Welche Bedeutung haben Entwicklungstheorien ... - Hannahdenker.de
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Vertiefungsseminar Entwicklungspsychologie<br />
Dozentin: Frau Tettenborn<br />
Datum: 15. März 2001<br />
Entwicklungspsychologische Theorie<br />
als Grundvoraussetzung für die Berufspraxis<br />
vorgelegt von:<br />
Hannah Uhle<br />
Wentorfer Str. 63<br />
21029 Hamburg
Inhaltsverzeichnis<br />
1 Einleitung................................................................................................................................1<br />
2 Generelle Anwendungsmöglichkeiten von <strong>Entwicklungstheorien</strong>.........................................2<br />
3 Spezielle Anwendungsgebiete <strong>de</strong>r kognitiven Entwicklungstheorie......................................7<br />
4 Spezielle Anwendungen von Piagets sensumotorischer Phase in <strong>de</strong>r Ratgeberliteratur......12<br />
4.1 Die sensumotorische Phase in <strong>de</strong>r Ratgeberliteratur ROSSMANNS.............................12<br />
4.2 Die sensumotorische Phase in <strong>de</strong>r Ratgeberliteratur LÉCUYERS.................................14<br />
4.3 Die sensumotorische Phase in <strong>de</strong>r Ratgeberliteratur SCHENK-DANZINGER.............16<br />
4.4 Die sensumotorische Phase in <strong>de</strong>r Ratgeberliteratur KIPHARDS..................................19<br />
5 Piagets Leistungen für die Entwicklungstheorie...................................................................24<br />
6 Schlußwort.............................................................................................................................26
1 Einleitung<br />
Inhalt <strong>de</strong>s Vertiefungsseminar Entwicklungspsychologie im Sommersemster 2000 (Dr.<br />
Tettenborn) war die Thematisierung <strong>de</strong>r „kognitiven, motivationalen und emotionalen<br />
Entwicklung in <strong>de</strong>r frühen Kindheit und im Vorschulalter“, so <strong>de</strong>r Titel <strong>de</strong>s Aufsatzes von<br />
DORIS BISCHOF-KÖHLER (1998), <strong>de</strong>r als Grundlage <strong>de</strong>s Seminars verwen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>.<br />
Diese Autorin folgt <strong>de</strong>r These, dass die drei phylogenetischen Niveaus<br />
• instinktive vorrationale Verhaltenssteuerung,<br />
• mentale Simulation von Problemlösungen und<br />
• rationale Handlungsplanung<br />
sich in <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>sentwicklung <strong>de</strong>r ersten fünf Jahren wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n. In diesem Kontext hat sie<br />
sich theoretisch mit <strong>de</strong>r sensumotorischen Phase nach PIAGET, also <strong>de</strong>r vorrationalen<br />
Verhaltenssteuerung und <strong>de</strong>r rationale Handlungsplanung, mit <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s<br />
Zeitverständnisses und metakognitiven Fähigkeiten (Theory of Mind) beschäftigt. Dabei<br />
bleibt BISCHOF-KÖHLER lediglich auf <strong>de</strong>r Stufe <strong>de</strong>r theoretischen Interpretation von<br />
kindlichem Verhalten, sie gibt keine praktischen Hinweise, wie beispielsweise die Frem<strong>de</strong>no<strong>de</strong>r<br />
Trennungsangst von 8 Monate alten Kin<strong>de</strong>rn überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann o<strong>de</strong>r welche<br />
erzieherischen Maßnahmen ergriffen wer<strong>de</strong>n sollten, wenn sich Kin<strong>de</strong>r beim Frem<strong>de</strong>n-<br />
Situations-Test als unsicher-vermei<strong>de</strong>nd o<strong>de</strong>r unsicher-ambivalent herausstellen. Diesen<br />
Anspruch erhebt sie aber auch gar nicht. Sie möchte, so scheint es, nur Mo<strong>de</strong>lle anbieten, die<br />
möglicherweise typisch kleinkindliches Verhalten erklären könnten.<br />
Dieses Anliegen <strong>de</strong>r Autorin wur<strong>de</strong> im Seminar von <strong>de</strong>n Teilnehmern problematisiert:<br />
Was bringen solche Mo<strong>de</strong>lle? Haben sie Folgen für Pädagogik, Praxis und Eltern? Waren<br />
Fragestellungen von Kommilitoninnen, die eher negativ beantwortet wur<strong>de</strong>n. Ich vertrete in<br />
meiner vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit die These, dass sie durchaus Relevanz für die Praxis <strong>haben</strong>. Sie<br />
befassen sich nämlich mit Fragen, die die Menschheit schon seit Jahrhun<strong>de</strong>rten beschäftigen:<br />
Was ist von Geburt an da? Was ist universell gültig? Was ist normal und was weicht von <strong>de</strong>r<br />
Norm ab? Was muß ein Kind schon können, um ein autonomes Wesen zu wer<strong>de</strong>n? Genau<br />
dies sucht <strong>de</strong>r Grundlagentext <strong>de</strong>s Seminars zu beantworten, in<strong>de</strong>m er beschreibt, was ein<br />
Kleinkind schon kann und was es erst lernen muß. Damit hilft er zu verstehen, warum je<strong>de</strong>s<br />
Kind beispielsweise eine Trotzphase durchmachen muss und dass dies vollkommen natürlich<br />
ist und keine Störung vorliegt.<br />
1
Dies wie<strong>de</strong>rum ist für Eltern hilfreich, wenn sie Umgang mit ihren Kin<strong>de</strong>rn <strong>haben</strong>. Aber mit<br />
solcher These ist nicht spezifiziert, worin solche „Hilfe“ eigentlich besteht. Vielleicht war<br />
dies <strong>de</strong>r Grund für die Kritrik <strong>de</strong>r Seminarteilnehmer an <strong>de</strong>r mangeln<strong>de</strong>n Praxisrelevanz <strong>de</strong>s<br />
Textes. Um genauer <strong>de</strong>r Frage nachzugehen, worin die „Hilfe“ <strong>de</strong>s Grundlagentextes von<br />
DORIS BISCHOF-KÖHLER für praktisches Han<strong>de</strong>ln vom Erwachsenen gegenüber Kin<strong>de</strong>rn<br />
besteht, möchte ich am Beispiel <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Autorin zitierten Entwicklungstheorie PIAGETS,<br />
genauer seiner Bestimmung <strong>de</strong>r sensumotorischen Phase, zu ver<strong>de</strong>utlichen versuchen, worin<br />
mögliche Praxishilfen bestehen.<br />
Dazu wer<strong>de</strong> ich<br />
1. fragen, welche Praxishilfen generell von Entwicklungspsychologie als einer<br />
Forschungsdisziplin versprochen wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m ich anhand von OERTER/<br />
MONTADA (1995) entsprechen<strong>de</strong> allgemeine Anwendungsbeispiele vorstelle,<br />
2. die Entwicklungstheorie PIAGETS und speziell seine Bestimmung <strong>de</strong>r<br />
sensumotorische Phase darstelle, um dann<br />
3. die speziellen Anwendungen von <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong>n Phasenbestimmung PIAGETS in<br />
<strong>de</strong>r Ratgeberliteratur zu suchen.<br />
Die Absicht meiner Arbeit ist es, einerseits <strong>de</strong>m Votum von <strong>de</strong>r „Praxisferne“ kognitiver<br />
<strong>Entwicklungstheorien</strong> entgegen zu treten und an<strong>de</strong>rseits verständlich zu machen, warum und<br />
in welchen Punkten doch dieses „Vorurteil“ zu Recht besteht.<br />
2 Generelle Anwendungsmöglichkeiten von <strong>Entwicklungstheorien</strong><br />
An wissenschaftlich-psychologische Theorien wur<strong>de</strong>n schon immer – so lese ich bei<br />
SCHÖNPFLUG/ SCHÖNPFLUG (1989, S. 27) - unterschiedliche Anfor<strong>de</strong>rungen gestellt,<br />
vor allem was <strong>de</strong>mn Zusammenhang zwischen Theorie und Beobachtungsdaten betrifft. So<br />
wer<strong>de</strong>n MORITZ SCHLICK (1918) und RUDOLF CARNAP (1932) als Vertreter eines sog.<br />
„positivistischen“ Standpunktes vorgestellt mit <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung, dass Theorien sehr eng an<br />
beobachtbaren, empirisch erfaßbaren Fakten anlehnen, was ihre konkrete Anwendung<br />
erleichtern wür<strong>de</strong>.<br />
An<strong>de</strong>re Autoren dagegen sehen in „empiriefernen“ Theorien wie grundlegen<strong>de</strong>n<br />
philosophischen Weltkonzeptionen, fachspezifischen theoretischen Richtungen sowie<br />
2
speziellen Theorien zu engen Problembereichen Möglichkeiten zur Lösung auch von<br />
praktischen Problemstellungen.<br />
Die Schwierigkeit besteht allerdings darin zu bestimmen, welche <strong>de</strong>r vielen Theorien zur<br />
Lösung einer bestimmten praktischen Frage geeignet ist.<br />
<strong>Entwicklungstheorien</strong> können als fachspezifische theoretische Richtungen mit speziellen<br />
Theorien im engeren Sinne verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, so dass sich hier das Problem <strong>de</strong>r Anwendung<br />
als Problem <strong>de</strong>r gesamten Richtung und als Problem von Einzelkonzeptionen hinsichtlich von<br />
Anwendungen zeigt.<br />
So betonen OERTER/ MONTADA (1995), dass <strong>Entwicklungstheorien</strong> generell in fast je<strong>de</strong>m<br />
Lebensbereich bewußt o<strong>de</strong>r unbewußt angewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Sie fin<strong>de</strong>n Eingang in die<br />
Hochbegabtenför<strong>de</strong>rung, die För<strong>de</strong>rung geistig Behin<strong>de</strong>rter und bei<br />
Sorgerechtsentscheidungen. Die <strong>Entwicklungstheorien</strong> <strong>haben</strong> hierbei eine<br />
Aufklärungsfunktion und sollen (er)klären, wie eine optimale Entwicklung <strong>de</strong>s Individums<br />
möglich ist. So sollen geistige, sensomotorische, soziale und motivationale Fähikeiten<br />
geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.<br />
Außer<strong>de</strong>m sollen <strong>Entwicklungstheorien</strong> eine Prävention vor Fehlentwicklungen ermöglichen.<br />
Dafür stehen u.a. Entwicklungstests mit prädikativer Validität (z.B. Schulreifestests). Sie<br />
sollen korrektive Interventionen ermöglichen. Beispielsweise sollen durch<br />
<strong>Entwicklungstheorien</strong> spezielle Tests entwickelt wer<strong>de</strong>n, an Hand <strong>de</strong>rer man Störungen<br />
feststellen kann. So sollen sog. Transitorische Störungen (Frem<strong>de</strong>nangst mit 8 Monaten,<br />
Trotzreaktionen mit 2 Jahren) als <strong>de</strong>r Norm entsprechend erkannt und nicht als Störung<br />
klassifiziert wer<strong>de</strong>n. Im Gegensatz dazu stehen die persistenten Störungen mit nachhaltigen<br />
Folgen auf <strong>de</strong>r für korrektive Intervention notwendigen roten Liste.<br />
Insgesamt sollen <strong>Entwicklungstheorien</strong> nach OERTER/ MONTADA einen Ist-Zustand<br />
zugunsten eines Soll- Zustan<strong>de</strong>s als fragwürdig erkenntlich machen. BISCHOF-KÖHLER hat<br />
beispielsweise die Folgen, die sich aus einem niedrigereren Ist-Wert im Vergleich zu einem<br />
höheren Soll-Wert (und umgekehrt) ergeben könnten, durchdacht. Anhand <strong>de</strong>s Züricher<br />
Mo<strong>de</strong>lles <strong>de</strong>r sozialen Motivation in Anlehnung an BOWLBYS Attachment Theorie hat sie<br />
<strong>de</strong>utlich gemacht, was solche Zustandsän<strong>de</strong>rungen für Folgen <strong>haben</strong> können. Liegt <strong>de</strong>r<br />
