Selbstreflexion nach Schulz von Thun - hannahdenker.de
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Universität Lüneburg<br />
Studiengang: Berufliches Lehren und Lernen: Sozialpädagogik (B.A.)<br />
Wintersemester 2008/2009<br />
Gebiet: Personen- und organisationsbezogene Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Sozialpädagogik<br />
Dozentin: Prof. Dr. Cornelia Wustmann<br />
Modul: 63512000 Gesundheit, Musik und Spiel<br />
Prüfungsnummer: 63512001<br />
Reflexion in <strong>de</strong>r Erzieherinnenausbildung<br />
Eine selbstreflexiv - essayistische Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>llen<br />
vorgelegt <strong>von</strong>:<br />
<strong>von</strong> <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong><br />
Hannah Denker (geb. Uhle)<br />
Veerßer Str. 20<br />
29525 Uelzen<br />
Tel.: 0581-2118660<br />
Mobil: 01784832761<br />
Fax.: 0581-2118661<br />
Hannah-Uhle@gmx.<strong>de</strong><br />
Matrikel-Nr.: 3006898<br />
Fächerkombination: Sozialpädagogik/ Deutsch
Inhalt<br />
1. Einleitung...............................................................................................................................1<br />
2. Kommunikationsmo<strong>de</strong>lle in <strong>de</strong>r Erzieherinnenausbildung .............................................2<br />
3. Essay: Gescheiterte Kommunikation über Kommunikationsmo<strong>de</strong>lle.............................4<br />
3.1 Wer sind die Protagonisten?............................................................................................4<br />
3.2 Analyse <strong>de</strong>r verunglückten Kommunikation.....................................................................5<br />
3.3. Spiel mir das Lied vom Stuhl.........................................................................................10<br />
3.4 Eine unendliche Geschichte............................................................................................14<br />
3.5 Die innere Theaterbühne................................................................................................15<br />
3.6 Wer versteckt sich <strong>de</strong>nn im Bühnenuntergrund?............................................................19<br />
3.7 Ein gemeinsames Theaterstück?.....................................................................................21<br />
3.8 Die Weiterentwicklung o<strong>de</strong>r die Lehre aus vergangenen Taten....................................24<br />
3.9 Schlussbemerkungen.......................................................................................................25<br />
4. Konsequenzen für die Lehrkraftausbildung....................................................................27<br />
Literatur...................................................................................................................................28
1. Einleitung<br />
„Die Reflexion ist ein Prozess, in <strong>de</strong>m wir erkennen, wie wir erkennen, das heißt eine<br />
Handlung, bei <strong>de</strong>r wir auf uns selbst zurückgreifen“ (Maturana/ Varela 1087: 29).<br />
Reflexion, die als selbstreflexive Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit sich und seiner Umwelt wie im<br />
oben genannten Zitat verstan<strong>de</strong>n wird, kann als Teil <strong>von</strong> kommunikativen Kompetenzen<br />
interpretiert wer<strong>de</strong>n. So ist die verbalisierte Form innerpsychischer Phänomene ein<br />
Bestandteil situationsgerechten Verhaltens (vgl. <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> 2002b: 275f) und ist ein<br />
zentraler Baustein <strong>de</strong>r sozialpädagogischen Ausbildung (vgl. Greving et al. 2005: 30).<br />
Fegebank (2004a: 19) pointiert sogar, dass kommunikative Kompetenz ins Zentrum <strong>de</strong>r<br />
Ausbildung <strong>von</strong> personenbezogenen sozialen Dienstleistungen gerückt wer<strong>de</strong>n sollte. Des<br />
Weiteren wird in <strong>de</strong>r Diskussion um eine beson<strong>de</strong>re Form <strong>de</strong>r (Sozial-)didaktik die<br />
Strukturgleichheit zwischen Lehrkraft - Schüler/Schülerin-Verhältnis und<br />
Erzieher/Erzieherin-Kind-Verhältnis betont (vgl. Karsten 2003: 357). Wenn also im Sinne<br />
einer konstruktivistischen Didaktik <strong>de</strong>r Beziehungsebene sowohl in Lehr-Lernarrangements<br />
als auch in <strong>de</strong>r beruflichen Praxis eine herausragen<strong>de</strong> Stellung eingeräumt wird (vgl. Reich<br />
2006), dann erscheint es nicht nur sinnvoll, son<strong>de</strong>rn notwendig, dass auch die zukünftigen<br />
Lehrkräfte sich mit ihrem eigenen Interaktionsverhalten auseinan<strong>de</strong>rsetzten sollten.<br />
In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Ausführungen wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mentsprechend kommunikationspsychologische<br />
Grundlagen zunächst in das Lernfeldkonzept <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rsächsischen Rahmenrichtlinien (2002)<br />
für <strong>de</strong>n berufsbezogenen Unterricht <strong>de</strong>r Fachschulen für Sozialpädagogik eingeordnet, um<br />
dann einen selbstreflexiv-spielerischen Umgang mit <strong>de</strong>n theoretischen Mo<strong>de</strong>llen in Form<br />
eines essayistischen ‚Briefes’ an <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> zu erproben. Dieses Essay wur<strong>de</strong> bereits im<br />
Rahmen <strong>de</strong>r Begleitung einer Vorlesung <strong>von</strong> <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> (2002) zum Scheinerwerb an<br />
<strong>de</strong>r Universität Hamburg im Fach Psychologie vorgelegt. Abschließend wird dieser<br />
Selbstversuch auf seine Eignung für die Lehrkraftausbildung hin kurz reflektiert.<br />
1
2. Kommunikationsmo<strong>de</strong>lle in <strong>de</strong>r Erzieherinnenausbildung<br />
Fach-, Metho<strong>de</strong>n-, Personal- und Sozialkompetenz wer<strong>de</strong>n als leiten<strong>de</strong> Zielsetzung <strong>de</strong>r<br />
Rahmenrichtlinien für Nie<strong>de</strong>rsachsen genannt (Nie<strong>de</strong>rsächsisches Kultusministerium 2002:<br />
2f). Das Kommunikationsmo<strong>de</strong>ll <strong>von</strong> <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> (1999, 2002a, 2002b) kann als eine<br />
Grundlage für die Verbesserung <strong>de</strong>r Ebenen Personal- und Sozialkompetenz sowie<br />
Metho<strong>de</strong>nkompetenz verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Die Nie<strong>de</strong>rsächsischen Rahmenrichtlinien<br />
subsumieren unter Personalkompetenz u.a. Kritikfähigkeit und Selbstvertrauen (ebd.: 3). Zur<br />
Kritikfähigkeit gehört u.a. auch die Fähigkeit das eigene (kommunikative) Verhalten kritisch<br />
zu durch<strong>de</strong>nken und zu hinterfragen sowie „die Entwicklung durchdachter<br />
Wertvorstellungen“ (ebd.). In einem berühmten Essay <strong>von</strong> Kleist wird dieser Prozess auch mit<br />
<strong>de</strong>m verheißungsvoll-ketzerischen Titel: „Über die allmähliche Verfertigung <strong>de</strong>r Gedanken<br />
beim Re<strong>de</strong>n“ (Kleist 2008) auf <strong>de</strong>n Punkt gebracht. Eine (selbst-)kritische<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung zur Erhöhung <strong>de</strong>r Personalkompetenz kann also durch eine schriftlich-<br />
fixierte Reflexion persönlicher Konfliktsituationen erreicht wer<strong>de</strong>n. Neben <strong>de</strong>n Axiomen zur<br />
zwischenmenschlichen Kommunikation <strong>von</strong> Watzlawik (1993) bieten sich die erweiterten<br />
Mo<strong>de</strong>lle <strong>von</strong> <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> zusätzlich dafür an, die Sozialkompetenz zu för<strong>de</strong>rn. In <strong>de</strong>n<br />
Nie<strong>de</strong>rsächsischen Rahmenrichtlinien wird daraufhingewiesen, dass Sozialkompetenz sich<br />
durch „die Bereitschaft und Fähigkeit, soziale Beziehungen zu leben und zu gestalten“<br />
(Nie<strong>de</strong>rsächsisches Kultusministerium 2002: 3) auszeichnet. Dazu gehört auch die Fähigkeit<br />
Spannungen aushalten zu können. „Diese Unsicherheit aber ist es, die Professionalität<br />
erfor<strong>de</strong>rt, um sie im beruflichen Denken und Han<strong>de</strong>ln aushalten und produktiv gestalten zu<br />
können“ (Karsten 2003: 351). Spannungen aushalten zu können reicht allerdings für<br />
professionelles Han<strong>de</strong>ln nicht aus. Hinzutreten muss – wie es die Nie<strong>de</strong>rsächsischen<br />
Rahmenrichtlinien auch for<strong>de</strong>rn (vgl. ebd.) – die Fähigkeit Spannungen erfassen, verstehen<br />
und erklären zu können. Und schließlich bieten die Mo<strong>de</strong>lle <strong>von</strong> <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> eine<br />
