah heutiges Leseverhalten weist noch mal in Richtung <strong>einer</strong> Diskrepanz zwischen<br />

äußeren Anregungsbedingungen und inneren Gratifikationserlebnissen hin, so scheint es keine<br />

treffen<strong>de</strong>re Beschreibung für die Fortsetzung <strong>de</strong>r Lektüre von Goethe zu geben als Grafs<br />

(1995, S. 118) Worte: „Wenn sich letzteres [eine innere Motivation, anmk. <strong>de</strong>r Verfass.] nicht<br />

32


einstellt, wenn also kein befriedigen<strong>de</strong>s Leseerlebnis entsteht, dann verdankt sich die<br />

Fortsetzung <strong>de</strong>r Lektüre allenfalls Sekundärtugen<strong>de</strong>n“. Aber mit <strong>de</strong>mselben Autor erlebt die<br />

junge Frau ebenso positive Erlebnisse.<br />

Wie im obigen Abschnitt bereits diskutiert, scheint Hannah verschie<strong>de</strong>ne „Lesemodi“ (Graf<br />

2004, S.120) anzuwen<strong>de</strong>n. Es zeigt sich in diesem abschließen<strong>de</strong>n, erwachsenen<br />

Leseverhalten <strong>de</strong>utlich eine Lesehaltung, die als „Konzeptlesen“ (Graf 2004, S. 124)<br />

bezeichnet wer<strong>de</strong>n kann. Der/Die „Konzeptleser[in]“ (ebd.) weist nach Graf eine intrinsische<br />

Lesemotivation auf. Hannah wur<strong>de</strong> nicht gezwungen, einen Literaturkreis zu grün<strong>de</strong>n.<br />

Außer<strong>de</strong>m besitzt <strong>de</strong>r/die „Konzeptleser[in]“ (ebd.) ein abstraktes, geistiges Konzept, welches<br />

sich durch ein Wechselspiel zwischen <strong>de</strong>r konzeptbestätigen<strong>de</strong>n Lektüre und <strong>de</strong>r Textnutzung<br />

auszeichnet (Graf 1995, S. 124; 2004, S. 124). Da Hannah explizit darauf hinweist, <strong>de</strong>n<br />

Literaturkreis auch dazu zu nutzen, die Grenzen ihrer Rezeptionskompetenz auszuweiten,<br />

kann hier allerdings nicht von <strong>einer</strong> exakten Mo<strong>de</strong>llpassung gesprochen wer<strong>de</strong>n. Vielleicht<br />

befin<strong>de</strong>t sich Hannah – sofern man sich ein Kontinuum vom „Konzeptleser“ bzw. <strong>de</strong>r<br />

Konzeptleserin (Graf 2004, S. 120) zum/ zur „ästhetischen Leser[in]“ (Graf 2004, S. 124)<br />

vorstellt – in <strong>de</strong>r Mitte zwischen diesen Polen. Aber <strong>de</strong>r Literaturkreis passt<br />

lesesozialisationstheoretisch auch in <strong>de</strong>n von Graf (2004, S. 123) beschriebenen<br />

„partizipativen Modus“. Insofern zeigt sich <strong>de</strong>utlich, dass eine ein<strong>de</strong>utige Zuordnung im<br />

Sinne eines „Lesetypen“ sich aus dieser Leseautobiographie nicht ableiten lässt. Statt <strong>de</strong>ssen<br />

trifft Grafs (2004, S. 126) neuere Betonung, dass ein Leser „selbstverständlich“ (ebd.)<br />

verschie<strong>de</strong>ne Modi miteinan<strong>de</strong>r kombinieren kann, eher auf Hannahs Leseverhalten zu. Das<br />

von Graf (2004, S. 131f) vergebene „Prädikat optimal“ umschreibt einen Leser bzw. eine<br />

Leserin, <strong>de</strong>r/ die Literatur sowohl sinnlich-emotional als auch kognitiv-pragmatisch zu nutzen<br />

weiß. Da Hannah zwar über verschie<strong>de</strong>ne „Lesemodi“ (Graf 2004, S. 120) verfügt, aber<br />

gera<strong>de</strong>, was die emotionale Textnutzung angeht, eine Ambivalenz beschreibt, die sich wie ein<br />

roter Fa<strong>de</strong>n durch ihre Leseautobiographie zieht, entspricht sie diesem normativen Optimum<br />

von Graf wohl nicht.<br />

11. Schlussbemerkung<br />

Die Autorin dieser Leseautobiographie hat ihre familiäre- und institutionelle Leseerfahrung<br />

sehr ausführlich dargestellt. Deshalb erscheint auch eine genaue wissenschaftliche <strong>Analyse</strong><br />

gerechtfertigt. Zu<strong>de</strong>m erfor<strong>de</strong>rt das in <strong>de</strong>r Einleitung gesetzte Ziel sich <strong>de</strong>r eigenen Schranken<br />

und Grenzen bewusst zu wer<strong>de</strong>n eine <strong>de</strong>taillierte Reflexion. Die <strong>Analyse</strong> <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n<br />

33


Lektüreautobiographie hat gezeigt, dass auch bei einem gera<strong>de</strong>zu prototypischen positivem<br />

Familienklima die Zuordnung zu <strong>einer</strong> Gruppe von Lesern und Leserinnen nicht<br />

notgedrungen ein<strong>de</strong>utig ausfällt. Die Studienergebnisse von Bettina Hurrelmann (1993)<br />

reichen als Erklärungsmuster nicht aus, um die wie<strong>de</strong>rsprüchliche Lesehaltung von Hannah<br />

hinreichend zu erklären, auch wenn sich über die Be<strong>de</strong>utung von Leistungsdruck zumin<strong>de</strong>st<br />

Erklärungshinweise fin<strong>de</strong>n lassen. Trotz<strong>de</strong>m kann man auch im Hinblick auf die weitere<br />

Leseentwicklung <strong>de</strong>r Autorin, die These, dass es sich um eine „erwartete Leserin“ (B.<br />

Hurrelmann 1993, S. 53f) han<strong>de</strong>lt, als hinreichend bestätigt, betrachten. Im Rahmen <strong>de</strong>s<br />

Medienutzungsverhaltens hat sich gezeigt, dass es zwischen <strong>de</strong>r Mediennutzung <strong>de</strong>r Eltern<br />

und <strong>de</strong>r Tochter viele Ebenen <strong>de</strong>r Überschneidung gibt und sich diese lediglich auf <strong>de</strong>r Ebene<br />

<strong>de</strong>s Films unterschei<strong>de</strong>t. Hier fin<strong>de</strong>n sich auch Prozesse <strong>de</strong>r „Sozialisation <strong>de</strong>r Eltern durch<br />

das Kind“ (B. Hurrelmann 1993, S. 56). Die gesamte Kindheitsgeschichte <strong>de</strong>r Autorin weist<br />

alle Ebenen <strong>einer</strong> gelungenen Leseför<strong>de</strong>rung auf, sowohl, was die „primäre literarische<br />

Initiation“ (Graf 1995, S.100) als auch, was die alltägliche Vorlesepraxis in <strong>de</strong>r Kindheit (vgl.<br />

Wieler 1997) anbelangt. Die Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r Lektürepräferenz in <strong>de</strong>r Kindheit sowie die<br />

ambivalente Haltung zu Literatur ist literaturwissenschaftlich nicht hinreichend erklärbar und<br />

verlangt wohl eher nach psychologischen Deutungsmustern. Auch das Ausbleiben <strong>einer</strong><br />

Lesekrise scheint so außergewöhnlich zu sein, dass sich hierfür keine hinreichen<strong>de</strong> Erklärung<br />

aus <strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>ten Literatur ergibt.<br />

Es sollte außer<strong>de</strong>m belegt wer<strong>de</strong>n, dass Hannah zu verschie<strong>de</strong>nen Lebensphasen und -zeiten<br />

über unterschiedliche Lesemodi nach Graf (1995, 2002, 2004, 2007) verfügt und diese<br />

situationsspezifisch einzusetzen vermag. Wie gezeigt wer<strong>de</strong>n konnte, lässt Hannahs<br />

Lektürebiographie die Zuordnung zum „Konzeptmodus“ (Graf 2004, S. 124), „Intimen<br />

Lesemodus“ (ebd.), „partizipativen Lesemodus“ (ebd., S. 123) und begrenzt auch zum<br />

„ästhetischen Lesemodus“ (ebd., S. 124f) zu, was als hinreichen<strong>de</strong> Bestätigung <strong>de</strong>r<br />

unterschiedlichen Verwendung von Lesemodi gelten kann. Der Hinweis, dass eine strikte<br />

LeserInnentypologie in dieser Leseautobiographie zu kurz greift, ist durch die Vielzahl<br />

genannter „Lesemodi“ (Graf 2004, S.120) hinreichend dargestellt und von Graf (2004, S. 128)<br />

selbst bestätigt wor<strong>de</strong>n. Die Entwicklung eines Mo<strong>de</strong>lls, das eine Darstellung im Sinne eines<br />

Kontinuums erlaubt (z.B. ein Achsenmo<strong>de</strong>ll), bleibt ein offener Forschungsauftrag.<br />

34


Literaturverzeichnis<br />

De Beauvoir, Simone<br />

(1998):<br />

Memoiren <strong>einer</strong> Tochter aus gutem Hause. Hamburg: Rowohlt<br />

Eggert, Hartmut;<br />

Garbe, Christine<br />

(1995):<br />

Literarische Sozialisation. Stuttgart: Metzler<br />

Graf, Werner (1995):<br />

Graf, Werner (2002):<br />

Graf, Werner (2004):<br />

Graf, Werner (2007):<br />

Hurrelmann, Bettina et<br />

al. (1993):<br />

Fiktionales Lesen und Lebensgeschichte. Lektürebiographien <strong>de</strong>r<br />

Fernsehrgeneration. In: Rosebrock, Cornelia, Lesen im<br />

Medienzeitalter. Biographische und historische Aspekte literarische<br />

Sozialisation. Weinheim: Juventa, S.97-125<br />

Literarische Sozialisation. In: Bogdal, Klaus-Michael; Korte,<br />

Hermann (Hrsg.): Grundzüge <strong>de</strong>r Literaturdidaktik. München: dtv,<br />

S.49-60<br />

Der Sinn <strong>de</strong>s Lesens. Münster: Lit Verlag<br />

Lesegenese in Kindheit und Jugend. Einführung in die literarische<br />

Sozialisation. Hohengehren: Schnei<strong>de</strong>r Verlag<br />

Leseklima in <strong>de</strong>r Familie. Gütersloh: Verl. Bertelsmann Stiftung<br />

Philipp, Maik; Garbe,<br />

Christine (2007):<br />

Lesen und Geschlecht – empirisch beobachtbare Achsen <strong>de</strong>r<br />

Differenz. Grundlagen, Mo<strong>de</strong>lle und Materialien. In: Bertschi-<br />

Kaufmann, Andrea (Hrsg.): Lesekompetenz – Leseleistung –<br />

Leseför<strong>de</strong>rung. Seelze-Velber: Friedrich Verlag (CD-ROM)<br />

Schön, Erich (1993):<br />

Wieler, Petra (1997):<br />

Jugendliche Leser und ihr Deutschunterricht. In: Balhorn, Heiko;<br />

Brügelmann, Hans (Hrsg.): Lesesozialisation in <strong>de</strong>r<br />

Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick. Weinheim: Juventa,<br />

S. 220-226.<br />

Vorlesen in <strong>de</strong>r Familie. Fallstudien zur literarisch-kulturellen<br />

Sozialisation von Vierjährigen. Weinheim: Juventa<br />

35


Anhang A: Schaubild zu Graf (1995)<br />

Frühe Kindheit<br />

(bis 6. Jahre)<br />

Mittlere Kindheit<br />

(6 bis 8 Jahre)<br />

Prototypischer positiver Verlauf <strong>de</strong>r Lesesozialisation (nach Graf, W., 1995)<br />

Präpubertät<br />

(8 bis 11 Jahre)<br />

Pubertät<br />

(11 bis 15 Jahre)<br />

Adoleszenz (15 Jahre bis Erwachsenenalter)<br />

Sekundäre literarische Initiation<br />

(Peer-Group, Deutschunterricht)<br />

Ästhetischer Leser<br />

Nicht- bzw.<br />

Wenigleser<br />

Rezeptionskompetenz<br />

& Leselust<br />

Primäre<br />

literarische<br />

Initiation<br />

Schriftspracherwerb<br />

Kindliche<br />

Lustlektüre<br />

kindspezifische<br />

Lesekonstruktion:<br />

Triebwünsche<br />

Orale Suchtten<strong>de</strong>nz<br />

Bibliotheken<br />

L<br />

e<br />

s<br />

e<br />

k<br />

r<br />

i<br />

s<br />

e<br />

Belletristik<br />

Leser<br />

Literarische<br />

Pubertät<br />

Konzeptleser<br />

Themenaneignung<br />

Motivation unabhängig<br />

von Kompetenz<br />

Familiare<br />

Sozialisation<br />

(z.B. Vorlesen)<br />

Leseklima<br />

Kin<strong>de</strong>rgarten<br />

Schule<br />

Sachtext-/Fac<br />

hbuch-leser<br />

(eher<br />

männlich)<br />

Gefühlsleser<br />

Lusterwartung<br />

(Kompetenzhemmung<br />

o<strong>de</strong>r Antrieb)<br />

I


Anhang B: Leseliste<br />

Allfrey, Katherine<br />

(1990):<br />

Arle, Eric (1998):<br />

Blyton, Enid (1994):<br />

Blyton, Enid (1997):<br />

Dann, Colin (1991):<br />

Eikenbusch, Gerhard<br />

(1987):<br />

En<strong>de</strong>, Michael (1990):<br />

En<strong>de</strong>, Michael (2005).:<br />

Gaardner, Jostein<br />

(1999).:<br />

Gaardner, Jostein<br />

(1998):<br />

Goscinny, René;<br />

Sempé, Jean-Jaques<br />

(1981):<br />

Heine, Helme (2003):<br />

Kästner, Erich (1929):<br />

Koch-Gotha, Fritz;<br />

Sixtus, Albert (1986):<br />

Kordon, Klaus (1984):<br />

Kordon, Klaus (1990):<br />

Kordon, Klaus (1993):<br />

Kordon, Klaus (1997):<br />

Leseliste m<strong>einer</strong> Kin<strong>de</strong>r- und Jugendlektüre<br />

Der Mitternachtshund. München: dtv.<br />

Die kleine Raupe Nimmersatt. Hil<strong>de</strong>sheim: Bertelsmann.<br />

Hanni und Nanni im Landschulheim. Hohengehren: Schnei<strong>de</strong>r<br />

Verlag.<br />

Hanni und Nanni in tausend Nöten. Hohengehren: Schnei<strong>de</strong>r<br />

Verlag.<br />

Die Hun<strong>de</strong> vom Strand. Ulm: Ravensburg Verlag.<br />

Und je<strong>de</strong>n Tag ein Stück weniger von mir. Ulm: Ravensburg<br />

Verlag.<br />

Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch. Stuttgart:<br />

Thienemann Verlag.<br />

Momo. Stuttgart: Thienemann Verlag.<br />

Sofies Welt. München: dtv.<br />

Das Kartengeheimnis. München: dtv.<br />

Der kleine Nick. München: Diogenes Verlag.<br />

Freun<strong>de</strong>. Franfurt am Main: Bertelsmann Verlag.<br />

Emil und die Detektive. München: dtv.<br />

Die Häschenschule. Frankfurt am Main: Bertelsmann Verlag.<br />

Die roten Matrosen. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.<br />

Mit <strong>de</strong>m Rücken zur Wand. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.<br />

Der erste Frühling. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.<br />

Die Zeit ist kaputt – Die Lebensgeschichte <strong>de</strong>s Erich Kästner.<br />

Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.<br />

II


Limmer, Hans (1970):<br />

Lindgren, Astrid<br />

(1987):<br />

Levoy, Myron (1986):<br />

Maar, Paul (1973):<br />

Murschetz, Luis<br />

(1992):<br />

Nelissen-Haken,<br />

Bruno (1972):<br />

Nöstlinger, Christine<br />

(1978):<br />

Nöstlinger, Christine<br />

1978):<br />

Nöstlinger, Christine<br />

(1988):<br />

N.N. (1992):<br />

Pausewang, Gudrun<br />

(1993):<br />

Pausewang, Gudrun<br />

(1997):<br />

Pausewang, Gudrun<br />

(2007):<br />

Rhue, Morton (1984):<br />

Sommer-Bo<strong>de</strong>nburg,<br />

Angela (1980):<br />

Sommer-Bo<strong>de</strong>nburg,<br />

Angela (1982):<br />

Sommer-Bo<strong>de</strong>nburg,<br />

Angela (1983):<br />

Sommer-Bo<strong>de</strong>nburg,<br />

Angela (1985):<br />

Sommer-Bo<strong>de</strong>nburg,<br />

Angela (1985):<br />

Mein Esel Benjamin. Bielefeld: Bertelsmann Verlagsgruppe.<br />

Pippi Langstrumpf. Gesamtausgabe in einem Band. Hamburg:<br />

Oetinger.<br />

Drei Freun<strong>de</strong>. München: dtv.<br />

Eine Woche voller Samstage. Hamburg: Oetinger.<br />

Der Maulwurf Grabowski. Hamburg: Bertelsmann Verlagsgruppe.<br />

Dackel Haidjer. Gauting: Ueberreuter.<br />

Ein Mann für Mama. München: dtv.<br />

Luki-live. Hamburg: Oetinger.<br />

Gretchen mein Mädchen. Hamburg: Oetinger.<br />

Fragt mal Alice. München: dtv.<br />

Der Schlund. Ulm: Ravensburg Verlag.<br />

Die Wolke. Ulm: Ravensburg Verlag.<br />

Die letzten Kin<strong>de</strong>r von Schewenborn. Ulm: Ravensburg Verlag.<br />

Die Welle. Ulm: Ravensburg Verlag.<br />

Der kleine Vampir zieht um. Hamburg: Rowohlt Verlag.<br />

Der kleine Vampir verreist. Hamburg: Rowohlt Verlag.<br />

Der kleine Vampir auf <strong>de</strong>m Bauernhof. Hamburg: Rowohlt Verlag.<br />

Der kleine Vampir in Gefahr. Hamburg: Rowohlt Verlag.<br />

Der kleine Vampir und die große Liebe. Hamburg: Rowohlt Verlag.<br />

III


Sommer-Bo<strong>de</strong>nburg,<br />

Angela (1986):<br />

Sommer-Bo<strong>de</strong>nburg,<br />

Angela (1995):<br />

Sommer-Bo<strong>de</strong>nburg,<br />

Angela (1989):<br />

Sommer-Bo<strong>de</strong>nburg,<br />

Angela:<br />

Späh, Marianne<br />

(1988):<br />

Schmucke, Anne<br />

(1979):<br />

Wilson, David H.<br />

(1979):<br />

Wilson, David H.<br />

(1980):<br />

Wilson, David H.<br />

(1980):<br />

Wilson, David H.<br />

(1983):<br />

Der kleine Vampir im Jammertal. Bielefeld: Bertelsmann-Verlag.<br />

Anton und <strong>de</strong>r kleine Vampir II. In <strong>de</strong>r Höhle <strong>de</strong>s Löwen.<br />

Bielefeld: Bertelsmann-Verlag<br />

Anton und <strong>de</strong>r kleine Vampir III. Das rätselhafte Programm.<br />

Bielefeld: Bertelsmann-Verlag.<br />

Anton und <strong>de</strong>r kleine Vampir IV. Böse Überraschungen. Bielefeld:<br />

Bertelsmann-Verlag.<br />

Leselöwe Hun<strong>de</strong>buch. Bindlach: Loewes Verlag.<br />

Das große Diogenes Kin<strong>de</strong>rgeschichtenbuch. Zürich: Diogenes<br />

Verlag.<br />

Jeremy James o<strong>de</strong>r Wenn Schweine Flügel hätten. Hamburg:<br />

Oetinger.<br />

Jeremy James o<strong>de</strong>r Kann ein Goldfisch Geige spielen?. Hamburg:<br />

Oetinger.<br />

Jeremy James o<strong>de</strong>r Im Sand, am Strand und an<strong>de</strong>rswo. Hamburg:<br />

Oetinger.<br />

Jeremy James o<strong>de</strong>r Die Rennmaus ist weg. Hamburg: Oetinger.<br />

Liste m<strong>einer</strong> Schullektüre<br />

Atwood, Margaret<br />

(1986):<br />

Boie, Kirstin (1986):<br />

Brecht, Bertolt<br />

(1963):<br />

Blobel, Brigitte<br />

(1992):<br />

Brussig, Thomas<br />

(1997):<br />

Dürrenmatt,<br />

Friedrich (2007):<br />

Die Räuberbraut. Frankfurt: Fischer Verlag.<br />

Mit Jakob wur<strong>de</strong> alles an<strong>de</strong>rs. Hamburg: Oetinger.<br />

Das Leben <strong>de</strong>s Galileo. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.<br />

Meine schöne Schwester. Landau: Pfälzische Verlagsanstalt.<br />

Wasserfarben. München: dtv.<br />

Der Richter und sein Henker. Hamburg: Rowohlt.<br />

IV


Eco, Umberto<br />

(1997):<br />

Fontane, Theodor<br />

(1984):<br />

Fontane, Theodor<br />

(1986):<br />

Fontane, Theodor<br />

(1998):<br />

Grass, Günter<br />

(1995):<br />

Hauptmann, Gerhart<br />

(1991):<br />

Heinisch, Klaus J.<br />

(1998) (Hrsg.):<br />

Hoffmann, Ernst<br />

T.H. (1996):<br />

Hoffmann, Ernst<br />

T.H. (1996):<br />

Hoffmann, Ernst<br />

T.H. (1996):<br />

Kant, Immanuel<br />

(1977):<br />

Kästner, Erich<br />

(1989):<br />

Kerr, Judith (1996):<br />

King, Stephen<br />

(2005):<br />

Strindberg, August<br />

(1986):<br />

Storm, Theodor<br />

(1988):<br />

Mann, Thomas<br />

(1969):<br />

Mann, Thomas<br />

Der Name <strong>de</strong>r Rose. München: dtv.<br />

Irrungen Wirrungen. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Grete Min<strong>de</strong>. Ditzingen: Reclam.<br />

Effi Briest. Stuttgart: Ullstein Verlag.<br />

Ein weites Feld. Göttingen: Steidl<br />

Rose Bernd. Stuttgart: Ullstein Verlag.<br />

Der utopische Staat. Hamburg: Rowohlt.<br />

Der gol<strong>de</strong>ne Topf. Stuttgart: Reclam.<br />

Der Sandmann. Stuttgart: Reclam.<br />

Des Vetters Eckfenster. Stuttgart: Reclam.<br />

Beantwortung <strong>de</strong>r Frage: Was ist Aufklärung?. In: Kant, I.<br />

Werkausgabe in 12 B<strong>de</strong>n. Hrsg. V. Weische<strong>de</strong>l, W. Frankfurt, S.53-<br />

61.<br />

Fabian – Die Geschichte eines Moralisten. München: dtv.<br />

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Ulm: Ravensburg Verlag.<br />

Christine. München: Heyne Verlag.<br />

Totentanz. Ditzingen: Reclam.<br />

Der Schimmelreiter. Stuttgart: Reclam.<br />

Tonio Kröger. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Mario und <strong>de</strong>r Zauberer. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

V


(1998):<br />

Noteboom, Cees<br />

(1980):<br />

Novalis (von<br />

Hardberg, Friedrich)<br />

(1997):<br />

Wil<strong>de</strong>, Oscar (1997):<br />

Rituale. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.<br />

Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart: Reclam.<br />

Das Bildnis von Dorian Gray. Stuttgart: Reclam.<br />

Auswahl m<strong>einer</strong> Privatlektüre im Erwachsenenalter<br />

Arundhati, Roy<br />

(2000):<br />

Bronté, Charlotte<br />

(1998):<br />

De Beauvoir, Simone<br />

(1974):<br />

De Beauvoir, Simone<br />

(1997):<br />

De Beauvoir, Simone<br />

(1997):<br />

De Beauvoir, Simone<br />

(1998):<br />

De Saint-Exupéry,<br />

Antoine (2000):<br />

Bieri, Peter (2005):<br />

Bradley, Marion Z.<br />

(1990):<br />

Bradley, Marion Z.<br />

(1993):<br />

Camus, Albert (1998):<br />

Camus, Albert (2003):<br />

Camus, Albert (2004):<br />

Der Gott <strong>de</strong>r kleinen Dinge. München: btb Verlag.<br />

Jane Eyre. München: dtv.<br />

Alles in allem. Hamburg: Artemis Verlag.<br />

Memoiren <strong>einer</strong> Tochter aus gutem Hause. Hamburg: Rowohlt.<br />

Sie kam und blieb. Hamburg: Rowohlt.<br />

Briefe an Sartre. Hamburg: Rowohlt.<br />

Der kleine Prinz. Düsseldorf: Karl Rauch Verlag.<br />

Das Handwerk <strong>de</strong>r Freiheit – Über die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s eigenen<br />

Willens. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Die Feuer von Troja. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Die Nebel von Avalon. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Die Pest. Hamburg: Rowohlt.<br />

Der Mythos <strong>de</strong>s Sisyphos. Hamburg: Rowohlt.<br />

Der glückliche Tod. Hamburg: Rowohlt.<br />

VI


Dickens, Charles<br />

(1966):<br />

Follett, Ken (1992):<br />

Follett, Ken (1996):<br />

Follett, Ken (1998):<br />

Goldhagen, Daniel J.<br />

(1996):<br />

Gray, John (1992):<br />

Gulland, Sandra<br />

(2000):<br />

Hauptmann, Gaby<br />

(2007):<br />

Hermann, Judith<br />

(2000):<br />

Hesse, Hermann<br />

(1974):<br />

Von Horváth, Ödön<br />

(1987):<br />

Houellebecq, Michael<br />

(2001):<br />

Holzman, Helene et al.<br />

(Hrsg.) (2000):<br />

Kogon, Eugen (1995):<br />

Kracht, Christian<br />

(2002):<br />

Kracht, Christian<br />

(2003):<br />

Von Kurthy, Ildikó<br />

(1997):<br />

Lelord, Francois<br />

(2006):<br />

Oliver Twist. England: Clays Ltd.<br />

Die Säulen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Bergisch-Gladbach: Lübbe Verlagsgruppe.<br />

Die Pfeiler <strong>de</strong>r Macht. Bergisch-Gladbach: Lübbe Verlagsgruppe.<br />

Die Brücke <strong>de</strong>r Freiheit. Bergisch-Gladbach: Lübbe Verlagsgruppe.<br />

Hitlers willige Vollstrecker – Ganz gewöhnliche Deutsche und <strong>de</strong>r<br />

Holocaust. Uslar: Siedler Verlag.<br />

Männer sind an<strong>de</strong>rs – Frauen auch. München: Bechtermünz.<br />

Joséphine. Fischer: Frankfurt.<br />

Suche impotenten Mann fürs Leben. München: Piper Verlag.<br />

Sommerhaus, später. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Siddhartha. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Jugend ohne Gott. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.<br />

Elementarteilchen. Hamburg: Rowohlt.<br />

Dies Kind soll leben – Aufzeichnungen <strong>de</strong>r Helene Holzman 1941-<br />

1944. Frankfurt am Main: Schöfflig.<br />

Der SS-Staat. Das System <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Konzentrationslager.<br />

München: Komet<br />

Faserland. München: dtv.<br />

1979. München: dtv.<br />

Mondscheintarif. Hamburg: Rowohlt.<br />

Hektors Reise o<strong>de</strong>r die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Zeit. München: Piper<br />

Verlag.<br />

VII


Lelord, Francois<br />

(2006):<br />

Lelord, Francois<br />

(2007):<br />

Lind, Hera (1997):<br />

Luhmann, Niklas<br />

(2000):<br />

Von Goethe, Johann<br />

W. (1984):<br />

Von Goethe, Johann<br />

W. (1986):<br />

Von Goethe, Johann<br />

W. (1986):<br />

Mann, Thomas (1989):<br />

Mann, Heinrich<br />

(1997):<br />

Mercier, Pascal<br />

(1997):<br />

Mercier, Pascal<br />

(1998):<br />

Mercier, Pascal<br />

(2006):<br />

Mori, Tori (1997):<br />

Möbuß, Susanne<br />

(2004):<br />

Monaco, James<br />

(2002):<br />

Murakami, Haruki:<br />

Nothots, Amélie<br />

(1996):<br />

Pease, Allan / Pease,<br />

Barbara (2001):<br />

Hektors Reise o<strong>de</strong>r die Suche nach <strong>de</strong>m Glück. München: Piper<br />

Verlag.<br />

Hektors Reise und die Geheimnisse <strong>de</strong>r Liebe. München: Piper<br />

Verlag.<br />

Das Weibernest. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Niklas Luhmann Short Cuts. Berlin: Merve Verlag.<br />

Die Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s jungen Werther. Ditzingen: Reclam.<br />

Wahlverwandtschaften. Ditzingen: Reclam.<br />

Faust I. Ditzingen: Reclam.<br />

Bud<strong>de</strong>nbrocks. Verfall <strong>einer</strong> Familie. Frankfurt am Main: Fischer<br />

Verlag.<br />

Der Untertan. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Perlmanns Schweigen. München: btb Verlag.<br />

Der Klavierstimmer. München: btb Verlag.<br />

Nachtzug nach Lissabon. München: btb Verlag.<br />

Simone <strong>de</strong> Beauvoir. Die Psychographie <strong>einer</strong> Intellektuellen.<br />

Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Sartre. Hamburg: Rowohlt.<br />

Film verstehen – Kunst- Technik- Sprache- Geschichte und Theorie<br />

<strong>de</strong>s Films und <strong>de</strong>r neuen Medien. Hamburg: Rowohlt.<br />

Mister Aufziehvogel. München: btb Verlag.<br />

Die Reinheit <strong>de</strong>s Mör<strong>de</strong>rs. Zürich: Diogenes Verlag.<br />

Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken.<br />

München: Ullstein Verlag.<br />

VIII


Picoult, Jodi (2006):<br />

Riemann, Fritz<br />

(2002).:<br />

Rowling, Joanne K.<br />

(1998):<br />

Rowling, Joanne K.<br />

(2005):<br />

Rowling, Joanne K.<br />

(2006):<br />

Rowling, Joanne K.<br />

(2007):<br />

Sacks, Oliver (1998):<br />

Safranski, Rüdiger<br />

(2004):<br />

Said, Edward W.<br />

(2002):<br />

Beim Leben m<strong>einer</strong> Schwester. Zürich: Piper Verlag.<br />

Grundformen <strong>de</strong>r Angst. München: Reinhardt Verlag.<br />

Harry Potter und <strong>de</strong>r Stein <strong>de</strong>r Weisen. Hamburg: Carlsen Verlag.<br />

Harry Potter und <strong>de</strong>r Halbblutprinz. Hamburg: Carlsen Verlag.<br />

Harry Potter und die Kammer <strong>de</strong>s Schreckens. Hamburg: Carlsen<br />

Verlag.<br />

Harry Potter und die Heiligtümer <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s. Hamburg: Carlsen<br />

Verlag.<br />

Der Tag, an <strong>de</strong>m mein Bein fortging. Hamburg: Rowohlt.<br />

Schiller o<strong>de</strong>r die Erfindung <strong>de</strong>s Deutschen I<strong>de</strong>alismus. München:<br />

dtv.<br />

Am falschen Ort. Berlin: Berlin TB. Berlag<br />

San<strong>de</strong>r, Gregor<br />

(2002):<br />

Sartre, Jean-Paul<br />

(1962):<br />

Sartre, Jean-Paul<br />

(1986):<br />

Sartre, Jean-Paul<br />

(1998):<br />

Sartre, Jean-Paul<br />

(2004):<br />

Sauer, Uwe (2001):<br />

Schlink, Bernhard<br />

(1995):<br />

Schnitzler, Arthur<br />

(1992):<br />

Schüßler, Werner<br />

(1995):<br />

Ich aber bin hier geboren. Hamburg: Rwohlt.<br />

Das Sein und das Nichts. Hamburg: Rowohlt.<br />

Zeit <strong>de</strong>r Reife. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.<br />