Istwert, d.h. die Geborgenheit o<strong>de</strong>r das Faszinieren<strong>de</strong>, unterhalb <strong>de</strong>s Sollwertes, so entstehe<br />
eine Appetenz und jeweils das Bestreben nach einer Sicherheitsregulation (Trennungsangst)<br />
3
o<strong>de</strong>r Erregungsregulation (Neugier). Umgekehrt entstehe eine Aversion: zuviel Vertrautheit<br />
führe <strong>de</strong>mnach zu Überdruß und Distanzierung, ein Übermaß an Erregung zu Flucht, Vorsicht<br />
und Furcht. Sie erklärt auch welche Möglichkeiten bereits kleine Kin<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Verarbeitung<br />
solcher traumatischen Lebensumstän<strong>de</strong> <strong>haben</strong>. Sie können über die Copingstrategien<br />
„Supplikation“ o<strong>de</strong>r „Aggression“ o<strong>de</strong>r sog. „Interne Akklimationen“ (Reduzierung <strong>de</strong>r<br />
Abhängigkeit und Heraufsetzung <strong>de</strong>r Unternehmungslust) einen Ausgleich schaffen. Solch<br />
eine Theorie hilft dann beispielsweise, um ein Erklärungsmo<strong>de</strong>ll für frühes aggressives<br />
Verhalten o<strong>de</strong>r frühe Unabhängigkeitsbestrebungen zu <strong>haben</strong>. Es macht auch <strong>de</strong>utlich, dass es<br />
nicht unbedingt ein Erziehungserfolg darstellt, wenn sich ein Kind frühzeitig von seiner<br />
Bezugsperson abwen<strong>de</strong>t, da es sich hierbei auch um eine Copingstrategie für fehlen<strong>de</strong><br />
Geborgenheit han<strong>de</strong>ln kann.<br />
Desweiteren ist für OERTER/ MONTADA wichtig, dass auch Bedingungen von Störungen,<br />
die in <strong>de</strong>r Person liegen, durch <strong>Entwicklungstheorien</strong> geklärt wer<strong>de</strong>n. Es soll also auch eine<br />
Bedingungsanalyse möglich wer<strong>de</strong>n, um Anfor<strong>de</strong>rungen, Angebote und Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Vermittlung zu benennen, die <strong>de</strong>m Entwicklungsstand angemessen sein sollen.<br />
<strong>Entwicklungstheorien</strong> müssen <strong>de</strong>mgemäß sensible Perio<strong>de</strong>n aufzeigen, beispielsweise wann<br />
eine erhöhte Empfänglichkeit für Lernangebote besteht. Unter Verweis auf LENNEBERG<br />
sehen sie beispielsweise <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>r Sprachbereitschaft als ein Stadium, das mit ca. 2<br />
Jahren beginnt und in <strong>de</strong>r Pubertät, mit Abschluß <strong>de</strong>s zerebralen Wachstums, aufhört. Das ist<br />
die sog. „kritische Perio<strong>de</strong>“ <strong>de</strong>r Sprachentwicklung. Während dieser „kritischen Perio<strong>de</strong>“<br />
erfolgt <strong>de</strong>r Spracherwerb gemäß LENNEBERG und SZAGUN (1986) spontan und mühelos.<br />
Anwendung psychologischer <strong>Entwicklungstheorien</strong> heißt hier, dass For<strong>de</strong>rungen nach<br />
entwicklungspassen<strong>de</strong>n Sprachför<strong>de</strong>rungen aufgestellt wer<strong>de</strong>n können.<br />
Im OERTER/ MONTADA wird jedoch davor gewarnt, zu hohe Erwartungen an<br />
Entwicklungs- und Störungsprognosen zu stellen. Trotz<strong>de</strong>m <strong>haben</strong> solche Prognosen auch<br />
Handlungskonsequenzen. Sie <strong>haben</strong> Einfluß auf die schulische o<strong>de</strong>r berufliche Laufbahnwahl,<br />
sie sorgen für präventive Maßnahmen bei drohen<strong>de</strong>r Fehlentwicklung, sie entschei<strong>de</strong>n mit<br />
über Versetzung o<strong>de</strong>r Nichtversetzung. Die Warnung OERTER/ MONTADAS beruht darauf,<br />
dass Prognosen auf Entwicklungskurven, Entwicklungsepi<strong>de</strong>miologien von Störungen (z.B.<br />
Delinquenz im Jugendalter) und Beschreibungen von Entwicklungsaufgaben und kritischen<br />
Übergängen im Lebenslauf (z.B. I<strong>de</strong>ntitätsfindung im Jugendalter) beruhen. Die<br />
Informationen über altersspezifische Störungen und Probleme, die solche Prognosen liefern,<br />
4
sind die Basis für generelle Erwartungen von Entwicklungen und legen damit ein Fundament<br />
für klassische Erziehungsnormen. OERTER/ MONTADA warnen <strong>de</strong>shalb, sie seien mit<br />
Vorsicht anzuwen<strong>de</strong>n, da nicht alle Entwicklungsbedingungen bekannt seien, zukünftige<br />
Bedingungen unklar blieben und eine Entwicklung nicht unbedingt gesetzmäßigen<br />
Bedingungen folge.<br />
Die Kritik richtet sich vor allem auf Generalisierungen. Merkmale, die beispielsweise in <strong>de</strong>n<br />
ersten zwei Lebensjahren gemessen wer<strong>de</strong>n, lassen kaum Prognosen für die spätere<br />
Entwicklung zu. Lediglich in bezug auf einige Temperamentsvariablen wie Irritierbarkeit,<br />
Reizbarkeit, biologische Rhythmen (THOMAS und CHESS, 1977) und die Qualität <strong>de</strong>r<br />
Bindung (LEWIS et al, 1984) sind gewisse Kontinuitäten berichtet wor<strong>de</strong>n. Die bei<strong>de</strong>n ersten<br />
Lebensjahre stellen <strong>de</strong>mnach keine beson<strong>de</strong>rs sensiblen o<strong>de</strong>r „kritischen“ Perio<strong>de</strong>n dar. Erst<br />
vom Grundschulalter an sind über längere Zeiträume halbwegs treffsichere Prognosen<br />
möglich. Dabei sind Leistungsvariablen normalerweise besser vorherzusagen als<br />
Persönlichkeitsvariablen (BLOOM, 1973). Intellektuelle Hochbegabung ist zum Beispiel vom<br />
10. Lebensjahr an relativ stabil (TERMAN und ODEN, 1959) – so die Autoren.<br />
Desweiteren berichten OERTER/ MONTADA, dass aufgrund hoher Diskontinuitäten die<br />
Daten keine präzise individuelle Prognose erlauben. Selten ist über einen Zeitraum von 5 bis<br />
10 Jahren mehr als 25% bis 35% <strong>de</strong>r Varianz auch durch eine Kombination von Prädikatoren<br />
gebun<strong>de</strong>n, was für <strong>de</strong>n Einzelfall ein hohes Irrtumsrisiko be<strong>de</strong>ute. Interaktionen zwischen<br />
Milieu, Geschlecht, Alter, etc. sind immer möglich. Ohne empirischen Nachweis dürfe<br />
<strong>de</strong>shalb nicht generalisiert wer<strong>de</strong>n. Ein Beispiel für <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>r Schicht auf Tests ist ein<br />
suboptimaler APGAR-In<strong>de</strong>x, benannt nach <strong>de</strong>r Ärztin Virginia Apgar, sie zeigt, dass ein Wert<br />
unter drei Punkten bezüglich Hautfarbe, Atmung und Herzschlag, 10 Minuten nach <strong>de</strong>r<br />
Geburt gemessen, für die Prognose von Entwicklungsstörungen prädikativ ist, aber nur für<br />
Kin<strong>de</strong>r aus Unterschichtsfamilien, nicht für Mittelschichtfamillien, die offenbar in <strong>de</strong>r Lage<br />
sind, die bei <strong>de</strong>r Geburt bestehen<strong>de</strong>n Störungen und Risiken im Verlauf <strong>de</strong>r Entwicklung zu<br />
kompensieren, so zitieren OERTER/ MONTADA BREITMEYER UND RAMEY (1986).<br />
Ein weiteres Beispiel, diesmal für <strong>de</strong>n Einfluß von biologischen Faktoren, ist <strong>de</strong>r IQ. Bei<br />
normalen, gesun<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn ist die spätere Intelligenzleistung nicht aus entsprechen<strong>de</strong>n<br />
Messungen während <strong>de</strong>r ersten 18 bis 24 Lebensmonaten vorauszusagen. Die Stabilität dieses<br />
Merkmals ist bei <strong>de</strong>n verwen<strong>de</strong>ten Messmetho<strong>de</strong>n gering. Demgegenüber ist die Stabilität in<br />
<strong>de</strong>r Population hirngeschädigter Kin<strong>de</strong>r wesentlich größer und die in <strong>de</strong>n ersten<br />
5
Lebensmonaten gemessene Leistungsfähigkeit ist ein guter Prädiktor für die spätere<br />
Leistungsfähigkeit, wie die Autoren MCCALL, APPELBAUM und HOGARTY (1973)<br />
zitieren.<br />
Theorien und Forschungsergebnisse beeinflussen so auf vielfältige Weise Wert – o<strong>de</strong>r<br />
Zielentscheidungen. Altersverlaufsbeschreibungen und Altersnormen liefern nach OERTER/<br />
MONTADA Bezugspunkte für die Beurteilung <strong>de</strong>s erreichten Entwicklungsstan<strong>de</strong>s sowie<br />
Klassifikationen eines Verhaltens o<strong>de</strong>r Merkmals als nicht altersgemäß (z.B. Strafrecht,<br />
Wahlrecht, Zivilrecht, Jugendschutzgesetz, Familienrecht, Arbeitsrecht, Schulrecht, etc.).<br />
Theorien geben folglich Orientierungshilfen. Entwicklungstests erlauben die Registrierung<br />
<strong>de</strong>s individuellen Entwicklungsstan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r bewertet wird: Entwicklungssequenzen mit<br />
Stadien <strong>de</strong>r Reife wer<strong>de</strong>n als naturgegebene Ziele gewertet (z.B. <strong>de</strong>r Aufbau eines rationalen<br />
im Gegensatz zu einem magischen Weltbild, operatorisches statt voroperatorischem Denken).<br />
Solche Wertsetzungen können nicht zwingend aus beschreiben<strong>de</strong>n Untersuchungen begrün<strong>de</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n. <strong>Entwicklungstheorien</strong> sollen allerdings Begründungen für Maßnahmen und<br />
Entscheidungen liefern, um beispielsweise <strong>de</strong>n richtigen Zeitpunkt für eine Intervention<br />
bestimmen zu können. Soll man präventiv o<strong>de</strong>r korrektiv eingreifen? Die Frage ist gar nicht<br />
so leicht zu beantworten, wie es auf <strong>de</strong>n ersten Blick erscheinen mag. Man <strong>de</strong>nkt schließlich<br />
lieber präventiv als korrektiv, aber das ist letztendlich aufgrund <strong>de</strong>r problematischen<br />
Prognosesicherheit u.U. teurer als eine günstige spätere Korrektur. Nach OERTER/<br />
MONTADA kann Wissen über lebensalterspezifische Stabilisierungen von Merkmalen,<br />
Kompetenzen und Störungen für die Entscheidung <strong>de</strong>s Interventionszeitpunktes be<strong>de</strong>utsam<br />
sein (zum Beispiel sollte vorher interveniert wer<strong>de</strong>n, wenn es für langfristige Stabilisierungen<br />
von Störungen sensible o<strong>de</strong>r „kritische“ Perio<strong>de</strong>n gibt.) Entstehungsbedingungen seien nicht<br />
mehr rückgängig zu machen, Stabilitätsbedingungen schon. Detaillierte<br />
entwicklungspsychologische Sequenzbeschreibungen (Entwicklungstestreihen,<br />
Beschreibungen von Stufenfolgen) lieferten Informationen über mutmaßlich angemessene<br />
Sequentierungen von Entwicklungsanfor<strong>de</strong>rungen und –angeboten. Kognitive, sprachliche,<br />
motorische und moralische För<strong>de</strong>rprogramme hätten sich diese Sequenzbeschreibungen<br />
zunutze gemacht.<br />
Aber festzuhalten ist, dass Bezüge zwischen Theoriebildung, Forschung und<br />
Anwendungspraxis aus vielerlei Grün<strong>de</strong>n problematisch sind. Theorien sind durch<br />
empirische Forschung oft nicht zweifelsfrei bestätigt o<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rlegt. Zweifel an <strong>de</strong>n Theorien<br />
6
und/o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Daten sind daher zulässig. Die experimentelle Kin<strong>de</strong>rpsychologie ist zu einem<br />