verständliche und metaphernreiche Möglichkeit sich zielgerichtet, sachgerecht und<br />
metho<strong>de</strong>nbasiert zwischenmenschlichen Konfliktsituationen anzunähern. Damit erfüllen sie<br />
ebenso die For<strong>de</strong>rungen <strong>nach</strong> Metho<strong>de</strong>n- und Fachkompetenzen (vgl. ebd.: 2f).<br />
Im Gegensatz zur Lernfelddidaktik <strong>de</strong>r Heilerziehungspflege (Nie<strong>de</strong>rsächsische<br />
Rahmenrichtlinien für die Fachschule Heilerziehungspflege), die <strong>de</strong>n Nutzen <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>lle <strong>von</strong><br />
<strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> bereits erkannt und in das Lernfeld „Gruppenprozesse gestalten und<br />
Gruppenprozesse begleiten“ (2003: 15) unter <strong>de</strong>m Punkt Kommunikationsmo<strong>de</strong>lle integriert<br />
2
haben, betonten die Nie<strong>de</strong>rsächsischen Rahmenrichtlinien für die Fachschule Sozialpädagogik<br />
(2002) zwar auch „Kommunikation und Gesprächsführung“ (2002: 14), allerdings wird<br />
lediglich die Themenzentrierte Interaktion <strong>nach</strong> Cohn direkt benannt (vgl. ebd.: 15). Dennoch<br />
wird in einschlägigen Grundlagewerken für Erzieherinnen explizit das erste Mo<strong>de</strong>ll <strong>von</strong><br />
<strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> zur Entschlüsselung <strong>von</strong> Botschaften favorisiert (vgl. Jaszus et al. 2008:<br />
104ff). Auch in <strong>de</strong>r Ausbildung zur Altenpflege wird das Grundlagenmo<strong>de</strong>ll „Die Anatomie<br />
einer Nachricht“ (<strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> 1999: 23ff) zu Ausbildungszwecken herangezogen (vgl.<br />
Willig/ Kommerell 2002: 227f).<br />
Um das Mo<strong>de</strong>ll also in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen personenbezogenen sozialen Dienstleistungen<br />
adäquat anwen<strong>de</strong>n zu können, ist es erfor<strong>de</strong>rlich, dass sich auch die Lehrkräfte sowohl mit<br />
<strong>de</strong>n theoretischen Grundlagen – die über Band Eins hinausgehen sollten -, also<br />
fachwissenschaftlich, als auch mit <strong>de</strong>n praktischen Implikationen auseinan<strong>de</strong>rsetzten. Eine<br />
Möglichkeit stellt dabei die Erprobung <strong>de</strong>r theoretischen Mo<strong>de</strong>lle an einem Praxisbeispiel dar<br />
– wie es das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Lernsituationen vorsieht. Eine an<strong>de</strong>re Handhabe bietet jedoch auch<br />
ein direkter Transfer auf die eigene Lebenswelt. Im Folgen<strong>de</strong>n wird dies in Form eines<br />
humoristischen Essays aus <strong>de</strong>m eigenen Alltag <strong>de</strong>r Autorin erprobt.<br />
3
3. Essay: Gescheiterte Kommunikation über Kommunikationsmo<strong>de</strong>lle<br />
Je<strong>de</strong>s En<strong>de</strong> hat einen Anfang und je<strong>de</strong>r Anfang hat ein En<strong>de</strong>? Ist das eine einfache Wahrheit?<br />
Wenn <strong>de</strong>m so ist, dann ist es wohl unverständlich, warum es mir so schwer fällt, meiner<br />
Geschichte einen Anfang zu geben. Nicht, dass ich nicht weiß, worüber ich schreiben möchte.<br />
Ich wusste es bereits in <strong>de</strong>n letzten Semesterferien noch bevor ich Ihre Vorlesung besuchte,<br />
sofort <strong>nach</strong><strong>de</strong>m ich Ihre Bücher gelesen hatte. Der passen<strong>de</strong> Konflikt dazu hat sich in dieser<br />
Zeit zugetragen. Aber sollte ich damit beginnen? Denn es geht um Freundschaft und die ist<br />
schließlich meist schon vor einem Konflikt vorhan<strong>de</strong>n. Aber wenn ich mit <strong>de</strong>m Beginn <strong>de</strong>r<br />
Freundschaft anfange, dann wür<strong>de</strong> es wohl eher ein ‚Roman <strong>de</strong>r Missverständnisse und<br />
Kommunikationsstörungen’ wer<strong>de</strong>n.<br />
Mit <strong>de</strong>m Titel meines Essays habe ich die Entscheidung letztendlich schon getroffen. Ich<br />
stelle die Kommunikationsstörung in <strong>de</strong>n Mittelpunkt, möchte aber trotz<strong>de</strong>m auch Ausflüge in<br />
die gemeinsame Geschichte <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Protagonisten machen. Denn es verbergen sich hinter<br />
einer harmlosen Gegebenheit vielleicht ja doch alte Wun<strong>de</strong>n. Um mit Ihrem Sprachspiel zu<br />
argumentieren: ich beziehe <strong>de</strong>n systemischen Blickwinkel mit ein.<br />
3.1 Wer sind die Protagonisten?<br />
Obwohl ich nicht viel <strong>von</strong> Pseudonymen halte, muss ich sie hier wohl aufgrund <strong>de</strong>s<br />
Personenschutzes einführen: K. und meine Wenigkeit, Hannah. Der Konflikt trug sich an<br />
einem sonnigen Junitag zu. Hannah war recht gut gelaunt und ging nicht ohne Freu<strong>de</strong> zu<br />
ihrem guten, platonischen Freund K. Dieser war wie immer fleißig über seine Bücher gebeugt<br />
in seinem Arbeitszimmer und bastelte an seiner Doktorarbeit. Es entspann sich in etwa<br />
folgen<strong>de</strong>r Dialog (eventuelle Vergangenheitsverzerrungen eingeschlossen):<br />
Hannah: „Hallo K.. Störe ich dich mal wie<strong>de</strong>r beim Arbeiten?“<br />
K.: „Nein, setz’ dich doch“<br />
K. dreht sich mitsamt seinem Stuhl um.<br />
Unterstreicht seine Worte durch eine Geste in Richtung Stuhl.<br />
Hannah: „Ich habe jetzt endlich Band III gelesen. Also wirklich, das mit <strong>de</strong>m inneren<br />
Team hättest du mir neulich wirklich in ein paar Worten erklären können!“<br />
4
K. (lacht): „Du kannst das vielleicht in ein paar Worten erklären. Ich kann es nicht!“<br />
Hannah: „Na ja, ist ja auch egal.“ (Sehr kurzes Schweigen.) „Ich glaube, das kann man<br />
gut in einer Therapie einsetzen, o<strong>de</strong>r? Ich meine natürlich immer vorausgesetzt<br />
<strong>de</strong>r Klient, Patient – o<strong>de</strong>r wie auch immer – lässt sich darauf ein.“<br />
K. (<strong>nach</strong><strong>de</strong>nklich): „Ich glaube, das ist eine sehr schwierige Sache. Ich wür<strong>de</strong> es nicht<br />
wollen.“<br />
Hannah: „Aber wieso <strong>de</strong>nn? Ich meine, das ist doch toll, so eine innere Klärung. Gut ich<br />
kriege das Strukturbild zweiter Ordnung nie hin, aber mit Hilfe…“<br />
K.: „Also, ich wür<strong>de</strong> das als Grenzüberschreitung erleben. Mir wäre das<br />
unangenehm.“<br />
Hannah: „Das verstehe ich nicht. Es kann doch hilfreich sein.“<br />
K. (mit strengem Gesichtsausdruck):<br />
„Ich habe das Gefühl, das, was ich sage, kommt gar nicht bei dir an. Du lässt<br />
mir gar nicht meine Meinung.“<br />
Hannah sieht erschrocken zu Seite. Es arbeitet in ihr. Schließlich steht sie auf und verlässt<br />
wortlos <strong>de</strong>n Raum.<br />
3.2 Analyse <strong>de</strong>r verunglückten Kommunikation<br />
Meiner Ansicht <strong>nach</strong> ist diese kurze Episo<strong>de</strong> ein gutes Beispiel für verunglückte<br />
Kommunikation. Was aber ist geschehen? Warum bin ich gegangen? Warum hat K. auf eine<br />
scheinbare Sachdiskussion auf die Frage, ob man das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s inneren Teams in <strong>de</strong>r<br />
Therapie einsetzen kann o<strong>de</strong>r nicht, mit einem wüten<strong>de</strong>n Gesicht reagiert? Als ich auf <strong>de</strong>m<br />
Heimweg traurig (!) in <strong>de</strong>r Bahn saß, dachte ich zunächst über meine eigene Reaktion <strong>nach</strong>.<br />
Ich war verletzt. Aber weswegen? Ich war wütend. Aber ich hatte doch keinen Grund. Warum<br />
hatte ich so einen theatralischen Abgang hingelegt? Was hatte mich so sehr verletzt. In<br />
Gedanken ging ich das Gespräch noch einmal durch und erkannte <strong>de</strong>n Satz, <strong>de</strong>r dieses innere<br />
Wirrwarr in mir ausgelöst hatte: „Du lässt mir gar nicht meine Meinung!“. Legen wir ihn<br />
doch einmal unter die kommunikationspsychologische Lupe:<br />
5
Abb. 1: Kommunikationspsychologische Lupe<br />
Ist mir dadurch klarer gewor<strong>de</strong>n, was mich so verärgert hat? Nun, ich könnte mit meinem<br />
Appellohr gehört haben und daraus geschlossen haben, dass ich ihn störe. Nach Ihrem Mo<strong>de</strong>ll<br />
hört beson<strong>de</strong>rs ein bestimmter Stil mit <strong>de</strong>m Appellohr: „Der Selbst-lose Stil“ (<strong>Schulz</strong> <strong>von</strong><br />
<strong>Thun</strong> 2002 a: 93ff).<br />
Du wi<strong>de</strong>rsprichst die ganze Zeit, obwohl es sich hier um meine<br />
Meinung han<strong>de</strong>lt, einer Meinung kann man nicht wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />
Ich fühle<br />
mich<br />
persönlichangegriffen!!!<br />
„Du lässt mir gar nicht meine Meinung!“<br />
Du versuchst mich zu manipulieren, du hast kein Recht mir meine<br />
