Action and Self - Hannahdenker.de
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Universität Hamburg<br />
Hausarbeit zum Seminar 16.363 <strong>Action</strong> <strong>and</strong> <strong>Self</strong>-<strong>de</strong>velopment<br />
am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie<br />
Normativer Druck und Wohlbefin<strong>de</strong>n<br />
Dozentin: Esther Heinze<br />
vorgelegt von:<br />
Hannah Uhle<br />
Wentorfer Straße 63<br />
21029 Hamburg<br />
Tel. 040/ 72541592<br />
Email: Hannah-Uhle@gmx.<strong>de</strong>
2<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Abstract.......................................................................................................................................4<br />
Einleitung....................................................................................................................................4<br />
Die Gewalt normativen Drucks...................................................................................................6<br />
Gruppenverpflichtung und innere Motive...................................................................................9<br />
Julias interne Kontrollüberzeugungen......................................................................................13<br />
Ausblick und Schlußfolgerung..................................................................................................17<br />
Literaturverzeichnis..................................................................................................................19
3<br />
Normativer Druck und Wohlbefin<strong>de</strong>n<br />
Abstract<br />
Der vorliegen<strong>de</strong> Aufsatz beschäftigt sich mit <strong>de</strong>r These, dass kulturell bedingte normative<br />
Lebensaufgaben wie <strong>de</strong>r Auszug bei <strong>de</strong>n Eltern nach <strong>de</strong>m Abitur bei Nichterfüllung zu einem<br />
gesellschaftlichen Druck auf das Individuum führt. Belegt wird diese These anh<strong>and</strong> von<br />
Dannefers (1999) Ausführungen zu Ko-Konstitution <strong>de</strong>r Gesellschaft sowie seiner<br />
Interpretation von Meads Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Selbstbildung. Ich komme zu <strong>de</strong>m Schluss, dass Peergroups<br />
einen sehr feinsinnig-subtilen Druck erzeugen können.<br />
Anh<strong>and</strong> eines fiktiven Beispieles dreier Stu<strong>de</strong>ntinnen wird <strong>de</strong>s Weiteren <strong>de</strong>r Frage<br />
nachgegangen, inwieweit dieser normative Druck Einfluss auf das Wohlbefin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
Individuums hat. Die Ergebnisse von Brunstein, Schultheiss & Maier (1999) legen nahe, dass<br />
eine hohe Zielverpflichtung, die durch das soziale Umfeld hervorgerufen wird, zu<br />
Unzufrie<strong>de</strong>nheit führen kann. Außer<strong>de</strong>m scheint das Wohlbefin<strong>de</strong>n im Individualfall von <strong>de</strong>r<br />
Kongruenz innerer und äußerer Motive abzuhängen.<br />
Schließlich führt mich ein theoretisches Experiment zur internen Kontrollüberzeugung nach<br />
Abeles Mo<strong>de</strong>ll (zitiert nach Fung, Ableses & Carstensen, 1999) zu <strong>de</strong>r These, dass kulturelle<br />
Einflüsse die Attributions- und Evaluationsprozesse <strong>de</strong>s Individuums unter bestimmten<br />
Umstän<strong>de</strong>n in Richtung <strong>de</strong>pressiver Kognitionen führen können.<br />
Einleitung<br />
In <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Ausarbeitung beschäftigt mich die Frage, was passiert, wenn alterspezifische<br />
Lebensaufgaben nicht erfüllt wer<strong>de</strong>n können.<br />
Meine These ist, dass es kulturell bedingte normative Lebensaufgaben gibt, die aufgrund von<br />
Außenfaktoren unter Umstän<strong>de</strong>n nicht erfüllt wer<strong>de</strong>n können, und dass dies zu einem<br />
gesellschaftlichen Druck auf das Individuum führt. Aus dieser These lassen sich folgen<strong>de</strong><br />
Hypothesen ableiten:<br />
• Wenn altersspezifische Aufgaben nicht erfüllt wer<strong>de</strong>n, wird dieses Versagen <strong>de</strong>m<br />
Individuum vorgeworfen, wobei ökonomische Faktoren unberücksicht bleiben.
4<br />
• Wenn die Verpflichtung gegenüber normativen Entwicklungsaufgaben beim<br />
Individuum hoch ist, dann führt das Versagen dieser Ziele zu Unzufrie<strong>de</strong>nheit bis hin<br />
zu psychischen Problemen.<br />
• Explizite Ziele wie sie von Peer-groups gefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, stehen inneren Motiven<br />
möglicherweise entgegen, was ebenfalls zu Unzufrie<strong>de</strong>nheit und psychischen<br />
Problemen führen kann.<br />
Um die Be<strong>de</strong>utung von sozialen Gruppen für das Individuum theoretisch zu erfassen, beziehe<br />
ich mich zunächst auf Dannefers (1999) Aufsatz: „Freedom isn’t free“, in<strong>de</strong>m er von einer<br />
begrenzten Entfaltungsmöglichkeiten <strong>de</strong>s Individuums ausgeht und die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />
gesellschaftlichen Rahmens betont.<br />
Ich möchte im ersten Abschnitt „Die Gewalt normativen Drucks“ unter Zuhilfenahme seines<br />
Aufsatzes die Entstehung von normativem Druck auf das Individuum vor allem durch Peergroups<br />