großen Teil als Simulation von Entwicklungsbedingungen gedacht. Sie hat beispielsweise<br />
Kritik auf sich gezogen, weil sie ökologisch nicht vali<strong>de</strong> sei. Komplexe Wechselwirkungen<br />
zwischen <strong>de</strong>m menschlichen Organismus einerseits und einer sich ständig wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n und<br />
historisch einmaligen Umwelt an<strong>de</strong>rerseits sind in Laborsituationen nicht zu simulieren.<br />
Außer<strong>de</strong>m bieten empirische Befun<strong>de</strong> immer einen Interpretationsspielraum nach <strong>de</strong>r<br />
jeweiligen theoretischen Überzeugung. Der Geltungsbereich von Theorien und Gesetzen ist<br />
grundsätzlich nicht vollständig bekannt. Praktiker müssen immer zusätzlich<br />
Verallgemeinerungen vornehmen und gehen damit ein hohes Irrtumsrisiko ein. Ihnen bleibt<br />
lediglich das „Probieren“, um das Verhältnis von Theorie und Praxis zu klären. Praktiker sind<br />
Problemlöser, die ihr Repertoire durch die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit theoretischen<br />
Gesetzesaussagen und <strong>de</strong>n zugeordneten Forschungen ständig erweitern können. Die<br />
Theoriebildung zielt auf Erkenntnisse über Zusammenhänge zwischen Variablen. In <strong>de</strong>r<br />
Praxis fragt man sich hingegen hingegen, welche Variablen man wie kontrollieren kann.<br />
Zwischen Theorie und Praxis besteht also ein gewisser Abstand, um die verschie<strong>de</strong>nen Ziele<br />
zu verfolgen. <strong>Entwicklungstheorien</strong> sind nicht ohne Problematisierungen und Unsicherheit<br />
auf die Praxis zu übertragen.<br />
3 Spezielle Anwendungsgebiete <strong>de</strong>r kognitiven Entwicklungstheorie<br />
Die allgemeinen Schwierigkeiten <strong>de</strong>r Übertragung generellen<br />
entwicklungspsychologischen Denkens auf praktisches Han<strong>de</strong>ln gelten auch und vielleicht<br />
sogar insbeson<strong>de</strong>rs für spezielle entwicklungspsychologische Theorien. Denn diese<br />
speziellen Theorien stellen Überlegungen meist eines Autors dar, <strong>de</strong>r häufig wegen<br />
„Einseitigkeit“ kritisiert wird. Dies gilt vor allem für sogenannte „Klassiker“ von<br />
Denkrichtungen, wie dies bei PIAGET als <strong>de</strong>m „Vater“ kognitiver<br />
Entwicklungspsychologie <strong>de</strong>r Fall ist. Er hat eine Forschungsrichtung angestoßen, die sich<br />
seit Beginn ausdifferenziert hat und in <strong>de</strong>r seine Theoreme rezipiert, aber auch kritisiert<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Im folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong> ich seine Konzeption von „Stadien“ menschlicher Entwicklung und<br />
speziell sein erstes Stadium vorstellen, um zu zeigen, wie und warum dieses Stadium<br />
Eingang in praktische Handlungskontexte gefun<strong>de</strong>n hat.<br />
7
OERTER/ MONTADA gehen auf die geistige Entwicklung aus <strong>de</strong>r Sicht PIAGETS in<br />
ihrem Kapitel „Entwicklung <strong>de</strong>r Wahrnehmnung und Psychomotorik“ genauer ein.<br />
PIAGET, so OERTER/ MONTADA, hoffe mit <strong>de</strong>r Beschreibung und Erklärung <strong>de</strong>r<br />
Entwicklung von Geist einen Einblick in die Entwicklung von <strong>de</strong>ssen Struktur, <strong>de</strong>ssen<br />
Leistungen und <strong>de</strong>ssen Funktionierens zu bekommen. PIAGET sei in <strong>de</strong>r kognitiven<br />
Entwicklungspsychologie eine „monumentale Gestalt“. PIAGET untersschei<strong>de</strong>t vier<br />
Haupstadien <strong>de</strong>r geistigen Entwicklung, die von OERTER/ MONTADA (1995, S. 519)<br />
und COHEN (1997; S. 228f) wie folgt skizziert wer<strong>de</strong>n. Aufgrund <strong>de</strong>r<br />
Themenakzentuierung lege ich <strong>de</strong>n Schwerpunkt auf die erste Entwicklungsstufe.<br />
1) Entwicklung von sensumotorischen Funktionen und Darstellungsfunktionen:<br />
PIAGET unterschei<strong>de</strong>t hierbei 6 Stufen:<br />
1. Stufe: (erster Monat) Übung angeborener Reflexmechanismen (z.B. Saug-,<br />
Greif-, Schluckreflexe usw.) Der Säugling könne Dinge anschauen, neue Reize<br />
von gewohnten unterschei<strong>de</strong>n, Geräuschen lauschen, lächeln, sich zu- und<br />
abwen<strong>de</strong>n usw. Das angeborene Verhaltensrepertoire wer<strong>de</strong> auf dieser ersten<br />
Stufe geübt. Üben führe zur Konsolidierung <strong>de</strong>r gegebenen Schemata und zu<br />
<strong>de</strong>ren Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten, also bereits zu ihrer<br />
Differenzierung. Das Saugen an <strong>de</strong>r Mutterbrust ist etwas an<strong>de</strong>res als das<br />
Saugen an <strong>de</strong>r Flasche und am Daumen, das Saugen zur Nahrungsaufnahme ist<br />
zu unterschei<strong>de</strong>n vom spielerischen Saugen usw.“ (Oerter/ Montada, 1995,<br />
S.520) Unter Schemata versteht Piaget Abstraktionen und kategorisieren<strong>de</strong><br />
Zusammenfassung von Handlungen. Zum Beispiel variiere je<strong>de</strong><br />
sensumotorische Handlung je nach Gegenstand und Körperlage, je nach<br />
Situation. Die Welt <strong>de</strong>s kleinen Säuglings, <strong>de</strong>r noch nicht greifen kann, bestehe<br />
noch nicht aus einer einheitlichen Welt mit konkreten Gegenstän<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn<br />
aus interessanten Sinneseindrücken, die das Resultat seiner eigenen<br />
Handlungen sind. Speziell an diesem Punkt gilt Piaget allerdings durch die<br />
neueste Kin<strong>de</strong>rforschung als überholt – so OERTER/ MONTADA.<br />
2. Stufe: (ein bis vier Monate) Primäre Kreisreaktion: Eine Handlung die zu<br />
einem angenehmen Ergebnis geführt hat, wer<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>rholt. Die ersten<br />
Fertigkeiten und Gewohnheiten bil<strong>de</strong>n sich aus. Ist es <strong>de</strong>m Säugling zufällig<br />
gelungen, eine Kin<strong>de</strong>rrassel zu greifen und zu schütteln, so wird er das viele<br />
8
Male tun. Handlungsschemata wie Saugen, Greifen, einen Gegenstand<br />
Anblicken wer<strong>de</strong>n auf mehrere Gegenstän<strong>de</strong> und weitere Umweltbereiche<br />
angewandt. Die Anwendung eines Schemas o<strong>de</strong>r einer Struktur auf einen<br />
Gegenstand nenne Piaget in Anlehnung an <strong>de</strong>n biologischen Begriff<br />
„Assimilation“: die „Einverleibung“ <strong>de</strong>s Gegenstan<strong>de</strong>s an das Schema. Wird<br />
die Rassel gegriffen, dann ist das die Assimilation <strong>de</strong>r Rassel an das<br />
Greifschema, so OERTER/ MONTADA. Auf Stufe zwei beginne das Kind,<br />
eine gewisse Erwartung zu entwickeln, dass Dinge, die es einmal gesehen und<br />
berührt hat, wie<strong>de</strong>r gesehen und berührt wer<strong>de</strong>n könnten, so Peter Rossmann<br />
(1996, S.78). Das Kind schaue beispielsweise das Gesicht <strong>de</strong>s Vaters an, sieht<br />
wie<strong>de</strong>r weg und wie<strong>de</strong>r hin, wobei es offensichtlich erwartet, die<br />
Reizkonfiguration „Gesicht“ wie<strong>de</strong>r am selben Ort zu fin<strong>de</strong>n. Sollte das Objekt<br />
aber nicht mehr am selben Ort sein, wird es schnell vergessen.<br />
3. Stufe: ( vier bis acht Monate) Sekundäre Kreisreaktion: Diese Stufe ist durch<br />
eine Differenzierung zwischen Mittel und Zweck gekennzeichnet. Der<br />
Säugling ent<strong>de</strong>ckt nun, dass eine bestimmte Handlungsweise immer wie<strong>de</strong>r<br />
zum selben Ergebnis führt, dass sie ein Mittel zur Erreichung dieses<br />
Ergebnisses ist. Damit könne die Handlung als Mittel zu einem Zweck<br />
eingesetzt wer<strong>de</strong>n. Ab <strong>de</strong>m 4. Monat strampeln Kin<strong>de</strong>r nicht mehr nur aus<br />
reiner Funktionslust, son<strong>de</strong>rn stellen zufällig einen Effekt dieser Handlung<br />
fest, z.B. das Klingeln von einem Glöckchen am Bett. Sie fahren also fort, um<br />
diesen Effekt auszulösen o<strong>de</strong>r andauern zu lassen. Handlungen und Effekt<br />
wer<strong>de</strong>n miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n und es ist oft noch unklar, was zuerst komme.<br />
Die Schemata Greifen und Schauen koordinieren sich dabei so, dass es zu<br />
einem Überlappungsbereich komme, in <strong>de</strong>m bei<strong>de</strong> gleichzeitig gültig sind,<br />
sowie Bereiche, in <strong>de</strong>nen sie sich gegenseitig ausschließen (Teilnegation bei<br />
Intersektion).Es ist zwar noch immer ein „Aus <strong>de</strong>n Augen aus <strong>de</strong>m Sinn“-<br />
Verhalten zu beobachten, aber das Kind sei schon in <strong>de</strong>r Lage, schnelle<br />
Ortsverän<strong>de</strong>rungen von Objekten nachzuvollziehen. Wenn <strong>de</strong>r Mutter<br />
beispielsweise ein für das Kind interessantes Spielzeug aus <strong>de</strong>r Hand fällt,<br />
schaut es nun <strong>de</strong>m am Bo<strong>de</strong>n liegen<strong>de</strong>n Objekt nach, anstatt weiter einfach auf<br />
die Hand <strong>de</strong>r Mutter zu starren. Legt man aber ein Tuch über das Objekt, dann<br />
9
existiere es für das Kind nicht mehr. Auch ein halb ver<strong>de</strong>ckter Gegenstand<br />
wird meist nicht mehr erkannt, so PETER ROSSMANN.<br />
4. Stufe: (acht bis zwölf Monate) Die Koordinierung <strong>de</strong>r erworbenen<br />
Handlungsschemata und ihre Anwendung auf neue Situationen. Typisch für<br />
diese Stufe sei die systematische Anwendung mehrerer Handlungsschemata<br />
auf <strong>de</strong>n gleichen Gegenstand. Das Kind verhalte sich so, als wolle es<br />
ausprobieren, wozu ein Gegenstand gut sei. Dadurch differenzieren sich die<br />
Handlungsschemata weiter, sie wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Gegenstand angepaßt. Das<br />
Schema o<strong>de</strong>r die Struktur <strong>de</strong>s Greifens könne und müsse – um erfolreich zu<br />
sein - je nach Situation und je nach zu greifen<strong>de</strong>m Gegenstand in an<strong>de</strong>rer<br />
Weise realisiert wer<strong>de</strong>n. Diese Anpassung an die Situation o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Gegenstand bezeichnet PIAGET nach OERTER/ MONTADA als<br />
Akkomodation <strong>de</strong>s Schemas an <strong>de</strong>n Gegenstand. Gleichzeitig wer<strong>de</strong>n<br />
verschie<strong>de</strong>ne Schemata koordiniert: z.B. Greifen und Werfen (was ein<br />
Loslassen voraussetzt), Hinkrabbeln, Greifen, An-<strong>de</strong>n-Mund-Führen und<br />
Beißen. PIAGET bezeichnet dies als gegenseitige, reziproke Assimilation-<br />
Akkomodation. Es bil<strong>de</strong>n sich dabei hierarchische Strukturen aus. Das Kind<br />
kann nun <strong>de</strong>n Gegenstand über alle Sinne i<strong>de</strong>ntifizieren und verhält sich<br />
allmählich so, als gehe es davon aus, dass <strong>de</strong>r Gegenstand unabhängig von<br />
seiner konkreten Handlung im Raum existiert und Dauer hat<br />