Meinung zu verbieten!<br />
Dieser Kommunikationsstil trifft häufig auf mich zu. Ich fühle mich häufig unwichtig und bin<br />
„nur im Einsatz für (…) an<strong>de</strong>re“ (<strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> 2002a: 94) etwas nütze. Sie beschreiben,<br />
dass dieser Stil sich dadurch charakterisieren lässt, dass ein geringes Selbstwertgefühl<br />
vorhan<strong>de</strong>n ist und die „Angst vor Selbstwerdung“ (ebd.) bestehen wür<strong>de</strong>. Sie betonen aber<br />
auch, dass ein Kommunikationsstil auch eine Beziehungsstruktur <strong>de</strong>finiert. Gera<strong>de</strong> in dieser<br />
Beziehung ist das Gefühl <strong>de</strong>r Unterlegenheit beson<strong>de</strong>rs stark. Warum? Diese Frage lässt sich<br />
gut mit einer weiteren Anekdote aus <strong>de</strong>m Leben <strong>von</strong> K. und Hannah beantworten:<br />
K. sprach über seine Erfahrungen, als er 20 war und in <strong>de</strong>r DDR lebte. In vollständigem<br />
Missverständnis <strong>de</strong>r Tatsache, worum es ihm eigentlich ging, rechnete ich <strong>nach</strong>, wie alt ich<br />
damals war, und sagte erschrocken: „Da war ich vier Jahre alt!“<br />
Lass’<br />
mich<br />
damit in<br />
Ruhe!!!<br />
6
Es besteht also ein beträchtlicher Erfahrungsunterschied. Als er anfing, die Welt zu verän<strong>de</strong>rn,<br />
was man gemeinhin mit 20 Jahren so zu tun pflegt, lernte ich gera<strong>de</strong> die klassischen W-<br />
Fragen überhaupt zu stellen. Dadurch besteht <strong>von</strong> vornherein ein Ungleichgewicht in unserer<br />
Beziehung. Das wäre grundsätzlich ja noch nicht weiter problematisch, wenn K. die<br />
Grundbotschaft: „Sag’, wie du mich haben willst!“ (<strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> 2002a: 96), die die<br />
Grundlage <strong>de</strong>s selbst-losen Stils ist, tolerieren könnte. Aber das scheint seiner<br />
Grundüberzeugungen <strong>de</strong>r Autonomie <strong>de</strong>s Individuums zu wi<strong>de</strong>rsprechen. Die<br />
Beziehungsbotschaft <strong>de</strong>s selbst-losen Stils ist Ihnen zu Folge, „die starken und guten Seiten<br />
<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren zu würdigen, hingegen seine schwachen und fehlerhaften Seiten zu übersehen, zu<br />
bagatellisieren und zu entschuldigen“ (<strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> 2002a: 94).<br />
Wie zeigt sich dieser eine Grundstil in meiner Kommunikation mit K. ? Sätze wie „Du<br />
machst soviel, das wer<strong>de</strong> ich nie alles schaffen“ o<strong>de</strong>r „Ich verstehe jenes Buch zwar nicht<br />
ganz, aber wenn du meinst, Harry Potter sei tiefenpsychologisch so aufschlussreich, dann<br />
wird das wohl stimmen“, sind bei mir durchaus an <strong>de</strong>r Tagesordnung. Wie Sie in Ihrer<br />
Vorlesung betonen, sind die meisten Menschen Mischtypen, und ich wür<strong>de</strong> auch bei mir noch<br />
ein Veto einlegen und mich nicht selbst auf diesen Kommunikationsstil reduzieren. Aber,<br />
zugegebenermaßen, in diesen Gesprächen nimmt er einen weitflächigen Raum ein.<br />
Vielleicht erkennt man meine innere Grundüberzeugung auch in meinem Einleitungssatz:<br />
„Störe ich dich mal wie<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Arbeit?“. Er impliziert, dass ich ihn oft störe und<br />
vielleicht, dass ich tatsächlich das Gefühl habe, eine Zumutung für ihn zu sein. Auch hierzu<br />
fällt mir eine kurze dialogische Anekdote ein, die sich an<strong>de</strong>rntags zwischen K. und mir<br />
zugetragen hat. Ich wollte ihm Yaloms (2002) „Der Panama-Hut o<strong>de</strong>r Was einen guten<br />
Therapeuten ausmacht“ schenken, ein Buch, das mich zutiefst beeindruckt hat. Ich hatte aber<br />
das Gefühl, ihn zu stören, und entschuldigte mich, scheinbar mehrmals, <strong>de</strong>nn er erwi<strong>de</strong>rte:<br />
„Du musst dich nicht dafür entschuldigen, das du lebst!“. Hier zeigt sich eine klassisch<br />
genervte Reaktion auf die duckmäuserische Art meines Kommunikationsstils, die scheinbar<br />
<strong>de</strong>n geduldigsten Menschen (und K. gehört eigentlich zu dieser Sorte Mensch) auf Dauer<br />
unerträglich wird.<br />
Mein vorwiegen<strong>de</strong>r Kommunikationsstil neigt Ihren Ausführungen zufolge dazu, auf <strong>de</strong>m<br />
Beziehungsohr eine negative Um<strong>de</strong>utung zu vollziehen (vgl. <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> 2002a: 93ff).<br />
Was könnte ich also aus <strong>de</strong>r Beziehungsbotschaft gemacht haben? Ich versuchte, ihn zu<br />
7
manipulieren, und verbiete ihm seine Meinung? Darauf musste ich, verbleiben wir in dieser<br />
Stilinterpretation, entsetzt reagieren, <strong>de</strong>nn ich bewun<strong>de</strong>re ihn doch zutiefst, wie kann ich ihn<br />
da manipulieren wollen? Ich wollte ihm seine Meinung doch gar nicht wegnehmen (nebenbei<br />
bemerkt, kann man jeman<strong>de</strong>m seine Meinung wegnehmen?), son<strong>de</strong>rn wollte klare Argumente,<br />
damit ich es richtig verstehe. Und eine leise Stimme flüsterte auch in mir: „Wenn <strong>de</strong>r große<br />
Meister das sagt, dann muss es eine Be<strong>de</strong>utung haben. Ich bin aber noch nicht überzeugt. Er<br />
soll mich lehren!“<br />
Sie stellen es in „Miteinan<strong>de</strong>r Re<strong>de</strong>n. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung“ (2002:<br />
101f)) so dar, als wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r selbst-lose Stil vor allem mit <strong>de</strong>m aggressiv-entwerten<strong>de</strong>n Stil<br />
zusammentreffen (o<strong>de</strong>r jene Elemente im An<strong>de</strong>ren provozieren). Nun ja, K.s<br />
Kommunikationsstil, soweit ich diesen zu erkennen vermag, ist aber vorwiegend <strong>de</strong>r helfen<strong>de</strong><br />
Stil. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er ein geduldiger Zuhörer ist. Ratschläge gibt er nicht.<br />
Er ist <strong>de</strong>r Überzeugung „Ratschläge sind Schläge!“. (Wenn man etwas bösartig sein will,<br />
kann man vielleicht sagen: er hat im Seminar ‚Gesprächspsychotherapie’ und bei <strong>de</strong>r<br />
‚Themenzentrierten Interaktion’ gut aufgepasst!). Aber in je<strong>de</strong>m Fall setzt er sich für die<br />
Schwachen, Bela<strong>de</strong>nen und Hilflosen ein. Das hat natürlich zur Folge, dass ich, um ihm zu<br />
gefallen, in diese Kategorie gehören muss, was meiner Ansicht <strong>nach</strong> auch nicht<br />
unproblematisch ist, <strong>de</strong>nn, entgegen meinem vorwiegen<strong>de</strong>n Kommunikationsstil, habe ich<br />
selbstverständlich auch noch an<strong>de</strong>re Seiten, die nicht klein und hilflos sein wollen. (Das wird<br />
mir oft <strong>de</strong>utlich, wenn mich jemand <strong>nach</strong> meinem Sternzeichen fragt: ich bin Löwe und mit<br />
diesem Sternzeichen wird häufig Selbstbewusstsein bis hin zu Arroganz und<br />
Selbstverliebtheit verbun<strong>de</strong>n. Trotz<strong>de</strong>m – o<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb – verrate ich mein Sternzeichen<br />
nie ohne einen Anflug <strong>von</strong> Stolz.) Aber zurück zur K.-Hannah-Problematik: Wie könnte ein<br />
Teufelskreis aussehen, <strong>de</strong>r <strong>von</strong> zwei solchen Stilen beherrscht wird?<br />
8
in eigener<br />
Nichtigkeit<br />
bestätigt<br />
moralisch<br />
überlegen<br />
Selbst-loser<br />
ducke mich,<br />
bewun<strong>de</strong>re ihn<br />
moralische<br />
Überlegenheit bei<br />
gleichzeitiger<br />
Abhängigkeit<br />
genervtes<br />
zuhören<br />
fürsorglich,<br />
hilfreich<br />
Helfer<br />
Schuldgefühl<br />
,<br />
Abb. 2: Kommunikationsstile und Beziehungsdynamik<br />
Es treffen hier also zwei Kommunikationsstile aufeinan<strong>de</strong>r, die sich nicht optimal ergänzen.<br />
Allerdings irritiert mich sehr die Vorstellung <strong>de</strong>r moralischen Überlegenheit, die hinter<br />
meinen Kommunikationsstil stehen soll: moralische Überlegenheit? Zunächst dachte ich, es<br />
müsse sich wohl um sehr unbewusste Prozesse han<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>nn wie könnte ich mich moralisch<br />
überlegen fühlen, wenn <strong>de</strong>r „große K.“ alles einfach differenzierter und genauer weiß, mehr<br />
gelesen hat als ich und die Welt im Kern einfach besser begreift? Wo bleibt da die moralische<br />
Überlegenheit? Ich dachte zunächst, diese moralische Überlegenheit ergebe sich lediglich im<br />
Zusammenhang mit <strong>de</strong>m aggressiv-entwerten<strong>de</strong>n Stil, bei <strong>de</strong>m ich dies <strong>nach</strong>vollziehen<br />
könnte. Ein wenig klarer wur<strong>de</strong> mir die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r moralischen Überlegenheit allerdings durch<br />
