08.05.2012 Aufrufe

Vorarlberger Suizidbericht 2005

Vorarlberger Suizidbericht 2005

Vorarlberger Suizidbericht 2005

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

Albert Lingg<br />

Isabel Bitriol<br />

Reinhard Haller<br />

Korrespondenzanschrift:<br />

Chefarzt Prim. Dr. Albert Lingg<br />

Landeskrankenhaus Rankweil<br />

A-6830 Rankweil<br />

albert.lingg@lkhr.at<br />

Univ-Prof. Dr. Reinhard Haller<br />

Institut für Suchtforschung / KH Maria Ebene<br />

A-6800 Feldkirch, Postfach 35<br />

reinhard.haller@suchtforschung.at


1. Einleitung<br />

Nach Schätzungen der WHO ereignen sich weltweit pro Jahr etwa eine Million Suizide<br />

und 10- bis 20mal so viele Suizidversuche. Dies bedeutet, dass dabei jährlich mehr<br />

Menschen ums Leben kommen, als durch alle Kriege der Welt zusammen. Bei Jugendlichen<br />

und jungen Erwachsenen sind Suizide sogar die zweithäufigste Todesursache<br />

nach Unfällen.<br />

In der westlichen Welt sterben jeden Tag 1.000 Menschen durch Suizid. In der Europäischen<br />

Union suizidieren sich nach einer Meldung der EU-Kommission aus dem<br />

Jahr <strong>2005</strong> jährlich etwa 58.000 Menschen. In Relation dazu sind 50.700 Verkehrstote<br />

und 5.350 Opfer von Gewaltverbrechen zu beklagen. In der Bundesrepublik<br />

Deutschland nimmt sich alle 45 Minuten ein Mensch das Leben. In Österreich, wo<br />

der Suizidtod jährlich knapp 1.500 Menschenleben fordert, werden pro Jahr rund<br />

25.000 Personen wegen einer Suizidhandlung in Krankenhäuser eingeliefert.<br />

International gelten Russland, Ukraine, Weißrussland, Estland, Lettland, Litauen, Sri<br />

Lanka, Japan und Finnland als Länder mit den höchsten Suizidraten. Somit verstirbt<br />

in unserer Gesellschaft jeder 71. Mann und jede 149. Frau verstirbt durch Selbsttötung.<br />

16% aller PatientInnen mit überlebtem Suizidversuch begehen im Folgejahr eine<br />

erneute selbstaggressive Handlung. Während Suizidversuche eine Domäne der<br />

Jugend und der jungen Erwachsenen sind, häufigen sich im höheren Alter die vollendeten<br />

Selbsttötungen. Bei den über 70Jährigen liegt die Suizidrate bei fast 50 (bei<br />

den unter 20Jährigen weniger als 5).<br />

Diese eindrucksvollen Zahlen rufen bei uns Verwunderung und Erstaunen, allenfalls<br />

Beunruhigung und Entsetzen aus. Es muss uns aber bewusst sein, dass hinter dem<br />

statistischen Zahlenmaterial auch individuelle Schicksale aus unserem Land stehen.<br />

Betroffen machen nur Einzelschicksale, also Suizide oder Suizidversuche von Personen<br />

aus unserem näheren Umfeld oder unserem Bekanntenkreis. Genau an dieser<br />

Stelle setzt der vom aks jährlich veröffentlichte <strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> an. Dieser<br />

versucht, die in unserem Land zu beklagenden Suizidfälle statistisch zu erfassen, daraus<br />

für die Prävention und Behandlung wichtige Schlüsse zu ziehen, die jährlichen<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

2


Raten miteinander zu vergleichen und dadurch etwaige Trends, die sich in einem<br />

wichtigen Indikator für psychosoziale und allgemein-menschliche Probleme in unserem<br />

Land ergeben, aufzuzeigen.<br />

Der nun schon seit 21 Jahren jährliche publizierte <strong>Suizidbericht</strong> soll der Enttabuisierung<br />

und fachlichen Auseinandersetzung mit dem Suizidthema dienen und sowohl<br />

Verdrängungen als auch Dramatisierungen entgegenwirken. Für alle im psychosozialen<br />

und psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich tätigen Personen und Institutionen<br />

bietet er nicht nur sachliche Grundlage, sondern auch Anregung. Für die Gesundheitspolitik<br />

bedeutet er eine wichtige Basis für die Planung primär- und sekundärpräventiver<br />