(Objektpermanenz). Es beginne erstmals nach einem versteckten Objekt zu<br />
suchen, was anzeigt, dass es über eine innere Repräsentation <strong>de</strong>s Gegenstan<strong>de</strong>s<br />
verfügt. Allerdings passierten nach Rossmanns Meinung, dabei noch typische<br />
Fehler. Beispielsweise suchten Kin<strong>de</strong>r in diesem Stadium einen versteckten<br />
Gegenstand üblicherweise an einem vertrauten Ort, auch wenn sie dabei<br />
zusehen konnten, wie <strong>de</strong>r Gegenstand an einem ganz an<strong>de</strong>ren Ort versteckt<br />
wur<strong>de</strong>. Der Ort wer<strong>de</strong> noch als „Signal“ für das Objekt verstan<strong>de</strong>n, die<br />
Unabhängigkeit von Objekt und Ort wird noch nicht ganz erfaßt. Das<br />
erwachsene Konzept <strong>de</strong>r Objektpermanenz beginnt sich auf Personen<br />
auszu<strong>de</strong>hnen. Die Folge davon ist, dass die meisten Kin<strong>de</strong>r im achten<br />
Lebensmonat die sog. Achtmonatsangst zeigen. Auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r<br />
entstehen<strong>de</strong>n Objektpermanenz ist ihnen erstmals die Unterscheidung<br />
zwischen „bekannter Person“ und „unbekannter Person“ möglich.<br />
10
5. Stufe: (zwölf bis achtzehn Monate): Tertiäre Kreisreaktionen: Die Ent<strong>de</strong>ckung<br />
neuer Handlungsschemata durch aktives Experimentieren ist klassisch für<br />
diese Stufe. Das Kind fin<strong>de</strong> nun durch die Koordination von<br />
Handlungsschemata zuweilen orginelle Mittel, um Ziele zu erreichen. So mag<br />
es die Tisch<strong>de</strong>cke heranziehen, um an einen außer Reichweite auf <strong>de</strong>r Decke<br />
liegen<strong>de</strong>s Spielzeug zu gelangen. Es probiere systematisch verschie<strong>de</strong>ne<br />
Möglichkeiten aus, einen Ball zu werfen: mit einer Hand, mit bei<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n,<br />
aus geringer Höhe, aus großer Höhe usw. Das Kind variiert sein Strampeln, um<br />
fasziniert zu beobachten wie das Klingeln <strong>de</strong>s Glöckchens am Bett mal lauter<br />
mal leiser bimmelt. Jetzt wüssten die Kin<strong>de</strong>r, dass Objekte von Ort zu Ort<br />
bewegt wer<strong>de</strong>n können, und suchen einen versteckten Gegenstand zielsicher an<br />
jenem Ort, an <strong>de</strong>m er versteckt wur<strong>de</strong>, und nicht etwa dort, wo sie ihn beim<br />
letzten Mal gefun<strong>de</strong>n <strong>haben</strong>. Objektpermanenz ist weitgehend erreicht, ist aber<br />
noch durch Versteckprozeduren störbar, bei <strong>de</strong>nen eine innere Repräsentation<br />
von Handlungen nötig ist, um die Prozedur begreifen zu können. (Man nehme<br />
eine Kugel, stecke sie in eine kleine Schachtel, lege ein Tuch über die<br />
Schachtel, leere die Schachtel unter <strong>de</strong>m Tuch aus und nehme die leere<br />
Schachtel wie<strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>m Tuch heraus. Ein Kind auf Stufe 5 wird mit<br />
hilflosem Erstaunen auf die leere Schachtel und das daneben liegen<strong>de</strong> Tuch<br />
schauen.) – so ROSSMANN<br />
6. Stufe: (achtzehn bis vierundzwanzig Monate): Übergang vom<br />
sensumotorischen Intelligenzakt zur Vorstellung: Spätestens in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s<br />
zweiten Lebensjahres könne ein Kind offenbar in <strong>de</strong>r Vorstellung die<br />
Ereignisse seiner Handlung antizipieren. Die Sicherheit <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, ein<br />
bestimmtes Ergebnis zu erreichen, drückt sich sogar mimisch aus. Praktisches<br />
Probieren sei nicht mehr notwendig. Handlungen scheinen innerlich vollzogen<br />
zu wer<strong>de</strong>n. Diese Verinnerlichung, so OERTER/ MONTADA, charakterisiert<br />
<strong>de</strong>n Übergang zum Denken. An <strong>de</strong>r „Konstruktion <strong>de</strong>s Gegenstan<strong>de</strong>s“ als <strong>de</strong>m<br />
ersten „Begriff“ <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>haben</strong> die am Greifvorgang beteiligten Schemata<br />
eine hervorragen<strong>de</strong> <strong>Be<strong>de</strong>utung</strong>. Das Kind hat jetzt eine vollständige innere<br />
Repräsentation von Objekten und Handlungen.<br />
11
OERTER/ MONTADA (1995) sowie COHEN (1997) verweisen <strong>de</strong>s Weiteren auf das<br />
2) Stadium <strong>de</strong>s voroperatorischen, anschaulichen Denkens, wobei beson<strong>de</strong>rs die<br />
Denkfehler <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r PIAGETS interesse geweckt hatten. Sie dauert etwa vom<br />
zweiten bis zum siebten Lebensjahr. In dieser Phase ist das Kind durch seine<br />
Wahrnehmung eingeschränkt und zutiefst egozentrisch. PIAGETS Ansicht nach<br />
können sich Kin<strong>de</strong>r in diesem Alter nicht <strong>de</strong>n Blickwinkel vorstellen, aus <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>re<br />
etwas betrachten. Einer von PIAGETS bekanntesten Versuchen zeigte, dass Kin<strong>de</strong>r<br />
stets sagten, dass in einem hohen Glas mit geringem Durchmesser mehr Wasser<br />
enthalten sei als in einem niedrigeren Glas mit größerem Durchmesser, obwohl bei<strong>de</strong><br />
Gläser exakt die gleiche Menge enthielten.<br />
Darüber hinaus wird auf das<br />
3) Stadium <strong>de</strong>r konkreten Operationen verwiesen: Kin<strong>de</strong>r in diesem Stadium hält man<br />
für fähig, logische Zusammenhänge zu erkennen, solange sie keine abstrakten<br />
Theorien verstehen müssen.<br />
4) Stadium <strong>de</strong>r formalen Operationen: Jugendliche sind bereits in <strong>de</strong>r Lage abstrakte<br />
logische Rätsel zu lösen und Argumentationsstrategien zu entwickeln.<br />
Dies ist sozusagen <strong>de</strong>r „theoretische Hintergrund“ Piagetischer Entwicklungstheorie. Er hat<br />
natürlich noch viele weitere erkenntnistheoretische und genetische Mo<strong>de</strong>llvorstellungen<br />
entwickelt. Mir geht es aber – wie gesagt – nur um die Frage, wie seine Gedanken zum 1.<br />
Stadium praktisch gewen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n, d.h. Eingang in Ratgeberliteratur gefun<strong>de</strong>n <strong>haben</strong>.<br />
Darum erläutere ich nun die Anwendung dieses speziellen Ansatzes innerhalb von<br />
theoretischen Deutungen in <strong>de</strong>r genannten Literatur, um zu zeigen, dass und wie solche<br />
Theorie für Eltern, Lehrer und Erzieher <strong>Be<strong>de</strong>utung</strong> erhalten.<br />
4 Spezielle Anwendungen von Piagets sensumotorischer Phase in <strong>de</strong>r Ratgeberliteratur<br />
4.1 Die sensumotorische Phase in <strong>de</strong>r Ratgeberliteratur ROSSMANNS<br />
12
PETER ROSSMANN (1996) hält in seiner „Einführung in die Entwicklungspsychologie <strong>de</strong>s<br />
Kin<strong>de</strong>s- und Jugendalters“ PIAGETS Mo<strong>de</strong>ll durch amerikanische Studien für überholt.<br />
Seine Beschreibung, was ein Neugeborenes alles können muss hat aber praktische<br />
Anwendungsrelevanz, insofern es die diagnostische Normentwicklung beschreibt. Ein<br />
Neugeborenes mit normalen ABGAR-In<strong>de</strong>x soll u.a. folgen<strong>de</strong>s können: Es soll <strong>de</strong>n Palmarund<br />
Plantargreifreflex (Hand- und Fußgreifreflex) mit 32 Wochen beherrschen. Dieser<br />
Greifreflex müsste bei allen gesun<strong>de</strong>n Neugeborenen durch Berührung <strong>de</strong>r Handinnenfläche<br />
bzw. <strong>de</strong>s vor<strong>de</strong>ren Teils <strong>de</strong>r Fußsohle auslösbar sein. Bei<strong>de</strong> Reflexe verlieren sich innerhalb<br />
<strong>de</strong>s ersten Lebensjahres. Beim Bestehenbleiben dieser Reflexe ist das Erlernen von Greifen<br />
bzw. Stehen nach ROSSMANN unmöglich. Beim Kind muß <strong>de</strong>r Rooting Reflex (sog.<br />
Brustsuchen) nach einer Berührung <strong>de</strong>r Hauptbezirke um <strong>de</strong>n Mund <strong>de</strong>s Babys ausgelöst<br />
wer<strong>de</strong>n. Er besteht in einer Kopfwendung in Richtung auf <strong>de</strong>n Berührungsreiz. Dieser Reflex<br />
tritt in vollen<strong>de</strong>tem Zustand üblicherweise nicht vor einem Konzeptionsalter von 34 Wochen<br />
auf. Auch <strong>de</strong>r sog. Babinski-Reflex, bei <strong>de</strong>m die Zehen gespreizt wer<strong>de</strong>n, wenn die Fußsohlen<br />
bestrichen wer<strong>de</strong>n, muß bereits beherrscht wer<strong>de</strong>n.<br />
Das Nervensystem <strong>de</strong>s Neugeborenen sei jedoch nicht nur zu Reflexleistungen fähig, wie<br />
PIAGET noch annahm. Neugeborene könnten Personen o<strong>de</strong>r optische Muster fixieren und<br />
ihnen mit <strong>de</strong>n Augen folgen. ROSSMANN geht also über PIAGET hinaus und billigt <strong>de</strong>m<br />
Säugling bereits mehr Fähigkeiten zu. Das Neugeborene reagiere durch heftiges Grimassieren<br />
und schließlich durch Schreien auf starke Lichtreize o<strong>de</strong>r Geräusche. Kin<strong>de</strong>r sollten<br />
i<strong>de</strong>alerweise einen klaren Schlaf-Wach-Rhythmus entwickeln. Kin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>ren Bedürfnisse<br />
unklar blieben, wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r amerikanischen Literatur als „difficult children“ eingestuft und<br />
stellten ihre Eltern auf eine harte Probe. Es hat sich in Längsschnittstudien gezeigt, dass<br />
solche Kin<strong>de</strong>r zu einem signifikanten größeren Prozentsatz als psychopathologisch auffällig<br />
waren.<br />
Hier hilft die Forschung also bei <strong>de</strong>r Prognose von zukünftigen Verhalten. Diese recht früh<br />
ausgeprägten Temperamentsunterschie<strong>de</strong> lieferten somit einen signifikanten Beitrag zur<br />
Vorhersage (Prognose) <strong>de</strong>s späteren Auftretens von psychischen Problemen.<br />
An ROSSMANNS Ausführungen wird <strong>de</strong>utlich, dass Ratgeberliteratur zwar auf PIAGETS<br />
Konzept Bezug nimmt, aber es um neuere Forschungen vor allem aus <strong>de</strong>m amerikanischen<br />
Raum ergänzt. Dies wird auch daran sichtbar, dass die neuere Kognitionsforschung davon<br />
ausgeht, dass die sensorischen Fähigkeiten von Neugeborenen größer sind als die von<br />
13
PIAGET angenommenen. Ein gesun<strong>de</strong>s Neugeborenes kann von Anfang an ein sich langsam<br />
durch sein Gesichtsfeld bewegen<strong>de</strong>s Objekt mit <strong>de</strong>n Augen verfolgen und dreht oft sogar <strong>de</strong>n<br />
Kopf nach, wenn das Objekt aus seinem Gesichtsfeld zu entschwin<strong>de</strong>n droht. Außer<strong>de</strong>m<br />
<strong>haben</strong> sie die Fähigkeit, Gesichtsausdrücke zu imitieren, was zwar ein Reflex sein kann, aber<br />
es spricht für eine differenzierte visuelle Wahrnehmung. (Allerdings gibt es hier<br />
entwicklungspsychologische Einschränkungen, auf die ich hier nicht näher eingehen wer<strong>de</strong>.)<br />