Der Ekel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.<br />

Geschlossene Gesellschaft. Hamburg: Rowohlt.<br />

Uniklinik. Hamburg: Rowohlt.<br />

Der Vorleser. Zürich: Diogenes Verlag.<br />

Traumnovelle. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Jaspers. Dres<strong>de</strong>n: Junius Verlag.<br />

IX


Schwanitz, Dietrich<br />

(1996):<br />

Schwanitz, Dietrich<br />

(1999):<br />

Schwanitz, Dietrich<br />

(2001):<br />

Selinko, Annemarie<br />

(1984):<br />

Sijie, Dai (2003):<br />

Skierka, Volker<br />

(2001):<br />

Walters, Minette<br />

(1997):<br />

Wood, Babara (1994):<br />

Wood, Babara (1995):<br />

Wood, Babara (1997):<br />

Yalom, Irvin D.<br />

(1996):<br />

Yalom, Irvin D.<br />

(2000):<br />

Yalom, Irvin D.<br />

(2001):<br />

Yalom, Irvin D.<br />

(2001):<br />

Yalom, Irvin D.<br />

(2002):<br />

Yalom, Irvin D.<br />

(2006):<br />

Yalom, Irvin D.<br />

(2007):<br />

Weiss, Peter (1964):<br />

Der Campus. München: Goldmann Verlag.<br />

Bildung – Alles, was man wissen muß. München: Goldmann<br />

Verlag.<br />

Männer. Eine Spezies wird besichtig. München: Goldmann Verlag.<br />

Désirée. Köln: Kiepenheuer & Witsch.<br />

Balzac und die kleine Chinesische Schnei<strong>de</strong>rin. Zürich: Piper<br />

Verlag.<br />

Fi<strong>de</strong>l Castro. Eine Biographie. Berlin: Kindler Verlag.<br />

Die Bildhauerin. München: Goldmann Verlag.<br />

Der Fluch <strong>de</strong>r Schriftrolle. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Das Paradies. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Traumzeit. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Und Nietzsche weinte. München: btb Verlag.<br />

Die Reise mit Paula. München: btb Verlag.<br />

Die Liebe und ihr Henker. München: btb Verlag.<br />

Je<strong>de</strong>n Tag ein bisschen näher. München: btb Verlag.<br />

Der Panama-Hut. O<strong>de</strong>r was einen guten Therapeuten ausmacht.<br />

München: btb Verlag.<br />

Die Schopenhauer Kur. München: btb Verlag.<br />

Die rote Couch. München: btb Verlag.<br />

Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch<br />

die Schauspielgruppe <strong>de</strong>s Hospizes zu Chareton unter Anleitung<br />

<strong>de</strong>s Herrn <strong>de</strong> Sa<strong>de</strong>. Frankfurt am Main: Suhrkamp.<br />

X


Zweig, Stefan (1994):<br />

Zweig, Stefan (2001):<br />

Brennen<strong>de</strong>s Geheimnis. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

Maria Stuart. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.<br />

XI


Anhang C: Kin<strong>de</strong>r- und Elternfragebogen zur Leseklima-Studie<br />

XII


Anhang D: Schriftliche Erinnerung an <strong>de</strong>n Deutschunterricht<br />

Ich konzentriere mich in meinen Erinnerungen auf meinen Deutschunterricht am Luisen-<br />

Gymnasium Hamburg-Bergedorf (1990-1999). Meine ersten Jahre hatte ich Deutschunterricht<br />

bei Frau Goerth. Ich erinnere mich, dass wir zunächst das Kin<strong>de</strong>rbuch „Mit Jakob wur<strong>de</strong> alles<br />

an<strong>de</strong>rs“ von Kirsten Boie 3 gelesen haben. In <strong>de</strong>r Geschichte geht es um einen Rollentausch<br />

zwischen Vater und Mutter. Der Vater scheitert im Haushalt. Wir haben im Unterricht eigene<br />

Geschichten aus verschie<strong>de</strong>nen Perspektiven geschrieben, die dann in <strong>de</strong>r Klasse ausgehängt<br />

wur<strong>de</strong>n. Ich erinnere mich, dass ich sehr viel Lob für die meisten m<strong>einer</strong> Geschichten bekam,<br />

außer als ich (freiwillig) zwei Geschichten geschrieben habe, die meine Lehrerin<br />

fälschlicherweise für eine hielt und mich darauf hinwies, dass es einen Perspektivenbruch in<br />

m<strong>einer</strong> Geschichte gäbe. Na, zumin<strong>de</strong>st hat sie es erkannt! Unangenehme Erinnerungen<br />

verbin<strong>de</strong> ich allerdings auch mit <strong>de</strong>n ersten gymnasialen Deutschstun<strong>de</strong>n. So mussten wir in<br />

<strong>einer</strong> Klassenarbeit <strong>de</strong>n Ehemann von Frau Goerth beschreiben. Zuvor hatten wir uns intensiv<br />

mit Personenmerkmalen befasst und ich hatte <strong>de</strong>n Begriff „graumeliertes Haar“ gelernt – ich<br />

wollte ihn unbedingt unterbringen, lei<strong>de</strong>r hatte ihr Ehegatte keine graumelierten Haare. Ich<br />

glaube allerdings nicht, dass mein flaues Magengefühl, wenn ich an diese Klassenarbeit<br />

zurück<strong>de</strong>nke, tatsächlich auf die Aufgabe zurückzuführen ist, son<strong>de</strong>rn eher auf die Reaktion<br />

m<strong>einer</strong> Mutter nach <strong>de</strong>r Rückgabe <strong>de</strong>r Klassenarbeit. Ich hatte eine drei minus und meine<br />

Mutter bekam einen Tobsuchtsanfall. Ich musste mein Spiel unterbrechen und musste die<br />

Personenbeschreibung komplett neu schreiben.<br />

In <strong>de</strong>r siebten Klasse än<strong>de</strong>rte sich für mich einiges in m<strong>einer</strong> Schullaufbahn. Entgegen <strong>de</strong>m<br />

allgemeinen Trend, machte ich in dieser Zeit sowohl im Leistungs- als auch im<br />

Entwicklungsbereich <strong>de</strong>utliche Fortschritte. Ich hatte wohl die extrinsischen<br />

Leistungsanfor<strong>de</strong>rungen m<strong>einer</strong> Eltern internalisiert und strengte mich in allen Fächern<br />

<strong>de</strong>utlich mehr an. Außer<strong>de</strong>m hatte ich wohl <strong>de</strong>n Leistungsnachteil, <strong>de</strong>n ich durch meine<br />

konfessionslose Grundschule, die sich auf ein Integrationsexperiment eingelassen hatte,<br />

gegenüber <strong>de</strong>n katholischen Grundschulabgängern hatte, wie<strong>de</strong>r aufgeholt. Ich bekam einen<br />

sehr anregen<strong>de</strong>n und unorthodoxen Deutschlehrer, <strong>de</strong>r sich offensichtlich nur sehr vage an<br />

institutionelle Lehrplanvorgaben hielt. Auch wenn ich mit ihm meine schlimmste<br />

Leseerfahrung in Verbindung bringe: „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm war er sehr<br />

anregend. Die Begleitung von Hauke Heien über die Staudämme von Nordfiesland hat mir<br />

3<br />

Die Literaturliste ist in die Liste <strong>de</strong>r Schulbücher integriert.<br />

XLIV


aufgrund <strong>de</strong>r düsteren Novellenstimmung überhaupt nicht gefallen und mich von jeglichem<br />

weiteren Werk <strong>de</strong>sselben Autors abgehalten. Das Gegenstück zu dieser negativen Erfahrung<br />

bil<strong>de</strong>te die Lektüre von Schillers „Die Räuber“ in <strong>de</strong>r neunten Klasse. Meine Mutter erzählte<br />

mir, dass ich mit diesem Werk gekämpft hätte, aber ich habe diesen Kampf offensichtlich<br />

gewonnen, <strong>de</strong>nn die verschie<strong>de</strong>nen Moralebenen, die zwei Gesichter <strong>de</strong>s Menschen, Karl und<br />

Franz, habe ich bis heute in sehr positiver Erinnerung. Entgegen <strong>de</strong>r damaligen Einschätzung<br />

m<strong>einer</strong> Deutschlehrer-Mutter empfand ich die Schiller-Lektüre überhaupt nicht als verfrüht.<br />

Je<strong>de</strong>nfalls hat sie mich dazu angeregt, <strong>de</strong>n Thalia-Theater-Plan in Hamburg immer wie<strong>de</strong>r<br />

nach Schillers „Sturm-und Drang-Stücken“ zu durchforsten. Wie ich bereits sagte, war Herr<br />

Callies ein eher unkonventioneller Lehrer, <strong>de</strong>r wohl nicht viel für Lehrbücher übrig hatte,<br />

<strong>de</strong>nn wir bekamen immer recht wild kopierte Zettel. Ich erinnere mich nur schwach an seine<br />

Grammatikübungen. Beson<strong>de</strong>rs an die Übungen zur Kommasetzung, die bei mir lei<strong>de</strong>r<br />

offensichtlich nicht <strong>de</strong>n erhofften Erfolg zeitigten. Wir mussten einmal die Kommas <strong>einer</strong><br />

Lutherübersetzung über das Thema „Liebe“ einfügen. Ich erinnere mich noch vage an<br />

Textteile, je<strong>de</strong>nfalls <strong>de</strong>utlich besser, als an die Kommaregeln! Bei m<strong>einer</strong> Sammlung, welche<br />

Literatur mir im Deutschunterricht begegnet ist, fiel mir auf, wie wenig mir aus <strong>de</strong>n Jahren<br />

mit diesem unorthodoxen Lehrer davon im Gedächtnis geblieben ist und das stimmt mich<br />

etwas traurig, da dieser Lehrer auf meine Persönlichkeitsentwicklung einen weitaus stärkeren<br />

Einfluss hatte, als ein an<strong>de</strong>rer Deutschlehrer, an <strong>de</strong>ssen Lektüre ich mich intensiver erinnere.<br />

Ich glaube, dass man <strong>de</strong>n Deutschunterricht nicht an <strong>de</strong>r Quantität <strong>de</strong>r runtergeratterten<br />

Bücher messen sollte. Ich erinnere mich an intensive Diskussionen über die Universalität<br />

moralischer Maßstäbe – ohne Texte und Dilemmata von Kohlberg bearbeitet zu haben. Ich<br />

bin <strong>de</strong>r Ansicht, dass dieser Deutschlehrer meine gesellschaftskritische Position und meine<br />

streitbar-diskussionsfreudige Persönlichkeit be<strong>de</strong>utend mitgeprägt hat, ohne dass ich jetzt alle<br />

literarischen Werke aufzählen könnte, die Anlass zur Reflexion gegeben haben. (Diesen<br />

Lehrer hatte ich übrigens auch im Geschichtsunterricht, wo er mit uns „Im Namen <strong>de</strong>r Rose“<br />

von Umberto Ecco als Beispiel mittelalterlicher Philosophie gelesen hat.) Außer<strong>de</strong>m haben<br />

wir die Bücher und Novellen nicht einfach nur gelesen, son<strong>de</strong>rn nachempfun<strong>de</strong>n und<br />

„nachgelebt“. So haben wir mit <strong>de</strong>r Klasse nach <strong>de</strong>r Lektüre von Fontanes „Grete Min<strong>de</strong>“ ein<br />

paar Tage in Tangermün<strong>de</strong> verbracht, um dort zu recherchieren und die Orte zu besuchen, die<br />

im Text verarbeitet wur<strong>de</strong>n.<br />

In <strong>de</strong>r elften Klasse, <strong>de</strong>r wie ich fand und immer noch fin<strong>de</strong>, überflüssigsten Klassenstufe <strong>de</strong>r<br />

gesamten Schulzeit – Gott sei Dank ist sie jetzt abgeschafft – hatte ich <strong>de</strong>n furchtbarsten<br />

XLV


Deutschlehrer m<strong>einer</strong> gesamten Schullaufbahn. Allerdings erinnere ich mich genau an die mit<br />

ihm behan<strong>de</strong>lten Themen – er vermutlich auch, <strong>de</strong>nn er muss schließlich noch wissen, was er<br />

die letzten 20 Jahre unterrichtet hat! Wir lasen „Das Leben <strong>de</strong>s Galileo“ von Bertholt Brecht,<br />

„Der Richter und sein Henker“ von Friedrich Dürrenmatt und „Tonio Kröger“ von Thomas<br />

Mann. Verstehen Sie mich nicht falsch, die kurzen Texte von Brecht und Mann haben mich<br />

intensiv beschäftigt, und ich habe sie gemocht. Aber ich empfand es als Verhöhnung im<br />

Unterricht, so kurze Texte in verteilten Rollen von Seite eins bis zum Schluss gemeinsam zu<br />

lesen. Des Lesens sollte man in <strong>de</strong>r elften Klasse wohl mächtig sein. Die kommunikativen<br />

Austauschprozesse dieser Zeit bestan<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Erkenntnis, dass <strong>de</strong>r gute Tonio Kröger die<br />

blauäugigen Menschen benei<strong>de</strong>t und zugleich verachtet. Das einzige Wort, das ich in diese<br />

Zeit lernte, war „Ambivalenz“, das allerdings intensiv, da <strong>de</strong>r Deutschlehrer dieses wie ein<br />

Heiligtum verehrte und je<strong>de</strong> Stun<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>rholte. Die Krönung <strong>de</strong>r Inkompetenz und<br />

persönlichen Unzulänglichkeit dieses Lehrers offenbarte sich, als die gesamte Schule eine<br />

Projektwoche plante. Er sollte sie mit uns organisieren und wir sollten unsere Vorschläge<br />

unterbreiten. Herr Leg<strong>de</strong>s „I<strong>de</strong>e“ war „Rückschlagspiele und Kochen“. Er warb für seinen<br />

Vorschlag damit, dass es wenig Arbeit für alle be<strong>de</strong>uten wür<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r sportliche Teil<br />

(Tennis, Tischtennis) von unserem Sportlehrer begleitet wür<strong>de</strong>. Ich hatte eine <strong>de</strong>utliche<br />

an<strong>de</strong>re Vorstellung von <strong>einer</strong> Projektwoche, die doch auch nachhaltig nützlich sein konnte<br />

und sollte. So schlug ich vor, dass wir uns eine Woche lang mit <strong>de</strong>m Thema“<br />

<strong>Wissenschaftliche</strong>s Arbeiten – Techniken, Praxistipps und Schreiberfahrung“ befassen<br />

sollten. Herr Leg<strong>de</strong> lehnte diese I<strong>de</strong>e mit <strong>de</strong>r Begründung ab, dass er aufgrund <strong>de</strong>r Betreuung<br />

s<strong>einer</strong> Mutter keine Zeit für die Vorbereitung habe. Ich bot meine Mutter als Ersatzlehrerin<br />

an. Allerdings hatte <strong>de</strong>r Lehrer mit <strong>de</strong>m Arbeitsarmutsargument die Klasse auf s<strong>einer</strong> Seite.<br />

Nun, so ist Demokratie nun einmal und ich fügte mich. Das Schlimme aber war, dass Herr<br />

Leg<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>m Abschluss <strong>de</strong>r Projektwoche ein an<strong>de</strong>res Interessensgebiet von uns ablehnte,<br />

weil er schon solche Schwierigkeiten damit gehabt habe unseren Vorschlag mit <strong>de</strong>n<br />

Rückschlagspielen im Kollegium durchzusetzen! Das war eine infame Lüge und wi<strong>de</strong>rsprach<br />

meine Gerechtigkeitsempfindungen so über alle Maßen, dass ich noch heute die<br />

wie<strong>de</strong>rerwachen<strong>de</strong> Wut spüren kann.<br />

Aber auch in <strong>de</strong>r elften Klasse gab es Lichtblicke. So gab es für Deutsch-<br />