Riemanns „Grundformen <strong>de</strong>r Angst“ (2002: 63), in<strong>de</strong>m es heißt:<br />
in seiner<br />
Kompetenz<br />
gestärkt<br />
9
„Hierbei kann es zu einer gefährlichen Selbsttäuschung kommen: In<strong>de</strong>m er aus diesen<br />
Verhaltensweisen (Selbstaufgabe, Anmk. <strong>de</strong>r Autorin) eine I<strong>de</strong>ologie macht, verbirgt<br />
er nicht nur <strong>de</strong>ren Motivierung aus <strong>de</strong>r Verlustangst vor sich selbst, son<strong>de</strong>rn er kann<br />
sich auch noch moralisch überlegen vorkommen gegenüber <strong>de</strong>nen, die weniger<br />
beschei<strong>de</strong>n, friedfertig usf. sind. So macht er recht eigentlich aus <strong>de</strong>r Not eine Tugend<br />
und meint, etwas hinzugeben und zu opfern, was er noch gar nicht entwickelt hat und<br />
besitzt: sein Ich“ (Riemann 2002: 63).<br />
Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r moralischen Überlegenheit resultiert also aus <strong>de</strong>m Vergleich mit Menschen, die<br />
weniger hingebungsvoll bis zur Selbstaufgabe sind. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist es<br />
einleuchtend, dass es mir schwer fällt, dies mit meinem Verhalten in Einklang zu bringen.<br />
Denn K. ist <strong>de</strong>r Inbegriff <strong>de</strong>s Moralisten, <strong>de</strong>r sich für an<strong>de</strong>re opfert und immer hilfsbereit und<br />
prinzipientreu ist. Es fällt mir also schwer, bei unserer Kommunikation meine moralische<br />
Überlegenheit zu ent<strong>de</strong>cken. Allerdings spielt die Verlustangst wirklich eine zentrale Rolle.<br />
Er braucht mich nicht, aber ich habe <strong>de</strong>n Eindruck, ihn zu brauchen. (Also nicht nur ein<br />
Ungleichgewicht im Sinne <strong>de</strong>s Altersunterschieds, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>r Bedürftigkeit an sich.).<br />
Allerdings ist K. (im Gegensatz zu mir) Unabhängigkeit bis hin zu Autarkie enorm wichtig<br />
und vielleicht ist da doch eine leise Stimme in mir, die sagt: „Ich kann mich für an<strong>de</strong>re selbst<br />
aufgeben und du klammerst dich an einen abstrakten Begriff wie Unabhängigkeit.“ Es scheint<br />
eine seltene und schwierige Konstellation zwischen selbst-losem und hilfsbereitem Stil zu<br />
sein.<br />
3.3. Spiel mir das Lied vom Stuhl<br />
Es scheint alles darauf hinaus zu laufen, mein inneres Team zu diesem Streit aufzustellen.<br />
Denn ich fürchte, dass bei mir auch einige, ich nenne sie zunächst noch „Bösewichte“ und<br />
hoffe diesen Begriff auf <strong>de</strong>r sekundären Ebene korrigieren zu können, hinter <strong>de</strong>m Vorhang<br />
warten o<strong>de</strong>r sogar mit <strong>de</strong>m Besenstil gegen die Untergrund<strong>de</strong>cke klopfen. Aber zuvor halte<br />
ich es für sinnvoll, einmal das „Spiel“, das Sie in Ihrer Vorlesung vorgeschlagen haben, in<br />
Bezug mit K. zu versuchen. Also, auf die Stühle, fertig los:<br />
10
Abb. 3: Stuhl A<br />
Stuhl (A): Wie fin<strong>de</strong> ich ihn?<br />
Lieb, hilfreich, süß, kompliziert, distanziert, weit weg, geheimnisvoll, klug,<br />
belesen, intellektuell, bewun<strong>de</strong>rnswert,<br />
„groß“ wie eine Statue, romantisch, ehrgeizig, unverständlich, streng, schuldgefühlbela<strong>de</strong>n,<br />
moralisch, besserwisserisch, anstrengend, verschlossen, alt…<br />
Stuhl B: Wie reagiere ich innerlich?<br />
Ich fühle mich klein, ich spüre <strong>de</strong>n Ehrgeiz, ihm ebenbürtig zu sein,<br />
ich fühle mich gefor<strong>de</strong>rt und geför<strong>de</strong>rt, ich fühle mich herausgefor<strong>de</strong>rt<br />
und angespornt, ich bin neidisch und eifersüchtig, ich <strong>de</strong>nke, er mag<br />
mich nicht, ich meine, ihn die ganze Zeit zu nerven, ich fühle mich<br />
unbe<strong>de</strong>utend und unterlegen, nichtswürdig und min<strong>de</strong>rwertig, ich<br />
<strong>de</strong>nke viel über seine Worte <strong>nach</strong>, ich meine, dass ich ihn nie<br />
verstehen wer<strong>de</strong>, ich fühle mich ausgeschlossen und einsam, ich<br />
empfin<strong>de</strong> Trauer und Glück zugleich, Trauer, dass ich ihn nie<br />
erreichen wer<strong>de</strong>, und Glück, dass ich ihn kennen darf, ich habe oft das<br />
Gefühl, zurückgesetzt zu wer<strong>de</strong>n, und fühle mich unwissend mit einem<br />
großen Fragezeichen.<br />
Abb. 4: Stuhl B<br />
Auf <strong>de</strong>n eigentlich dritten Stuhl © möchte ich gern ein wenig an<strong>de</strong>rs eingehen. Die Frage, wie<br />
reagiere ich äußerlich, lässt sich ja am besten an einem Gesprächsbeispiel darstellen. Es gibt<br />
eine Stelle in Sartres „Zeit <strong>de</strong>r Reife“ (S.86), die unser bei<strong>de</strong>r Kommunikation sehr treffend<br />
wie<strong>de</strong>rgibt, allerdings mit einer Einschränkung: ich übernehme die männliche Rolle und K.<br />
die weibliche (ein wenig verkehrte Welt also!). Ich habe diese Stelle ausgewählt, da sie so<br />
o<strong>de</strong>r ähnlich zwischen K. und mir hätte stattfin<strong>de</strong>n können. Der Philosophielehrer Mathieu<br />
(meine Rolle in dieser Parallele) hegt Gefühle für die junge Stu<strong>de</strong>ntin Ivich und misst allen<br />
ihren Äußerungen großes Gewicht bei. Sie scheint ihn ein wenig für seinen Lebensstil zu<br />
verachten. Sie wirft ihm scheinbar vor, dass er es sich in seinem Leben zu bequem gemacht<br />
habe und nicht ausbrechen will. Allerdings han<strong>de</strong>lt es sich um einen implizit-versteckten<br />
11
Vorwurf wie im folgen<strong>de</strong>n Textausschnitt <strong>de</strong>utlich wird, in<strong>de</strong>m es thematisch um Gauguin<br />
geht, aber mit einer <strong>nach</strong><strong>de</strong>nklich-unterschwelligen Ebene:<br />
(Nicht vergessen: vertauschte Rollen!)<br />
>>„Nun – ich meine, es gibt nicht viele solche Büromenschen. Er sieht so… verloren aus.“<br />
Mathieu sah wie<strong>de</strong>r ein schwerfälliges Gesicht mit einem gewaltigen Kinn vor sich. Gaugiun<br />
hatte die Menschenwür<strong>de</strong> verloren, hatte es auf sich genommen, sie zu verlieren.<br />
„Ja“, sagte er. „Unten auf <strong>de</strong>m großen Bild? Damals war er sehr krank.“<br />
Ivich lächelte geringschätzig.<br />
„Ich spreche <strong>von</strong> <strong>de</strong>m kleinen Bild, auf <strong>de</strong>m er noch jung ist: er sieht so aus, als wäre er zu<br />
wer weiß was imstan<strong>de</strong>.“<br />
Sie blickte etwas verstört ins Leere, und Mathieu fühlte zum zweiten Mal <strong>de</strong>n Stachel <strong>de</strong>r<br />
Eifersucht.<br />
„Wenn Sie’s so meinen, bin ich offenbar kein verlorener Mensch.“„Oh nein“, sagte Ivich.<br />
„Ich seh’ übrigens nicht ein, warum das ein Vorzug sein soll“, sagte er. „O<strong>de</strong>r ich versteh’<br />
nicht recht, was Sie meinen.“„Re<strong>de</strong>n wir nicht mehr da<strong>von</strong>.“ „Natürlich. So sind Sie immer.<br />
Sie machen versteckte Vorwürfe und weigern sich dann, sie näher zu erklären. Das ist<br />
ziemlich bequem.“ „Ich mache nieman<strong>de</strong>m einen Vorwurf“, sagte sie gleichgültig.<br />
Mathieu blieb stehen und sah sie an. Auch Ivich blieb ungnädig stehen. Sie trat <strong>von</strong> einen Fuß<br />
auf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren und mied Mathieus Blick.<br />
„Ivich! Sie wer<strong>de</strong>n mir sagen, wie Sie das meinen!“„Was?“ fragte sie erstaunt. „Diese<br />
Geschichte vom >verlorenen< Menschen.“ „Müssen wir weiter da<strong>von</strong> re<strong>de</strong>n?“ „Es klingt<br />
idiotisch“, sagte Mathieu, „aber ich möchte wissen, wie Sie das meinen.“<br />
Ivich begann wie<strong>de</strong>r an ihren Haaren zu zupfen: es war zum Verzweifeln.<br />
„Gar nichts beson<strong>de</strong>res; es fiel mir nur so ein.“
tägliche Brot in K.s und meiner Interaktion. Wenn es beson<strong>de</strong>rs arg wird und ich das Gefühl<br />
habe, mich nicht dagegen wehren zu können, dann kommt es vor, dass ich ihm eine<br />
Interpretation aus Ihrem Repertoire anbiete „Wahrscheinlich, K., sind das die verbannten<br />
inneren Teammitglie<strong>de</strong>r, die sich durch das Klopfen bemerkbar machen?!“ Er stimmt mir<br />
dann (oft lachend) zu, verrät mir aber trotz<strong>de</strong>m nicht, warum er so ärgerliche Mitglie<strong>de</strong>r hat.<br />
Im ersten Band <strong>von</strong> „Miteinan<strong>de</strong>r Re<strong>de</strong>n“ schreiben Sie, dass man <strong>de</strong>n Mut aufbringen sollte<br />
zur direkten Konfrontation. Was aber, wenn dann folgen<strong>de</strong>s passiert:<br />
Hannah: „K., ich habe das Gefühl, dass ich dich nerve.“<br />
K.: „Hannah, das sind <strong>de</strong>ine Phantasien!“<br />