Maßnahmen im psychosozialen Bereich, die gesamthaft auch suizidpräventiven<br />

Charakter haben. Für die AutorInnen ist er Anlass, das gesellschaftliche<br />

Bewusstsein für eines ihrer bedrückendsten Kapitel in konstruktiven Sinne aufrecht<br />

zu erhalten, die suizidpräventiven Maßnahmen zu überdenken und allenfalls zu modifizieren<br />

sowie neue Wege der Prophylaxe zu planen. Die in den letzten Jahren stets<br />

auf behutsame und sachliche Weise erfolgte mediale Berichterstattung ist dabei eine<br />

besondere Hilfe.<br />

Statistische Grundlagen<br />

Der <strong>Suizidbericht</strong> stützt sich einerseits auf die jährlich veröffentlichten Daten der Statistik<br />

Austria, die allerdings nur grobe Unterkategorisierung zulässt und sich deswegen<br />

nur beschränkt für Schlussfolgerungen eignet, andererseits auf das seit 1987<br />

beim aks eingerichtete <strong>Vorarlberger</strong> Suizidregister. In diesem werden in anonymisierter<br />

Form durch die bei Suizidereignissen hinzu gerufenen ExekutivbeamtInnen alle<br />

Fälle nach verschiedenen Kriterien erfasst und dem aks in anonymisierter Form gemeldet.<br />

Diese Daten eigenen sich für eine nähere soziodemographische Beschreibung<br />

und für genauere Analysen der Suizidursachen und –umstände. Obwohl auf<br />

diesem Weg (teilweise auch durch unterschiedliche Zählweisen bedingt) nur etwa<br />

zwei Drittel aller Suizidtoten erfasst sind, wird in der deskriptiv-statistischen Subanalyse<br />

auf diesen Zahlenmaterial zurückgegriffen, zumal es doch recht repräsentativ<br />

sein dürfte.<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

3


2. Ergebnisse der Statistik Austria<br />

Die von der Statistik Austria zur Verfügung gestellten absoluten Zahlen bringt für das<br />

Jahr <strong>2005</strong> mit 69 erfassten Suizidfällen (51 Männer, 18 Frauen) ein beunruhigendes<br />

Ergebnis. Der gegenüber 2004 zu vermerkende Anstieg um 21% ist ausschließlich<br />

auf eine Steigerung bei den männlichen Suizidanten, von 39 auf 51 bzw. um 30,8%<br />

zurückzuführen, während die Zahl der weiblichen Suizidanten mit je 18 gleich<br />

geblieben ist. Wenn gleich die Suizidraten in den letzten Jahren erheblichen Schwankungen<br />

zeigen, ist seit dem Jahr 1998, in welchem mit 43 Fällen (32 Männer, 11<br />

Frauen) ein langjähriger Tiefstand erreicht wurde, doch ein tendenzieller Anstieg zu<br />

vermerken, welcher auf eine neue Suizidwelle hindeuten könnte.<br />

Abb. 1: Absolute Suizidzahlen für Vorarlberg 1970-<strong>2005</strong> (Quelle: Statistik Austria)<br />

Anzahl<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

41<br />

27<br />

49<br />

41<br />

45<br />

38<br />

34<br />

47<br />

81<br />

77<br />

76<br />

69<br />

71<br />

68<br />

69<br />

63<br />

60<br />

62<br />

63<br />

60 60 61<br />

65<br />

53<br />

50 49<br />

56<br />

57<br />

54<br />

55 54<br />

51<br />

48<br />

43<br />

57<br />

38<br />

19701971197219731974197519761977197819791980198119821983198419851986198719881989199019911992199319941995199619971998199920002001200220032004<strong>2005</strong><br />

Österreichweit ist hingegen entgegen dem <strong>Vorarlberger</strong> Trend mit insgesamt 1.392 Fällen<br />

(1.043 männlich, 349 weiblich) gegenüber dem Vorjahr ein Rückgang um 26 Fälle<br />

zu beobachten.<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

Jahr<br />

4


Bundesländervergleich<br />

Im Bundesländervergleich liegt Vorarlberg <strong>2005</strong> mit einer Suizidziffer (= jährliche Fälle<br />

pro 100.000 Einwohner) von 19,2 deutlich über dem österreichischen Schnitt<br />

(17,0) und nimmt innerhalb der Bundesländer nunmehr nach der Steiermark (22,6)<br />

den zweiten Platz ein, knapp vor Salzburg (18,7) und Kärnten (17,7). Die günstigsten<br />