Leistungskursanwärter einen Deutsch-Ergänzungskurs, <strong>de</strong>n eine sehr fähige Lehrerin leitete.<br />

Außer<strong>de</strong>m bot sie einen Kreativen-Schreibkurs an, <strong>de</strong>n ich ebenfalls bei ihr besuchen durfte<br />

und mit <strong>de</strong>m wir regelmäßig an Schreibwettbewerben teilnahmen, von <strong>de</strong>nen ich immerhin<br />

zwei gewonnen habe („Ich habe einen Freund“, „Heinrich-Heine-Wettbewerb Hamburg“).<br />

XLVI


Mit ihr lasen wir neben Klassikern wie „Irrungen Wirrungen“ von Theodor Fontane und<br />

klassischen Gedichten von Eichendorff und Goethe auch mo<strong>de</strong>rne Literatur, z.B.<br />

„Wasserfarben“ von Thomas Brussig. In diesem Zusammenhang wies die Lehrerin daraufhin,<br />

dass <strong>de</strong>r Autor quicklebendig sei. Ich weiß nicht, ob <strong>de</strong>r Vorschlag ihn zu <strong>einer</strong> Lesung in<br />

unsere Schule einzula<strong>de</strong>n von mir o<strong>de</strong>r ihr kam, aber ich übernahm die gesamte Organisation<br />

und setzte mich mit ihm in Verbindung. Dass <strong>de</strong>r Herr ein ziemlicher Halsabschnei<strong>de</strong>r war<br />

und eine Unsumme für seinen Besuch verlangte, war schließlich nicht die Schuld <strong>de</strong>r<br />

Lehrerin. Im Gegenteil, sie setzte sich beim Schulleiter dafür ein, dass <strong>de</strong>r Schulverein die<br />

durch Einnahmen nicht erreichte Summe ergänzen sollte. So kam es zu <strong>einer</strong><br />

(enttäuschen<strong>de</strong>n) Lesung von Herrn Brussig an meinem Gymnasium. Sie war <strong>de</strong>shalb<br />

enttäuschend, da er lediglich eine Werbeveranstaltung für sein neu erschienen Buch daraus<br />

machte und unsere ausgearbeiteten Fragen zu seinem Werk „Wasserfarben“ mit <strong>de</strong>m Hinweis<br />

abtat, dass sei nun einmal sein erstes Buch gewesen, außer<strong>de</strong>m sei er da jünger gewesen und<br />

das wäre ihm heute nicht mehr so wichtig.<br />

Schließlich schlossen sich die letzten zwei Schuljahre im Deutsch-Leistungskurs in <strong>de</strong>r<br />

Kooperationsschule (Hansa-Gymnasium) an. In m<strong>einer</strong> Erinnerung waren das die schönsten<br />

Schulstun<strong>de</strong>n. Er führte uns durch die (vorwiegend <strong>de</strong>utsche) Literaturgeschichte vom 18. bis<br />

20. Jahrhun<strong>de</strong>rt. Wir lasen je<strong>de</strong> Woche min<strong>de</strong>stens eine Novelle o<strong>de</strong>r ein Theaterstück, so<br />

dass ich hier nur die zentralen Werke aufzählen kann. Die Romantik-Epoche wur<strong>de</strong> mit<br />

<strong>Analyse</strong>n <strong>de</strong>r Texte von E.T.A. Hoffmann („Der gol<strong>de</strong>ne Topf“, „Meister Floh“, „Des Vetters<br />

Eckfenster“, „Der Sandmann“), Kurzgeschichten von Edgar Allen Poe und Novalis<br />

(„Heinrich von Ofterdingen“) beschie<strong>de</strong>n. Spannend war für mich insbeson<strong>de</strong>re die<br />

Textanalyse von Hoffmans „Der Sandmann“ auf <strong>de</strong>r Basis von Sigmund Freud. Ich erinnere<br />

mich zwar nicht mehr in allen Einzelheiten an die Fragen, die wir im Unterricht bearbeitet<br />

haben, aber es waren immer produktive und kontroverse Diskussionen, bei <strong>de</strong>nen man<br />

eigentlich immer <strong>de</strong>n Unterricht mit <strong>de</strong>m guten Gefühl im Bauch verließ, ein klein-bisschen<br />

mehr von <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Literatur verstan<strong>de</strong>n zu haben. Der Unterricht war klar strukturiert und<br />

gut vorbereitet. In <strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>s Vormärz widmeten wir uns intensiv „Woyzeck“ von George<br />

Büchner. Nach <strong>einer</strong> intensiven Bearbeitung in Form von Biographiestudien und<br />

Textanalysen bot <strong>de</strong>r Lehrer uns an, Büchner in <strong>de</strong>r Oper im Stück „Wozzeck“ zu bewun<strong>de</strong>rn.<br />

Obwohl ich die unterrichtliche Bearbeitung in positiver Erinnerung habe, bin ich kein<br />

Anhänger von Büchner gewor<strong>de</strong>n. Ich habe dasselbe Stück dann noch ein paar Mal im<br />

Theater gesehen und dieses Auf-die-Bühne-Pinkeln als Ausdruck von menschlichen<br />

Bedürfnissen hat mein konservatives Herz (je<strong>de</strong>nfalls bei Literatur und Theater) doch immer<br />

XLVII


irgendwie angewi<strong>de</strong>rt. Ich bin da schon eher ein Anhänger von Gerhart Hauptmann<br />

gewor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n wir ebenfalls im Deutschunterricht lasen („Rose Bernd“). Die Vorstellung,<br />

dass in früheren Stücken die Bühne auch hinter <strong>de</strong>n Kulissen aufgebaut war, fasziniert mich<br />

bis heute. (Obwohl ich stark annehme, dass diese Hauptmann Tradition sich nicht bis in die<br />

Gegenwart halten konnte!). Je<strong>de</strong>nfalls hat diese Anregung dazu geführt, dass ich immer nach<br />

Gerhard Hauptmann Stücken im Theater Ausschau halte. Auch in diesen Schuljahren bin ich<br />

wie<strong>de</strong>r mit Theodor Fontane in Berührung gekommen („Effi Briest“). Zwischen <strong>einer</strong> guten<br />

Freundin und mir ist <strong>de</strong>r runnig-gang von „Effi komm!“ immer noch erhalten geblieben. Die<br />

<strong>Analyse</strong> <strong>de</strong>r Schreibperspektiven hat mich beeindruckt und auch meine eigenen<br />

Schreibversuche phasenweise experimentell beeinflusst. Vor kurzen gab es <strong>de</strong>n Roman als<br />

Theaterstück im Thalia Theater Hamburg. Dabei ist mir noch mal <strong>de</strong>utlich gewor<strong>de</strong>n, dass<br />

Fontane brillante Dialoge schreibt, <strong>de</strong>ren subtile Anspielungen auf <strong>de</strong>r Bühne wirklich<br />

überzeugen! Ich bin heute <strong>de</strong>r Ansicht, dass man Fontane weniger als Lesestoff, son<strong>de</strong>rn als<br />

Bühnenstoff verwen<strong>de</strong>n und anwen<strong>de</strong>n sollte, z.B. im „Darstellen<strong>de</strong>n Spiel“ in <strong>de</strong>r Schule.<br />

Wir haben relativ wenig ausländische Literatur gelesen und ich bin mir auch nicht ganz<br />

sicher, ob Oscar Wil<strong>de</strong>s „Das Bildnis von Dorian Gray“ von unserem Lehrer eigentlich von<br />

vornherein eingeplant war o<strong>de</strong>r ob <strong>de</strong>r dominante Einfluss eines Mitschülers, <strong>de</strong>r ein richtiger<br />

„Dandy“ war und nicht selten freche Zitate aus Wil<strong>de</strong>s antifeminischischem Spektrum im<br />

Unterricht einstreute, <strong>de</strong>r Auslöser für die Buchlektüre war. Dem Expressionismus haben wir<br />

uns anhand von Strindbergs „Totentanz“ genähert und auch hier wie<strong>de</strong>r mit einem<br />

Theaterbesuch verbun<strong>de</strong>n. Das Werk von Erich Kästner „Fabian“ hat die Moralkontroversen<br />

(fast) <strong>de</strong>s ganzen Kurses erregt und mit Sicherheit meine Menschenkenntnis geprägt. Nach<br />

<strong>de</strong>n schriftlichen Abiturprüfungen durften wir unsere Literatur frei wählen. Wir lasen<br />

„Rituale“ von Cees Noteboom und Margret Atwoods „Die Räuberbraut“. Wir sollten u.a.<br />

selbst Texte schreiben und sie in <strong>de</strong>n Textfluss <strong>de</strong>r Bücher so einordnen, dass möglichst kein<br />

Unterschied bemerkbar wur<strong>de</strong>, dann wur<strong>de</strong>n die Textpassagen vorgelesen und wir mussten<br />

begrün<strong>de</strong>t angeben, wo es sich nicht um <strong>de</strong>n Orginalautor han<strong>de</strong>lte. Es war ein spielerischer<br />

und spaßiger Umgang mit Literatur. Hier durfte ich auch meinen ersten Essay schreiben. Wir<br />

sollten uns eine Fragestellung auf <strong>de</strong>r Basis eines <strong>de</strong>r gelesenen Bücher aus<strong>de</strong>nken. Nun<br />

konnte ich endlich literaturbasiert <strong>de</strong>r Frage nachgehen „Was unterschei<strong>de</strong>t Hochliteratur von<br />

Trivialliteratur – ein Literaturvergleich zwischen Margaret Atwoods „Die Räuberbraut“ und<br />

Gabi Hauptmanns „Suche impotenten Mann fürs Leben“. Die selbständige Entwicklung von<br />

Unterscheidungskriterien und Literaturstandards war sehr befruchtend.<br />

XLVIII


Anhang E: Leseklima in <strong>de</strong>r Herkunftsfamilie<br />

Interview 4 mit Frau Dr. Mechthild Uhle<br />

zur literarischen Sozialisation ihrer jüngeren Tochter Hannah Uhle<br />

Sozio<strong>de</strong>mographische Angaben<br />

Geschlecht:<br />

weiblich<br />

Alter:<br />

59 Jahre<br />

Wohnort:<br />

Hamburg-Bergedorf<br />

Bildungsstand: Lehramtsstudium <strong>de</strong>r Germanistik, Philosophie und Geschichte,<br />

Promotion<br />

Beruf:<br />

Schulleiterin (Gymnasium)<br />

Anzahl <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r: 2<br />

Geschlecht <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r: bei<strong>de</strong> weiblich<br />

Alter <strong>de</strong>s ersten Kin<strong>de</strong>s: 31 Jahre<br />

Alter <strong>de</strong>s zweiten Kin<strong>de</strong>s: 28 Jahre<br />

Interviewer: Wenn Sie sich an die ersten sechs Lebensjahre Ihrer Tochter Hannah Uhle<br />

erinnern, wie haben Sie zu dieser Zeit <strong>de</strong>n Kontakt zu Literatur gestaltet?<br />

Uhle: Wir haben gemeinsam Bil<strong>de</strong>rbücher angesehen, z.B. „Kleine Raupe nimmersatt“ und<br />

„Unsere Stadt“. Als Hannah etwa vier Jahre alt war, habe ich Ihr griechische Sagen und<br />

arabische Märchen erzählt. Sie hatte immer so ihre Lieblingsgeschichten. Sie mochte<br />

beson<strong>de</strong>rs die Geschichte in <strong>de</strong>r Zeus in Gestalt eines Stiers die Europa entführt. Sie hat mich<br />

immer aufgefor<strong>de</strong>rt, die Geschichte bis ins kleinste Detail auszuschmücken und manchmal<br />

selbst etwas ergänzt. Ich habe Ihr Kin<strong>de</strong>rbücher vorgelesen wie „Der kleine Muck“. Sie hatte<br />

so ihre Lieblingsgeschichten, aber an alle erinnere ich mich auch nicht mehr. Das ist<br />

immerhin schon ein paar Jahre her.<br />

Interviewer: Mit sechs Jahren beginnt das eigenständige Lesen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Wie hat sich<br />

<strong>de</strong>r Schriftspracherwerb bei Hannah vollzogen?<br />

4<br />

Das Interview entspricht nicht <strong>de</strong>n gültigen Transkriptionsregeln und ist sinngemäß zusammengefasst wor<strong>de</strong>n.<br />

XLIX


Uhle: Wir haben anfangs gemeinsam gelesen. Ich eine Zeile, dann meine Tochter eine Zeile.<br />

Ich glaube wir haben mit Büchern aus <strong>de</strong>r Reihe „Sonne, Mond und Sternen“ angefangen.<br />

Lesen war für Hannah so etwa ein halbes Jahr lang noch anstrengend. Manchmal hat sie mich<br />

dann aufgefor<strong>de</strong>rt zu lesen, sie mochte das Vorlesen und es ging auch einfach schneller. Mit<br />

so etwa sieben Jahren hat sie dann hauptsächlich selbst gelesen. Ich wür<strong>de</strong> sagen, die mo<strong>de</strong>rne<br />

Kin<strong>de</strong>rlektüre einmal quer Beet. Zum Teil hat sie die Bücher ihrer älteren Schwester<br />

genommen, aber wir haben ihr auch viel geschenkt. Und die Verwandtschaft auch. Sehr<br />

mädchentypisch hat sie Pfer<strong>de</strong>bücher geliebt, z.B. „Bille und Zottel“ und solche Bücher. Aber<br />

auch die Pfer<strong>de</strong>zeitschriften „Wendy“ und … wie heißt die noch… noch so eine an<strong>de</strong>re. Sie<br />

hatte eine ganze Sammlung davon. In späteren Jahren hat sie dann – im Zuge <strong>de</strong>s<br />

Reitunterrichts – auch Pfer<strong>de</strong>fachbücher gelesen. Welche das waren, weiß ich nicht, da ich<br />

mich in diesem Bereich selbst nicht auskenne.<br />

Interviewer: Zwischen acht und elf Jahren zeigen manche Kin<strong>de</strong>r ein reges Interesse an<br />

Büchern. Hat sich das bei Hannah auch gezeigt – und welche Bücher hat sie bevorzugt?<br />

Uhle: Hannah hat im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester lieber klassische Jugendliteratur<br />

gelesen. Dabei hat sie ‚Problembücher’ bevorzugt mit Thematiken wie Drogensucht,<br />

Essstörungen, Gewalt und Totalitarität. Aber auch kleine Liebesgeschichten hat sie gern<br />

gelesen. Sie hat auch gerne selbst geschrieben. Sie liebte kleine Schulaufsätze, in <strong>de</strong>nen man<br />

eigene Geschichten erfin<strong>de</strong>n konnte. Zum Abschied von <strong>de</strong>r Grundschule hat sie ihrer<br />

Lehrerin eine ‚Katzengeschichte’ geschenkt, in <strong>de</strong>r sie sehr süß beschreibt, wie die<br />

Katzenmutter ihren Katzenkin<strong>de</strong>rn die Welt erklärt.<br />

Interviewer: In <strong>de</strong>r Pubertät kommt es bei manchen Kin<strong>de</strong>rn zu <strong>einer</strong> Art ‚Lesekrise’.<br />

Gab es bei Hannah einen Leseeinbruch im Alter zwischen elf bis fünfzehn Jahren?<br />

Uhle: Interessanterweise habe ich bei Hannah einen solchen Bruch kaum bemerkt. Bei ihrer<br />

älteren Schwester, Esther, war <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utlicher. Hannah war dagegen in unserem Stadtteil<br />

bekannt wie ein bunter Hund, da sie immer mit einem Buch in ihrer Hand und unserem Hund<br />

neben sich durch <strong>de</strong>n Wohnort und Wald spaziert ist. Daran erinnert sich die Nachbarschaft<br />

zum Teil heute noch. Der Übergang von Jugend- zu Erwachsenenliteratur vollzog sich bei<br />

Hannah eher fließend. Sie las in <strong>de</strong>m Alter immer noch gerne Bücher über Problemlagen von<br />