Auch <strong>de</strong>r Versuch, die (vermeintliche) Wahrheit <strong>de</strong>r Situation explizit zu machen, kann<br />
durchaus scheitern! In <strong>de</strong>m Textbeispiel bleibt auch unsicher, was genau <strong>de</strong>r eigentliche<br />
Vorwurf <strong>von</strong> Ivich an Mathieu ist. Der Leser bleibt darüber im unklaren, man kann nur<br />
vermuten, dass es Ivich darum geht, dass Mathieu sich in seinem Leben als Philosophielehrer<br />
zu sehr eingerichtet hat, und nicht bereit ist, seine eigene Freiheit zu leben. Ebenfalls ein<br />
Thema, dass auf die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Art in unseren Gesprächen eine Rolle spielt. K. wirft<br />
mir (meist natürlich eher implizit) vor, dass ich nicht <strong>de</strong>n ‚Mut zur Freiheit’ (vgl. Sartre 1965:<br />
32) habe, womit er, nebenbei bemerkt, wohl recht hat.<br />
Die Begeisterung für Ihre Theorie scheint bei uns ebenfalls unterschiedlich stark ausgeprägt<br />
zu sein. Ein weiteres Beispiel aus <strong>de</strong>m reichen Schatz <strong>de</strong>r missglückten Klärungsversuche aus<br />
<strong>de</strong>m Leben <strong>von</strong> H.U.! Die Situation war folgen<strong>de</strong>: Ich wollte meinen Geburtstag feiern und<br />
hätte mich sehr gefreut, wenn K. gekommen wäre – vor allem, weil er die meisten meiner<br />
Freun<strong>de</strong> nicht kennt und ich es gern gesehen hätte, wenn er sich mit ihnen verstan<strong>de</strong>n hätte.<br />
Ich la<strong>de</strong> ihn also ein und er sagt, er hasse Partys und wer<strong>de</strong> nicht kommen. Ich bin hin- und<br />
hergerissen zwischen Enttäuschung und Verständnis. Einerseits hätte ich ihn einfach gern<br />
dabei gehabt, an<strong>de</strong>rerseits gehe ich selbst nicht übermäßig gern zu Partys, <strong>de</strong>nn die<br />
Unterhaltungen sind doch meistens recht oberflächlich. Ich kann ihn also bedingt verstehen.<br />
Allerdings löse ich das Problem meist so, dass ich zu <strong>de</strong>n Partys guter Freun<strong>de</strong> gehe, um sie<br />
nicht zu verletzen, und eben nicht so lange bleibe. Na, je<strong>de</strong>nfalls sagte K. ab und ich hatte<br />
gemischte Gefühle. Ich wollte meine Enttäuschung aber nicht vollständig runterschlucken.<br />
Als ich nun bei Ihnen las, dass Sie einst einen Konflikt mit einer Kollegin hatten und dann das<br />
innere Team auf Bier<strong>de</strong>ckeln symbolisierten und feststellten, dass sie in vielen Punkten einer<br />
13
Meinung waren, dachte ich: Super, das ist es! Ich schlage K. einfach vor, dass wir das auch<br />
machen, dann verstehe ich ihn besser und bin vielleicht nicht mehr so enttäuscht. Gedacht,<br />
getan!<br />
Hannah: „Wollen wir nicht einmal unsere inneren Teams zum Thema: >Du kommst<br />
nicht zu meiner Geburtstagsfeier< aufstellen?“<br />
K.: „Nein, das ist mir kein Anliegen.“<br />
Hannah: „Aber ich bin sicher, du hast dazu auch verschie<strong>de</strong>ne Ansichten, o<strong>de</strong>r?“<br />
K., (zögert): „Ja, das stimmt. Aber so was macht nur Sinn, wenn es mein Anliegen wäre. Ich<br />
habe kein Bedürfnis dazu.“<br />
Um einem Vor-urteil vorzubeugen: Ich re<strong>de</strong> nicht ständig nur <strong>von</strong><br />
Kommunikationspsychologie und wen<strong>de</strong> sie auch nicht permanent an. Den Eindruck könnte<br />
man aus <strong>de</strong>n Sequenzen vielleicht gewinnen, es han<strong>de</strong>lt sich jedoch um Beispiele und ich sehe<br />
K. schließlich ziemlich oft, wir sprechen also auch über viele an<strong>de</strong>re Themenkreise!<br />
3.4 Eine unendliche Geschichte<br />
Ich möchte <strong>nach</strong> diesen längeren Ausflügen über K. und meine Art miteinan<strong>de</strong>r umzugehen,<br />
aber wie<strong>de</strong>r zum Ausgangskonflikt zurückkehren. Denn die anfangs beschriebene<br />
Konversation war schließlich nur die Einleitung zu einer schwierigeren Phase. Mich<br />
beschäftigten <strong>nach</strong> dieser Episo<strong>de</strong> verschie<strong>de</strong>ne Fragen, so unter an<strong>de</strong>ren: Wie sollte ich mich<br />
ihm gegenüber jetzt verhalten? Ich durchdachte verschie<strong>de</strong>ne Alternativen: die Einfachste<br />
wäre, sich ganz normal zu benehmen, so als wäre nichts passiert. Aber wür<strong>de</strong> er das nicht<br />
seltsam fin<strong>de</strong>n? Erst verlasse ich ihn dramatisch ohne Abschiedsgruß und dann tue ich so, als<br />
sei nichts gewesen? Außer<strong>de</strong>m hatte ich das unbestimmte Gefühl, das nicht zu können. Die<br />
an<strong>de</strong>re Alternative wäre, ihn direkt darauf anzusprechen, ihm zu erklären, warum ich so<br />
überreagiert habe. Aber könnte ich das? Wusste ich <strong>de</strong>nn, warum ich mich so albern<br />
benommen hatte? Nein, ich wusste es nicht! Und außer<strong>de</strong>m, das wusste ich je<strong>de</strong>nfalls genau,<br />
wür<strong>de</strong> es darin mün<strong>de</strong>n, dass ich mich entschuldigen wür<strong>de</strong>, und das wollte ich nicht.<br />
Irgendwie wollte ich mich nicht schon wie<strong>de</strong>r entschuldigen. Ich entschloss mich, auf seine<br />
Reaktion zu warten. An dieser Stelle muss man erwähnen, dass wir uns immer eher spontan<br />
zum Café treffen und eigentlich selten bis nie telefonieren. Ich glaube, ich kann an einer Hand<br />
abzählen wie oft er mich angerufen hat. Aber irgendwie habe ich erwartet, dass er mich<br />
14
zumin<strong>de</strong>st bei zufälligen Treffen in und um die Uni ansprechen wür<strong>de</strong>. Statt<strong>de</strong>ssen grüßte er<br />
wie gewöhnlich und mel<strong>de</strong>te sich nicht. Und dann geschah etwas mir Unbegreifliches: ich<br />
wur<strong>de</strong> parallelisiert. Ich konnte ihm kaum noch einen höflichen Gruß zukommen lassen und<br />
konnte ihn nicht einmal mehr ansehen. Ich bekam regelrecht Angst davor, ihm auf <strong>de</strong>m Gang<br />
zu begegnen, hoffte aber gleichzeitig ihn zu treffen. Einmal waren wir gemeinsam im<br />
Fahrstuhl „eingepfercht“. Er schien sich genötigt zu fühlen „Konversation“ zu betreiben:<br />
K.: „Warum bist du <strong>de</strong>nn so früh an <strong>de</strong>r Uni?“<br />
Hannah: „Hab’ ein Seminar.“<br />
K.: „Ach ja, Persönlichkeitsstörungen bei Eckert?“<br />
Hannah: „Hm.“<br />
Ich war so wütend. Wie konnte er es wagen mit mir so ein extrem oberflächliches Gespräch,<br />
zu führen. Da hätte er ja gleich über das Wetter re<strong>de</strong>n können! Auch an dieser Stelle war es<br />
mir unmöglich, ihn anzusehen, und ich war erleichtert, als ich aus dieser engen und stickigen<br />
Fahrstuhlzwangsjacke heraustreten durfte. Mir ist bis heute eigentlich nicht wirklich klar,<br />
warum ich so reagierte.<br />
3.5 Die innere Theaterbühne<br />
Ich glaube, hier kann es mir wirklich helfen, das „Innere Team“ einmal aufzustellen.<br />
Allerdings bevorzuge ich die Vorstellung <strong>von</strong> einer Theaterbühne, da ich gerne ins Theater<br />
gehe und mir das Ganze dann bildlicher vorstellen kann. (Vgl. Abbildung 5)<br />
Ihre Namen verweisen noch ein wenig darauf, dass mein Regisseur sich doch mit einigen<br />
noch zu stark i<strong>de</strong>ntifiziert. Aber schauen wir sie uns doch im Einzelnen erst einmal an:<br />
Da wären im Bühnenmittelpunkt „Die Intellektuelle“, die gerne im Rampenlicht steht, am<br />
liebsten Publikum hat. Sie zeigt sich natürlich auch in <strong>de</strong>m oben beschriebenen<br />
Kommunikationsausschnitt. Es hat ihre Eitelkeit schon sehr verletzt, dass K. zuvor gesagt<br />
hatte, wenn du das Mo<strong>de</strong>ll vom inneren Team nicht kennst, dann kann ich dir diese und jene<br />
Frage nicht beantworten. Sie ist immer eifrig bemüht, mit <strong>de</strong>m intellektuellen K. mitzuhalten.<br />
Kein Buchzitat entgeht ihr. Sie entfaltet sich auf <strong>de</strong>r Bühne gern gemeinsam mit <strong>de</strong>r<br />
„Musterschülerin“. Die Intellektuelle ist etwas verkniffen und verwen<strong>de</strong>t auch manchmal <strong>de</strong>n<br />
Rohrstock („Du musst dich bil<strong>de</strong>n, du bist sonst nichts wert!). Die Musterschülerin dagegen<br />
15
ist eher angepasst-strebsam und will <strong>de</strong>m Oberlehrer, in diesem Fall K., gefallen. Sie will<br />
nicht stören, son<strong>de</strong>rn immer die richtige Antwort auf die unausgesprochenen Fragen und<br />
Befehle stellen: „Yes, Ma’am“ ist ihr Leitmotiv. In <strong>de</strong>n oben genannten Ausschnitt<br />
eingeordnet, ist sie die jenige, die höflich fragt: „Störe ich dich mal wie<strong>de</strong>r beim Arbeiten?“.<br />
Sie wür<strong>de</strong> sogar noch weitergehen und sagen: „Darf ich <strong>de</strong>n ehrenwerten Doktor- Allwissend<br />
etwa vom Arbeiten abhalten, ich kleine, dumme Schülerin?“ Aber wie gesagt, die<br />
Intellektuelle und die Musterschülerin verstehen sich blen<strong>de</strong>nd und lieben das Rampenlicht.<br />