<strong>de</strong>utlich machen. Es soll klar wer<strong>de</strong>n, dass <strong>de</strong>r gesellschaftliche Kontext nicht nur im<br />
Alltag häufig vernachlässigt wird, son<strong>de</strong>rn auch unter Theoretikern wie Br<strong>and</strong>tstätter (1999),<br />
Lerner (1999) und Walls (1999) zumin<strong>de</strong>st nur teilweise Berücksichtigung fin<strong>de</strong>t. Dannefer<br />
richtet sich gegen das Konzept vom Individuum als „Producer“ und erscheint mir von daher<br />
sehr geeignet.<br />
Im zweiten Teil „Gruppen-zielverpflichtung und innere Motive“ möchte ich die Ambivalenz<br />
<strong>de</strong>s Individuums zwischen expliziten Peer-group-For<strong>de</strong>rungen und inneren Motiven,<br />
beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>s Anschlussmotivs nach McClell<strong>and</strong> (1985, zitiert nach Brunstein, Schultheiss &<br />
Maier, 1999), <strong>de</strong>utlich machen. Dabei bediene ich mich <strong>de</strong>r Untersuchungen von Brunsteins,<br />
Schultheiss, & Maier (1999), die belegen, das ein Konflikt zwischen äußeren Zielen und <strong>de</strong>n<br />
inneren Motiven zu Unzufrie<strong>de</strong>nheit bis hin zu Depressionen führen kann. Innerhalb von<br />
Brunsteins Mo<strong>de</strong>ll lässt sich meine zweite Hypothese stützen, dass eine Verpflichtung<br />
gegenüber äußeren Zielen, die nicht <strong>de</strong>n inneren Motiven entsprechen, Einfluss auf das<br />
Wohlbefin<strong>de</strong>n haben.<br />
Schließlich möchte ich im letzten Abschnitt „Julias interne Kontrollüberzeugung“ anh<strong>and</strong> von<br />
Abeles (1991, zitiert nach Fung, Abeles & Carstensen, 1999) Mo<strong>de</strong>ll zu<br />
Kontrollüberzeugungen einmal theoretisch durchspielen, welche Folgen normativer Druck auf<br />
Teile <strong>de</strong>r interne Kontrollüberzeugungen haben könnten und damit beispielhaft belegen, wie<br />
dies zu Depressionen und Motivationsverlust führen kann. Sein Mo<strong>de</strong>ll erscheint mir für
5<br />
dieses Vorhaben geeignet, da es die mo<strong>de</strong>rne „Sense of control“-Forschung zum einen<br />
anschaulich zusammenfasst und zum <strong>and</strong>eren auf <strong>de</strong>r subjektiven Seite von<br />
Kontrollüberzeugungen ansetzt, die ich ja aufzeigen will.<br />
Die Gewalt normativen Drucks<br />
Dannefer (1999) geht von einer sozial-konstitutiven Perspektive an die Frage heran, ob<br />
Individuen „Producer of their selfs“ (Br<strong>and</strong>stätter, 1999) sind. Er betont, dass<br />
menschliche Tätigkeit soziale Interaktion ist. Was be<strong>de</strong>utet dies nun für die These, dass die<br />
Nichterreichung normativer Aufgaben zu sozialem Druck führen wür<strong>de</strong>?<br />
je<strong>de</strong><br />
Um diese These etwas zu veranschaulich führe ich ein fiktives Beispiel ein: drei Freundinnen<br />
treffen sich zum Kaffeetrinken. Nennen wir sie Caro, Kathrin und Julia. Caro studiert fernab<br />
von ihrer Heimat. Sie ist gleich nach <strong>de</strong>m Abitur von zu Hause ausgezogen. Kathrin ist in<br />
<strong>de</strong>rselben Stadt geblieben, wohnt aber nicht mehr bei <strong>de</strong>n Eltern. Julia wohnt noch bei ihren<br />
Eltern. Die Drei unterhalten sich über die Be<strong>de</strong>utung von Unabhängigkeit. Dabei wird schnell<br />
ersichtlich, dass Caro und Kathrin einen Auszug aus <strong>de</strong>m Elternhaus für enorm wichtig halten<br />
und es fällt sogar <strong>de</strong>r Begriff „Nesthocker“. Julia fühlt sich unwohl und hilflos.<br />
Dannefer betont, dass sich das Selbst nur in Interaktion mit <strong>and</strong>eren entwickeln wür<strong>de</strong> und<br />
Interaktion für die gesellschaftliche Konstitution verantwortlich sei. Welche gesellschaftliche<br />
Konstitution spiegelt sich im angeführten Beispiel wie<strong>de</strong>r? Ungeachtet <strong>de</strong>r Umstän<strong>de</strong>, die zu<br />
<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Bedingungen <strong>de</strong>r drei Stu<strong>de</strong>ntinnen geführt haben, wird hier eine<br />
normative Lebensaufgabe formuliert, die unterschiedliche Folgen für das individuelle Leben<br />
<strong>de</strong>r drei Protagonisten hat. Die drei sind nicht nur „Producers of their self“ (Br<strong>and</strong>stätter,<br />
1999), son<strong>de</strong>rn sind eingebettet in ein soziales System, das ihre Wertvorstellungen prägt und -<br />
wie Dannefer sagen wür<strong>de</strong> - welches auch sie prägen und formen. Graphisch kann man sich<br />
das vielleicht wie folgt ausmalen:
6<br />
Caro<br />
Kathrin<br />
Julia<br />
Individuals as Producer<br />
co-constitution<br />
Abbildung 1: Co-constitution, Hannah Uhle nach Dannefer, 2003<br />
Das Mo<strong>de</strong>ll „Co-constitution“ von Hannah Uhle (2003) soll Dannefers theoretische<br />
Ausführungen graphisch erfassen. Caro, Kathrin und Julia sind einerseits tatsächlich<br />
„individuals as producer“, aber sie sind gleichermaßen eingebettet in ein soziales System. Die<br />
Individuen und das soziale System stehen in permanenter Wechselwirkung zuein<strong>and</strong>er, sie<br />
sind Ko-Konstituenten.<br />
Dannefer (1999) betont, dass die Familie, die Bezugsgruppe und Schulklassen alle Ergebnisse<br />
von Tätigkeiten seien und sich wechselseitig beeinflussen wür<strong>de</strong>n. Im Beispiel konstituieren<br />