L


Jugendlichen, aber auch Erwachsenen Belletristik. Dabei zeigte sie auch hier keine<br />

ein<strong>de</strong>utigen Vorlieben, son<strong>de</strong>rn las vom trivialen Bestseller bis zur anspruchsvollen Literatur<br />

eigentlich alles. Ich stand ihr in dieser Phase immer eher beratend zur Seite und bot ihr<br />

natürlich unser Bücherregal an. Hannah war eine for<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Leserin, wür<strong>de</strong> ich sagen. Sie hat<br />

mit meinem Mann und mir immer kontrovers diskutiert und dabei oftmals provokante Thesen<br />

aufgestellt. (lächelt) Vielleicht manchmal auch nur um uns ein bisschen zu ärgern. Sie hat<br />

sich immer beson<strong>de</strong>rs über die Moralität <strong>de</strong>r Figuren geäußert, über Innen- und<br />

Außenansichten und die Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeit <strong>de</strong>r Figuren. Ich glaube, dass sie da schon älter<br />

war, aber ich erinnere mich noch an ihre vehemente Position zu Goethes<br />

„Wahlverwandtschaften“, das sie radikal ablehnte. Ich glaube, da spielte durchaus auch eine<br />

gewisse Auflehnung gegen meine Anhängerschaft gegenüber diesem Werk von Goethe eine<br />

Rolle…<br />

Interviewer: Wie hat sich <strong>de</strong>r Schulunterricht und insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Deutschunterricht<br />

auf das Verhältnis zur Literatur bei Ihrer Tochter Hannah ausgewirkt?<br />

Uhle: Oh, sie hatte so ihre Kämpfe auszustehen. Ich erinnere mich, wie intensiv sie sich mit<br />

Schillers „Die Räuber“ in <strong>de</strong>r neunten Klasse auseinan<strong>de</strong>rgesetzt hat. Und manche Werke hat<br />

sie auch radikal abgelehnt, so z.B. <strong>de</strong>n „Schimmelreiter“ von Theodor Storm. Aber sie hat<br />

selbst auch unkonventionelle Literaturvorschläge in <strong>de</strong>n Unterricht eingebracht. So hat sie<br />

Günther Gras Werk „Ein weites Feld“ vorgeschlagen, das auch wirklich gelesen wur<strong>de</strong>. Sie<br />

hat sich schon früh für das Theater interessiert und ich glaube, dass ihre abschließen<strong>de</strong><br />

positive Bewertung von Schillers „Die Räuber“ auch mit <strong>einer</strong> Aufführung im Thalia Theater<br />

zusammenhängt. Ihr Theaterinteresse wur<strong>de</strong> durch die Schule zwar nicht ausgelöst, aber doch<br />

unterstützt. So ist die Klasse mal in ein Strindberg Stück gegangen, sie haben sich Wozzeck<br />

in <strong>de</strong>r Oper angeschaut u.a.. Sie hat im Deutschunterricht immer gern Leseprojekte mit<br />

selbstständiger Auswahl initiiert und auch sehr gerne Referate gehalten. Ihre Faszination von<br />

Gedichten konnten man an Ihren – zu meinem Leidwesen – vollgekritzelten Schreibtisch<br />

ablesen. Auf <strong>de</strong>m das Gedicht von Höl<strong>de</strong>rlin „Hälfte <strong>de</strong>s Lebens“ und von Paul Celan<br />

„To<strong>de</strong>sfuge“, na, fast schon eingeritzt waren, was sie nicht so gern mochte, waren<br />

Gedichtinterpretationen. Und das kreative Schreiben, das sie schon in <strong>de</strong>r Grundschule gern<br />

getan hat, hat sie in <strong>de</strong>r Gymnasialzeit noch verf<strong>einer</strong>t. Sie hat – ich glabe nahezu ihre ganze<br />

Schulzeit – an kreativem Schreiben teilgenommen. Zuerst als AG und dann im Unterricht.<br />

Die Schreibwettbewerbe haben sie zusätzlich motiviert. Sie hat fast immer einen Preis<br />

LI


ekommen und mehrfach sogar <strong>de</strong>n ersten. Ich erinnere mich noch – da war aber schon gegen<br />

En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Schulzeit – dass sie einen Essay geschrieben hat über die Frage: „Was unterschei<strong>de</strong>t<br />

Trivialliteratur von anspruchsvoller Literatur am Beispiel von Margret Atwood und Gabi<br />

Hauptmann“. Und sie hat etwa in <strong>de</strong>r elften Klasse im Deutsch-Ergänzungskurs ziemlich<br />

eigenständig eine Lesung initiiert mit Thomas Brussig. In <strong>de</strong>rselben Klasse hat sie sich<br />

ziemlich über einen unvorbereiteten Lehrer aufgeregt. Ich glaube, dass er sie etwas<br />

unterfor<strong>de</strong>rt hat, aber das wür<strong>de</strong> sie so nie sagen. Den Deutsch Leistungskurs hat sie geliebt.<br />

Der Lehrer hat einen Ritt durch die vorwiegend <strong>de</strong>utsche Literaturgeschichte <strong>de</strong>s 18. bis 20.<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rts gemacht. Sie haben dabei viel selbst geschrieben und die Diskussionen waren,<br />

soweit Hannah mir davon erzählt hat, immer ziemlich kontrovers.<br />

Interviewer: Hatte Hannahs Peer-group Einfluss auf Ihr Medienverhalten?<br />

Uhle: Ich glaube schon. Einerseits hatte sie einen sehr literarischen Freun<strong>de</strong>skreis. Die haben<br />

sogar einen Literatur-Club gegrün<strong>de</strong>t. An<strong>de</strong>rerseits hat sie durch einen ihrer Freun<strong>de</strong> das<br />

Medium Film ent<strong>de</strong>ckt, das ja auch eine Form <strong>de</strong>r Literarisierung darstellen kann. In dieser<br />

Hinsicht hatte sie bei uns eher weniger Vorbil<strong>de</strong>r, da wir Fernsehen eher als<br />

Entspannungsmedium nutzen. Sie hat aber dann auch anspruchvollere Verfilmung angesehen<br />

und darüber diskutiert. Inzwischen ist es so, dass ich mir von ihr bestimmte Filme ausleihe,<br />

wie z.B. Eyes White Shut. Allerdings kann man <strong>de</strong>n Leistungsanspruch, <strong>de</strong>n sie sogar in<br />

Filme steckt, durchaus auch kritisch sehen. Sie hat sich dann erstmal das Standardwerk <strong>de</strong>r<br />

Theaterwissenschaftler zur Filmkritik gekauft, ein ziemlicher Wälzer.<br />

Interviewer: In manchen Familien gibt es ja auch ‚verbotene Literatur’. Gab es so etwas<br />

in Ihrer Familie?<br />

Uhle: Nein. Wir haben Lesen immer unterstützt. Explizite Verbote gab es daher nicht. Ich<br />

habe aber manchmal <strong>de</strong>n Eindruck, dass Hannah durch die hohe Bewertung von bestimmten<br />

Werken, das falsch interpretiert haben könnte. Ich lese eigentlich alles: Schmöker im Urlaub,<br />

gut geschriebene Sachbücher z.B. von Safranski, aber auch die Klassiker. Die auch gerne<br />

mehrmals. Mein Mann liest in s<strong>einer</strong> Freizeit gerne Literatur über Seefahrt bzw. historische<br />

Romane u.a. und ist vielleicht auch ein intensiverer Zeitungsleser als ich.<br />

LII


Interviewer: Wie wür<strong>de</strong>n Sie das Klima in Ihrer Familie beschreiben?<br />

Uhle: Oh, das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, dass wir uns alle mögen und uns<br />

gegenseitig unterstützen, wo wir können. Natürlich hat je<strong>de</strong>r von uns so seine Ecken und<br />

Kanten, aber im Großen und Ganzen haben wir alle ein gutes Verhältnis zueinan<strong>de</strong>r. Was man<br />

vielleicht auch daran merken kann, dass Hannah uns auch als Erwachsene gerne besucht und<br />

uns in manchen Dingen immer noch um Rat fragt – und wir sie inzwischen auch.<br />

LIII


Anhang F: Reflexion eines literarischen Gesprächs<br />

Das Literarische Gespräch zwischen didaktischer Intention und institutioneller<br />

Realisierung<br />

Die kulturelle Tradition <strong>de</strong>s literarischen Gesprächs hat ihre Wurzeln im bürgerlichen Salon<br />

<strong>de</strong>s 18. und 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt. Dabei ging es um eine weitgehend konventions- und<br />

stan<strong>de</strong>sfreien Austausch über Literatur im Rahmen eines (Literatur-)Zirkels (vgl. Härle, 2004,<br />

S.148 5 ).<br />

In einem didaktisch eingesetzten literarischen Gespräch sollen die Leistungsanfor<strong>de</strong>rung, die<br />

im schulischen Kontext mit <strong>de</strong>r ‚Bearbeitung’ von Literatur verbun<strong>de</strong>n sind, relativiert<br />

wer<strong>de</strong>n. Es geht darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in <strong>de</strong>r die Rezipienten sich freiassoziierend<br />

über ein unbekannten Textauszug o<strong>de</strong>r ein Gedicht äußern können. Dazu wird<br />

ein ‚innerer Stuhlkreis’ gebil<strong>de</strong>t, in <strong>de</strong>m die Teilnehmer sich über die Text- o<strong>de</strong>r<br />

Gedichtvorlage unterhalten sollen und ein ‚äußerer Stuhlkreis’, in <strong>de</strong>m die Beobachter sich<br />

Stichpunkte zum Gesprächsverlauf machen sollen. Härle (2004) weist <strong>de</strong>r Sitzordnung <strong>de</strong>s<br />

Stuhlkreises eine Be<strong>de</strong>utung zu, in <strong>de</strong>m er darauf hinweist, dass dadurch zum einen <strong>de</strong>r<br />

technische Vorteil <strong>de</strong>s direkten Gegenübers, <strong>de</strong>r eine dialogische und gleichwertige<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung ermöglichten, realisiert und an<strong>de</strong>rerseits auch bestimmte<br />

Schutzfunktionen verringert wer<strong>de</strong>n, können. „Damit wird <strong>de</strong>m Entstehen <strong>de</strong>r >> gewissen<br />

Wärme


eine implizite Kapitalismuskritik enthalten könnte, was aus <strong>de</strong>m Bezug zum Jahr 1968<br />

geschlussfolgert wur<strong>de</strong>. Generell zeigte sich die Diskussion als wenig kontrovers. Statt<strong>de</strong>ssen<br />

waren die Mitglie<strong>de</strong>r an Konsensbildung und Einigkeit interessiert und ergänzten bestenfalls<br />

die Bewertungen ihrer Mitstreiter/-innen.<br />

Befürworter <strong>de</strong>r didaktischen Konzeption <strong>de</strong>s literarischen Gesprächs verweisen auf die<br />

Reaktivierung familiärer Gesprächsstrukturen, die die Grundlage eines diskursiven Umgangs<br />

mit Texten und <strong>de</strong>r ‚Suchfunktion’ in <strong>de</strong>r Annäherung an literarische Texte wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>cken<br />

wür<strong>de</strong>n (vgl. Härle, 2004). „All unsere literarische Erfahrung hat ihre Wurzeln im Gespräch;<br />

ohne Gespräch ist literarische Erfahrung kaum <strong>de</strong>nkbar“ (ebd., S.138). Das literarische<br />

Gespräch kann (und soll) am Erfahrungshorizont <strong>de</strong>r Teilnehmer anknüpfen, welcher sich<br />

schon in <strong>de</strong>r kindlichen Entwicklung in Form von Sprachspielen an <strong>de</strong>n Mehrwert von<br />

Literatur im Sinne <strong>de</strong>r Überschreitung <strong>de</strong>r „Welt-Wirklichkeit“ (ebd., S.141) gezeigt hat.<br />

Dieses Phänomen soll literaturdidaktisch genutzt wer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>m die „Vielstimmigkeit“ (ebd.,<br />

S.144) von poetischen Werken wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n soll. Härle (2004, S.145) fasst das Ziel<br />

eines literarischen Gesprächs mit folgen<strong>de</strong>n Worten zusammen: „Statt sich beschreibend und<br />

analysierend mit <strong>de</strong>m literarischen Text zu befassen o<strong>de</strong>r auf ein intendiertes<br />

Interpretationsziel zuzusteuern, muss das Literarische Gespräch einen interaktionellen<br />

Verstehensprozess als gemeinsame Sinnsuche ermöglichen und in seinen Strukturen<br />

abbil<strong>de</strong>n“ (ebd., S.145).<br />

Die grundlegen<strong>de</strong> didaktische Intention, einen leistungsfreien literarischen Bezug zu<br />

verwirklichen, konnte ich als Teilnehmer persönlich nicht teilen. Entgegen <strong>de</strong>r allgemeinen<br />

Bewertung <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Teilnehmer konnte ich die Anwesenheit <strong>de</strong>s Auditoriums nicht<br />

vergessen und meine Konzentration schwankte zwischen <strong>de</strong>m Bedürfnis nach Anerkennung<br />

und <strong>de</strong>r Angst vor zwischenmenschlicher (negativer) Bewertung. Hier wür<strong>de</strong> auch meine<br />

Problematisierung dieses Mo<strong>de</strong>lls im Unterricht ansetzten. Ich nehme an, dass in einem<br />

schulischen Kontext eine ‚angenehme Atmosphäre’, die einen freien Zugang zur Literatur<br />

ermöglichen soll, schwer zu realisieren ist, da die Schule <strong>einer</strong>seits von Leistungs- und<br />

Bewertungsmaximen durch Lehrpersonen geprägt ist und an<strong>de</strong>rerseits von sozialen<br />

Bewertungen durch Mitschüler/-innen. Härle (2004) spricht nicht direkt von ‚Atmosphäre’,<br />

son<strong>de</strong>rn nutzt <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Authentizität in Anlehnung an die Deutung <strong>de</strong>s Begriffs aus <strong>de</strong>r<br />

Themenzentrierte Interaktion (TZI) (vgl. Härle, 2004). Dabei problematisiert auch er die<br />

Einlösbarkeit <strong>de</strong>s didaktischen Ziels <strong>de</strong>r authentischen, interpersonellen Gesprächsführung im<br />

LV


institutionellen Schulrahmen. „(…) ob und wie sich <strong>de</strong>r Anspruch auf authentisches Re<strong>de</strong>n<br />

und Han<strong>de</strong>ln überhaupt einlösen, überprüfen und bewerten lässt und ob und wie er im<br />

institutionellen Kontext <strong>de</strong>r Schule realisiert wer<strong>de</strong>n kann bzw. soll. Es zeigt sich, dass im<br />

Authentizitätsanspruch <strong>de</strong>s Literarischen Gesprächs seine Leistung und zugleich seine Gefahr<br />

liegen“ (ebd., S.150). Er verweist auf das „Reibungspotential“ zwischen <strong>de</strong>m<br />

Authentizitätsanspruch in <strong>de</strong>r Institution Schule (ebd., S.151).<br />

Bei <strong>de</strong>r didaktischen Nutzung dieses Aneignungsprozesses von Literatur im Deutschunterricht<br />

stellt sich mir darüber hinaus die Frage, ob <strong>de</strong>r Lehrer bzw. die Lehrerin die an ihn gestellten<br />

Anfor<strong>de</strong>rungen hinreichend erfüllen kann. So erfor<strong>de</strong>rt das Literarische Gespräch vom Lehrer<br />

bzw. von <strong>de</strong>r Lehrerin (und SchülerInnen) <strong>einer</strong>seits die Akzeptanz von Unsicherheiten und<br />

an<strong>de</strong>rerseits vom Lehrer in noch größerem Maße die Fähigkeit von „gleichschweben<strong>de</strong>r<br />

Aufmerksamkeit“ (Härle, 2004, S.157), die sich sowohl auf explizite als auch implizite,<br />

nonverbale Teilnehmersignale bezieht. Wenn man be<strong>de</strong>nkt, dass dies ein integraler<br />

Bestandteil <strong>einer</strong> langjährigen psychoanalytischen Ausbildung ist, dann bleibt zu fragen,<br />

wann und woher die Lehrer und Lehrerinnen diese Kompetenz erworben haben können.<br />