Ebenfalls in <strong>de</strong>r ersten Reihe, aber <strong>de</strong>nnoch dahinter steht die „Platonische Freundin“. Die<br />
Freundin wird in Anlehnung an <strong>de</strong>n Film „Harry und Sally“ als die Protagonistin <strong>de</strong>s Films<br />
dargestellt. Sie hat das Bedürfnis, für ihren Freund da zu sein und auch für ihn hilfreich zu<br />
sein. Allerdings steht sie im Blickkontakt mit <strong>de</strong>r zusammengesunkenen Figur, die halb hinter<br />
<strong>de</strong>m Vorhang versteckt ist, die Verletzte“. Die Verletzte mei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Bühnenmittelpunkt. Sie<br />
darf zwar auf <strong>de</strong>r Bühne stehen, doch vom Scheinwerferlicht bekommt sie nicht viel zu sehen.<br />
Sie wird <strong>von</strong> <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Hauptdarstellern (die Intellektuelle und die Musterschülerin) nicht<br />
beson<strong>de</strong>rs gemocht, da sie vermeintlich schwach und hilflos ist. Einzig die platonische<br />
Freundin hat alldieweil mal Mitleid mit ihr und schaut zu ihr hinüber. Dabei hat die Verletzte<br />
viel zu sagen: sie ist traurig darüber, das K. ihr oft so kühl begegnet und sich selten mel<strong>de</strong>t.<br />
Dass er immer <strong>de</strong>r Helfen<strong>de</strong> ist und sie immer nur die Schutzbedürftige sein muss.<br />
Vor ihr steht Mrs. Bewun<strong>de</strong>rung. Warum ist diese ebenfalls nicht im Bühnenmittelpunkt, wo<br />
sie doch offensichtlich eine so große Rolle spielt? Nun sie ist da, darf aber nicht wirklich sein,<br />
<strong>de</strong>nn wenn sie einmal in <strong>de</strong>n Bühnenvor<strong>de</strong>rgrund tritt, was sie schon oft versucht hat, wur<strong>de</strong><br />
sie ruppig zurückgewiesen. Sie muss sich immer Sätze anhören wie „Das projizierst du auf<br />
mich!“. Also hat sie gelernt, dass sie keine gern gesehene Darstellerin ist, dass das Publikum<br />
„Buh“ ruft o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Saal sogar verlässt, wenn sie sich in die Öffentlichkeit wagt. Sie war es<br />
übrigens auch, die in <strong>de</strong>r obigen Konversation darauf bestan<strong>de</strong>n hat, eine genaue Begründung<br />
auf <strong>de</strong>r Sachseite (Therapie mit <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll o<strong>de</strong>r nicht) haben zu wollen. Denn schließlich<br />
bewun<strong>de</strong>rt sie K. so sehr und, wenn er etwas sagt, dann hat es Be<strong>de</strong>utung und sie möchte doch<br />
alles <strong>von</strong> ihm verstehen. Sie ist nicht böse, nur ein wenig naiv.<br />
Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Bühnenseite, im dunkelsten Schatten, <strong>de</strong>n die Bühne zu bieten hat, steht „<strong>de</strong>r<br />
Einsame“. Ich hätte in auch gern „Der Ekel“ (Sartre 1963) genannt, nicht weil er einen<br />
16
solchen Charakter hätte, son<strong>de</strong>rn <strong>nach</strong> Sartres „Der Ekel“, <strong>de</strong>r für mich <strong>de</strong>r Inbegriff <strong>de</strong>s<br />
einsamen Menschen ist.<br />
17
Abb. 5: Die innere Theaterbühne<br />
18
„Mit Missbehagen gleitet mein Blick langsam über die Stirn, über die Backen; er stößt<br />
auf nichts Festes, er verliert sich. Gewiss, da ist eine Nase, ein Mund, da sind Augen,<br />
aber das alles hat keinen Sinn, nicht einmal einen menschlichen Ausdruck.“ (Sartre 1963:<br />
23).<br />
Dem Einsamen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m „Ekel“ ein Gesicht zu geben, ist nicht korrekt, <strong>de</strong>nn er hat<br />
„eigentlich keinen menschlichen Ausdruck“ (ebd.), ist nur ein dunkles, bedrohliches Gefühl,<br />
das mich befällt, wenn ich das Gefühl habe, jeman<strong>de</strong>n zu verlieren. Man könnte meinen „Der<br />
Ekel“ und „die Verletzte“ wür<strong>de</strong>n sich gut verstehen. Dem ist aber nicht so, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Einsame<br />
sucht nicht wirklich Nähe, zieht sich lieber zurück, flüchtet aus <strong>de</strong>r Situation, während die<br />
Verletzte eigentlich alles immer klären möchte und eigentlich bereit ist, ins Rampenlicht zu<br />
treten, wenn man sie nur lassen wür<strong>de</strong>… Der „Ekel“ will nicht gesehen wer<strong>de</strong>n, er hasst das<br />
Licht, ja vielleicht sogar die Menschen. Er ist ein Misanthrop.<br />
Ebenfalls im tiefsten Bühnenschatten versteckt sich die „Kapitolische Wölfin“ o<strong>de</strong>r „Mrs.<br />
Gierig“. Sie setzt sich vom „Ekel“ <strong>de</strong>utlich ab, <strong>de</strong>nn die bei<strong>de</strong>n haben nichts gemeinsam. Die<br />
Wölfin kann, wenn sie einmal Blut geleckt hat, nicht mehr aufhören. Im Zusammenhang mit<br />
K. heißt das, wenn er einmal lieb zu ihr war, dann ist sie wie ein gieriges Tier, das die<br />
Wolfsmutter aussaugt, bis auf <strong>de</strong>n letzten Tropfen. Gera<strong>de</strong> bei ihr bin ich nicht sicher, ob <strong>de</strong>r<br />
Regisseur (meine Wenigkeit) nicht eine gewisse „Disi<strong>de</strong>ntifikation“ (<strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> 2002b:<br />
107) betreibt. Dieses einnehmen<strong>de</strong> Wesen gehört nicht zu meinen Vorzeigeschauspielern. Es<br />
fällt mir schwer, ihr einen an<strong>de</strong>ren Namen zu geben, aber, wenn ich es betont freundlich<br />
formulieren wollte, dann könnte ich sie auch die „Treue Wölfin“ nennen, <strong>de</strong>nn sie hängt sehr<br />
stark an ihren Freun<strong>de</strong>n. So, das war <strong>de</strong>r sichtbare Bühnenschauplatz. Aber natürlich gibt es<br />
da noch Schauspieler, die <strong>de</strong>r Öffentlichkeit vollkommen verborgen bleiben und auch mir<br />
selbst äußerst unangenehm sind. Die heimliche Un<strong>de</strong>rground-Gang.<br />
3.6 Wer versteckt sich <strong>de</strong>nn im Bühnenuntergrund?<br />
Der heimlich verliebte Mr. Brown. Er arbeitet klammheimlich mit Mrs. Fraulich zusammen.<br />
Die bei<strong>de</strong>n haben nämlich einen heimlichen, gemeinsamen Wunsch: als Frau <strong>von</strong> K. gesehen<br />
zu wer<strong>de</strong>n und nicht als kleines Kind. Sie möchten so gerne auf die Frage: „Störe ich?“ eine<br />
lei<strong>de</strong>nschaftliche Umarmung bekommen, außer<strong>de</strong>m möchten sie verehrt wer<strong>de</strong>n. Aber die<br />
19
ei<strong>de</strong>n dürfen nicht sein. Für ihre Verbannung hat „die platonische Freundin“ gemeinsam mit<br />
<strong>de</strong>r Musterschülerin schon gesorgt, die bei<strong>de</strong>n dürfen nicht sein, also sind sie nicht!<br />
Dann gibt es da noch Jeanne d’ Arc. Sie ist eine Kämpfernatur, die alles in Zweifel zieht, was<br />
K. sagt, die ihn überhaupt nicht bewun<strong>de</strong>rt und <strong>von</strong> ihm loskommen möchte. Sie möchte frei<br />
sein und möchte ihm auch beweisen, dass auch er Grenzen hat. Mit ihrem Schwert schlägt sie<br />
kräftig gegen <strong>de</strong>n Theaterbo<strong>de</strong>n. Manchmal so heftig, dass die Regisseurin, Hannah, gar<br />
nichts mehr sagen kann o<strong>de</strong>r wie parallelisiert ist. Nach <strong>de</strong>m oben beschrieben Konflikt war<br />
sie es wohl, die mich in <strong>de</strong>r Folgezeit beherrscht hat. Zunächst re<strong>de</strong>te ich mir ein, ich wüsste<br />
nur nicht, wie ich darauf reagieren sollte und erklärte mir so meine Parallelisierung, die<br />
Unmöglichkeit, mit ihm zu sprechen. Ich re<strong>de</strong>te mir ein, nur darauf zu warten, dass er<br />
reagierte. Aber bald verstand ich mein eigenes Verhalten nicht mehr. Warum war ich nicht in<br />
<strong>de</strong>r Lage ihn anzusehen? Die Verletzte, Jeanne d’Arc und Mrs. Wüterig scheinen eine Allianz<br />
eingegangen zu sein, die mich daran hin<strong>de</strong>rte, überhaupt zu han<strong>de</strong>ln. Ich verstand mich selbst<br />
nicht mehr. Von Zeit zu Zeit bemächtigte sich meiner ein Gefühl, dass ich bis dato nicht<br />
kannte. Ich fand einen Teil <strong>de</strong>r Antwort auf mein seltsames Gefühl in Simon <strong>de</strong> Beauvoirs<br />
(2001) Roman „Sie kam und blieb“. Dort heißt es, und treffen<strong>de</strong>r kann ich mein verstecktes<br />
inneres Team wohl kaum beschreiben:<br />
„Viele Male hatte sie Regungen <strong>von</strong> Eifersucht verspürt und sich versucht gefühlt, Pierre<br />
zu hassen und Xavière Böses zu wünschen, aber unter <strong>de</strong>m eitlen Vorwand, sich selbst<br />
rein zu erhalten, hatte sie in sich nichts als Leere erzeugt. (…) Francoise hatte nicht<br />
gewagt, sie selbst zu sein, und <strong>von</strong> Leid überwältigt begriff sie, dass diese feige<br />
Heuchelei sie dazu gebracht hatte, überhaupt nicht zu sein.“ (<strong>de</strong> Beauvoir 2001: 269)<br />