Kathrin und Caro eine Norm, die besagt, dass junge Erwachsene nach <strong>de</strong>m Abitur von zu<br />
Hause ausziehen sollten. Dabei sind ihnen die beschriebenen Wechselwirkungsprozesse nicht<br />
bewusst, son<strong>de</strong>rn gehen eher wie Br<strong>and</strong>stätter (1999) wie selbstverständlich ausschließlich<br />
vom Individuum als Produzent seiner selbst aus und werfen es ungeachtet <strong>de</strong>r Umstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>m<br />
Individuum als Versagen vor, wenn die von ihnen mit zu verantwortete Norm nicht erfüllt<br />
wird. Sie verfestigen damit eine Norm, die für Julia nicht ohne Folgen bleibt. Warum hat <strong>de</strong>r<br />
fiktive, normative Druck <strong>de</strong>r hier veranschaulicht wird, einen so starken Einfluss auf Julia, so<br />
dass sie sich unwohl und sogar hilflos fühlt? Auch hier lässt sich Dannefers (1999)<br />
vorgestelltes Mo<strong>de</strong>ll als Erklärung dafür heranziehen, warum <strong>de</strong>r Blick <strong>de</strong>r <strong>and</strong>eren so zentral<br />
für die Entwicklung <strong>de</strong>s Selbst ist. In Anlehnung an Mead (1934) beschreibt Dannefer (ebd.),<br />
dass die Selbstkonstruktion über H<strong>and</strong>lung mit einem Focus auf die Konsequenzen <strong>de</strong>r<br />
Tätigkeit geschieht:
7<br />
„This consequence thus entail the role of the self as object in relation to the self as agent, or,<br />
in Mead’s (1934, pp. 173-176) classic discussion, the me in relation to the I.” (Dannefer,<br />
1999)<br />
Dannefer erklärt also, dass das Selbst sich dadurch entwickelt, dass man sich selbst mit <strong>de</strong>n<br />
Augen <strong>de</strong>r <strong>and</strong>eren sieht. Julia nimmt sich selbst also durch <strong>de</strong>n Blick <strong>de</strong>r <strong>and</strong>eren wahr und<br />
konstruiert ihr Selbst. Die bei<strong>de</strong>n <strong>and</strong>eren entwickeln ihr Selbst wie<strong>de</strong>rum im Rahmen <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft, die bestimmte Wertmaßstäbe setzt, die ich in meiner These als „kulturell<br />
bestimmte, normative Lebensaufgaben“ bezeichnet habe. Wenn ich in meiner Kernthese also<br />
etwas abstrakt von „gesellschaftlichem Druck“ spreche, so meine ich die Konstruktion <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft durch die Individuen, im konkreten Beispiel durch die Peer-groups.<br />
Dannefer hat Meads Mo<strong>de</strong>ll vor allem begrifflich <strong>and</strong>ers gefasst. Er verwen<strong>de</strong>t statt <strong>de</strong>s<br />
Begriffs „I“ <strong>de</strong>n Ausdruck „agent“ und „Me“ ist das „object. Graphisch lässt sich Dannefers<br />
I<strong>de</strong>e folgen<strong>de</strong>rmaßen darstellen:<br />
object<br />
agent<br />
others<br />
self<br />
Abbildung 2: The constitution of self, Hannah Uhle nach Dannefer, 2003<br />
Die Graphik “The constitution of the self” von Hannah Uhle (2003) versinnbildlicht<br />
Dannefers Interpretation von Meads Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Selbst.
8<br />
Das „Ich“ o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r „Agent“ wird durch die Augen <strong>de</strong>r „An<strong>de</strong>ren“ als „Objekt“ betrachtet und<br />
bewertet. Das Selbst konstituiert sich dadurch, dass das Selbst <strong>de</strong>n Blick <strong>de</strong>r be<strong>de</strong>utsamen<br />
An<strong>de</strong>ren einnimmt und auf sich selbst als ein „Objekt“ schaut.<br />
Dannefer geht davon aus, dass es sich bei diesem Prozess um ein Charakteristikum <strong>de</strong>r<br />
Selbstbildung h<strong>and</strong>ele und dass es die Fähigkeit beinhalte, über sich selbst nach<strong>de</strong>nken zu<br />
können. Durch <strong>de</strong>n Blick <strong>de</strong>r <strong>and</strong>eren sei das Individuum in <strong>de</strong>r Lage, sich selbst zu<br />
<strong>de</strong>finieren, sich in Relation zu <strong>and</strong>eren zu setzen und sich seines eigenen St<strong>and</strong>punktes klar zu<br />
wer<strong>de</strong>n. Dannefer geht sogar so weit, dass <strong>de</strong>r gesamte Realitätssinn <strong>de</strong>s Individuums aus<br />
einem sozial-konstitutiven Prozess entstehe. Was <strong>de</strong>r Einzelne sinnvoll und plausibel fin<strong>de</strong>t,<br />
hänge von <strong>de</strong>m Inhalt <strong>de</strong>r Kommunikation mit be<strong>de</strong>utsamen An<strong>de</strong>ren ab. Dies macht <strong>de</strong>utlich,<br />
welchen enormen Einfluss das soziale Umfeld auf das Individuum haben kann. Natürlich<br />
gehört dazu nicht allein <strong>de</strong>r Freun<strong>de</strong>skreis, son<strong>de</strong>rn ebenso die Familie, auf <strong>de</strong>ren Rolle ich an<br />
<strong>and</strong>erer Stelle noch zu sprechen kommen möchte.<br />
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass „gesellschaftlicher Druck“ sich zusammensetzt<br />
aus einem Wechselspiel zwischen Individuum und sozialem System. Diese wechselseitigen<br />
Prozesse spielen eine zentrale Rolle bei <strong>de</strong>r Selbstbildung und -werdung (durch <strong>de</strong>n Blick <strong>de</strong>r<br />
be<strong>de</strong>utsamen An<strong>de</strong>ren). Daraus lässt sich <strong>de</strong>r Schluss ziehen, dass Peer-groups auf sehr<br />