Im Rahmen <strong>de</strong>r Tutoriumsgestaltung <strong>de</strong>s Literarischen Gesprächs als beispielhafte Einbettung<br />

in wissenschaftliche Untersuchungen von Unterrichtsmo<strong>de</strong>llen, empfin<strong>de</strong> ich <strong>de</strong>n<br />

experimentellen Umgang mit didaktischen Konzepten allerdings trotz<strong>de</strong>m als bereichernd.<br />

Und ich glaube trotz <strong>de</strong>r kritischen Einwän<strong>de</strong>, dass sich dieses Mo<strong>de</strong>ll mit <strong>de</strong>n genannten<br />

Einschränkungen und <strong>de</strong>r Bewusstheit um seine Grenzen auch ein Stück weit im Unterricht<br />

gestalten lässt. Zu<strong>de</strong>m sehe ich in diesem offenen Umgang mit Literatur auch eine Chance: So<br />

kristallisieren sich Interessenschwerpunkte und Fragen an <strong>de</strong>n Text durch die SchülerInnen<br />

heraus.<br />

Die Teilnehmer am literarischen Gespräch im Tutorium waren im Anschluss an das<br />

literarische Gespräch sehr offen für Wissenserweiterung über <strong>de</strong>n historischen Kontext. Die<br />

Paradoxie besteht jedoch darin, dass, wenn im Unterricht die im literarischen Gespräch<br />

aufgeworfenen Fragen thematisiert wer<strong>de</strong>n, das Ganze wie<strong>de</strong>r in Kategorien von ‚richtig’ und<br />

‚falsch eingeordnet wer<strong>de</strong>n könnte und die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r bewertungsfreien Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit<br />

Literatur ad absurdum geführt wür<strong>de</strong>. Ich persönlich hätte mich über ein anschließen<strong>de</strong>s<br />

‚Gespräch über Literatur’, <strong>einer</strong> historischen Einordnung, <strong>einer</strong> möglichen Gedicht<strong>de</strong>utung<br />

und <strong>einer</strong> diskursiven – möglicherweise etwas kontroverseren- Plenumsdiskussion je<strong>de</strong>nfalls<br />

LVI


gefreut. Allerdings ist mir klar, dass dies von vielen SchülernInnen (Menschen?) nicht in <strong>de</strong>r<br />

gleichen Weise positiv erlebt wird.<br />

Das Literarisches Gespräch o<strong>de</strong>r doch lieber das Gespräch über Literatur?<br />

Die didaktische Intention eines Literarischen Gesprächs und <strong>de</strong>ren Grenzen sind im oben<br />

genannten Abschnitt schon angeklungen. Das Literarische Gespräch ist ein Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s<br />

„offenen Unterrichtsgesprächs“ und versucht eine symmetrische Beziehung zwischen <strong>de</strong>m<br />

Lehrer bzw. <strong>de</strong>r Leherin als irritierbarem, suchen<strong>de</strong>n Teilnehmern (vgl. Härle, 2004, S. 151)<br />

und <strong>de</strong>m ebenso suchen<strong>de</strong>n Schüler zu verwirklichen. „Wenn somit die<br />

>>Verstehenshoheit


Interpretationshilfen bietet und zum an<strong>de</strong>ren för<strong>de</strong>rt manchmal eine provokativ vorgetragene<br />

Text<strong>de</strong>utung durch <strong>de</strong>n Lehrer bzw. die Lehrerin die SchülerInnen durchaus zur aktiven,<br />

partizipativen Mitgestaltung auf. Zu<strong>de</strong>m ist <strong>de</strong>r familiäre Bezug <strong>de</strong>s Literarischen Gesprächs<br />

in <strong>de</strong>r Deutung von Härle (2004) durchaus auch kritisch zu bewerten. Dabei kann ich im<br />

Rahmen dieser Arbeit nur an<strong>de</strong>uten, dass die Schule eine an<strong>de</strong>re Sozialisationsform darstellen<br />

soll und an<strong>de</strong>re Funktionen auch bei <strong>de</strong>r Rezeption von Literatur und Literaturkritik<br />

einnehmen soll (vgl. Baumgart, 2004 6 ). Die einleiten<strong>de</strong> Frage, ob im Unterricht eher das<br />

„Literarische Gespräch“ o<strong>de</strong>r das „Gespräch über Literatur“ verwirklicht wer<strong>de</strong>n sollte, wür<strong>de</strong><br />

ich also wie folgt beantworten: Als didaktische Auflockerung und ersten Anknüpfungspunkt<br />

sollte das „Literarische Gespräch“ in <strong>de</strong>r Unterrichtsgestaltung einen angemessen Platz<br />

bekommen, allerdings in s<strong>einer</strong> Be<strong>de</strong>utung nicht überbewertet wer<strong>de</strong>n. Das „Gespräch über<br />

Literatur“ sollte weiterhin seinen wichtigen Stellenwert im Deutschunterricht behalten.<br />

Allerdings sollte es vom klassischen sokratischen Dialog – o<strong>de</strong>r überspitzt formuliert: vom<br />

Frage-Antwort-Spiel - gelöst wer<strong>de</strong>n und durch handlungsorientierte Verfahren nicht<br />

abgelöst, son<strong>de</strong>rn erweitert wer<strong>de</strong>n.<br />

6<br />

So zeigt Baumgart (2004, S. 79-116) am Beispiel von Parsons Gesellschaftstheorie auf, dass die Schule als<br />

Sozialisationsinstanz beson<strong>de</strong>rs für die Formung <strong>de</strong>s Rollenhan<strong>de</strong>lns zuständig ist und sich dadurch u.a. von<br />

familiärer Sozialisation unterschei<strong>de</strong>t.<br />

LVIII


Anhang G: <strong>Wissenschaftliche</strong> <strong>Analyse</strong> <strong>einer</strong> fiktiven Leseautobiographie<br />

Einleitung<br />

Graf (1995) 7 vermutet, dass „das öffentliche Vertrauen in die Wirkung von Literatur“ (Graf<br />

1995, S. 99) schneller abgenommen haben könnte, als die individuell zugeschriebene<br />

Be<strong>de</strong>utung von Literatur und begrün<strong>de</strong>t damit seine Untersuchung individueller<br />

Leseautobiographien. Ob das auf je<strong>de</strong>n zutrifft?<br />

Im Folgen<strong>de</strong>n wird die Leseautobiographie eines 22 jährigen Mannes wissenschaftlichkritisch<br />

untersucht. Dabei wird schwerpunktmäßig auf Forschungsergebnisse <strong>de</strong>r <strong>Analyse</strong>n<br />

von autobiographischen Lese-Geschichten aus Werner Grafs „Fiktionales Lesen und<br />

Lebensgeschichte“ (1995), „Literarische Sozialisation“ (2002) und „Der Sinn <strong>de</strong>s Lesens“<br />

(2004) Bezug genommen.<br />

Es wird im Folgen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r These nachgegangen, ob es sich bei <strong>de</strong>m jungen Mann um einen<br />

(ver<strong>de</strong>ckten) „Nicht- bzw. Wenig-Leser“ im Sinne Grafs (1995, S. 115) han<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>r sich<br />

aufgrund <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Ansehens von Literatur zu „Reflexe[n] von >>sozialer<br />

Erwünschtheit


Bücher wur<strong>de</strong>n für mich zu <strong>einer</strong> Wissensquelle, aber nicht zu Türen in an<strong>de</strong>re<br />

Welten. Dies ging dann soweit, dass ich zum Geburtstag und zu Weihnachten<br />

immer Bücher geschenkt bekam und weniger die Dinge, die auf <strong>de</strong>m Wunschzettel<br />

stan<strong>de</strong>n.<br />

Dies hat dazu geführt, dass ich die Freu<strong>de</strong> am Lesen verloren hatte, weil man als<br />

Kind die Welt ent<strong>de</strong>cken möchte und nicht unter einem Berg aus Wissen begraben<br />

wer<strong>de</strong>n möchte. Deshalb hatten Bücher für mich immer einen bitteren<br />

Beigeschmack“ (N.N.)<br />

Der junge Mann beschreibt nur vage die Vorlesesituationen in s<strong>einer</strong> Kindheit, dabei <strong>de</strong>utet er<br />

bereits an, dass Lesen in seinem familalen Kontext mit Leistungsparamtern verknüpft ist, was<br />

die Formulierung „(…) die je<strong>de</strong>s Kind kennt o<strong>de</strong>r kennen sollte“ (N.N.) nahe legt. Auch <strong>de</strong>r<br />

Hinweis auf <strong>de</strong>n Wechsel <strong>de</strong>r Textsorte zu „wissensvermitteln<strong>de</strong>[n]“ (N.N.) Büchern verweist<br />

auf eine didaktische Intention <strong>de</strong>r Mutter.<br />

Die fragmentarische Leseautobiographie gibt keinen Hinweis auf das Leseverhalten <strong>de</strong>r<br />

Eltern, so dass das Studienergebnis von Bettina Hurrelmann (1993, S. 41), dass ein hoher<br />

Leistungsanspruch <strong>de</strong>r Mutter sich beson<strong>de</strong>rs dann negativ auf das kindliche Leseverhalten<br />

auswirkt, wenn die Mutter selbst wenig Leseinteresse zeigt, nicht abschließend beurteilt<br />

wer<strong>de</strong>n kann. Auf Grundlage <strong>de</strong>r gewählten Beschreibungen ist stark anzunehmen, dass sich<br />

hinter <strong>de</strong>n Vorlesesituationen ein Leistungsanspruch verbirgt.<br />

Die biographischen Erinnerungslücken sind, so Graf (1995, S.100), typisch für die Phase <strong>de</strong>r<br />

„primären literarischen Initiation“ (Graf 1995, S. 99), in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r erste Kontakt mit <strong>de</strong>r<br />

Schriftwelt über familiale Austauschkommunikation, sprechen über Bil<strong>de</strong>r und <strong>de</strong>n<br />

Kin<strong>de</strong>rgarten erfolgt.<br />

Die vom Autor <strong>de</strong>r Leseautobiographie gewählte Formulierung, dass seine ersten<br />

Leseerfahrungen dazu geführt hätten, dass er „die Freu<strong>de</strong> am Lesen verloren“ (N.N.) hätte,<br />

bleibt etwas unscharf, da er im vorangegangenen Abschnitt k<strong>einer</strong>lei Freu<strong>de</strong> am Lesen<br />

beschrieben hat, ist aber mit s<strong>einer</strong> Begründung („unter einem Berg aus Wissen begraben“<br />

N.N.) noch einmal ein Hinweis auf die negative Rolle, die das Lesen in s<strong>einer</strong> Familie<br />

eingenommen zu haben scheint.<br />

LX


Entsprechend <strong>de</strong>r oben genannten These, dass es sich hier um die Leseautobiographie eines<br />

(zukünftigen) „Nicht-Lesers“ (Graf 1995, S. 115) han<strong>de</strong>lt, fehlt es <strong>de</strong>m Jungen vollständig an<br />

<strong>einer</strong> Phase kindlicher Genusslektüre mit nahezu „oralen Suchtten<strong>de</strong>nzen“ (Graf 1995, S.<br />

107) wie sie in <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r von Graf (1995, 2002) beschriebenen Leseautobiographien<br />

ausführlich dargestellt wer<strong>de</strong>n.<br />

Fraglich bleibt jedoch wie sich <strong>de</strong>r Übergang zur Schriftlichkeit bei diesem jungen Mann<br />

vollzogen haben mag. Die Tatsache, dass er die Alphabetisierungsphase (Graf 1995, S.100)<br />

gänzlich ausspart lässt zumin<strong>de</strong>st die Vermutung zu, dass es sich nicht um einen sehr<br />

schwierigen Prozess gehan<strong>de</strong>lt haben könnte, <strong>de</strong>nn ein solcher fin<strong>de</strong>t eher noch Erwähnung.<br />

Dies wie<strong>de</strong>rum wi<strong>de</strong>rspricht <strong>de</strong>r genannten These, dass „insbeson<strong>de</strong>re von Wenig bzw.<br />

Nichtlesern, <strong>de</strong>r Übergang vom Oralen zum Schriftlichen als Qual erinnert“ (Graf 1995, S.<br />

103) wird. Allerdings bleibt diese Einschränkung auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>einer</strong> Hypothese, da die<br />

Leseautobiographie hierzu keine ein<strong>de</strong>utige Aussage zulässt.<br />

Eine gewisse geschlechtstypische Entwicklung zeichnet sich hier auch ab. So hat Bettina<br />

Hurrelmann (1993, S. 31) festgestellt, „dass bei <strong>de</strong>n Mädchen die sozial-emotionale<br />

Dimension <strong>de</strong>r Leseerfahrung im Vor<strong>de</strong>rgrund steht“. Der Autor dieser Leseautobiographie<br />

hat diesen Zugang zur Literatur nicht gefun<strong>de</strong>n, die „Türen in an<strong>de</strong>re Welten“ (N.N.) blieben<br />

für ihn verschlossen. Dabei sind allerdings die Untersuchungen zu geschlechtsdifferentem<br />

Leseverhalten zu berücksichtigen, die aufzeigen, dass Jungen generell u.a. quantitativ weniger<br />

und qualitativ an<strong>de</strong>rs Lesen als Mädchen (Philipp et al. 2007, S.1).<br />

Schulische Lesesozialisation<br />

„Ab einem gewissen Zeitpunkt habe ich Bücher nur noch in <strong>de</strong>r Schule gelesen.<br />

Für mich war das mehr eine >>wissenschaftliche Abhandlung>FaustNathan <strong>de</strong>r WeiseDie<br />

VerwandlungDas Spiel ist aus>Faust


erschwert. Die alte Sprache hat mich gera<strong>de</strong>zu abgeschreckt. Auch Autoren wie<br />

Kafka und Sartre ließen mich daran zweifeln, ob die Bücher unbedingt <strong>de</strong>r<br />

persönlichen Erbauung dienten. Ich habe in ihnen keine Genies, son<strong>de</strong>rn<br />

Menschen, die mit <strong>de</strong>m Leben nicht klarkommen, gesehen“ (N.N.).<br />

Der Halbwüchsige erlebt sich selbst als literaturfern. Gelesen wird nur noch im schulischen<br />

Kontext, unter Zwang. Er empfin<strong>de</strong>t die institutionelle Pflichtlektüre als unangenehm und hat<br />

nur geringe Erinnerungen an die ersten Schullektüren. Graf (2002, S. 37) beschreibt in seinen<br />

<strong>Analyse</strong>n von Leseautobiographien, dass das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kindheit oftmals eine „Lesekrise“<br />

be<strong>de</strong>uten wür<strong>de</strong>. Dabei be<strong>de</strong>utet „Lesekrise“ eine Verän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>r Lesehäufigkeit bzw.<br />

sogar Leseeinbrüchen, aber auch verstärkte Hinwendung zur Literatur (Graf 1995, S. 114).<br />

Bei <strong>de</strong>m Autor dieser Leseautobiographie kann von <strong>einer</strong> „Lesekrise“ (Graf 1995, S.114)<br />

nicht exakt gesprochen wer<strong>de</strong>n, da die Lesekrise einen Bruch mit alten Lesegewohnheiten<br />

be<strong>de</strong>utet. Graf (1995, S. 114) führt sie u.a. auf die Durchschaubarkeit <strong>de</strong>r Gestaltung von<br />

Kin<strong>de</strong>rbüchern zurück. Dieser junge Mann beschreibt solcherlei Erfahrungen nicht und<br />

erscheint auch in seinen früheren Lesebeschreibungen nicht als intensiver Leser, so dass hier<br />

nicht von <strong>einer</strong> (produktiven) Krise gesprochen wer<strong>de</strong>n kann. Nach Graf (1995, S. 115) wür<strong>de</strong><br />

allerdings <strong>de</strong>r Ausgang <strong>einer</strong> solchen Krise über die zukünftige literarische Entwicklung<br />

entschei<strong>de</strong>n. So unterschei<strong>de</strong>t Graf (1995, S. 115) als Ergebnis <strong>de</strong>r Lesekrise zwischen drei<br />

Formen von zukünftigen Lesern und Leserinnen: <strong>de</strong>m/ <strong>de</strong>r „Nicht- bzw. Wenigleser[in]“<br />