Verhältnisse ergeben sich im Beobachtungsjahr im Burgenland (9,0).<br />

Abb. 2: Suizidraten der einzelnen Bundesländer <strong>2005</strong> (Quelle: Statistik Austria)<br />

Suizidrate pro 100.000 EW<br />

25,0<br />

20,0<br />

15,0<br />

10,0<br />

5,0<br />

0,0<br />

Kärnten<br />

17,7<br />

Steiermark<br />

22,6<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

16,3<br />

Tirol<br />

Österreich ges.<br />

17,0<br />

Salzburg<br />

18,7<br />

Oberösterreich<br />

15,7 16,0<br />

Niederösterreich<br />

Wien<br />

15,6<br />

Burgenland<br />

9,0<br />

Vorarlberg<br />

Auffallend ist an den Zahlen des Jahres <strong>2005</strong>, dass mit den Bundesländern Vorarlberg<br />

und Salzburg nicht nur Regionen mit relativ hohem Wohlstand und großer wirtschaftlicher<br />

Kaufkraft, sondern auch mit gut strukturierten suizidpräventiven Aktivitäten<br />

an der Spitze vertreten sind. Dies ist keinesfalls als Hinweis auf die Wirkungslosigkeit<br />

von prophylaktischen Maßnahmen (deren Notwendigkeit naturgemäß gerade<br />

in sehr betroffenen Regionen gesehen wird, was einen forcierten Ausbau zur Folge<br />

hat), sondern deutet vielmehr auf ein gewisses psychosoziales Splitting und auch auf<br />

Auswirkungen eines starken Leistungsdruckes hin. Gerade berufliche Probleme oder<br />

gesellschaftliches Versagen im weitesten Sinne wirken sich in einer sehr leistungsbezogenen<br />

Gesellschaft viel dramatischer aus.<br />

19,2<br />

5


Verkehrstote und Suizidfälle<br />

Besonders drastisch fällt im Jahr <strong>2005</strong> der Vergleich zwischen Verkehrstoten und Suizidfällen<br />

aus. Während zur Bewusstmachung die Größe des Suizidproblems vor Jahren<br />

noch die Feststellung, dass zwischenzeitlich durch Suizid mehr Menschen versterben<br />

als im Straßenverkehr, herangezogen wurde, ist es im Verhältnis dieser beiden<br />

unnatürlichen Todessachen jetzt fast zu einem Quantensprung gekommen: 25<br />

Verkehrsopfern stehen 69 Suizidtote (Verhältnis 1 : 2,76) gegenüber. Damit wird<br />

nicht nur der Stellenwert des Suizidproblems eindrücklich dargestellt, sondern eine<br />

Zielvorstellung bezüglich der Chancen eines breiten Spektrums präventiver Maßnahmen,<br />

die im Straßenverkehr offensichtlich greifen, auch für den Suizidbereich geliefert.<br />

Abb. 3: Suizide und Verkehrstote in Vorarlberg 1996-<strong>2005</strong><br />

Anzahl<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

54<br />

22<br />

(Quelle: Statistik Austria)<br />

51<br />

35<br />

43<br />

19<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

48<br />

35<br />

Suizide Verkehrstote<br />

57<br />

39<br />

55 54<br />

33 33<br />

1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 <strong>2005</strong><br />

Jahr<br />

65<br />

17<br />

57<br />

31<br />

69<br />

25<br />

6


Verteilung nach Geschlecht<br />

Im Jahr <strong>2005</strong> wurden in Vorarlberg 51 Suizide von Männern und 18 von Frauen registriert.<br />

Die Suizidzahlen der Männer liegen damit auf einem ähnlichen Niveau wie<br />

in den Jahren 1990, 1992,1995, 2003 und <strong>2005</strong>. Dem gegenüber wurden Ende des<br />

letzten Jahrzehnts mit 32 Fällen im Jahr 1998 und 34 im Jahr 1999 absolute Tiefwerte<br />

erreicht. Zwischen 2004 und <strong>2005</strong> ist nun bei den Männern ein drastischer Anstieg<br />

festzustellen, der näher analysiert werden muss. Die sich in der psychosozialen<br />