Darüber hinaus wird sichtbar, dass PIAGETS theoretische Annahmen in <strong>de</strong>r Praxis bei<br />
weitem nicht so schön funktionieren, wie man es sich wünschen wür<strong>de</strong>. Dies sei an einem<br />
Experiment illustriert, das ROSSMANN wie folgt beschreibt:<br />
So konstruierte BAILLARGON (1987) eine Versuchsanordnung, die es ermöglichte, vor <strong>de</strong>n<br />
Augen <strong>de</strong>r Versuchsteilnehmer ein unmögliches Ereignis ablaufen zu lassen, nämlich einen<br />
auf <strong>de</strong>m Tisch liegen<strong>de</strong>n großen Baustein unter einem Blatt Karton vollständig verschwin<strong>de</strong>n<br />
zu lassen (weil in die Tischplatte eine kleine Falltüre eingebaut war, durch die <strong>de</strong>r Baustein<br />
nach unten entfernt wer<strong>de</strong>n konnte.) Kin<strong>de</strong>r im Alter von dreieinhalb bis viereinhalb Monaten<br />
(also auf Stufe 2 o<strong>de</strong>r drei) dienten als Versuchspersonenen. Nach PIAGET sollten Kin<strong>de</strong>r<br />
dieses Alters von <strong>de</strong>r Beobachtung von Ereignissen dieser Art nicht son<strong>de</strong>rlich beeindruckt<br />
sein, da sie über keine Objektpermanenz verfügen. Tatsächlich zeigte sich, dass die Kin<strong>de</strong>r<br />
auf das „unmögliche“ Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Bausteines mit merklichen Zeichen von Verblüffung<br />
reagierten. Sie schauten z.B. danach signifikant länger auf das Kartonblatt, als wenn <strong>de</strong>r<br />
Baustein nur einfach durch das schräg liegen<strong>de</strong> Kartonblatt abge<strong>de</strong>ckt wor<strong>de</strong>n war.<br />
BAILLARGON (1987) schloß aus diesen Beobachtungen, dass offenbar schon Babies im<br />
Alter von vier Monaten gewisse grundlegen<strong>de</strong> Erwartungen in bezug auf das Verhalten von<br />
Gegenstän<strong>de</strong>n <strong>haben</strong> dürften.<br />
4.2 Die sensumotorische Phase in <strong>de</strong>r Ratgeberliteratur LÉCUYERS<br />
Einen etwas an<strong>de</strong>ren Blickwinkel nimmt ROGER LÈCUYER (1998) in seinem Buch „Babys<br />
können mehr“ ein. Er gibt Eltern Ratschläge, was ein Kind im ersten Lebensjahr schon leisten<br />
können sollte, in<strong>de</strong>m er typische Elternfragen beantwortet. Seine Fragen gestalten sich wie<br />
folgt: Woher wissen die Forscher das alles? Können Neugeborene sehen? Erleben Babys die<br />
Welt zwei- o<strong>de</strong>r dreidimensional? usw.<br />
Schon er geht über PIAGETS Annahme, dass die Sinnesmodalitäten von Säuglingen zunächst<br />
getrennt voneinan<strong>de</strong>r wirken und noch kein zusammenhängen<strong>de</strong>s Weltbild bestün<strong>de</strong>, hinaus:<br />
14
„Die Vorstellung, dass die einzelnen Sinne bei <strong>de</strong>r Geburt getrennt voneinan<strong>de</strong>r<br />
funktionieren, ist also nicht vollkommen aus <strong>de</strong>r Luft gegriffen. Dennoch hat sie sich als<br />
falsch erwiesen. Vieles <strong>de</strong>utet daraufhin, dass auch Babys, die jünger sind als fünf Monate,<br />
die Informationen, die sie über die verschie<strong>de</strong>nen Sinne erhalten, miteinan<strong>de</strong>r in<br />
Zusammenhang bringen. (ebd., S.63) Als Beleg führt <strong>de</strong>r Autor die Hinwendung <strong>de</strong>s Kopfes<br />
zu einer Stimme an. Auch die Konzentration auf Gegenstän<strong>de</strong> (wie z.B. weiche Bälle), die<br />
nicht <strong>de</strong>nselben Härtegrad <strong>haben</strong> wie diejenigen, die es gera<strong>de</strong> im Mund habe, wird als<br />
Argument verwandt. Sein Fazit ist daher: „Babys koordinieren die Informationen, die sie über<br />
ihre unterschiedlichen Sinne erhalten, bereits sehr früh, vielleicht sogar schon vor <strong>de</strong>r Geburt<br />
(ebd., S.63) PIAGET datiert die sensumotorischen Vorformen von Objektklassen auf die 3.<br />
Stufe, also ungefähr zwischen <strong>de</strong>m vierten und <strong>de</strong>m achten Monat. Auch LÉCUYER meint:<br />
„Babys <strong>haben</strong> es gern or<strong>de</strong>ntlich.“ (ebd., S.67), d.h.Versuchsreihen hätten gezeigt, dass<br />
Säuglinge Frauen und Männer unterschei<strong>de</strong>n könnten, dass Babys Gegenstän<strong>de</strong>, die ihnen aus<br />
verschie<strong>de</strong>nen Blickwinkel gezeigt wur<strong>de</strong>n eher wie<strong>de</strong>rerkannten, auch aus dann unbekannten<br />
Perspektiven, dass Kleinkin<strong>de</strong>r bereits Prototypen von Rechtecken usw. verwen<strong>de</strong>ten.<br />
LÈCUYER gibt keine Altersangabe und bezieht sich nur in seinem Schlußwort explizit auf<br />
„<strong>de</strong>n großen Namen“ (ebd., S.139) JEAN PIAGET. Die Einflüsse wer<strong>de</strong>n jedoch noch<br />
unterschwellig <strong>de</strong>utlich.<br />
LÈCUYER geht <strong>de</strong>s weiteren davon aus, dass Babys im Alter von drei bis sechs Monaten<br />
schon zwischen kausalen und nicht-kausalen Ereignissen unterschie<strong>de</strong>n. Allerdings beschreibt<br />
er auch die Unsicherheit <strong>de</strong>r Wissenschaftler, ob die Unterscheidung von Phänomenen wie<br />
Billardkugeln, die sich gegenseitig anstoßen (o<strong>de</strong>r eben auch gera<strong>de</strong> nicht) wirklich, von<br />
Kleinkin<strong>de</strong>rn auf kausale Erklärungen zurückgeführt wer<strong>de</strong>n. Solche Fähigkeiten hat PIAGET<br />
<strong>de</strong>m Baby noch nicht zugesprochen. In <strong>de</strong>r primären Kreisreaktion fin<strong>de</strong>t ihm zufolge nur<br />
eine Ausweitung postnataler Reflexe statt und eine differenziert-angepaßte Modifikation <strong>de</strong>s<br />
Verhaltens (Akkomodation) sowie eine Stabilisierung besser angepassten Verhaltens durch<br />
reproduktive o<strong>de</strong>r funktionale Assimilation. Eigenständig kausale Zusammenhänge zu<br />
erkennen, spricht er <strong>de</strong>m Baby noch ab.<br />
LÉCUYER stimmt mit PIAGET in <strong>de</strong>r Datierung <strong>de</strong>r Anfänge <strong>de</strong>r Objektpermanenz überein,<br />
obwohl LÉCUYER im Hinblick auf die Eltern <strong>de</strong>n Begriff nicht explizit verwen<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn<br />
nur von <strong>de</strong>r Annahme <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, ein Gegenstand existiere im Raum weiter, spricht. Er<br />
verweist aber auch auf Versuche, die belegen, dass Kin<strong>de</strong>r schon mit dreieinhalb Monaten<br />
15
Gegenstän<strong>de</strong> als dauerhaft erleben. So wur<strong>de</strong> ein großes und ein kleines Kaninchen jeweils<br />
hinter einem Schirm versteckt. Dann wur<strong>de</strong> ein Fenster eingebaut, in <strong>de</strong>m das größere hätte<br />
erscheinen müssen. Die Babys schenkten <strong>de</strong>r „unmöglichen“ Situation mehr Aufmerksamkeit.<br />
Allerdings, räumt LÉCUYER ein, suchten kleine Kin<strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong> gar nicht o<strong>de</strong>r am<br />
falschen Ort. Dies wer<strong>de</strong> heute auf motorische Mängel zurückgeführt.<br />
Das Imitationsverhalten, das Piaget in <strong>de</strong>n ersten drei Monaten ansie<strong>de</strong>lt, wird von LÉCYER<br />
schon auf die ersten Tage vordatiert. Studien aus <strong>de</strong>n USA hätten kognitive<br />
Entwicklungsforscher wohl in Erstauen versetzt, <strong>de</strong>nn kleine Kin<strong>de</strong>r imitieren nicht nur das<br />
Zunge-heraus-Strecken, son<strong>de</strong>rn auch das Wangen-Aufblasen und das Hän<strong>de</strong>-Greifen.<br />
PIAGET hat die kognitiven Fähigkeiten von Säuglingen unterschätzt. Auf die Frage, womit<br />
Kin<strong>de</strong>r am liebsten spielen, gibt LÉCUYER eine einfache Antwort: mit <strong>de</strong>m Menschen. Ich<br />
wage die These, dass auch PIAGET diese Aussage unterstützt hätte. Auch bei LÉCUYER<br />
wird <strong>de</strong>utlich, dass zwar auf Piagets Konzept Bezug genommen wird, dass Piaget selbst aber<br />
nicht einmal zitiert, son<strong>de</strong>rn nur im Anhang auf ihn verwiesen wird. Wenn hier<br />
entwicklungspsychologische Befun<strong>de</strong> für die Praxis aufgegriffen wer<strong>de</strong>n, dann nur um Eltern<br />
Sicherheit im Umgang mit ihren Kin<strong>de</strong>rn zu geben. Eltern sollen sozusagen selbst<br />
entwicklungspsychologisch „sehen“ können.<br />
4.3 Die sensumotorische Phase in <strong>de</strong>r Ratgeberliteratur LOTTE SCHENK-DANZINGER<br />
Im Unterschied zu LÉCUYER gibt LOTTE SCHENK-DANZINGER (1985, S.139) aktive<br />
Handlungshinweise. Sie sieht in Piagets Theorie von <strong>de</strong>r geistigen Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />
eine gute „Ausgangsbasis für das Verständnis <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s Spiels in <strong>de</strong>r Entwicklung“<br />
Spielen sei ein Lernvorgang, <strong>de</strong>r unbewußtes Lernen för<strong>de</strong>re, und eine wichtige<br />
Voraussetzung für späteres organisiertes Lernen. Sie stellt fest, dass bestimmte Spielzeuge<br />
zeitlos und ortsungebun<strong>de</strong>n seien: Rassel, Ball, Kreisel, Reifen, Ziehtier, Spieltier, Puppe,<br />
Schaukelpferd und Wägelchen hätte es zu allen Zeiten und in fast je<strong>de</strong>r Kultur gegeben. Auch<br />
bei PIAGET kommt <strong>de</strong>m Ball als Spielzeug eine wichtige Rolle zu. Beim Spiel im<br />
Kleinkindalter unterschei<strong>de</strong>t LOTTE SCHENK-DANZINGER Funktions- und<br />
Explorationsspiele, konstruktive und Rollen- o<strong>de</strong>r Illusionsspiele.<br />
Das materialunspezifische Funktionsspiel mache das Kind aus Freu<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Bewegung und<br />
zufällig bewirkten Verän<strong>de</strong>rungen. Es entspricht <strong>de</strong>r ersten Stufe in <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
sensumotorischer Funktionen und Darstellungsformen. Es wer<strong>de</strong> exploriert, was <strong>de</strong>r Körper<br />
16
schon alles könne. Eine beson<strong>de</strong>re <strong>Be<strong>de</strong>utung</strong> misst LOTTE SCHENK-DANZINGER vor<br />
allem <strong>de</strong>m Fingerspiel bei. Fingerspiele gehörten zu <strong>de</strong>n ersten gesteuerten Bewegungen.<br />
„Etwa im vierten Monat kann man beobachten, dass das Kind seine Fingerchen langsam in<br />
Augenhöhe bewegt und diese Bewegung mit <strong>de</strong>n Augen verfolgt.“ (ebd., S. 195) Sie sieht<br />
hierin erste Ansätze <strong>de</strong>r sensumororischen Koordination. Das Greifen entwickle sich hieraus.<br />
SCHENK-DANZINGER behauptet, die Klapper eigne sich für diese Entwicklungsstufe<br />
beson<strong>de</strong>rs, da sie auch akustische und optische Reize liefere. Das Kind führe mit einer Uhr,<br />
einem Kamm o<strong>de</strong>r einem Baustein die gleichen Bewegungen aus wie mit einer Klapper. Hier<br />
hätte man ein gutes Beispiel von Assimilation. Die Realität (das Material) wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>n<br />