(ebd.), <strong>de</strong>r/ die seine/ ihre Lesekarriere abbricht, <strong>de</strong>m/<strong>de</strong>r „Sach- und Fachbuchleser[in]“<br />

(ebd.), <strong>de</strong>r/ die die fiktionale Lektüre nicht fortsetzt und <strong>de</strong>m/ <strong>de</strong>r „Belletristik-Leser[in]“<br />

(ebd.), <strong>de</strong>r/ die weiterhin Gefallen an fiktionalen Texten hat. Bezogen auf <strong>de</strong>n<br />

Lesautobiographen kann man nun zweierlei Thesen vertreten: Er hatte eine sehr ausgeprägte<br />

„Lesekrise“ (Graf 1995, S.114), die zur Leseabstinenz führte o<strong>de</strong>r er hatte keine „Lesekrise“<br />

(ebd.) im Sinne von Graf erlebt, da er seine Leseverhalten im Vergleich zur Kindheit nicht<br />

modifiziert hat. Gegen die erste These spricht, dass die Leseabstinenz keine Differenz zu<br />

vorangegangenem Leseverhalten darstellt, gegen die zweite These spricht <strong>de</strong>r Hinweis auf die<br />

„>>wissenschaftliche Abhandlung


<strong>de</strong>utlichen Mangel an Rezeptionskompetenz bezüglich kanonischer Literatur (z.B. Goethe)<br />

aufweist.<br />

Leseerfahrungen als Erwachsener<br />

„Vor etwa 2 Jahren habe ich wie<strong>de</strong>r angefangen, regelmäßig zu lesen. Ich<br />

lese aber nur Bücher, die mich wirklich interessieren. Für mich war es<br />

schwer, die Tür zu an<strong>de</strong>ren Welten mit Hilfe von Büchern [zu] öffnen, aber es<br />

ist mir gelungen.<br />

Ich <strong>de</strong>nke, dass viele Geschichten Werte vermitteln, die man mit <strong>de</strong>m<br />

Verstand nicht erfassen kann, son<strong>de</strong>rn nur mit <strong>de</strong>m Herz. In <strong>de</strong>r heutigen<br />

Gesellschaft, wo <strong>de</strong>r Verstand immer mehr in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund gerückt wird,<br />

wird es zunehmend wichtiger, dass Geschichten und Märchen wie<strong>de</strong>r mehr<br />

Aufmerksamkeit bekommen, da sie Wahrheiten vermitteln, die nicht vom<br />

Zeitgeist umgeworfen wer<strong>de</strong>n können, wie zum Beispiel <strong>de</strong>r Kampf zwischen<br />

Gut und Böse. Denn das Gehirn kann das größte Hin<strong>de</strong>rnis sein, um im Leben<br />

wirklich vorwärts zu kommen. Ich <strong>de</strong>nke, dass das Buch >>Der ungezähmte<br />

Mann


scheint durchaus <strong>de</strong>r Aspekt <strong>de</strong>r „sozialen Erwünschtheit“ eine Rolle zu spielen. So verweist<br />

B. Hurrelmann darauf: „Das Lesen von Büchern wird in unserer Gesellschaft normativ so<br />

hoch bewertet, daß durch die entsprechen<strong>de</strong>n Fragen eher Reflexe von >>sozialer<br />

Erwünschtheit


literarischen Sozialisation erworbene Handlungsdispositionen, die spezifische<br />

Rezeptionsweisen ermöglichen, um Texte subjektbezogen zu nutzen (…)“ (Graf 2004, S. 120).<br />

Allerdings bleibt aufgrund <strong>de</strong>s fragmentarischen Auszugs dieser Leseautobiographie unklar<br />

wie und in welchem Kontext, also wie sich diese „literarische Sozialisation“ (ebd.) bei <strong>de</strong>m<br />

Autor vollzogen haben könnte. Graf (2004) erweitert und modifiziert später die drei<br />

genannten Lesemodi und wan<strong>de</strong>lt <strong>de</strong>n „Gefühlsleser“ (Graf 1995, S. 121) in <strong>de</strong>n „intimen<br />

Lesemodus“ (Graf 2004, S.124) um. Dabei kennzeichnet diesen Lesemodus neben <strong>de</strong>m<br />

lustvollen Lesen vor allem, dass er nicht für die „öffentliche kommunikative Teilhabe“ (Graf<br />

2004, S. 124) gedacht ist. Dem wi<strong>de</strong>rspricht die Art und Weise und die Selbstverständlichkeit<br />

und Sicherheit <strong>de</strong>s Leseautobiographen mit <strong>de</strong>r er über diese Lektüre spricht und sie – ohne<br />

Scham – öffentlich macht.<br />

Aufgrund <strong>de</strong>s genannten Werkes ließen sich (wie<strong>de</strong>r) Hypothesen darüber aufstellen, ob er<br />

dieses Buch, dass ihn „am meisten geprägt hat“ (N.N.), beispielsweise zur<br />

Geschlechtsrollenfindung nutzt. Aber diese Überlegungen überschreiten nicht die Ebene von<br />

Vermutungen. Tatsache bleibt, dass <strong>de</strong>r Autor zumin<strong>de</strong>st Zugang zu <strong>einer</strong> Form <strong>de</strong>r<br />

Belletristik gefun<strong>de</strong>n hat – auch wenn <strong>de</strong>r Weg dorthin im Dunkeln bleibt.<br />

Schlussbemerkung<br />

Im Rahmen <strong>de</strong>r wissenschaftlichen <strong>Analyse</strong> <strong>de</strong>r Leseautobiographie eines jungen Mannes<br />

sind einige Beson<strong>de</strong>rheiten dieser Leseautobiographie beson<strong>de</strong>rs hervorzuheben. So hat sich<br />

gezeigt, dass <strong>de</strong>r in Leseautobiographien immer wie<strong>de</strong>r beschriebene, kindliche Lesegenuss<br />

(vgl. Graf 1995) sich hier nicht entfaltet hat und dass sich eine klar umrissene „Lesekrise“<br />

(Graf 1995, S. 114) im Sinne <strong>einer</strong> Diskrepanz zum vorangegangen Leseverhalten nicht<br />

aufzeigen lässt. Entgegen <strong>de</strong>r biographisch <strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Ten<strong>de</strong>nzen zum literarischen<br />

Desinteresse sowohl in <strong>de</strong>r Kindheit als auch im schulischen Kontext zeigt <strong>de</strong>r junge Mann im<br />

Erwachsenenalter – scheinbar aus <strong>de</strong>m Nichts – wie<strong>de</strong>r Interesse an Literatur. Die<br />

Eingansthese, dass es sich bei <strong>de</strong>m jungen Mann um einen (ver<strong>de</strong>ckten) „Nicht- bzw. Wenig-<br />

Leser“ im Sinne Grafs (1995, S. 115) han<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>r sich aufgrund <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />

Ansehens von Literatur zu „Reflexe[n] von >>sozialer Erwünschtheitver<strong>de</strong>ckten


kaschieren sucht. Trotz<strong>de</strong>m kann man sagen, dass dieser Teil <strong>de</strong>r These durch <strong>de</strong>n letzten Satz<br />

eher verneint wer<strong>de</strong>n muss. Des Weiteren wird aber auch die mögliche Alternativthese, dass<br />

es sich um einen „Unerwarten Leser“ im Sinne von Bettina Hurrelmann (1993, S. 56)<br />

han<strong>de</strong>lt, argumentativ wi<strong>de</strong>rlegt. Dieses Mo<strong>de</strong>ll lässt sich aufgrund <strong>de</strong>s Materials beson<strong>de</strong>rs<br />

<strong>de</strong>r familialen Interaktion in <strong>de</strong>r Kindheit nicht als alternative Erklärung heranziehen. Der<br />

Hinweis auf die >>soziale Erwünschtheit


Anhang H: Literaturliste für Anhang F und G<br />

Baumgart, Franzjörg<br />

(Hrsg.) (2004):<br />

Theorien <strong>de</strong>r Sozialisation. Erläuterungen, Texte, Arbeitsaufgaben.<br />

Bad Heilbrunn: Klinkhardt<br />

Graf, Werner (1995):<br />

Graf, Werner (2002):<br />

Graf, Werner (2004):<br />

Graf, Werner (2007):<br />

Härle, Gerhard (2004):<br />

Hurrelmann, Bettina et<br />

al. (1993):<br />

Philipp, Maik; Garbe,<br />

Christine (2007):<br />

Reich, Kersten (2004):<br />

Fiktionales Lesen und Lebensgeschichte. Lektürebiographien <strong>de</strong>r<br />

Fernsehrgeneration. In: Rosebrock, Cornelia, Lesen im<br />

Medienzeitalter. Biographische und historische Aspekte literarische<br />

Sozialisation. Weinheim: Juventa, S.97-125<br />

Literarische Sozialisation. In: Bogdal, Klaus-Michael; Korte,<br />

Hermann (Hrsg.): Grundzüge <strong>de</strong>r Literaturdidaktik. München: dtv,<br />

S.49-60<br />

Der Sinn <strong>de</strong>s Lesens. Münster: Lit Verlag<br />

Lesegenese in Kindheit und Jugend. Einführung in die literarische<br />

Sozialisation. Hohengehren: Schnei<strong>de</strong>r Verlag<br />

Literarische Gespräche im Unterricht. Versuch <strong>einer</strong><br />

Positionsbestimmung. In: Härle, G.; Rank, B. (Hrsg.): Wege zum<br />

Lesen und zur Literatur. Baltmannsweiler: Schnei<strong>de</strong>r Hohengehren,<br />

S.37-168.<br />

Leseklima in <strong>de</strong>r Familie. Gütersloh: Verl. Bertelsmann Stiftung<br />

Lesen und Geschlecht – empirisch beobachtbare Achsen <strong>de</strong>r<br />

Differenz. Grundlagen, Mo<strong>de</strong>lle und Materialien. In: Bertschi-<br />

Kaufmann, Andrea (Hrsg.): Lesekompetenz – Leseleistung –<br />

Leseför<strong>de</strong>rung. Seelze-Velber: Friedrich Verlag (CD-ROM)<br />

Konstruktivistische Didaktik. Weinheim: Beltz.<br />

LXVII


Anhang I: Intuitive Leseautobiographie<br />

Erste Annäherung an die eigene Leseautobiographie<br />

Zu irgen<strong>de</strong>inem Zeitpunkt in meinem Erwachsenenleben ist mir das Bild eingefallen, das<br />

meine eigene Lesebiographie wohl am treffendsten charakterisiert. Ich sehe ein kleines Baby,<br />

das unter einem riesigen, schweren Haufen von Büchern fast erstickt und um Luft ringt. Dazu<br />

muss ich wohl Folgen<strong>de</strong>s erklären: ich bin in <strong>einer</strong> sehr klassisch-bürgerlichen Familie<br />

aufgewachsen. Mein Vater ist Professor für Erziehungswissenschaft und meine Mutter war<br />

früher Lehrerin für Deutsch, Philosophie und Geschichte (inzwischen Schulleiterin). Im Haus<br />

m<strong>einer</strong> Eltern türmen sich die Bücher bis unter die Decke. Es gibt in einem doch sehr<br />

geräumigen Haus keine einzige Ecke, in <strong>de</strong>r es keine Bücher gibt.<br />

Entsprechend <strong>de</strong>m Bildungshintergrund m<strong>einer</strong> Eltern war (und ist) Lesen <strong>einer</strong> <strong>de</strong>r<br />

be<strong>de</strong>utendsten Faktoren von Bildung und – nach ihrer Interpretation – <strong>de</strong>r Möglichkeit zur<br />

Teilhabe an gesellschaftlichem Leben und <strong>de</strong>m Verständnis von Welt. Vielleicht gibt es in<br />

Nuancen unterschiedliche Schwerpunkte. Mein Vater betont wohl eher Weltverständnis durch<br />

tägliche Zeitungslektüre (natürlich nicht eine Zeitung, son<strong>de</strong>rn neben „Süd<strong>de</strong>utscher Zeitung“<br />

und „Frankfurter Rundschau“ auch noch „Die Zeit“) und meine Mutter legt <strong>de</strong>n Schwerpunkt<br />

auf literarische Bildung im Sinne <strong>de</strong>r Klassiker (insbeson<strong>de</strong>re Goethe), aber auch mo<strong>de</strong>rner,<br />

hochwertiger Belletristik.<br />

Warum dieser lange Abstecher in die Lesewerte m<strong>einer</strong> Eltern? Sie zeigen bereits mein<br />

grundsätzliches Problem <strong>einer</strong> „eigenen Leseautobiographie“ auf. Ich frage mich sequentiell<br />

in unterschiedlichen Lebensphasen immer wie<strong>de</strong>r, ob ich „gerne“ lese, ob ich es aus freien<br />

Stücken tue o<strong>de</strong>r ob ich einem abstrakten Bildungsi<strong>de</strong>al (m<strong>einer</strong> Eltern) atemlos hinterher<br />

renne.<br />

Ich habe sehr schwache Erinnerungen an meine frühe Lesesozialisation (o<strong>de</strong>r literarische<br />

Sozialisation), aber ich glaube, dass es eine Zeit gab, in <strong>de</strong>r ich freiwillig und aus einem<br />

inneren Antrieb gelesen habe. Eines <strong>de</strong>r wenigen Bücher, die ich spontan in Erinnerung habe<br />

war von dtv-Pocket <strong>einer</strong> anonymen Autorin („Fragt mal Alice“, 1992). Es ging darin um eine<br />

junge Frau, die in das Drogenmilieu hineinrutschte. Ich weiß nicht, ob meine Erinnerung an<br />

dieses Buch auf mein beson<strong>de</strong>res Interesse an dieser Thematik zurückzuführen ist o<strong>de</strong>r<br />

LXVIII


vielleicht auch nur, weil die bildhafte Beschreibung beson<strong>de</strong>rs eindrücklich, ja, schockierend<br />

für mein junges Alter waren. Aber ich glaube, dass ich mich beson<strong>de</strong>rs an dieses Buch<br />

erinnere, weil es eine <strong>de</strong>r wenigen Augenblicke war, in <strong>de</strong>nen ich wirklich gern gelesen habe.<br />

Noch ein paar Jahre früher habe ich „Jeremy James“ (D.H. Wilson, 1978, 1979, 1980, 1983)<br />

gelesen. Seltsamerweise muss ich immer lächeln, wenn ich an diese Buchreihe <strong>de</strong>nke. Ich<br />

habe alle Ausgaben gelesen und auch hier habe ich noch lebhafte Erinnerungen, allerdings<br />

kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es im Nachhinein hineingelegte Erinnerungen an<br />

<strong>de</strong>n Jungen Jeremy sind, <strong>de</strong>r die Welt aus so süßen Kin<strong>de</strong>raugen betrachtete o<strong>de</strong>r ob spätere<br />

schulische Kontexte die Erinnerung nur lebendig gehalten haben. (Bei einem<br />

Vorlesewettbewerb in <strong>de</strong>r 5. o<strong>de</strong>r 6. Klasse las <strong>einer</strong> „Jeremy James“ vor und holte die fast<br />

schon verschütteten Erinnerungen wie<strong>de</strong>r hervor.) Ich glaube aber, dass ich „Jeremy James“<br />

tatsächlich begeistert gelesen habe, da es eines <strong>de</strong>r wenigen Bücher, war bei <strong>de</strong>nen ich auch<br />

mal lachen konnte. Auch hier spielen aber meine Eltern eine zentrale Rolle, da sie mir die<br />

Bücher gegeben haben. Ich kann mich nicht daran erinnern, selbst auf die Suche nach<br />

Literatur gegangen zu sein. Später, als ich älter war, habe ich tatsächlich die Schränke,<br />

insbeson<strong>de</strong>re m<strong>einer</strong> Mutter, durchstöbert um Anregungen zu fin<strong>de</strong>n, allerdings kann ich<br />