Betreuung und Beratung immer als wichtiger herauskristallisierende Notwendigkeit<br />

von eigenen „Männerprojekten“ wird wohl auch in der Suizidprävention zu übernehmen<br />

sein. Die in den letzten Monaten in den Mittelpunkt geratene Diskussion um<br />

Gewalttätigkeit und (Männer-)Gewaltausübung, muss aus unserer Sicht ganz besonders<br />

auch den bei Männern offensichtlich viel stärker ausgeprägten selbstaggressiven<br />

Aspekt mit einbeziehen.<br />

Bei den Frauen ist dieser Trend günstiger, mit je 18 Fällen wurde im Berichtsjahr der<br />

gleiche Wert wie 2004 erreicht. Die starke Betroffenheit des männlichen Geschlechts,<br />

die nahezu weltweit registriert wird, deutet einerseits wohl auf die stärkeren<br />

Auswirkungen von Konkurrenzdruck und Leistungsversagen, auf männlicher Seite,<br />

aber auch auf die höhere Bereitschaft des weiblichen Geschlechts psychotherapeutische<br />

und psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen, hin. Während das Verhältnis<br />

von Männer zu Frauen bei den Suizidtoten zu Beginn der 90er Jahre und auch<br />

im Jahr 2004 bei etwa 2 : 1 lag, ist nun eine Relation von 2,83 erreicht, was zusammenfassend<br />

auf die besondere Notwendigkeit der vermehrten Befassung mit männlicher<br />

(Selbst-)Aggression hindeutet.<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

7


Abb. 4: Geschlechtsverteilung 1990-<strong>2005</strong> (Quelle: Statistik Austria)<br />

Anzahl<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

49<br />

27<br />

40<br />

20<br />

52<br />

16<br />

39<br />

21<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

45<br />

11<br />

50<br />

Männer Frauen<br />

43<br />

11 11<br />

36<br />

15<br />

32<br />

11<br />

34<br />

14<br />

38<br />

19<br />

41 41<br />

14 13<br />

51<br />

15<br />

39<br />

51<br />

18 18<br />

1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 <strong>2005</strong><br />

Verteilung nach Lebensalter:<br />

Der beschriebene Anstieg von Suizidtoten betrifft besonders das mittlere Alter (30 –<br />

54), während sich die Verhältnisse bei den jungen und hohen Altersgruppen günstiger<br />

darstellt. Glücklicherweise war auch <strong>2005</strong> kein Kindersuizid zu beklagen, allerdings<br />

sind vier Suizidfälle bei den 15- bis 29Jährigen zu beklagen.<br />

Bei den über 70Jährigen stellt sich nach wie vor eine günstige Situation dar, wenn<br />

gleich einzelne spektakuläre Fälle den international zu beobachtenden Trend eines<br />

rapiden Anstiegs von Suizidalität im Alter zu bestätigen scheinen.<br />

Jahr<br />

8


Abb. 5: Altersverteilung 2004-<strong>2005</strong> (N = 69); (Quelle: Statistik Austria)<br />

Absolute Zahlen<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

0 0<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

3<br />

4<br />

5<br />

2 2 2<br />

1<br />

5<br />

5<br />

8<br />

7<br />

12<br />

2004 <strong>2005</strong><br />

1<br />

5<br />

3<br />

7<br />

12<br />

3<br />

7<br />

8<br />

1<br />

6<br />

3 3<br />

2 2<br />

3<br />

9<br />

2<br />

1 1<br />

bis 14 15-19 20-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-84 85 und<br />

älter


3. Zahlen aus dem aks-Suizidregister<br />

GastarbeiterInnen und AsylantInnen<br />

Auffallend ist nach wie vor der äußerst geringe Anteil von GastarbeiterInnen und<br />

AsylantInnen unter den Suizidopfern. Da beide Gruppen großteils aus Ländern mit<br />

traditionell niedrigen Suizidraten (aus gesellschaftlichen und religiösen Gründen)<br />

stammen, liegt ihr Basisrisiko weiter unter jenem der einheimischen Bevölkerung.<br />