In meiner Darstellung <strong>de</strong>s inneren Teams habe ich Mr. Wüterig lustig durch eine Komikfigur<br />
aus „Snoopy“ dargestellt. (Ich hoffe: das gibt keine urheberrechtlichen Streitereien!). Ich<br />
glaube, das spiegelt auch ein wenig das Verhältnis meiner Regisseurin zu diesem versteckten<br />
Teammitglied wie<strong>de</strong>r. Die Regisseurin hat ihr verboten, überhaupt die Bühne zu betreten, sie<br />
hat faktisch kein Lebensrecht und muss selbst in einer reflexiven Darstellung noch ironisiert<br />
wer<strong>de</strong>n. Im Grun<strong>de</strong> genommen han<strong>de</strong>lt es sich aber, glaube ich, um ein starkes Mitglied, das<br />
durch die Verdrängung (nicht im Freudschen Sinne!) eine unkalkulierbare Macht ausübt.<br />
20
3.7 Ein gemeinsames Theaterstück?<br />
Wie könnte man dieses Team zu einem gemeinsamen Bühnenspiel bewegen, ihnen beibringen<br />
ein gemeinsames Theaterstück zu spielen und nicht je<strong>de</strong>r für sich allein seine Kraft im<br />
Negativen wie im Positiven auszuüben? Setzen wir sie doch einmal an <strong>de</strong>n ‚Run<strong>de</strong>n Tisch’<br />
und lassen sie eine kleine Diskussion führen (vgl. <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> 2002b: 84ff), mal sehen,<br />
was sie zu sagen haben. Schnell bil<strong>de</strong>n sich natürlich kleine Allianzen. „die Verletzte“<br />
versteht sich auf Anhieb mit <strong>de</strong>m „Ekel“ und „Mrs. Bewun<strong>de</strong>rung“.<br />
Die Verletzte: „Ich habe das Gefühl zurückgewiesen zu wer<strong>de</strong>n, fühle mich abgelehnt und…“<br />
Der Einsame: „Und einsam!“<br />
Mrs. Bewun<strong>de</strong>rung: „Aber er ist doch so ein guter Mensch, macht immer alles richtig und<br />
Mr. Fraulich<br />
was er alles weiß!“<br />
(flüsternd): „Ich wür<strong>de</strong> mir so wünschen, das dieser tolle Mensch mich als Frau<br />
sieht.“<br />
Die Verliebte (verträumt): „Jaaaa…“<br />
Die Gierige: „Ja, ich will mehr <strong>von</strong> ihm, will ihn besitzen!“<br />
Die platonische<br />
Freundin (entsetzt): „Hey, spinnt ihr? Ihr seid Freun<strong>de</strong>, wollt ihr die Freundschaft ruinieren?<br />
Und überhaupt: Freundschaften halten länger als Liebschaften. Zu<strong>de</strong>m<br />
ist er eh zu alt für euch!“<br />
Mrs. Wut: „Pah! Alles Mist! Er verletzt, ist abweisend und distanziert, liebes Oberhaupt,<br />
du solltest dich überhaupt nicht mehr mit ihm abgeben, ihn bestrafen<br />
dafür das du ihn so bewun<strong>de</strong>rn musst! Wehr dich!“<br />
Jeane d’Arc: „Jawohl, Freiheit für die Unterdrückten, die Geknechteten, Revolution,<br />
Krieg!“<br />
Die Musterschülerin: „Seid ihr alle verrückt gewor<strong>de</strong>n? Man sägt doch <strong>de</strong>n Ast auf <strong>de</strong>m man<br />
Die Intellektuelle<br />
(mit freundlich zugewandtem Blick<br />
sitzt nicht ab. Man kann soviel <strong>von</strong> ihm lernen.“<br />
auf Mrs. Bewun<strong>de</strong>rung): „Außer<strong>de</strong>m gibt er uns intellektuelles Futter. Mit wem kann man<br />
sonst schon über die Gewalt innerer Triebe in <strong>de</strong>r eigenen Seele<br />
diskutieren?“<br />
21
Ein lautes Stimmengewirr, unterstützt <strong>von</strong> heftigen Schlägen auf <strong>de</strong>n Theaterbo<strong>de</strong>n <strong>von</strong><br />
Seiten Jeanne d’Arcs, bestimmt das Geschehen. Zeit für <strong>de</strong>n Regisseur, für Ordnung zu<br />
sorgen. (Vgl. Abbildung 6)<br />
„Liebe Darsteller, Ihr habt alle gewonnen und je<strong>de</strong>r bekommt einen Preis, <strong>de</strong>nn ihr habt alle<br />
Recht… und Unrecht, <strong>de</strong>nn ihr übertreibt. Wollen doch mal sehen:<br />
22
23<br />
Abb. 6: Am run<strong>de</strong>n Tisch
Liebe Verliebte, Frauliche, Verletzte, Einsame und Gierige. Ihr mögt K. und wollt ihn alle<br />
nicht verlieren, o<strong>de</strong>r?“ (Zustimmen<strong>de</strong>s Gemurmel.) „Jetzt stellt sich doch die Frage, was<br />
seid ihr bereit dafür zu geben? Frauliche und Verliebte, seid ihr bereit dafür, dass ihr ihn<br />
weiter sehen dürft und mit ihm sprechen, eure Bedürfnisse <strong>nach</strong> Liebe zurückzustellen?“<br />
(Ge<strong>de</strong>hntes Ja.) „Liebe Gierige bist du bereit, ein wenig Verzicht zu leisten, wenn du dafür ab<br />
und an gefüttert wirst?“ „Nein!“ antwortet sie grimmig. Aber da kommt Jeanne d’ Arc <strong>de</strong>r<br />
Regisseurin zur Hilfe. „Willst du <strong>de</strong>nn ewig abhängig und klein in <strong>de</strong>iner Gier bleiben? Wo<br />
bleiben <strong>de</strong>ine Freiheitsbestrebungen? Dafür, dass du ein wenig Verzicht leistest, hast du<br />
wie<strong>de</strong>r mehr Zeit, dich um an<strong>de</strong>re Freun<strong>de</strong> zu kümmern und dich frei zu entwickeln.“ Die<br />
Gierige nickt stumm. Die Regisseurin an <strong>de</strong>n Einsamen gewandt: „Meinst du nicht auch, es<br />
wür<strong>de</strong> dir besser gehen, wenn du dich vermehrt mit an<strong>de</strong>ren Freun<strong>de</strong>n triffst, wür<strong>de</strong> das<br />
<strong>de</strong>ine Einsamkeit nicht verringern?“ Er nickt ebenfalls.<br />
„Ich glaube mit dir, Jeanne d’ Arc, brauche ich nicht darüber zu streiten, du klingst sehr<br />
einverstan<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Lösung eines teilweisen Verzichtes. Aber was machen wir mit dir, liebe<br />
Wut? Was möchtest du genau?“ „Ich möchte ihn am liebsten einmal richtig anschreien.“<br />
„Das wird nicht gehen, da wären die an<strong>de</strong>ren Teammitglie<strong>de</strong>r wohl kaum mit<br />
einverstan<strong>de</strong>n.“ Die Intellektuelle: „Kann ich ihn nicht auf <strong>de</strong>m intellektuellen Wege<br />
schlagen?“ Regisseurin: „Nein, das wäre ein Beziehungsstreit auf <strong>de</strong>r Sachebene, genau das,<br />
was du in <strong>de</strong>m obigen Konflikt getan hast, das mag ein einfacher Weg sein, aber er führt zu<br />
nichts. An<strong>de</strong>re Vorschläge?“ Betreten<strong>de</strong>s Schweigen in <strong>de</strong>r Run<strong>de</strong>. Für Mrs. Wut gibt es wohl<br />
keinen Platz. Die Regisseurin <strong>de</strong>nkt traurig darüber <strong>nach</strong>, sie wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Untergrund zu<br />
verbannen. „So, wer fehlt noch? Du, platonische Freundin, dürftest ebenfalls zufrie<strong>de</strong>n sein,<br />
o<strong>de</strong>r? Und die Musterschülerin ebenso, o<strong>de</strong>r?“ Einstimmiges „Ja“ aus <strong>de</strong>r Run<strong>de</strong>. „Und ich<br />
darf ab und zu noch mit ihm über Camus pessimistischen Existenzialismus sprechen?“ fragt<br />
die Intellektuelle.“ Die Regisseurin nickt. (Vgl. <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> 2002b: 144ff)<br />
3.8 Die Weiterentwicklung o<strong>de</strong>r die Lehre aus vergangenen Taten<br />
Es ist ja immer schön ein einhelliges Ergebnis zu bekommen. Ob diese „Lösung“ wirklich alle<br />
meine Schauspieler gleichermaßen befriedigt, wage ich jedoch zu bezweifeln. Wie sieht nun<br />
mein Entwicklungsquadrat aus, das ich anzustreben mich bemühen sollte, um in Zukunft<br />
besser mit K. und mir selbst umgehen zu können?<br />
24
Abb. 7: Das Werte und Entwicklungsquadrat (vgl. <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> 2002a: 38ff)<br />
Ich halte es für eine Tugend, bewun<strong>de</strong>rungsfähig zu sein. Es wird jedoch zu einem Unwert,<br />
wenn man jeman<strong>de</strong>n blind i<strong>de</strong>alisiert und seine Schwächen nicht mehr sehen will o<strong>de</strong>r kann.<br />
Ich darf K. also meiner Ansicht <strong>nach</strong> weiterhin bewun<strong>de</strong>rn, muss jedoch auch einen Blick auf<br />
seine Schwächen wagen. Zu<strong>de</strong>m muss ich lernen, auch mich selbst wertzuschätzen, und sollte<br />
mich nicht immer ducken und klein machen, <strong>de</strong>nn auch wenn ich K., was Lebenserfahrung<br />
anbetrifft, noch weithin unterlegen bin, so habe ich als Person doch auch einen Wert und<br />
vielleicht im Gegenzug eine gesun<strong>de</strong> Naivität, die <strong>de</strong>m erfahrenen Menschen verloren<br />
gegangen ist.<br />
3.9 Schlussbemerkungen<br />
In Ihrer Vorlesung (2002c) haben Sie an verschie<strong>de</strong>nen Stellen gesagt: „Menschen, die<br />
miteinan<strong>de</strong>r zu schaffen haben, machen sich zu schaffen“. Ein Ausspruch, <strong>de</strong>r das Verhältnis<br />
zu K. sehr treffend beschreibt. Noch passen<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong> ich allerdings folgen<strong>de</strong> Aussage <strong>von</strong><br />
Schopenhauer, die diese Individualproblematik auf das allgemeine menschliche Miteinan<strong>de</strong>r<br />
überträgt:<br />
Bewun<strong>de</strong>rungs-<br />
Fähigkeit<br />
Selbstwertschätzung<br />
blin<strong>de</strong> I<strong>de</strong>alisierung Selbstüberschätzung<br />