<strong>de</strong>finitiv nicht sagen, ob dies aus wirklicher Neugier o<strong>de</strong>r gar Lust entstan<strong>de</strong>n ist o<strong>de</strong>r<br />

vielmehr, weil ich wusste, dass es von mir durch Schule und Eltern erwartet wur<strong>de</strong>. So o<strong>de</strong>r<br />

so, wur<strong>de</strong> ich je<strong>de</strong>nfalls an klassische Kindheitsliteratur, insbeson<strong>de</strong>re Christine Nöstlinger<br />

herangeführt („Ein Mann für Mama“ ,1978; „Gretchen mein Mädchen“, 1988; „Lukilive“,1978;<br />

u.a.). An „Gretchen mein Mädchen“ und „Luki-live“ erinnere ich mich noch<br />

etwas, da dies mich erstmals mit Beziehungsfragen konfrontiert haben. Damals habe ich mir<br />

verständlicherweise noch wenig Gedanken über Frauen und Männer gemacht und dass sie<br />

sich gegenseitig schlecht behan<strong>de</strong>ln könnten. „Luki-ive“ hat mir sogar etwas Angst vor<br />

Verän<strong>de</strong>rung beigebracht, da ich sah, wie Verän<strong>de</strong>rung Freundschaften zerstören könnten.<br />

Auch das dtv-Pocket Buch „Drei Freun<strong>de</strong>“ von Myron Levoy (1986) faszinierte mich<br />

ausschließlich wegen eines einzigen Satzes, <strong>de</strong>n ich in einem Buch – naiv wie ich war –<br />

niemals erwartet hatte. Es han<strong>de</strong>lte um die Dreiecksbeziehung eines Jungen mit zwei<br />

Mädchen aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>s Jungen erzählt. Der beeindrucken<strong>de</strong> und bis heute präsente<br />

Satz lautete: „Sein Ding wur<strong>de</strong> steif.“ Und so was in einem Buch! Das geht doch gar nicht!<br />

Darf man so was überhaupt? Meine bürgerliche Sozialisation schlug Alarm und kämpfte mit<br />

m<strong>einer</strong> jungen, sich entwickelten Geschlechtsreife und Neugier.<br />

LXIX


Gudrun Pausewangs (1993) „Der Schlund“ las ich 1993, also vor 15 Jahren. Ich war damals<br />

13 Jahre alt. Ich weiß dieses Datum nur <strong>de</strong>shalb noch so genau, weil ich bei <strong>de</strong>r<br />

Erstveröffentlichung dieses Buches zu <strong>einer</strong> Lesung von Frau Pausewang ging und enttäuscht<br />

war, dass sie lediglich vorlas und nichts erklärte und mit uns nicht diskutierte. Außer<strong>de</strong>m<br />

hatte sie bei <strong>de</strong>r Lesung fast das ganze Buch vorgelesen, so dass das eigene Lesen wenig<br />

Neues erbrachte. So je<strong>de</strong>nfalls meine Erinnerung. In diesem Alter fing ich auch in etwa an<br />

Klaus Kordon zu lesen. Hatte er eine Be<strong>de</strong>utung für mein Leben? Ja, <strong>de</strong>nn seine Werke („Mit<br />

<strong>de</strong>m Rücken zur Wand“, 1990; „Der erste Frühling“, 1993; „Die roten Matrosen“, 1984; u.a.)<br />

befassten sich vorwiegend mit <strong>de</strong>n 30iger Jahren und dann <strong>de</strong>r Nachkriegszeit. Aus Ihnen<br />

habe ich meinen Geschichtsunterricht bestritten. Sie hatten also für meinen schulischen Erfolg<br />

Be<strong>de</strong>utung – für mich selbst jedoch wenig. Ich glaube, dass das Buch „Die Welle“ von<br />

Morton Rheue (1984) mich persönlicher beeinflusst hat, da ich anfing mich mit <strong>de</strong>r Frage<br />

auseinan<strong>de</strong>rzusetzen, ob ich mir stärkere Disziplinierungsmaßnahmen wünschen wür<strong>de</strong> und<br />

ob ich mutig genug wäre, mich gegen eine Mehrheit von Freun<strong>de</strong>n zu wehren, wenn sie sich<br />

einem totalitären System anschließen wür<strong>de</strong>n. Ich kam damals zu <strong>de</strong>m traurigen Ergebnis,<br />

dass mein Wunsch nach Anpassung und Anerkennung wohl stärker wäre und ich vielleicht<br />

sogar beson<strong>de</strong>rs eifrig bei <strong>de</strong>r Befolgung von Regeln und Vorgaben gewesen wäre. Insofern<br />

haben mich Bücher auch zum Nach<strong>de</strong>nken veranlasst und die Diskussionen mit meinen Eltern<br />

darüber haben mir auch Freu<strong>de</strong> gemacht. Die Frage ist nur: Haben sie mir Freu<strong>de</strong> gemacht,<br />

weil meine Eltern diese Handlungen positiv verstärkt haben o<strong>de</strong>r weil ich ein immanentes<br />

Interesse an <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung hatte? Ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen sollte,<br />

Eltern zu haben, die mich mit Literatur versorgt haben und mir die Möglichkeit zu<br />

schulischem Erfolg eröffnet haben. Was allerdings bei <strong>de</strong>n neidvollen Blicken<br />

bildungsärmerer Schichten oft vergessen wird, ist, dass die Chance auf (Lese-)Bildung auch<br />

ein Zwang zum Lesen und ein Verlust an innerer Freiheit und selbstentwickeltem Interesse<br />

darstellt. Es ist schwer, dass in Worte zu fassen. Meine Eltern haben mich nicht zum Lesen<br />

„gezwungen“, aber um sie zu verstehen, um ihren Ansprüchen gerecht zu wer<strong>de</strong>n, „musste“<br />

ich lesen und so war ich – und bin es heute noch nicht – sicher, ob ich jemals „gern“ gelesen<br />

habe.<br />

Meine schlimmste Leseerfahrung hatte ich allerdings in <strong>de</strong>r Schule. Wir wur<strong>de</strong>n gezwungen<br />

„Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm (1988) zu lesen. Ich habe seit diesem Buch kein<br />

einziges Werk von Storm mehr gelesen, da ich die Novelle als düster und grausam empfun<strong>de</strong>n<br />

habe und mich bei <strong>de</strong>n ausführlichen Diskussionen über <strong>de</strong>n Bau von Staudämmen zu<strong>de</strong>m<br />

LXX


gelangweilt habe. Ich wür<strong>de</strong> aber trotz<strong>de</strong>m auf keinen Fall sagen, dass die Schule in<br />

irgend<strong>einer</strong> Form daran Schuld sei, dass mein Verhältnis zur Literatur von durchdringen<strong>de</strong>r<br />

Ambivalenz geprägt ist, <strong>de</strong>nn sie hat mich auch an tiefere Interpretationsschichten von<br />

Literatur herangeführt. So haben wir in <strong>de</strong>r neunten Klasse „Die Räuber“ von Schiller (1986)<br />

gelesen und ich war sehr fasziniert von <strong>de</strong>n Dialogen über moralische Höhen und Tiefen<br />

menschlicher Verhaltensweisen und ein bisschen enttäuscht, wegen m<strong>einer</strong> eigenen<br />

Unzulänglichkeit. Ich selbst – ohne Hilfe eines leiten<strong>de</strong>n Lehrers und m<strong>einer</strong> gebil<strong>de</strong>ten<br />

Mutter – wäre niemals selbst auf die verschie<strong>de</strong>nen Moralstufen gekommen. In diesen Jahren<br />

begegnete mir ironischerweise auch erstmals Kants berühmter Satz (Kant, 1977, S.53):<br />

„Aufklärung ist <strong>de</strong>r Ausgang <strong>de</strong>s Menschen aus s<strong>einer</strong> selbst verschul<strong>de</strong>ten Unmündigkeit.<br />

Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstan<strong>de</strong>s ohne Leitung eines an<strong>de</strong>ren zu<br />

bedienen.“ Ich habe damals erkannt, dass ich bisher nicht gelernt hatte, „mich meines<br />

Verstan<strong>de</strong>s“ ohne Hilfestellung an<strong>de</strong>rer zu bedienen. Ich kam mir vor wie ein<br />

„unbeschriebenes Blatt“ eine „Tabula Rasa“ auf das meine Umgebung – die Schule, meine<br />

Eltern, meine Freun<strong>de</strong> – „schreiben“ konnten, was sie wollten und mir so etwas wie eine<br />

eigene Bewertungsinstanz fehlte. Daran hat sich bis heute nichts geän<strong>de</strong>rt. Wenn ich etwas<br />

lese und <strong>de</strong>r Autor einen Gedankengang stringent präsentiert, so glaube ich das, was ich lese.<br />

Meine Rettung bei dieser sich nicht än<strong>de</strong>rn wollen<strong>de</strong>n Realität ist wahrscheinlich, dass ich<br />

mich mit sehr intellektuellen Menschen umgebe, <strong>de</strong>nen ich dann die angelesenen Gedanken<br />

vorstelle und die sich dann argumentativ dagegen wehren, so dass ich nicht ganz<br />

eindimensional weiter<strong>de</strong>nke, son<strong>de</strong>rn mich mit verschie<strong>de</strong>nen Auffassungen<br />

auseinan<strong>de</strong>rsetzen muss.<br />

Eine sehr negative Leseerfahrung war zu<strong>de</strong>m Goethes „Wahlverwandtschaften“ (1986), das<br />

ich auf Anraten m<strong>einer</strong> Mutter freiwillig las. Artig wie ich nun einmal bin, habe ich mich<br />

durch das gesamte Buch gequält. Und ich muss von Qual sprechen, <strong>de</strong>nn ich fand es trocken<br />

und sprö<strong>de</strong>, die Farbenlehre langweilig und die gesamte Geschichte wirr und unverständlich.<br />

Bis heute ist dieses Werk ein Streitpunkt zwischen m<strong>einer</strong> Mutter und mir, die immer wie<strong>de</strong>r<br />

betont, wie brillant dieses Buch doch sei und das ich „einfach noch zu jung gewesen sei, um<br />

das nachvollziehen zu können“.<br />

In späteren Jahren kam ich mit existenzialistischer Literatur (Simone <strong>de</strong> Beauvoir, Sartre und<br />

Camus) in Kontakt. Hier zeigte sich ausnahmsweise einmal we<strong>de</strong>r ein schulischer noch ein<br />

elterlicher Einfluss. Eine Freundin hatte Simone <strong>de</strong> Beauvoirs „Memoiren <strong>einer</strong> Tochter aus<br />

LXXI


gutem Hause“ (1997) gelesen und war überzeugt davon, dass diese Geschichte mein Leben<br />

wi<strong>de</strong>rspiegeln wür<strong>de</strong>. Natürlich machte mich das neugierig und so las ich das Buch. Ich war<br />

allerdings nicht ihrer Meinung. Aber seltsamerweise dachte ich die ganze Zeit an das Leben<br />

<strong>einer</strong> an<strong>de</strong>ren Freundin von mir, <strong>de</strong>r ich das Buch dann zum Geburtstag schenkte. Soviel zum<br />

Einfluss von Peer-Groups auf die Lesesozialisation. Ich wur<strong>de</strong> dann eine begeisterte<br />

„Existenzialistin“, <strong>de</strong>nn ich fühlte mich ebenfalls zur „Freiheit verurteilt“ (Sartre, 1966, zitiert<br />

nach Möbuß, 2004, S.39) und teilte Simone <strong>de</strong> Beauvoirs Lebensgefühl. Ich las „Sie kam und<br />

blieb“ (1997) und ihre „Briefe an Sartre“ (1998). Von ihren Briefen war ich allerdings sehr<br />

enttäuscht. Wie konnte eine so intelligente junge Frau Sartre von ihren Spaziergänge und<br />

ihrem Mittagessen erzählen? Ich war davon ausgegangen, dass sie nur hochtrabendintellektuelle<br />

Briefe schreiben wür<strong>de</strong> und nicht so einen alltäglichen Kleinkram. Sehr<br />

interessant fand ich auch ein Psychogramm über Simone <strong>de</strong> Beauvoir von Toril Mori (1997),<br />

in<strong>de</strong>m endlich ein mal ihr doch fragwürdiges Verhältnis zu <strong>de</strong>m – man kann es wohl nicht<br />

an<strong>de</strong>rs sagen – „Casanova“ Sartre beleuchtet wur<strong>de</strong>. Wie konnte eine so hellsichtige Frau von<br />

einem Menschen so geblen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n? Zunächst las ich „Der Ekel“ (1998), was mich in<br />

m<strong>einer</strong> I<strong>de</strong>ntifikation mit <strong>de</strong>m existenzialistischen Lebensgefühl noch bestärkte, <strong>de</strong>nn dieses<br />

Gefühl <strong>de</strong>s Ekels vor und in <strong>de</strong>r Welt, teilte ich zeitweise mit <strong>de</strong>r Hauptfigur. Um <strong>de</strong>r<br />

Philosophie <strong>de</strong>r Existenzialisten näher zu kommen, versuchte ich kurz nach <strong>de</strong>m Abitur<br />

Sartres „Das Sein und das Nichts“ (1962) zu lesen. Mein erster intensiverer Kontakt zu <strong>de</strong>m,<br />

was wohl unter philosophische Abhandlungen fällt, scheiterte kläglich. Ich verstand nichts!<br />

Es war ein frustrieren<strong>de</strong>s Erlebnis, insbeson<strong>de</strong>re, weil meine Eltern noch versuchten, meine<br />

wil<strong>de</strong>n Zitaterinnerungen zu interpretieren und zu erklären. Trotz<strong>de</strong>m las ich während meines<br />

Erststudienbeginns „Zeit <strong>de</strong>r Reife“ (1986) bei <strong>de</strong>m ich meine alte Begeisterung wie<strong>de</strong>r fand,<br />

<strong>de</strong>nn bestimmte Dialoge erlebte ich in <strong>de</strong>r Realität mit einem Studienfreund fast genauso<br />

wie<strong>de</strong>r.<br />

Literatur hat mich in meinem Leben immer begleitet. Sie hat mich jedoch nicht immer in<br />

m<strong>einer</strong> Persönlichkeitsentwicklung gestärkt, son<strong>de</strong>rn auch für Risse und Unsicherheiten<br />

gesorgt und mein Selbstbewusstsein geschwächt. Immer gab – und gibt – es Personen, die<br />

alles schon einmal klüger, besser, intelligenter und philosophischer gesagt haben. Mein Fazit<br />

aus diesem Einstieg in die eigene Leseautobiographie ist (vorerst), dass sowohl Institutionen<br />

(Kin<strong>de</strong>rgärten, Schulen, etc.) als auch Eltern ihre Kin<strong>de</strong>r nicht zu früh mit „hoher Literatur“<br />

überfor<strong>de</strong>rn sollten, <strong>de</strong>nn das <strong>de</strong>m Individuum <strong>de</strong>n Mut zu eigenen Gedanken nehmen!<br />

LXXII


Ei<strong>de</strong>sstattliche Erklärung<br />

Ich erkläre an Ei<strong>de</strong>s Statt, dass ich diese Hausarbeit selbständig und ohne frem<strong>de</strong> Hilfe<br />

verfasst und keine an<strong>de</strong>ren Hilfsmittel als die angegebenen benutzt habe. Die Stellen, die<br />

an<strong>de</strong>ren Werken <strong>de</strong>m Wortlaut o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Sinn nach entnommen sind, habe ich in je<strong>de</strong>m Fall<br />

durch Angaben <strong>de</strong>r Quellen, auch <strong>de</strong>r benutzten Sekundärliteratur, als Entlehnung kenntlich<br />

gemacht.<br />

Mit ist bekannt: Bei Verwendung von Inhalten aus <strong>de</strong>m Internet habe ich diese zu<br />

kennzeichnen und mit <strong>de</strong>m Datum sowie <strong>de</strong>r Internet-Adresse ins Literaturverzeichnis<br />

aufzunehmen.<br />

Die Hausarbeit hat k<strong>einer</strong> an<strong>de</strong>ren Prüfungsbehör<strong>de</strong> in gleicher o<strong>de</strong>r ähnlicher Form<br />

vorgelegen.<br />

Uelzen, <strong>de</strong>n 28. 02. 2008<br />

Hannah Uhle<br />

Unterschrift: ________________________________________________<br />

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