Zudem scheinen Zusammenhalt innerhalb dieser gesellschaftlichen Subgruppen wie<br />

auch die Möglichkeit, in schwierigen Situationen und bei Krisen in die Heimat zurückzukehren,<br />

einen suizidprotektiven Effekt zu besitzen.<br />

Abb. 6: Suizidfälle in Vorarlberg <strong>2005</strong> (N = 44): Geburtsland (Quelle: aks)<br />

übriges Österr.; n = 27%<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

Ausland; n = 2%<br />

Vorarlberg; n = 71%<br />

Inwieweit dieser Effekt bei den Kindern der 2. Gastarbeitergeneration anhalten wird,<br />

ist angesichts deren Assimilation an die hiesige Kultur und Gesellschaft, der gerade in<br />

diesen Gruppen zu beobachtenden hohen Betroffenheit mit Alkohol- und Drogenproblemen<br />

und der stärker verbreiteten Arbeitslosigkeit zu bezweifeln.<br />

10


Familienstand<br />

59% der Suizidopfer lebten zum Zeitpunkt des Todes in keiner Partnerschaft. Der<br />

früher geringere Anteil an geschiedenen bzw. verwitweten SuizidentInnen gleicht<br />

sich allmählich an den traditionell hohen, von ledigen Suizidopfern an. Daran spiegelt<br />

sich eine gesellschaftliche Entwicklung. Der nach wie vor unterrepräsentierte Anteil<br />

von verheirateten Suizidenten bestätigt nicht nur eine in der Suizidologie bekannte<br />

Erfahrungstatsache, wonach die „Institution Ehe ein guter Schutz vor Selbstmord“<br />

ist, sondern stimmt mit den kürzlich veröffentlichten Erkenntnissen, dass eheliche<br />

Partnerschaften auch gegenüber Depressionen, der wichtigsten psychischen Erkrankung<br />

bei Suizidenten, eine präventive Wirkung haben.<br />

Abb. 7: Suizidfälle in Vorarlberg <strong>2005</strong> (N = 44): Familienstand (Quelle: aks)<br />

Berufsstand<br />

geschieden/verwitwet<br />

n = 23%<br />

verheiratet<br />

n = 41%<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

ledig<br />

n = 36%<br />

Der hohe Anteil von 45% an nicht berufstätigen SuizidentInnen spiegelt einige<br />

Hauptwurzeln des „Nichtmehrlebenwollens“ wider, den Verlust von beruflicher Integration,<br />

das Fehlen einer sinnvollen Aufgabe, eine gewisse gesellschaftliche Isolation,<br />

manchmal sogar eine negative Stigmatisierung. Der im Beobachtungsjahr hohe<br />

Stand an Arbeitslosen findet hier ebenso seinen Niederschlag wie die bekannten psychischen<br />

Belastungsfaktoren beim vorübergehenden oder dauernden Ausscheiden<br />

11


aus dem Berufsleben. Von diesen Belastungen sind Männer deutlich stärker betroffen<br />

als Frauen.<br />

Abb. 8: Suizidfälle in Vorarlberg <strong>2005</strong> (N = 44): Berufsstand (Quelle: aks)<br />

.Pension, arbeitslos, etc<br />

45%<br />

Unmittelbarer Anlass für den Suizidtod<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

Lehrling<br />

2%<br />

Facharbeiter<br />

16%<br />

Hausfrau/-mann<br />

5%<br />

Selbstständige<br />

9%<br />

ungelernte Arbeiter<br />

9%<br />

Angestellte od. /Beamt<br />

14%<br />

Suizidhandlungen haben immer mehrere Gründe, die oft im Dunkeln bleiben und<br />

sich oft nur in Form des letzten Auslösers, des „Tropfens, der das Fass zum Überlaufen<br />

bringt“, äußern. Im Vordergrund der bekannt gewordenen unmittelbaren Anlässe<br />

stehen gesundheitliche Sorgen, familiäre Gründe und berufliche Schwierigkeiten.<br />

Gerade bei Menschen, welche von einer unheilbaren Erkrankung erfahren bzw. diese<br />

befürchten, ist die Gefahr einer Panikhandlung sehr groß. Zwischenmenschliche<br />