Bedürfnissen <strong>de</strong>s Organismus untergeordnet. Geformt wer<strong>de</strong> nicht das Material, geformt<br />
wer<strong>de</strong> die Bewegung. Das Kind könne sich vorerst noch nicht an <strong>de</strong>n Objekten orientieren,<br />
die ihm in die Hän<strong>de</strong> fallen, son<strong>de</strong>rn müsse jene Bewgungen mit ihnen ausführen, die die<br />
neuromuskuläre Reifung gera<strong>de</strong> möglich macht und die jeweils „geübt“ wer<strong>de</strong>n müsse: In<strong>de</strong>n-Mund-stecken,<br />
Betasten, Ergreifen, Klopfen, Schütteln, mit einem Ding auf ein an<strong>de</strong>res<br />
Schlagen, Werfen, Fallenlassen. Aber während es im ersten Lebensjahr primär seine<br />
Bewegung ausforme, mache es mit Dingen, die ihm angeboten wür<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>ren es sich bald<br />
selbst bediene, erste sensumotorische Erfahrungen in bezug auf Gestalt, Größen, Farben,<br />
Schwere, Geräusche, Oberflächencharakter usw. – genügend Erfahrungen je<strong>de</strong>nfalls, um am<br />
En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s ersten Lebensjahres erste sensumotorischen Intelligenzleistungen zu vollbringen.<br />
Mit <strong>de</strong>m sog. „Werkzeug<strong>de</strong>nken“ (ebd., S. 156) wer<strong>de</strong> die Beziehung zwischen sich, einem<br />
angestrebten Ziel und einem Mittel zum Zweck klarer. Dies entspricht Stufe drei in PIAGETS<br />
Mo<strong>de</strong>ll.<br />
Als wichtiges Beispiel für Akkomodation bezeichnet SCHENK-DANZINGER das<br />
Explorationsspiel, in <strong>de</strong>m Dinge zerrissen, auseinan<strong>de</strong>rgenommen, geknittert, also auf ihre<br />
materialspezifischen Möglichkeiten hin untersucht wer<strong>de</strong>n. Diese materialspezifischen<br />
Funktionsspiele wür<strong>de</strong>n ein „Grundmaterial“ (ebd., S.197) an einfachen sensumotorischen<br />
Fähigkeiten und Erfahrungen schaffen, auf <strong>de</strong>nen sich komplexere, zielgerichtete<br />
Verhaltensweisen aufbauen könnten. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag zur kognitiven<br />
Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, so SCHENK-DANZINGER. Ihr spontanes Auftreten sichere ein<br />
„vorbewußtes Wissen“ über Materialqualitäten und Materialbeziehungen, das bald in<br />
größeren Zusammenhängen sinnvoll eingesetzt wer<strong>de</strong>n könne. Durch die zufällige<br />
Ent<strong>de</strong>ckung, dass ein Spielprodukt während mit ihm funktional gespielt wird Ähnlichkeit mit<br />
einem wirklichen Gegenstand hat, wird die Symbolstufe <strong>de</strong>s konstruktiven Spiels eingeleitet.<br />
17
Desweiteren folgen das werkschaffen<strong>de</strong> Spiel und das Rollen- und Illusionsspiel, das die<br />
Symbolstufe <strong>de</strong>s konstruktiven Spiels voraussetzt.<br />
Aus <strong>de</strong>m oben Gesagten zieht SCHENK-DANZINGER Konsequenzen für die Erziehung.<br />
„Spielzeug gehört zu <strong>de</strong>n entwicklungsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Reizen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>salters und soll <strong>de</strong>n zur<br />
Reifung gelangen<strong>de</strong>n, körperlichen, intellektuellen und sozialen Funktionen und Fähigkeiten<br />
entsprechen<strong>de</strong> Übungsmöglichkeiten bieten.“ (ebd., S.206) Sie betont die <strong>Be<strong>de</strong>utung</strong> <strong>de</strong>s<br />
richtigen Zeitpunktes für bestimmte Spielmaterialien. So kann ein zu früher Zeitpunkt dazu<br />
führen, dass Materialien zerstört wer<strong>de</strong>n und das Kind – zu Unrecht - dafür bestraft wird und<br />
dadurch Unsicherheiten im Umgang mit Spielzeugen auftritt. Ein zu später Zeitpunkt sei<br />
ebenso problematisch. Dies gelte vor allem für konstruktives Spielmaterial. Viele Erzieher<br />
seien <strong>de</strong>r Ansicht, Bastelmaterial, Farben und Bausteine sollten erst dann gegeben wer<strong>de</strong>n,<br />
wenn etwas Sinnvolles daraus gemacht wür<strong>de</strong>. Dabei wird die <strong>Be<strong>de</strong>utung</strong> <strong>de</strong>r funktionalen<br />
Vorübung, das Stadium, in <strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong>r experimentieren und ohne Plan mit <strong>de</strong>n<br />
Möglichkeiten und Eigenschaften <strong>de</strong>s Materials vertraut wer<strong>de</strong>n, nicht beachtet. SCHENK-<br />
DANZINGER empfielt solche Materialien für ein Alter, in <strong>de</strong>m das Kind sich spezifisch mit<br />
<strong>de</strong>m Material beschäftigt. Von Vorlagen rät sie ab, da sie die Kreativität einschränken<br />
wür<strong>de</strong>n. Für die ersten zwei Lebensjahre warnt sie vor Spielzeug das verschluckt wer<strong>de</strong>n<br />
kann. Außer<strong>de</strong>m sollte das Spielzeug für Kleinkin<strong>de</strong>r Schematisierungen aufweisen, damit<br />
mehr Raum für Phantasie bleibe. Je<strong>de</strong>s Spielzeug sollte eine Vielfalt von<br />
Betätigungsmöglichkeiten aufweisen, um zur Entfaltung kindlicher Selbständigkeit<br />
beuzutragen. SCHENK-DANZINGER rät von zu viel Spielzeug ab, da sonst sprunghaftes,<br />
unkonzentriertes Spielen geför<strong>de</strong>rt wür<strong>de</strong>. Außer<strong>de</strong>m behin<strong>de</strong>re zuviel Spielzeug die<br />
Fähigkeit, sich an ein Spielzeug emotional zu bin<strong>de</strong>n.<br />
Diese Ratschläge zum Spielzeugangebot mögen für (verzweifelte) Eltern hilfreich sein, lassen<br />
sich letztendlich aber nicht aus PIAGETS Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r sensumotorischen Phaseneinteilung<br />
ableiten. Dass für bestimmte Versuche solches Material nötig ist, kann allerdings ein Hinweis<br />
für Eltern und seine Praxisnähe sein. LOTTE SCHENK-DANZINGER beruft sich zwar<br />
stellenweise auf die Akkomodation und Assimilation Piagets, aber warum Spielsachen zeitund<br />
ortslos seien, warum einem Kind nicht zuviel Spielzeug gegeben wer<strong>de</strong>n dürfe und<br />
warum das Spiel an sich so wichtig für die Entwicklung ist, lässt sich aus PIAGETS<br />
theoretischen Überlegungen nicht ableiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass PIAGET ihren<br />
Ausführungen <strong>de</strong>nnoch zugestimmt hätte halte ich <strong>de</strong>nnoch für ebenso hoch wie bei<br />
18
LÉCUYERS Behauptung, <strong>de</strong>r Mensch sei das beste Spielzeug für das Kind. In seiner<br />
Phasenbeschreibung fin<strong>de</strong>n sich aber kaum hinweise auf Spielverhalten und Unterstützung.<br />
4.4 Die sensumotorische Phase in <strong>de</strong>r Ratgeberliteratur KIPHARDS<br />
Den Anspruch, praxisnah zu sein, hat vor allem die entwicklungspsychologisch begrün<strong>de</strong>te<br />
Ratgeberliteratur Kiphards (1975) mit <strong>de</strong>m Titel „Wie weit ist ein Kind entwickelt?“. Es gibt<br />
Eltern Richtlinien für altersgemäße Entwicklung und basiert auf Normen, die PIAGET<br />
mitgeprägt hat. Das wird im folgen<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>n von mir zitierten Beispielen hoffentlich<br />
<strong>de</strong>utlich. Das Werk entstand primär nicht aus wissenschaftlichem Anliegen, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>r<br />
Notwendigkeit, <strong>de</strong>n Eltern rückständiger und behin<strong>de</strong>rter Kin<strong>de</strong>r echte Hilfe zu geben. Ein<br />
gezieltes Trainingsprogramm zur För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r rückständigen Bereiche setze eine genaue<br />
Aufzeichnung <strong>de</strong>r kindlichen Fähigkeiten und Schwächen in <strong>de</strong>n einzelnen Sinnes- und<br />
Bewegungsfunktionen voraus. In <strong>de</strong>m von mir kopierten sensumotorischen<br />
Entwicklungsgitter wür<strong>de</strong> sich <strong>de</strong>r konkrete Entwicklungsstand <strong>de</strong>s zu untersuchen<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>s<br />
eintragen lassen. Die Altersangaben orientieren sich an <strong>de</strong>r untersten Grenze <strong>de</strong>r Norm.<br />
Ich wer<strong>de</strong> im folgen<strong>de</strong>n jeweils ein o<strong>de</strong>r zwei Beispiele zur optischen Wahrnehmnung,<br />
Handmotorik, Körpermotorik, Sprache und akustischen Wahrnehmung für die ersten zwei<br />
Jahre geben:<br />
„Erstes Lebensjahr: (A) Optische Wahrnehmung<br />
(A4) Betrachtet Ding in <strong>de</strong>r Hand<br />
Betrachtet das Kind einen leuchtend roten Gegenstand in seiner Hand? Geben Sie <strong>de</strong>m Kind<br />
ein entsprechen<strong>de</strong>s Spielzeug in sein Händchen und führen Sie es im Abstand von etwa 30 cm<br />
in das Blickfeld seiner Augen. Kann es <strong>de</strong>n Gegenstand (rotes Wollknäuel o<strong>de</strong>r ähnliches)<br />
nicht selbst halten, so legen Sie ihre Hand um sein Händchen. Es genügt, wenn <strong>de</strong>r<br />
Gegenstand für zwei bis drei Sekun<strong>de</strong>n betrachtet wird. Wichtig: Der Gegenstand darf kein<br />
Geräusch erzeugen.<br />
(A12) Fin<strong>de</strong>t ver<strong>de</strong>cktes Ding<br />
Entfernt das Kind ein über sein Spielzeug gelegtes Tuch? Legen Sie einen begehrenswerten<br />
Spielgegenstand vor das Kind hin und vergewissern Sie sich, dass es ihn anschaut.<br />
Wahrscheinlich wird es auch danach greifen wollen. Nun <strong>de</strong>cken Sie schnell <strong>de</strong>n Gegenstand<br />
mit einem Taschentuch o<strong>de</strong>r einem kleinen Deckchen ab, so dass er <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s Kinds<br />
entzogen ist. Beobachten Sie, wie es reagiert. Die Aufgabe gilt als gekonnt, wenn das Kind<br />
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das Tuch wegzieht, um wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Gegenstand zu gelangen. Sie gilt als halb gekonnt,<br />
wenn das Kind sein Händchen in Richtung <strong>de</strong>s Tuches ausstreckt. Blickt das Kind lediglich in<br />
Richtung <strong>de</strong>s Tuches zeigt aber keine Greifreaktion, so gilt dies als nicht gekonnt.<br />
Erstes Lebensjahr: (B) Handmotorik<br />
(B6) Steckt Dinge in <strong>de</strong>n Mund<br />
Kann das Kind einen Gegenstand, <strong>de</strong>n man in seine Hand gegeben hat, zum Mun<strong>de</strong> führen?<br />
Die Aufgabe gilt als gekonnt, wenn es eine Rassel, einen Greifring o<strong>de</strong>r etwas ähnliches zum<br />
Mun<strong>de</strong> führt, um daran zu lecken o<strong>de</strong>r darauf zu kauen. Sie gilt als halb gekonnt, wenn das<br />
Kind nur gelegentlich auf diese Weise reagiert. Sie ist nicht gekonnt, wenn es <strong>de</strong>n Gegenstand<br />
gar nicht o<strong>de</strong>r nur für einen kurzen Moment ansieht und sich danach sofort abwen<strong>de</strong>t.<br />
Erstes Lebensjahr: (C) Körpermotorik<br />
(C4) Rücken gera<strong>de</strong> im Sitz und Schwimmbewegung in Bauchlage: Hält das Kind, wenn es<br />
kurzzeitig mit Unterstützung sitzt, seinen Rücken gera<strong>de</strong>?<br />
Macht es, wenn es in Bauchlage gelegt wird, schwimmähnliche Arm- und Beinbewegungen,<br />