feinsinnig-subtile Weise einen normativen Druck erzeugen können.<br />
Gruppenverpflichtung und innere Motive<br />
Brunstein, Schultheiss und Maier setzen sich in ihrem Aufsatz „The Pursuit of Personal<br />
Goals – a motivational approach to well-being <strong>and</strong> life adjustment“ (1999) u.a. mit <strong>de</strong>r Frage<br />
nach persönlichen Zielen und <strong>de</strong>n Folgen für das Wohlbefin<strong>de</strong>n ausein<strong>and</strong>er. Für meine<br />
Fragestellung ist es von großer Wichtigkeit, dass die Autoren daraufhin weisen, dass sowohl<br />
internale als auch externale Faktoren in die Konstruktion von persönlichen Zielen involviert<br />
sind. Die Autoren zitieren Cantor (1994):<br />
„In or<strong>de</strong>r to set goals that are both realistic <strong>and</strong> fulfilling, a person has to weight his or her<br />
own values, interests, <strong>and</strong> needs against the tasks, <strong>de</strong>m<strong>and</strong>s, <strong>and</strong> affordances inherent in his or<br />
her sociocultural environment.” (Cantor, 1994 zitiert nach Brunstein, Schultheiss & Maier,<br />
1999)
9<br />
Unsere drei fiktiven Stu<strong>de</strong>tinnen müssen also ihre persönlichen Ziele <strong>de</strong>n Erfor<strong>de</strong>rnissen <strong>de</strong>s<br />
soziokulturellen Umfel<strong>de</strong>s anpassen. Hierfür ist es nötig, ihre Schicksale ein wenig genauer<br />
zu beleuchten. Caro finanziert sich ihre Unabhängigkeit über ein Stipendium, das sie sich hart<br />
erarbeitet hat. Sie ist klug und fleißig und bringt somit alle nötigen Bedingungen mit, um sich<br />
aus eigener Kraft <strong>de</strong>m abstrakten, persönlichen Ziel, Unabhängigkeit, zu nähern. Kathrins<br />
Wohnung hingegen wird mit <strong>de</strong>m Geld ihrer Eltern finanziert. Ihre vermeintliche<br />
Unabhängigkeit besteht also nur darin, dass sie nicht mehr zu Hause wohnt. Julia hat sich in<br />
<strong>de</strong>r Schule nicht leicht getan, ein Stipendium liegt außerhalb ihrer Fähigkeiten. Ihre Eltern<br />
haben ein geringes Einkommen und sind zu<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Überzeugung, dass eine extra Wohnung<br />
für sie eine unnötige finanzielle Belastung darstellen wür<strong>de</strong>. Julia hat also ganz in Cantors<br />
Sinne ihre persönlichen Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse gegen die Aufgabe,<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen und Zwänge abgewogen. Wobei es vielleicht fraglich ist, ob sie <strong>de</strong>n<br />
normativen Druck durch ihren Freun<strong>de</strong>skreis bei diesen rationalen Berechnungen mit<br />
einbezogen hat.<br />
In meinem Beispiel reagiert Julia mit Unwohlsein und Hilflosigkeit auf die oben beschriebene<br />
Situation. Meiner These nach führt eine hohe Verpflichtung gegenüber sozialen Normen bei<br />
Versagen zu Unzufrie<strong>de</strong>nheit. Brunstein, Schultheiss und Maier (1999) zitieren u.a. Klingers<br />
(1977) Ergebnisse, die besagen, dass die Verfolgung persönlicher Ziele auch schädliche<br />
Effekte für das individuelle Wohlbefin<strong>de</strong>n haben können. Menschen könnten ihr zufolge<br />
unangenehme Stimmungen o<strong>de</strong>r sogar <strong>de</strong>pressive Episo<strong>de</strong>n erfahren, wenn die Verfolgung<br />
von Zielen durch Hin<strong>de</strong>rnisse blockiert wür<strong>de</strong>. Des weiteren zitieren die oben genannten<br />
Autoren Michalos (1980), <strong>de</strong>r feststellte, dass Individuen, die eine Diskrepanz zwischen ihren<br />
Erwartungen und <strong>de</strong>r Realität feststellen, dazu tendieren sich unglücklich und unzufrie<strong>de</strong>n zu<br />
fühlen.<br />
Brunstein (1993, zitiert nach Brunstein, Schultheiss & Maier, 1999) geht davon aus, dass die<br />
Zielverpflichtung (goal commitment) ein entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Faktor für die Auswirkungen von<br />
Zielverfolgung auf das Wohlbefin<strong>de</strong>n sei. Er konstruiert folgen<strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>ll:
10<br />
motive-congruence of<br />
personal goals<br />
commitment to<br />
personal goals<br />
X<br />
Progress in goal<br />
achievement<br />
X<br />
well-being experience<br />
attainabilitiy of personal<br />
goals<br />
Abbildung 3: Personal-Goal Mo<strong>de</strong>l of Subjective Well-Being, Brunstein, 1993, zitiert nach Brunstein,<br />
Schultheiss & Maier, 1999<br />
Brunstein (1993, zitiert nach Brunstein, Schultheiss & Maier, 1999) sagt, dass die Richtung in<br />
die die Entwicklung von Wohlbefin<strong>de</strong>n gehe, von <strong>de</strong>r persönlichen Einschätzung <strong>de</strong>r<br />
Zielerreichbarkeit (goal attainabilitiy) abhänge. Wenn man davon ausgeht, dass ein Auszug<br />
aus <strong>de</strong>m Elternhaus Julias wahrer Wunsch ist, was im folgen<strong>de</strong>n noch näher beleuchtet<br />
wer<strong>de</strong>n muss, dann schätzt sie ihre Möglichkeiten einer Wunscherfüllung vermutlich<br />
realistischerweise nicht sehr hoch ein und damit wäre meine fiktive Richtung ihrer Reaktion<br />
nachvollziehbar. Brunstein (ebd.) betont außer<strong>de</strong>m, dass gute Bedingungen mit zunehmen<strong>de</strong>m<br />
Wohlbefin<strong>de</strong>n zusammenhängen wür<strong>de</strong>n:<br />