Probleme, insbesondere im partnerschaftlichen Bereich, führen oft zu Panikhandlungen,<br />

die sich in ihrer tragischen Form als Suizid oder – in Vorarlberg glücklicherweise<br />

schon seit längerem nicht mehr vorgekommen – als erweiterte Suizidhandlungen<br />

darstellen. Internationale Trends legen es allerdings nahe, im breiten Feld der Suizidprävention<br />

vor allem auch Scheidungs- und Trennungssituationen, Umgang bei Problemen<br />

mit dem Obsorge- und Besuchsrecht usw. intensiv zu bearbeiten.<br />

12


Abb. 9: Suizidfälle in Vorarlberg <strong>2005</strong> (N = 44):<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

Unmittelbarer Anlass für den Suizidtod (Quelle: aks)<br />

unbekannt; 41%<br />

mehrere Gründe ; 14%<br />

familiäre Gründe; 14%<br />

wirtschaftl. Gründe; 2%<br />

berufliche Sorge; 9%<br />

gesundheitl. Sorge; 20%<br />

Unter der großen Gruppe, bei welchen kein unmittelbarer Anlass für den Suizidtod<br />

ausfindig gemacht werden konnte (45%) verbergen sich wahrscheinlich oft psychische<br />

Erkrankungen, insbesondere Depressionen, Burnout-Zustände, Angst- oder Abhängigkeitserkrankungen.<br />

Psychische Erkrankungen<br />

Bei 36% aller Suizidtoten des Jahres <strong>2005</strong> waren ernsthafte psychische Erkrankungen<br />

bekannt. Hier ist allerdings die Möglichkeit einer mehr oder minder großen Dunkelziffer<br />

zu beachten, die bei psychischen Störungen ohnehin ein großes Problem<br />

darstellt. Insbesondere Depressionen werden in vielen Fällen – oft nicht einmal von<br />

den Betroffenen – erkannt und viel zu selten einer fachgerechten Behandlung zugeführt.<br />

Daneben kommt Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Persönlichkeitsstörungen<br />

und neurotische Entwicklungen sowie organische und schizophrene Psychosen als<br />

ursächliche bzw. begleitende Erkrankungen ein bedeutender Stellenwert zu.<br />

13


Abb. 10: Suizidfälle in Vorarlberg <strong>2005</strong> (N = 44): Psychische Erkrankungen<br />

(Quelle: aks)<br />

nein<br />

n = 62%<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

unbekannt<br />

n = 2%<br />

ja<br />

n = 36%<br />

Unsere Analysen, welche allerdings erst durch aus den 5-Jahres-Zusammenfassungen<br />

erhältlichen höheren Zahlengruppen statistisch belegbar sein werden, sprechen für<br />

ähnliche Häufungen psychischer Erkrankungen, wie sie aus epidemiologischen Untersuchungen<br />

bekannt sind.<br />

Gesondert gewertet wurden im aks-Suizidregister die Kontakte zur Drogenszene,<br />

welche durch die Zusammenarbeit mit der Polizei recht verlässlich rekonstruierbar<br />

waren. Demnach waren 7% der SuizidentInnen in die Drogenszene involviert. Man<br />

muss allerdings bedenken, dass sich gerade hinter Drogentodesfällen (ebenso wie<br />

hinter Auto- und Bergunfällen) Suizide verbergen können.<br />

Abschiedsbrief<br />

Knapp 40% der SuizidentInnen des Jahres <strong>2005</strong> haben einen Abschiedsbrief hinterlassen.<br />

Nach manchen Zählweisen, die beispielsweise in Holland oder in einigen US-<br />

Staaten gelten, könnten nur diese Fälle als gesicherte Suizide gewertet werden. Dazu<br />

kommen unmittelbare und mittelbare Suizidankündigungen, welche wir mit unserem<br />

14


Untersuchungsansatz nicht erfassen können, aus der klinischen Erfahrung und spezifischen<br />

Erhebungen wissen wir allerdings, dass mindestens 70%, wahrscheinlich<br />

über 90% ihre suizidale Absicht direkt oder indirekt signalisieren. Dies ist als Appell<br />

und Hilfeschrei zu werten und widerlegt die populäre Meinung, wonach „der, der<br />

vom Selbstmord spricht, sicher keinen begeht“, aufs Gründlichste.<br />

Letzte Kontakte<br />

Die Tatsache, dass die letzten Kontakte in einem großen Teil zu EhepartnerInnen<br />

bzw. LebensgefährtInnen stattfand, ist nicht nur durch das normale soziale Kontaktmuster<br />

zu erklären, sondern sagt einiges über die Kausalität der suizidalen Entwicklung<br />

aus und bietet konkrete präventive Ansatzmöglichkeiten. Der zwischenmenschliche,<br />

vor allem der partnerschaftliche Bereich, steht dabei im Zentrum. Darauf wurde<br />

bereits an anderer Stelle verwiesen. Diese Feststellung ist keinesfalls als Schuldzuweisung<br />

an die ohnehin mit Selbstvorwürfen kämpfenden letzten Kontaktpersonen zu<br />

betrachten, sondern soll auch die schon in der ersten Suizidstudie im Jahr 1985 proklamierte<br />