wobei die Glie<strong>de</strong>r in unregelmäßigem Rhythmus fortlaufend angebeugt und wie<strong>de</strong>r<br />
ausgestreckt wer<strong>de</strong>n?<br />
Die Aufgabe gilt als gekonnt, wenn das Kind jeweils bei<strong>de</strong> Funktionen bewältigt, Wenn nur<br />
eine dieser Entwicklungsfunktionen vollzogen wur<strong>de</strong>, so ist die Aufgabe als halb gekonnt zu<br />
bewerten.<br />
(C12) Kniet aufrecht und krabbelt allein<br />
Kann sich das Kind mit aufrechtem Körper und gestreckten Hüftgelenken etwa 10 Sekun<strong>de</strong>n<br />
langt im Kniestand in <strong>de</strong>r Balance halten? Ist das Kind in <strong>de</strong>r Lage, sich auf Knien und<br />
Hän<strong>de</strong>n krabbelnd vorwärts zu bewegen? Wertung siehe C4.<br />
Erstes Lebensjahr: (D) Sprache<br />
(D10) Äußert Stimmungslaute<br />
Kann das Kind Stimmungen, z.B. Freu<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Unbehagen, durch unterschiedliche Laute<br />
ausdrücken? Die Aufgabe ist gekonnt, wenn es bei Zuspruch im erhöhten Maße Laute<br />
produziert und damit <strong>de</strong>utlich wird, dass es sich <strong>de</strong>n Erwachsenen irgendwie mitteilen<br />
möchte. Erfolgt diese Reaktion nur schwach, un<strong>de</strong>utlich o<strong>de</strong>r selten, so ist die Aufgabe als<br />
halb gekonnt zu bewerten.<br />
20
Erstes Lebensjahr: (E) Akustische Wahrnehmung<br />
(E4) Sieht Sprechen<strong>de</strong>n an<br />
Blickt das Kind <strong>de</strong>r Beziehungsperson ins Gesicht, wenn diese zu sprechen beginnt? Nehmen<br />
Sie das Kind so auf <strong>de</strong>n Schoß, dass es Sie sehen kann, sprechen Sie es aber noch nicht an.<br />
Wenn das Kind durch Saugen, Fläschchen trinken o<strong>de</strong>r durch Betasten <strong>de</strong>r Kleidung<br />
abgelenkt ist, so beginnen Sie leise zu sprechen. Hält das Kind kurzzeitig in seiner Tätigkeit<br />
inne, um in das Gesicht <strong>de</strong>r sprechen<strong>de</strong>n Person zu sehen, so gilt dies als gekonnt. Bei nur<br />
schwacher Blickreaktion wird die Aufgabe als halb gekonnt gewertet. Zeigt es keine<br />
Reaktion, so gilt dies als nicht gekonnt.<br />
Zweites Lebensjahr: (A) Optische Wahrnehmung<br />
(A24) Ordnet zwei Dinge zum Bild<br />
Kann das Kind zwei Gegenstän<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Abbildungen ordnen? Suchen Sie<br />
zuvor in einfachen Bil<strong>de</strong>rbüchern nach Abbildungen, die vorhan<strong>de</strong>ne reale Gegenstän<strong>de</strong> wie<br />
einen Apfel, eine Tasse, einen Löffel, eine Schere, eine Puppe, ein Telefon, ein Ball usw.<br />
Legen Sie nun zwei Abbildungen vor das Kind hin und geben ihm einen Gegenstand, <strong>de</strong>r<br />
einer dieser bei<strong>de</strong>n Abbildungen entspricht. Wenn das Kind nicht weiß, was es damit machen<br />
soll, so ordnen Sie die Gegenstän<strong>de</strong> ihren Abbildungen einige Male mo<strong>de</strong>llhaft zu. Danach<br />
soll es aber das Kind mit an<strong>de</strong>ren Abbildungen selbst tun. Die Aufgabe gilt als gekonnt, wenn<br />
das Kind zwei Gegenstän<strong>de</strong> auf die richtigen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n ausgelegten Bil<strong>de</strong>r legt und dies<br />
mehrmals wie<strong>de</strong>rholen kann. Wer<strong>de</strong>n die Gegenstän<strong>de</strong> vorwiegend richtig zugeordnet, macht<br />
das Kind aber manchmal noch Fehler o<strong>de</strong>r kann es nur einen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong> auf das<br />
entsprechen<strong>de</strong> Bild legen, so ist die Aufgabe nur halb gekonnt. Erfolgt die Zuordnung rein<br />
unwillkürlich, so gilt dies als nicht gekonnt.<br />
Zweites Lebensjahr: (B) Handmotorik<br />
(B14) Räumt Dinge aus und ein<br />
Kann das Kind einen Kasten<strong>de</strong>ckel öffnen und drei von fünf kleinen Gegenstän<strong>de</strong>n aus- und<br />
wie<strong>de</strong>r einräumen? In einem kleinen Holzkästchen, <strong>de</strong>ssen Deckel leicht zu öffnen ist, sollen<br />
sich fünf kleine Spieldinge befin<strong>de</strong>n, z.B. eine Klammer, ein Lego-Baustein, ein<br />
Plastiklöffelchen usw. Das Kind soll auf Vorzeigen o<strong>de</strong>r aus eigenem Antrieb die Schachtel<br />
öffnen, die Gegenstän<strong>de</strong> nacheinan<strong>de</strong>r herausnehmen und sie auf Auffor<strong>de</strong>rung wie<strong>de</strong>r in die<br />
Schachtel tun. Die Aufgabe gilt als gekonnt, wenn drei <strong>de</strong>r fünf Dinge heraus- und wie<strong>de</strong>r<br />
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hineinbeför<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>n. Räumt es sie aus aber nicht wie<strong>de</strong>r hinein, o<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n weniger als<br />
drei Gegenstän<strong>de</strong> ein- und ausgeräumt, so ist die Aufgabe halb gekonnt. Kann <strong>de</strong>r Deckel<br />
nicht geöffnet wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r wird <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>s Kästchens einfach ausgeschüttet, so gilt dies<br />
als nicht gekonnt.<br />
Zweites Lebensjahr: (C) Körpermotorik<br />
(C 12) Geht rückwärts<br />
Kann das Kind fünf Schritte rückwärts gehen, ohne dabei zu fallen? Diese Funktion wird<br />
meist gebraucht, wenn das Kind ein Spielzeug auf Rä<strong>de</strong>rn rückwärts gehend hinter sich<br />
herzieht. Die Aufgabe gilt als gekonnt, wenn das Kind diese Aufgabe sicher und<br />
gleichbleibend beherrscht. Sie gilt als halb gekonnt, wenn die Leistung zwar schon hin und<br />
wie<strong>de</strong>r vollbracht wur<strong>de</strong>, es aber noch an <strong>de</strong>r nötigen Sicherheit mangelt. Nicht gekonnt sind<br />
sie, wenn das Kind zu <strong>de</strong>r Leistung noch nicht imstan<strong>de</strong> ist.<br />
Zweites Lebensjahr: (D) Sprache<br />
(D 24) Benennt vier Dinge<br />
Kann das Kind vier Gegenstän<strong>de</strong>, Spielsachen o<strong>de</strong>r Spieltiere auf Befragen benennen? Es<br />
genügt, wenn die Antworten in Babysprache gegeben wer<strong>de</strong>n. Wer<strong>de</strong>n nur drei Dinge<br />
benannt, so ist dies mit halb gekonnt zu bewerten. Bei nur zwei Benennungen ist die Aufgabe<br />
nicht gekonnt.<br />
Zweites Lebensjahr: (E) Akustische Wahrnehmung<br />
(E22) Möchtest du...?<br />
Reagiert das Kind auf die Frage „Möchtest Du noch einen Keks?“. Fragen sie das Kind bei<br />
verschie<strong>de</strong>nen Gelegenheiten, ob es noch etwas zu essen o<strong>de</strong>r zu spielen <strong>haben</strong> möchte. Die<br />
Aufgabe gilt als gekonnt, wenn das Kind durch Kopfnicken o<strong>de</strong>r Kopfschütteln o<strong>de</strong>r auch<br />
durch „ja“ o<strong>de</strong>r „nein“ antwortet. Wenn Sie es mehrmals fragen müssen und das Kind nur<br />
manchmal richtig reagiert, so gilt die Aufgabe als halb gekonnt. Zeigt es keine Reaktion, so<br />
ist die Aufgabe nicht gekonnt.“ (ebd., S. 66 ff)<br />
Die theoretischen Grundlagen zum Aufbau <strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n Entwicklungsgitters basieren<br />
natürlich nicht ausschließlich auf PIAGET, son<strong>de</strong>rn auf statistisch ermittelten Normwerten.<br />
Aber von ihm stammt die Einteilung in die sensumotorische Phase und die damit verknüpften<br />
22
Anfor<strong>de</strong>rungen. Auch bei bestimmten spielerischen Übungen wie beispielsweise die nötige<br />
Fähigkeit <strong>de</strong>s Kleinkin<strong>de</strong>s einen versteckten Gegenstand wie<strong>de</strong>rzufin<strong>de</strong>n, stammt von ihm.<br />
Auch die Tatsache, dass das Kind vor allem im Spiel lernen wür<strong>de</strong>, hat PIAGET unterstützt.<br />
Auch er hat <strong>de</strong>m Greifen für das Erlernen kognitiver Fähigkeiten eine große <strong>Be<strong>de</strong>utung</strong><br />
beigemessen. KIPHARD selbst schreibt: „Man sagt, das Betasten und Ergreifen mit <strong>de</strong>r Hand<br />
unterstütze das Begreifen mit <strong>de</strong>m Gehirn.“ (ebd., S.76) Voraussetzung dafür aber sei, dass es<br />
genügend einfache Materialien für Experimentierspiele zur Hand habe. Ein Baby brauche<br />
Papier, Karton, Bast, Le<strong>de</strong>r, Gummi, Stein, Metall und Textilien mit unterschiedlichsten<br />
Greifqualitäten, um seine Lernbedürfnisse befriedigen zu können! Lernen solle dabei<br />
erlebnisreiches und für <strong>de</strong>n einzelnen erfolgreiches Spiel sein. Den Eltern falle die schwere<br />
Aufgabe zu, ihrem Kind das Richtige zur rechten Zeit spielerisch nahezubringen. Sie müssten<br />
wissen, was ihr Kind schon alles kann, vor allem aber welcher nächste Lernschritt über<br />
bestimmte Übungangebote erreicht wer<strong>de</strong>n sollte. Je nach Entwicklungsstand müssten ganz<br />
verschie<strong>de</strong>ne Spielanregungen an das Kind herangebracht wer<strong>de</strong>n.<br />
In indirekter Anlehnung an PIAGET, verweist KIPHARD darauf, dass die gesamte kindliche<br />
Entwicklung in ständiger Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Umweltsituationen vor<br />
sich ginge. Dabei lerne das Kind, sich mehr und mehr an das, was es in <strong>de</strong>r Umwelt vorfin<strong>de</strong>t,<br />
anzupassen. Hier fin<strong>de</strong>t wie<strong>de</strong>r PIAGET Assimilations- und Akkomodationsgedanke<br />
Eingang.<br />
KIPHARD warnt vor zu frühen Leistunganfor<strong>de</strong>rungen, die unvermeidlich zu<br />
Mißerfolgserlebnissen führen müssten, so dass Kin<strong>de</strong>r später bei neuen Aufgaben<br />
wahrscheinlich schnell die Lust verliere.<br />
Die Spalte „Handgeschicklichkeit“ (B) stelle eine enge Beziehung zwischen körperlichen und<br />
geistigen Tätigkeiten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s dar. Wenn ein Kind seine Hän<strong>de</strong> greifend und fühlend zum<br />
Untersuchen von allen möglichen Gegenstän<strong>de</strong>n gebraucht, so mache es damit<br />
Lernerfahrungen. Erst komme jedoch das Sehen, dann erst das Greifen. Es müsse die optische<br />
Orientierung vorangegangen sein, ehe die Hän<strong>de</strong> zum sinnvollen Han<strong>de</strong>ln eingesetzt wer<strong>de</strong>n<br />
könnten. Im Zusammenwirken von Auge und Hand entstehe also so etwas wie „praktische<br />
Intelligenz“. Auch PIAGET betont die <strong>Be<strong>de</strong>utung</strong> <strong>de</strong>r Auge-Hand-Koordination. Die<br />
erfolgreiche Koordination von Auge und Hand sei eine notwendige Voraussetzung für die<br />
23
Ausbildung <strong>de</strong>s Objektbegriffs und <strong>de</strong>r Tiefenwahrnehmung. PIAGET, so beschreiben es<br />
zumin<strong>de</strong>st OERTER/MONTADA (1995, S. 210), gehe davon aus, dass Säuglinge unter vier<br />
Monaten noch nicht gezielt nach einem gesehenen Gegenstand greifen können. Es gibt jedoch<br />
Befun<strong>de</strong>, die bereits gegen eine anfängliche Trennung von Auge und Hand sprechen. So hat<br />
HOFSTEN (1982) zitiert nach OERTER/MONTADA (1995) fünf bis neun Tage alten Babys<br />