„Favorable conditions, which are associated with a facilitation of goal attainment, are linked<br />
to increased well-being. In contrast, unfavourable conditions, which pose a threat to the<br />
accomplishment of valued goals, are associated with a <strong>de</strong>cline in well-being.”<br />
(Brunstein, Schultheiss &Maier, 1999)<br />
Ich möchte nicht im Einzelnen auf Brunsteins Untersuchungsmetho<strong>de</strong>n eingehen, son<strong>de</strong>rn ein<br />
zentrales Ergebnis seiner Forschung, welches meine Hypothese stützt, anfügen. Seine<br />
Untersuchungen haben ergeben, dass Individuen, die sich ihren Zielen stark verpflichtet
11<br />
fühlen, während die Bedingungen dafür schlecht waren, vulnerabel für unzufrie<strong>de</strong>ne<br />
Stimmungen und Depressionssyndrome sind.<br />
Darüber hinaus kam Brunstein (1993, zitiert nach Brunstein, Schultheiss & Maier, 1999) zu<br />
<strong>de</strong>m Ergebnis, dass die Unterstützung persönlicher Ziele von be<strong>de</strong>utsamen An<strong>de</strong>ren ein<br />
wichtiger Prädiktor für emotionales Wohlbefin<strong>de</strong>n und Zufrie<strong>de</strong>nheit im Leben von Stu<strong>de</strong>nten<br />
seien.<br />
Könnte man daraus schließen, dass Julia sich dauerhaft hilflos fühlen muss, da ihr die soziale<br />
Unterstützung gänzlich fehlt? Ich wage zu behaupten, dass diese Interpretation zu kurz<br />
greifen wür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn außerhalb ihres hier beschriebenen Freun<strong>de</strong>skreises, kann auch ihre<br />
Familie als „be<strong>de</strong>utsamer An<strong>de</strong>rer“ betrachtet wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Diskrepanz zwischen <strong>de</strong>m normativen Druck durch Freun<strong>de</strong> und <strong>de</strong>m ökonomischen<br />
Druck durch die Familie führt mich zu meiner letzten Hypothese. Brunstein, Schultheiss und<br />
Maier (1999) zitieren eine Studie von Brunstein, Lautenschlager, Nawroth, Pöhlmann &<br />
Schultheiss (1995), in <strong>de</strong>r es um die Frage geht, ob selbst-generierte explizite Ziele dazu<br />
dienen sollen, implizite Motive zu befriedigen. Bezogen auf unsere „Nesthockerin“ kann dies<br />
zweierlei be<strong>de</strong>uten:<br />
Zum einen kann es sein, dass sie gar nicht wirklich <strong>de</strong>n Wunsch hat auszuziehen, d.h. ihr<br />
„persönliches Ziel“ ist gar nicht „selbst-generiert“, son<strong>de</strong>rn durch <strong>de</strong>n externen, normativen<br />
Druck durch die Freun<strong>de</strong> entst<strong>and</strong>en. Für diese These spricht, dass es Möglichkeiten gebe, das<br />
finanzielle Problem zu lösen (z.B. durch einen Nebenjob). Zum <strong>and</strong>eren kann es sein, dass ihr<br />
explizites Ziel ihren inneren Motiven wi<strong>de</strong>rspricht und ihre Zielverpflichtung von daher nur<br />
halbherzig ist. Welche Motive könnten bei Julia in Konflikt geraten sein? Es wäre <strong>de</strong>nkbar,<br />
dass ein hohes Anschlussmotiv (McClell<strong>and</strong>, 1985, zitiert nach Brunstein, Schultheiss &<br />
Maier) sie sowohl an die Familie als auch an die Freun<strong>de</strong> bin<strong>de</strong>t. Das wür<strong>de</strong> be<strong>de</strong>uten, dass<br />
ihr explizites Motiv, das Ausziehen, aufgrund <strong>de</strong>s normativen Druckes durch <strong>de</strong>n<br />
Freun<strong>de</strong>skreis wäre, ihr inneres Motiv aber Sicherheit und Bindung an die Familie verlangt.<br />
Brunsteins (1998) Untersuchungen kumulieren in folgen<strong>de</strong>m Ergebnis:<br />
„To achieve high levels of well-being, it is therefore important for people both to commit<br />
themselves to goals that correspond to their motives <strong>and</strong> to have life situations that promote<br />
the achivement of such motive-congruent goals.” (Brunstein 1998, zitiert nach Brunstein,<br />
Schultheiss & Maier, 1999)
12<br />
Bereits in seinem Mo<strong>de</strong>ll (s.o.) „Personal-Goal Mo<strong>de</strong>l of Subjective Well-Being“ bezieht er<br />
<strong>de</strong>n Faktor <strong>de</strong>r Motiv-Kongruenz in seine Überlegungen zum Wohlbefin<strong>de</strong>n mit ein.<br />
Brunsteins (ebd.) Ergebnisse, dass die Arbeit an Zielen, die <strong>de</strong>n inneren Motiven entsprechen,<br />
zu Wohlbefin<strong>de</strong>n führen und umgekehrt die Arbeit an Zielen, die ihnen nicht entsprechen, das<br />
Wohlbefin<strong>de</strong>n verringern, macht <strong>de</strong>utlich, wie schwer eine ein<strong>de</strong>utige Prognose über <strong>de</strong>n<br />
Einfluss normativen Druckes auf ein Individuum wie Julia ist, da sie und <strong>and</strong>ere zumeist<br />
multiplen Einflüssen ausgesetzt sind.<br />
Die vorangegangenen Ausführungen machen zum einen <strong>de</strong>utlich, dass eine hohe<br />
Zielverpflichtung, die durch das soziale Umfeld hervorgerufen wird, u. U. zu Unzufrie<strong>de</strong>nheit<br />
führen kann. Des weiteren scheint das Wohlbefin<strong>de</strong>n im Individualfall von <strong>de</strong>r Kongruenz<br />
innerer und äußerer Motive abzuhängen.<br />
Julias interne Kontrollüberzeugungen<br />
Im Folgen<strong>de</strong>n möchte ich ein kleines theoretisches Experiment machen. Ich möche einmal<br />
hypothetisch durchspielen, welche Auswirkungen das Gespräch <strong>de</strong>r drei Freun<strong>de</strong> auf die<br />