Notwendigkeit der Hinterbliebenenbetreuung neuerlich bewusst machen.<br />

Art/Durchführung des Suizidtodes:<br />

Neuerlich steht die Strangulation mit 43% der Suizidmethoden an erster Stelle, allerdings<br />

nicht mehr so deutlich wie in früheren Jahren. Zugenommen haben Sprünge in<br />

die Tiefe (20%) und auch wieder Eisenbahnsuizide (10%). Sehr gering ist der Tod<br />

durch Schusswaffe (7%), dies ganz im Gegensatz zu den im August 2006 von einer<br />

Forschungsgruppe der Universität Zürich veröffentlichten Ergebnissen. Der Studienleiter<br />

Wulf Rössler kommt darin zum Schluss, dass die durch kulturelle und politische<br />

Umstände ermöglichte unmittelbare Griffnähe zu Schusswaffen – deren Zahl in<br />

Schweizer Haushalten wird mit über 3 Millionen beziffert – den (Selbst-) Tod durch<br />

Schusswaffe in der Eidgenossenschaft in eine Spitzenposition rückt.<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

15


Abb. 11: Suizidfälle in Vorarlberg <strong>2005</strong> (N = 44): Art/Durchführung<br />

2%<br />

2%<br />

20%<br />

2%<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

des Suizidtodes (Quelle: aks)<br />

7%<br />

2%<br />

10%<br />

5%<br />

Strangulation Autoabgase Medikamente Schiene / Eisenbahn<br />

Schusswaffe Wasser Ersticken Schnitt/Stichverletzungen<br />

Sprung in die Tiefe Infusion selbst gelegt andere<br />

5%<br />

2%<br />

43%<br />

16


4. Diskussion<br />

Suizide stellen in unserem Land eine bedeutungsvolle Todesursache, vor allem bei<br />

jüngeren Menschen, dar. Im europäischen Vergleich liegen die Suizidziffern in Vorarlberg<br />

im Mittelbereich, innerhalb Österreichs hat unser Bundesland im vergangenen<br />

Jahr eine Spitzenposition eingenommen.<br />

Für die einzelnen Arbeitsgruppen ist festzustellen, dass Suizide bei Kindern nicht vorgekommen<br />

sind, dass sie bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen nach Unfällen<br />

die häufigste Todesursache darstellen, dass die Suizidziffern im Alter in unserem Bundesland<br />

aber nicht dem „Ungarischen Muster“ folgen, nach welchem für die alten<br />

Altersgruppen ein wesentlich höheres Suizidrisiko als für jüngere festzustellen ist,<br />

auch wenn der prozentuale Anteil an den Gesamttodesursachen zurückgeht. Vorarlberg<br />

mit seiner ländlichen Struktur, mit funktionierenden Pflege- und Alterskonzepten,<br />

mit dem hohen Prozentsatz an alten Menschen, die im häuslichen Umfeld gepflegt<br />

werden und mit dem Fehlen von großen zentralen und damit nicht überschaubaren<br />

Altersheimen, liegt hier günstig.<br />

Allerdings werden durch die Veränderung der Alterspyramide und des dadurch zu<br />

erwartenden weiteren Ansteigens des Anteiles älterer Menschen die Absolutzahlen<br />

von Suiziden hier wahrscheinlich zunehmen, weshalb entsprechende Suizidpräventionsprogramme<br />

für diese spezielle Gruppe gefördert werden sollten.<br />

Von den allgemeinen sozialen Faktoren sind Instabilität, berufliche und gesundheitliche<br />

Probleme als bedeutende Risiken für suizidales Verhalten zu sehen. Suizide sind<br />

bei ledigen und geschiedenen Personen deutlich höher als bei verheirateten. Unsere<br />