„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an einem kalten Wintertag, recht nahe<br />
zusammen, um durch die gegenseitige Wärme, sich vor <strong>de</strong>m Erfrieren zu schützen.<br />
Jedoch bald empfan<strong>de</strong>n sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wie<strong>de</strong>r <strong>von</strong><br />
einan<strong>de</strong>r entfernte. Wann nun das Bedürfniß <strong>de</strong>r Erwärmung sie wie<strong>de</strong>r näher zusammen<br />
brachte, wie<strong>de</strong>rholte sich jenes zweite Uebel; so dass sie zwischen bei<strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n hin und<br />
25
hergeworfen wur<strong>de</strong>n, bis sie eine mäßige Entfernung <strong>von</strong> einan<strong>de</strong>r herausgefun<strong>de</strong>n<br />
hatten, in <strong>de</strong>r sie es am besten aushalten konnten“ (Schopenhauer 1988: 559f).<br />
Dieses Zitat beschreibt bis zu diesem Punkt sehr genau, was ich auch in <strong>de</strong>r Beziehung zu K.<br />
wohl lernen muss: die richtige Entfernung zu fin<strong>de</strong>n, damit sich unsere gegenseitigen Stacheln<br />
nicht erreichen. Leicht gesagt, schwer gemacht! Aber Schopenhauer wäre nicht ein so<br />
bekannter Pessimist gewor<strong>de</strong>n, wenn er es hierbei bewen<strong>de</strong>n ließe:<br />
„- So treibt das Bedürfniß <strong>de</strong>r Gesellschaft, aus <strong>de</strong>r Leere und Monotonie <strong>de</strong>s eigenen<br />
Inneren entsprungen, die Menschen zu einan<strong>de</strong>r; aber ihre vielen wi<strong>de</strong>rwärtigen<br />
Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wie<strong>de</strong>r <strong>von</strong> einan<strong>de</strong>r ab. Die mittlere<br />
Entfernung, die sie endlich herausfin<strong>de</strong>n, und bei welcher ein Beisammenseyn bestehen<br />
kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, <strong>de</strong>r sich nicht in dieser Entfernung hält,<br />
ruft man in England zu: keep your distance! – Vermöge <strong>de</strong>rselben wird zwar das<br />
Bedürfniß gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber <strong>de</strong>r Stich<br />
<strong>de</strong>r Stacheln nicht empfun<strong>de</strong>n. – Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat bleibt lieber<br />
aus <strong>de</strong>r Gesellschaft weg, um keine Beschwer<strong>de</strong>n zu geben, noch zu empfangen“ (ebd.:<br />
560).<br />
Schopenhauer ist mir hier ein wenig zu pessimistisch, <strong>de</strong>nn ich glaube, dass nicht allein die<br />
innere Leere und Monotonie die Menschen zueinan<strong>de</strong>r treibt. Auch die Behauptung, dass<br />
„Höflichkeit und Sitte“ (ebd.) die einzige Möglichkeit wären, eine mittlere Entfernung<br />
zueinan<strong>de</strong>r zu fin<strong>de</strong>n, halte ich für zu streng. Ich glaube, da fehlen die <strong>von</strong> Ihnen benannten<br />
Geschwistertugen<strong>de</strong>n wie Spontanität und Herzlichkeit. Und schließlich kann ich eines mit<br />
Sicherheit sagen: Ich wer<strong>de</strong> nicht <strong>von</strong> K. wegbleiben, <strong>de</strong>nn ich mag seine Stacheln ja auch<br />
sehr gern! Nun könnte Schopenhauer natürlich entgegnen, dass das daher kommt, dass ich<br />
nicht genug innere Wärme habe. Nun, vielleicht ist da sogar etwas dran, aber schließlich ist es<br />
doch am schönsten unter Menschen zu sein, o<strong>de</strong>r etwa nicht?<br />
26
4. Konsequenzen für die Lehrkraftausbildung<br />
Neben dieser individuellen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung und Verarbeitung <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>lle <strong>von</strong> <strong>Schulz</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Thun</strong>, stellt sich die Frage, ob diese Form <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung in einem Studium <strong>de</strong>r<br />
Beruflichen Bildung sinnvoll und nutzbringend sein kann. Folgt man <strong>de</strong>r Annahme<br />
Fegebanks (2004b: 116), dass die berufliche Bildung <strong>de</strong>rzeit einen Paradigmenwechsel erlebt,<br />
<strong>de</strong>r Handlungsorientierung und Schülerzentrierung auf seine Fahnen schreibt, dann scheint<br />
dieser Form <strong>de</strong>s Selbstversuchs einige <strong>de</strong>r gefor<strong>de</strong>rten Elemente zu erfüllen. Die Fähigkeit,<br />
sich auf eine Beziehung einzulassen, wird biographisch erworben. Eine Lehrkraft in <strong>de</strong>r<br />
Berufsschule, die sich in ihrem gesamten Studium nicht mit ihren blin<strong>de</strong>n, interaktiven<br />
Prozessen auseinan<strong>de</strong>rgesetzt hat, wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht in ihrer<br />
Unterrichtsspraxis tun können. Ein Erzieher bzw. eine Erzieherin, <strong>de</strong>r/die in seiner/ihrer<br />
Ausbildung keine persönliche Anteilnahme einer Berufsschullehrkraft erfahren hat, wird eine<br />
professionelle Nähe vielleicht auch nicht in seiner/ihrer sozialpädagogischen Praxis<br />
realisieren können.<br />
Das zentrale Ziel einer Neuen Lern-Lehrkultur besteht in <strong>de</strong>r Anpassung <strong>von</strong> schulischem und<br />
praktischen Lernen, d.h. Unterricht soll sich zum Einen an <strong>de</strong>r Lebenswelt <strong>de</strong>r Schüler und<br />
Schülerinnen orientieren und zum An<strong>de</strong>ren die Erfor<strong>de</strong>rnisse <strong>de</strong>r Praxis – so weit möglich –<br />
ab<strong>de</strong>cken (vgl. Fegebank 2004b: 121). Dabei wird eine stärkere Selbstregulierung und<br />
Selbstevaluation <strong>de</strong>r Schüler und Schülerinnen gefor<strong>de</strong>rt (vgl. Fegebank 2004b: 119). Eine<br />
direkte, praktische Anwendung (Transfer) <strong>de</strong>r theoretischen Mo<strong>de</strong>lle <strong>von</strong> <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong><br />
auf Ebene <strong>de</strong>r Lehren<strong>de</strong>n, eröffnet auch für <strong>de</strong>n Unterrichtskontext neue Möglichkeiten. So<br />
kann im Rahmen alternativer Formen <strong>de</strong>r Leistungsmessung z.B. in einem Portfolio (vgl.<br />
Winter 2008: 187ff) eine Aufgabe die essayistische Übertragung <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>lle auf ein<br />
Praxisbeispiel aus <strong>de</strong>m Praktikum und/o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s eigenen Alltags sein, um sowohl eine innere<br />
als auch eine situative Klärung zu erreichen und <strong>de</strong>m Ziel <strong>de</strong>r Reflexivität <strong>de</strong>s eigenen<br />
Han<strong>de</strong>lns ein Stück näher zu kommen. <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong> (2002c) entwickelte sein Mo<strong>de</strong>ll<br />
ursprünglich für <strong>de</strong>n unternehmerischen Bereich, erweiterte seine Werke allerdings immer<br />
wie<strong>de</strong>r um Beispiele auch aus <strong>de</strong>m medizinischen und sozialen Sektor (vgl. <strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong><br />
2002b: 203f). Ohne die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s doppelten Theorie-Praxis-Bezuges überstrapazieren zu<br />
wollen (vgl. Karsten 2003: 354), ergeben sich hieraus doch einige I<strong>de</strong>en für alle<br />
Bildungsebenen.<br />
27
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<strong>Schulz</strong> <strong>von</strong> <strong>Thun</strong>, Frie<strong>de</strong>mann<br />
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Rowohlt<br />
Miteinan<strong>de</strong>r Re<strong>de</strong>n. Das >>innere Team
3.5 Die innere Theaterbühne................................................................................................<br />
15<br />
Abb. 5: Die innere Theaterbühne..........................................................................................<br />
18<br />
3.6 Wer versteckt sich <strong>de</strong>nn im Bühnenuntergrund? ............................................................ 19<br />
3.7 Ein gemeinsames Theaterstück? ..................................................................................... 21<br />
Abb. 6: Am run<strong>de</strong>n Tisch.......................................................................................................<br />
23<br />
3.8 Die Weiterentwicklung o<strong>de</strong>r die Lehre aus vergangenen Taten....................................<br />
24<br />
3.9 Schlussbemerkungen.......................................................................................................<br />
25<br />
4. Konsequenzen für die Lehrkraftausbildung....................................................................<br />
27<br />
Literatur...................................................................................................................................<br />
28<br />
30