interne Kontrollüberzeugung von Julia haben könnte. Hierzu bediene ich mich Abeles (1991,<br />
zitiert nach Fung, Ableles, Carstensen, 1999) Mo<strong>de</strong>ll zur internen Kontrollüberzeugung,, dass<br />
die in <strong>de</strong>r Literatur bekannten Mo<strong>de</strong>lle zum Thema „sense of control“ zusammenfasst. Sein<br />
Mo<strong>de</strong>ll bezieht sich auf internale kognitive Strukturen und Prozesse. Es h<strong>and</strong>elt sich um die<br />
subjektive Erfahrung innerhalb einer Person. Es h<strong>and</strong>elt sich hierbei nicht um ein Mo<strong>de</strong>ll<br />
wirklicher Kontrolle, obwohl viele Annahmen und Konsequenzen tatsächlich external sind.<br />
Sein Mo<strong>de</strong>ll sieht graphisch wie folgt aus:
13<br />
<strong>Self</strong><br />
Beliefs<br />
<strong>Self</strong> Efficacy<br />
Expectations<br />
Actual<br />
Environment<br />
Culturel<br />
Beliefs<br />
Personal<br />
&<br />
Vicarious<br />
Experience<br />
Attributional<br />
<strong>and</strong><br />
Evaluative<br />
Processes<br />
Task<br />
Beliefs<br />
Motivation Behavior Outcome<br />
Personality<br />
Beliefs about<br />
Causal<br />
Nature<br />
of the<br />
Environment<br />
Outcome<br />
Expectatio<br />
Abbildung 4: A Mo<strong>de</strong>l of Sense of Control, Abeles (1991, zitiert nach Fung, Ableles & Carstensen, 1999)<br />
Abeles (1991, zitiert nach Fung, Abeles, Carstensen, 1999) Mo<strong>de</strong>ll postuliert, dass es sich bei<br />
internen Kontrollüberzeugungen um dynamische und dialektische Prozesse h<strong>and</strong>le, was durch<br />
die Feedbackschleife vom Ergebnis (Outcome) zurück zu <strong>de</strong>n Prämissen graphisch dargestellt<br />
wird. Diese Schleife soll <strong>de</strong>utlich machen, dass steigen<strong>de</strong> Erfahrung sowohl kurz- als auch<br />
langfristig eine Än<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>n Kontrollüberzeugungen einer Person bewirken kann.<br />
Nach diesem Mo<strong>de</strong>ll bestehen Kontrollüberzeugungen aus Glauben und Erwartungen sowohl<br />
über das Selbst (<strong>Self</strong> Beliefs) als auch über die Umwelt. Der Glaube an sich selbst in<br />
Verbindung mit <strong>de</strong>n Vorstellungen über <strong>de</strong>n Schwergrad <strong>de</strong>r Aufgabe (Task Beliefs)<br />
bestimmten die Erwartungen über die eigene Effizienz (<strong>Self</strong>-Efficacy Expectations), d.h. <strong>de</strong>r<br />
Glauben darüber, ob das notwendige Verhalten zur Lösung einer Aufgabe (Outcome<br />
Expectations) erbracht wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Der Glaube an die Kausale Natur <strong>de</strong>r Umwelt (Beliefs about Causal Nature of the<br />
Environment) bezieht sich auf die Wahrnehmung <strong>de</strong>r Umwelt als kontingent im Gegensatz<br />
zum Glauben an reine Zufallsereignisse (nicht kontingent). Die Umweltkontingenz erstreckt<br />
sich in ihrer Be<strong>de</strong>utung nicht nur auf die physischen Gegebenheiten (wie beispiesweise<br />
Kausalitäten), son<strong>de</strong>rn auch auf soziale Regeln (wie beispielsweise Normen). Der Glaube an<br />
eine kontingente Umwelt be<strong>de</strong>utet aber nicht notwendigerweise auch Glaube an eigene<br />
Kontrolle. Der Glaube an die kausale Natur <strong>de</strong>r Umwelt in Verbindung mit <strong>de</strong>n Vorstellungen<br />
über <strong>de</strong>n Schweregrad <strong>de</strong>r Aufgabe produzieren bestimmte Ergebnis-Erwartungen (Outcome
14<br />
Expecatations). Menschliche Kontrollüberzeugungen nach Abeles Mo<strong>de</strong>ll bestehen also aus<br />
einem Komplex interkorrelierter „<strong>Self</strong>-Beliefs“, „<strong>Self</strong>-efficacy expectations“, „Beliefs about<br />
the Causal Nature of the Environment“ und „Outcome Expectations“.<br />
Dabei führen wirkliche Umwelteinflüsse sowie individuelle Annahmen über die eigenen<br />
Leistungsmöglichkeiten zur Überzeugung, dass das erwünschte Resultat erzielt wer<strong>de</strong>n kann<br />
o<strong>de</strong>r nicht. Solche Evaluations- und Attributionsprozesse führen zu bestimmten<br />
Kontrollüberzeugungen im Bezug auf das Selbst (<strong>Self</strong>-Beliefs), die Erwartungen<br />
(expectations), die Umwelt und die Aufgabe. Außer<strong>de</strong>m haben die Erfahrungen <strong>and</strong>erer über<br />
bestimmte Vergleichsprozesse Einfluss auf die interne Kontrollüberzeugung.<br />
Wichtig für mein Beispiel ist außer<strong>de</strong>m, dass Abele (ebd.) betont, dass Menschen mehr als<br />
nur eine einzige generalisierte Kontrollüberzeugung haben können (z.B. für verschie<strong>de</strong>ne<br />
Bereiche wie Selbstsorge, Gesundheit, Interpersonales, Intellektuelles, Verhalten, etc.). Das<br />
ist in meinem Kontext wichtig, da ich im folgen<strong>de</strong>n Julias Kontrollüberzeugung nur bezüglich<br />
<strong>de</strong>r normativen Aufgabe - nach <strong>de</strong>m Abitur zieht man von zu Hause aus – untersuchen will<br />
und keine Aussage über <strong>and</strong>ere Dimensionen ihres Lebens machen will. Außer<strong>de</strong>m beziehe<br />
ich lediglich <strong>de</strong>n ersten Teil von Abeles Mo<strong>de</strong>ll in meine Überlegungen ein, da dieser<br />
hinreichend ist, um die Gefahren normativen Drucks auf die Psyche von Julia zu<br />
veranschaulichen.