ein sich langsam und unregelmäßig bewegen<strong>de</strong>s Bällchen aus farbigen Zwirn gezeigt. (Die<br />
Babys saßen in einer Befestigung, die einen aufrechten Sitz ermöglichte und die freie<br />
Armbewegung zuließ.) Bei Zielfixation verfehlten die Babys das Ziel im Durchschnitt nur um<br />
32 Grad, ohne Zielfixation dagegen im Durchschnitt um 52 Grad.<br />
Auch für KIPHARD (1975, S. 82) ist die Entstehung <strong>de</strong>r Objektpermanenz ein wichtiger<br />
altersgemäßer Entwicklungsschritt. Er schreibt: „Wenn es etwa ein Jahr alt ist, erkennt das<br />
Baby sein Fläschchen o<strong>de</strong>r sein Lieblingstier wie<strong>de</strong>r. Es ist nun auch in <strong>de</strong>r Lage etwas, was<br />
vor seinen Augen mit einem Tuch be<strong>de</strong>ckt wur<strong>de</strong>, wie<strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>m Ver<strong>de</strong>ck hervorzuholen,<br />
wenn man es nicht sieht. Für das Baby be<strong>de</strong>utet das einen großen Schritt vorwärts in seiner<br />
geistigen Entwicklung. Es kann sich an das plötzlich verschwun<strong>de</strong>ne Spielzeug noch nach ein<br />
paar Sekun<strong>de</strong>n erinnern. Damit hat es die Fähigkeit erreicht, sich einen Gegenstand<br />
vorzustellen, <strong>de</strong>n es momentan gar nicht sehen kann.“<br />
5 Piagets Leistungen für die Entwicklungstheorie<br />
In Frankreich und wohl auch in Deutschland ist die Entwicklungspsychologie mit <strong>de</strong>m Namen<br />
JEAN PIAGET (1896-1980) eng verbun<strong>de</strong>n, so LÉCUYER in seinem Anhang. 1936, als man<br />
nur sehr wenig und noch weniger Genaues über Babys wußte, erschien sein revolutionäres<br />
und auch schwieriges Buch „Das Erwachen <strong>de</strong>r Intelligenz beim Kin<strong>de</strong>“ erklärt die<br />
„Illustrierte Geschichte <strong>de</strong>r Psychologie“ ( LÜCK/ MILLER 1999). Ein Jahr später wur<strong>de</strong> die<br />
Fortsetzung mit <strong>de</strong>m Titel „Der Aufbau <strong>de</strong>r Wirklichkeit beim Kin<strong>de</strong>“ veröffentlicht. Diese<br />
bei<strong>de</strong>n Werke, <strong>de</strong>nen noch viele weitere folgten, basieren zum einen auf <strong>de</strong>n minutiösen<br />
Beobachtungen, die Piaget an seinen drei Kin<strong>de</strong>rn vornahm, und zum an<strong>de</strong>ren auf einer<br />
Theorie, die Intelligenz als Fortsetzung <strong>de</strong>r biologischen Adaption versteht, meinen LÜCK/<br />
MILLER (1999).<br />
Als Biologe und Wissenschaftstheoretiker setzte sich PIAGET damit auseinan<strong>de</strong>r, wie neue<br />
I<strong>de</strong>en entstehen, also wie Wissenschaft eigentlich funktioniert so LÉCUYER. Doch die<br />
Mechanismen, die wirksam wer<strong>de</strong>n, wenn man eine Theorie aufstellt o<strong>de</strong>r ein neues<br />
24
Verfahren erfin<strong>de</strong>t, sind äußerst komplex und schwer zu verstehen. PIAGET kam daher auf<br />
<strong>de</strong>n Gedanken, die Entstehungsgeschichte dieser Mechanismen zu erforschen, und fing damit<br />
beim Säugling an. Er wollte genau beschreiben, wie sich das Denken in seinen Anfängen<br />
formiert, und war so <strong>de</strong>r erste Wissenschaftler, <strong>de</strong>r eine fundierte Theorie über die Intelligenz<br />
von Säuglingen aufstellte, so je<strong>de</strong>nfalls sieht es ROGER LÉCUYER.<br />
PIAGET habe nicht nur die Säuglingspsychologie geprägt, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n gesamten Bereich <strong>de</strong>r<br />
Entwicklungspsychologie. Seine Theorie sei in <strong>de</strong>r Tat von großer Tragweite, und noch heute<br />
bezögen sich Wissenschaftler auf seine Erkenntnisse, und sei es auch nur, um sie in Frage zu<br />
stellen. Was die Säuglingspsychologie angeht, so hätten sich unsere Vorstellungen sehr<br />
verän<strong>de</strong>rt, und die meisten Antworten, die Piaget gegeben habe, hätten ihre Gültigkeit<br />
verloren. Er hat aber über die Stufen <strong>de</strong>r Sensumotorik Anregungen zur Erforschung <strong>de</strong>r<br />
„Leistungen“ auch von Kleinkin<strong>de</strong>rn/ Babys gegeben, rühmt ihn LÉCUYER. Er habe also die<br />
richtigen Fragen zu stellen gewusst, und das sei in <strong>de</strong>r Wissenschaft von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r<br />
<strong>Be<strong>de</strong>utung</strong>.<br />
Der Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kognitionsforschung hat <strong>de</strong>m Gedanken einer stufenweisen Entwicklung<br />
zum Erwachsenwer<strong>de</strong>n zum Durchbruch verholfen. Er sorgte dafür, dass eine<br />
stufenangemessene För<strong>de</strong>rung als pädagogische Aufgabe betrachtet und vertieft wur<strong>de</strong>. Auf<br />
diesem Hintergrund war es möglich, frühe Fehlentwicklung durch das Wissen um<br />
Normalentwicklung erkennen und behan<strong>de</strong>ln zu können. Entwicklungstests und<br />
Entwicklungsgitter entstan<strong>de</strong>n auf solcherlei Basis, beschreibt LÉCUYER die Leistungen<br />
PIAGETS. Er gab Anregungen für das richtige Babyspielzeug und die richtige<br />
anregungsreiche Umgebung für Kin<strong>de</strong>r. PIAGETS Erziehungsi<strong>de</strong>ologie sorgte dafür, dass<br />
Lehren nicht mehr nur die Wie<strong>de</strong>rgabe von auswendiggelerntem Wissen darstellte. PIAGET<br />
glaubte, dass die Äquilibrationsprozsesse, die zum Aufbau komplexerer Struktursysteme<br />
führen, ohne Anleitung vollzogen wür<strong>de</strong>n. Sei ein bestimmtes Strukturnievau einmal erreicht,<br />
dann mag ein Lehrer die Aufgabe übernehmen, Gegenstän<strong>de</strong> anzubieten, auf die sich die<br />
Strukturen anwen<strong>de</strong>n ließen. Dieser Absatz bezieht sich nun auf die Entwicklung <strong>de</strong>s dritten<br />
und vierten Stadiums. Ich halte KIPHARDS Ausführungen für wichtig, da sie wirklich <strong>de</strong>n<br />
Anspruch erheben, ein Leitfa<strong>de</strong>n für Eltern zu sein. Er ist trotz<strong>de</strong>m nicht völlig theoriefern.<br />
Piagets sensumotorisches Stufenmo<strong>de</strong>ll kann nicht als Leitfa<strong>de</strong>n für die Praxis verwen<strong>de</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n, aber die Ratgeberliteratur hat ihn oft als ihren Mentor bezeichnet und sich seiner<br />
25
Normentwicklung als Leitfa<strong>de</strong>n bedient, selbst dann noch als er bereits als überholt betrachtet<br />
wur<strong>de</strong>.<br />
6 Schlußwort<br />
Lei<strong>de</strong>r bin ich in meiner Hausarbeit nicht zu <strong>de</strong>m gewünschten Ergebnis gekommen. Ich hatte<br />
gehofft, zeigen zu können, was <strong>Entwicklungstheorien</strong> für <strong>de</strong>n Praktiker alles bieten können.<br />
Nun muß ich wohl zugeben, das die sensumotorische Phase nach PIAGET doch eher abstrakt<br />
neben <strong>de</strong>r tatsächlichen Entwicklung steht. Dennoch glaube ich, dass <strong>Entwicklungstheorien</strong><br />
als Orientierungshilfen und Zukunftsprognosen, wie in <strong>de</strong>r Einleitung ausgeführt,<br />
unabdingbar bleiben.Sie fin<strong>de</strong>n immerhin indirekt Eingang in mo<strong>de</strong>rne Ratgeberliteratur und<br />
stehen in ständiger Wechselbeziehung mit <strong>de</strong>r Praxis. Außer<strong>de</strong>m ist mir bei <strong>de</strong>r Lektüre über<br />
PIAGET aufgefallen, dass seine Theorien, was höhere Stadien <strong>de</strong>r Entwicklung betrifft, wie<br />
beispielsweise die logische Denkfähigkeit durchaus für Lehrer Relevanzen aufweisen, ob und<br />
wie weit diese reichen, wäre in einer weiteren Arbeit zu prüfen. Ich habe je<strong>de</strong>nfalls in <strong>de</strong>r<br />
fünften Klasse <strong>de</strong>n Versuch mit <strong>de</strong>m Wssserglas das einen niedrigeren Durchmesser bzw.<br />
einen höheren Durchmesser hat, machen müssen.<br />
KRITZ, LÜCK und HEIDBRINK (1996, S. 166) zitieren in <strong>de</strong>m Werk „Wissenschafts und<br />
Erkenntnistheorie“ FRITZ HEIDER, <strong>de</strong>r in seiner Einleitung zu seiner „Psychologie <strong>de</strong>r<br />
interpersonalen Beziehungen schrieb: „Wenn man (...) alle Kenntnisse <strong>de</strong>r wissenschaftlichen<br />
Psychologie aus unserer Welt herausnehmen wür<strong>de</strong>, dann könnten Probleme <strong>de</strong>r<br />
zwischenmenschlichen Beziehungen (...) fast genauso gut wie vorher gelöst wer<strong>de</strong>n“.<br />
Bezogen auf Entwicklungspsychologie hieße das: „Wenn man alle Kenntnisse <strong>de</strong>r<br />
Entwicklungspsychologie aus unserer Welt herausnehmen wür<strong>de</strong>, dann könnten Probleme <strong>de</strong>r<br />
Entwicklung fast genauso gut wie vorher gelöst wer<strong>de</strong>n.“ Ich halte diesen Satz nach wie vor<br />
für falsch. Denn ohne entwicklungstheoretische Aussagen wäre es fast unmöglich, Menschen<br />
einzuschätzen und ihren alterspezifischen Eigenheiten Rechnung zu tragen. So gibt es Eltern<br />
doch eine gewisse Sicherheit zu wissen, dass Trennungsangst, Frem<strong>de</strong>nangst und Trotzphasen<br />
alltägliche Phänomene darstellen.<br />
In meinen Ausführungen zur allgemeinen <strong>Be<strong>de</strong>utung</strong> von <strong>Entwicklungstheorien</strong> habe ich<br />
darüber hinaus einen wichtigen Punkt vergessen: das Erlernen eines kritisch-distanzierten<br />
Blickes auf das Kind. Kenntnisse über normale Fähigkeiten schon von Säuglingen schärft <strong>de</strong>n<br />
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Blick <strong>de</strong>s Betrachters, die Beobachtungsfähigkeit wird geschult. Außer<strong>de</strong>m können Theorien<br />
neue Möglichkeiten <strong>de</strong>r Erziehung eröffnen. So ist jemand, <strong>de</strong>r sich nicht nur jahrelanger<br />
Kin<strong>de</strong>rgartenpraxis erfreut, son<strong>de</strong>rn zusätzlich noch mit Theorien zu diesem Kindheitsstadium<br />
auseinan<strong>de</strong>rgesetzt hat, vielleicht eher in <strong>de</strong>r Lage, seine eigene Metho<strong>de</strong> kritisch zu<br />
hinterfragen und Alternativen auszuprobieren. Theorien dienen <strong>de</strong>mnach <strong>de</strong>r Erweiterung <strong>de</strong>s<br />
Wissensbestan<strong>de</strong>s. Nur wenn man sich theoretisch mit Fragen z.B. <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>sentwicklung<br />
auseinan<strong>de</strong>rsetzt, kann man das eigene Verhalten also kritisch reflektieren. Wissenschaft hat<br />
nie <strong>de</strong>n Anspruch erhoben ein „Kochbuch“ für richtiges Han<strong>de</strong>ln zu sein. Statt<strong>de</strong>ssen versucht<br />
die Wissenschaft die Wahrheit über die Wirklichkeit zu ent<strong>de</strong>cken, wobei es vor allem auf<br />
gezielte und präzise Fragen ankommt. Die Wissenschaft beginnt und en<strong>de</strong>t mit Fragen, sie<br />
glaubt nicht die Wirklichkeit jemals ent<strong>de</strong>ckt zu <strong>haben</strong>.<br />
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