15<br />
Cultural Beliefs:<br />
In Zeitungen, Zeitschriften und<br />
Jugendmagazinen ist immer wie<strong>de</strong>r die Re<strong>de</strong><br />
von Unabhängigkeit, gemeint ist damit eine<br />
rein lokale Unabhängigkeit von <strong>de</strong>n Eltern. Die<br />
finanzielle Abhängigkeit wird seltener<br />
thematisiert. Generell müssen sich junge<br />
Erwachsene, die aus unterschiedlichsten<br />
Grün<strong>de</strong>n noch zu Hause wohnen, zum Teil<br />
Beschimpfungen („Nesthocker“, „Blutsauger“,<br />
„Mama-Sohn“) gefallen lassen. Es scheint ein<br />
durch die Presse und Psychologie geprägtes<br />
Kulturi<strong>de</strong>al von Selbstständigkeit zu geben,<br />
dass ich jetzt einmal unter <strong>de</strong>n Begriff:<br />
Cultural Belief subsumiere.<br />
Personal & Vicarious Experience:<br />
Sie hat bei einigen ihrer Freundinnen erlebt,<br />
wie einsam sich diese nach <strong>de</strong>m Ausziehen<br />
zum Teil gefühlt haben, sie sieht und hört aber<br />
auch viel über die unglaublichen Freiheiten<br />
und Selbstbestimmungsrechte <strong>de</strong>r einzelnen.<br />
Zu<strong>de</strong>m liegt ihr Caro ständig mit ihrer<br />
finanziellen Misere im Ohr.<br />
Personality:<br />
Meine Julia zeichnet sich durch Fleiß und<br />
Schüchternheit aus. Sie muss hart arbeiten, um<br />
Leistungen zu erbringen. Außer<strong>de</strong>m legt sie<br />
viel Wert auf die Meinung ihrer Freun<strong>de</strong> und<br />
ist überzeugt, dass diese die Welt viel besser<br />
verstün<strong>de</strong>n als sie. Sie hat also auch eine<br />
leichte Selbstwertproblematik.<br />
<strong>Self</strong>-Beliefs:<br />
Julia traut sich nicht allein<br />
zu wohnen, sowohl aus<br />
finanziellen als auch<br />
emotionalen Grün<strong>de</strong>n.<br />
Beliefs about the Causal<br />
Nature of the Environment:<br />
Julia ist davon überzeugt, dass<br />
es eine kontingente, dauerhafte<br />
Erwartung ihres Umfel<strong>de</strong>s ist,<br />
dass sie ausziehen soll.<br />
Attributional <strong>and</strong> Evaluative Processes:<br />
Julia attribuiert: internal („Ich habe nicht die<br />
Fähigkeit auszuziehen.“), Stabil („Ich wer<strong>de</strong> nie in<br />
<strong>de</strong>r Lage dazu sein.“). Zu<strong>de</strong>m attribuiert sie global<br />
(„Ich versage in allen Bereichen und bin nirgendwo<br />
unabhängig.“)<br />
Abbildung 5: Teilaspekt <strong>de</strong>r „Sense of Control“-Forschung,, Hannah Uhle nach Abeles (ebd.)
16<br />
Dieser Ausschnitt mag reichen, <strong>de</strong>utlich zu machen, dass normativer Druck durch kulturelle<br />
Normen (Cultural Beliefs) und persönliche Erfahrungen (Personal experience) im<br />
Freun<strong>de</strong>skreis zu Depressionen führen kann. Dabei beziehe ich mich auf Untersuchungen von<br />
Abramson, Seligman und Teasdale (1978, zitiert nach Davison & Neale, 2002), die belegen,<br />
dass die Art <strong>de</strong>r Misserfolgsattribution – wie ich sie Julia fiktiv unterstellt habe – negative<br />
Konsequenzen im Sinne von Depressionen und Selbstwertschwäche haben kann. Bei<br />
globalen Attributionen („Ich bin nirgendwo unabhängig.“) verallgemeinern sich auch die<br />
Auswirkungen <strong>de</strong>s Versagens. Attributionen auf stabile Faktoren („Ich wer<strong>de</strong> nie in <strong>de</strong>r Lage<br />
dazu sein.“) machen Versagensgefühle dauerhaft. Wird <strong>de</strong>r Misserfolg auf innere<br />
Eigenschaften attribuiert („Ich habe nicht die Fähigkeiten auszuziehen.“), sinkt das<br />
Selbstwertgefühl – beson<strong>de</strong>rs wenn solche persönlichen Fehler auch als global und dauerhaft<br />
wahrgenommen wer<strong>de</strong>n. Davison und Neale (2002) sagen, dass Menschen <strong>de</strong>pressiv wer<strong>de</strong>n,<br />
wenn sie erwünschte Ziele für unerreichbar o<strong>de</strong>r negative Ereignisse für unvermeidbar halten.<br />
Ob darüber auch das Selbstwertgefühl zusammenbreche, hänge davon ab, ob das Ereignis <strong>de</strong>r<br />
eigenen Unzulänglichkeit angelastet wer<strong>de</strong>. Es wäre also theoretisch möglich, dass <strong>de</strong>r<br />
normative Druck, <strong>de</strong>m Julia ausgesetzt ist, negative Konsequenzen für ihre interne<br />
Kontrollüberzeugung und ihr Wohlbefin<strong>de</strong>n haben kann.<br />
Ein mögliches Fazit aus <strong>de</strong>n vorangestellten Überlegungen zu interner Kontrollüberzeugung<br />
könnte sein, dass kulturelle Überzeugungen Attributions- und Evaluationsprozesse <strong>de</strong>s<br />
Individuums beeinflussen und gemeinsam mit <strong>de</strong>n Überzeugungen über das eigene Selbst<br />
sowie <strong>de</strong>r Kontingenz von Erwartungen durch das soziale Umfeld Versagensgefühle<br />
hervorrufen bzw. bereits existieren<strong>de</strong> verfestigen können.<br />
Ausblick und Schlußfolgerung<br />
Meine Ausführungen zeigen mögliche Auswirkungen normativen Druckes auf das<br />
Individuum und belegen zumin<strong>de</strong>st ansatzweise, dass die Nichterfüllung normativer<br />
Lebensaufgaben zu einem gesellschaftlichen Druck auf das Individuum führen kann. Die<br />
These, dass äußere Faktoren unberücksichtigt bleiben und statt<strong>de</strong>ssen individuelles Versagen<br />
betont wird, ist schwierig zu belegen. Selbst in meinem Beispiel fin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Vorwurf <strong>de</strong>s<br />
Versagens auf einer impliziten Ebene statt, die we<strong>de</strong>r sprachlich noch empirisch <strong>de</strong>utlich<br />
fassbar ist. Hier wäre es möglich und nötig, Metho<strong>de</strong>n zu entwickeln, um implizite Vorwürfe<br />
zu erheben.
17<br />
Die These, dass ein Ungleichgewicht zwischen impliziten und expliziten Zielen beim<br />
Individuum zu Unzufrie<strong>de</strong>nheit führen kann, ist empirisch durch Brunstein et al. (1999) ganz<br />
gut abgesichert.<br />
Weitere Aspekte meiner Arbeit sind aber nur teilweise empirisch gesichert und<br />
berücksichtigen nur Teilaspekte. Es ist beispielsweise anzunehmen, dass neben <strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n<br />
und <strong>de</strong>r Familie auch Faktoren wie individuelle Persönlichkeit, äußere Umstän<strong>de</strong> wie<br />
Freun<strong>de</strong>swahl, soziale Schicht, sozioökonomischer Status, Geschlecht usw. eine zentrale<br />
Rolle bei <strong>de</strong>r Stärke und Richtung <strong>de</strong>s Einflusses von normativem Druck auf das Individuum<br />
spielen. Sie kommen in <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit zu kurz.<br />
Außer<strong>de</strong>m fehlt die empirische Basis für meine These, dass die öffentlichen Medien und die<br />
mo<strong>de</strong>rne Psychologie ebenfalls einen Gesellschaftsdruck darstellen wür<strong>de</strong>n. Ich habe diese<br />
Hypothese aus persönlicher Zeitungslektüre entnommen. Um evi<strong>de</strong>nzbasiert damit arbeiten zu<br />
können, müsste ein In<strong>de</strong>x aller negativ getönter Meldungen bezüglich junger Erwachsener,<br />
die nach <strong>de</strong>m Abitur noch zu Hause wohnen, erstellt wer<strong>de</strong>n. Zu<strong>de</strong>m müsste an einer<br />
repräsentativen Stichprobe erhoben wer<strong>de</strong>n, ob es eine negative Grundstimmung zum Thema<br />
„Nesthocker“ gibt.<br />
Ich habe meine Hypothesen anh<strong>and</strong> eines Beispieles veranschaulicht. Das hat <strong>de</strong>n großen<br />
Vorteil, dass die abstrakten Theorien anschaulich wer<strong>de</strong>n. Allerdings lässt sich aus<br />
Kasuistiken, beson<strong>de</strong>rs solchen, die selbst generiert sind, kein allgemeiner Beweis<br />
konstruieren. Um die Auswirkungen von sozialem Druck durch Freun<strong>de</strong> auf Stu<strong>de</strong>ntinnen zu<br />
untersuchen, müsste man Stu<strong>de</strong>nten zunächst einen Fragebogen zu ihrer Art <strong>de</strong>r Attribution<br />
vorlegen, um dann im Anschluss Depressionsparameter (BDI, ADS, etc.) zu erheben. Es ist<br />
anzunehmen, das hierbei <strong>de</strong>utlich wür<strong>de</strong>, dass <strong>de</strong>r soziale Druck nur einer unter vielen<br />
Faktoren ist, wie ich oben bereits anführte, und dass die meisten Stu<strong>de</strong>nten<br />
Ausgleichsmöglichkeiten aus <strong>and</strong>eren Bereichen für ihre internen Kontrollüberzeugungen<br />
haben, wie Abeles (1991, zitiert nach Fung, Ableles, Carstensen, 1999) schon erwähnte.
18<br />
Literaturverzeichnis<br />
Brunstein, J.C., Schultheiss, O. C. & Maier, G. W., The Pursuit Of Personal Goals.<br />
A Motivational Approach to Well-Being <strong>and</strong> Life Adjustment.<br />
Br<strong>and</strong>tstätter, J. & Lerner, R.M. (Eds.) (1999). <strong>Action</strong> <strong>and</strong> <strong>Self</strong>-Development.<br />
Theory Research Through the Life Span. Thous<strong>and</strong> Oaks: Sage Publications<br />
(pp. 169-196)<br />
Dannefer, D., Freedom Isn’t Free. Power, Alienation, <strong>and</strong> the Consequences of <strong>Action</strong>.<br />
Br<strong>and</strong>tstätter, J. & Lerner, R.M. (Eds.) (1999). <strong>Action</strong> <strong>and</strong> <strong>Self</strong>-Development.<br />
Theory Research Through the Life Span. Thous<strong>and</strong> Oaks: Sage Publications<br />
(pp. 105-129)<br />
Davison, G. C. & Neale, J. M. (2002). Klinische Psychologie. Ein Lehrbuch. Beltz PVU<br />
Fung, H. H., Abeles, R. P. & Carstensen, L. L., Psychological Control In Later Life.<br />
Implications for Life-Span Development.<br />
Br<strong>and</strong>tstätter, J. & Lerner, R.M. (Eds.) (1999). <strong>Action</strong> <strong>and</strong> <strong>Self</strong>-Development.<br />
Theory Research Through the Life Span. Thous<strong>and</strong> Oaks: Sage Publications<br />
(pp. 345-372)