Befunde deuten auch darauf hin, dass Personen mit niedriger Schul- und Berufsausbildung<br />

eher gefährdet sind.<br />

Von den individuellen Faktoren ist wohl der bedeutendste Risikofaktor für die Durchführung<br />

suizidaler Handlungen eine psychische Erkrankung, am häufigsten sind Depressionen<br />

zu finden.<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

17


Frühere suizidale Handlungen sind ebenfalls ein wesentlicher Risikofaktor für weitere<br />

Suizidversuche und Suizide. Ein nicht unerheblicher Prozentsatz von Personen unternimmt<br />

mehr als einen Suizidversuch, bei etwa der Hälfte der Personen liegt die Zeit<br />

zwischen zwei und drei Suizidversuchen unter 12 Monaten. Im Vergleich zu Befunden<br />

aus den 80er Jahren (Schmidtke et al, 1988 und 2003) scheinen die Wiederholungsraten<br />

zu steigen.<br />

Der <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong> weist auf die Notwendigkeit der genauen Betrachtung des<br />

Problems hin. Der unerwartet starke Anstieg, welcher möglicherweise als statistischer<br />

Ausreißer, vielleicht aber auch als Indikator für eine neue Suizidwelle sein könnte.<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

18


5. Exkurs – Suizidprävention<br />

Im Rahmen der jährlichen <strong>Suizidbericht</strong>e wollen wir uns hinkünftig mit einem<br />

Schwerpunktthema befassen, aktuelle Aktivitäten vorstellen und zusammenfassende<br />

Überlegungen dartun. Im <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong> werden allgemeine und spezifische Aspekte<br />

der Prävention behandelt.<br />

Die WHO hat 2003 erstmals den 10. September als „Welt-Suizid-Präventionstag˝<br />

ausgerufen und begründet dies damit, dass Suizid eines der größten Gesundheitsprobleme<br />

der Welt darstelle.<br />

5.1 Europäische Suizidpräventionsaktivitäten<br />

Suizidprävention ist einer der Schwerpunkte der Europäischen-WHO-<br />

Gesundheitspolitik. Bereits zu Anfang der 80er Jahre wurde eine internationale<br />

Kampagne durchgeführt, deren Ergebnisse in der Broschüre „Changeing betters in<br />

suicide behavior“ publiziert wurden (WHO 1982). In der Folge wurde die Suizidprävention<br />

in die Vorbeugung psychischer Erkrankungen integriert. Zudem wurden zwei<br />

große Studien durchgeführt, und zwar die „WHO-Multi-Centre-Study on Parasuicide“,<br />

die auf europäischer Ebene epidemiologische Daten zu suizidalem Verhalten erfassen<br />

sollte und die „Repetition Studie (EPSIS)“, durch welche Personen nach einem<br />

Suizidversuch in verschiedenen europäischen Ländern längsschnittlich erfasst wurden,<br />

um Risikofaktoren, Prädiktoren für Rezidive und die Nutzung von Hilfsangeboten<br />

ermittelt wurden.<br />

1999 wurde von der WHO eine Bestandsaufnahme zur Suizidalität in der Welt herausgegeben,<br />

2002 wurde im „World Report on Violence and Health“ auch der Suizid<br />

in einem Kapitel behandelt. Zuletzt wurden zahlreiche Planungen für nationale<br />

Suizidpräventionsprogramme veröffentlicht, von denen das erste in Finnland, in weiterer<br />

Folge in Deutschland umgesetzt wurde.<br />

Auch die EU hat „Workinggroups“, die sich mit der Prävention psychischer Erkrankungen<br />

und Suizid beschäftigen, eingerichtet. Seit 2004 wird das Projekt „European<br />

Alliance Against Depression“ (EAAD), welches auf den Erfahrungen der „Nürnberger<br />

Bündnisses“ beruht, über 15 europäische Zentren gefördert. In einem weiteren Pro-<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

19


jekt werden seit Beginn des Jahres <strong>2005</strong> epidemiologische Daten zu Suiziden und Suizidversuchen<br />

und zur Überprüfung präventiver Maßnahmen durchgeführt.<br />

5.2 Falsche Vorstellungen und Irrtümer<br />

Suizidprävention umfasst alle Formen der Verbesserung individueller familiärer und<br />

sozial-gesellschaftlicher Lebensumstände. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist ebenso<br />

Selbstmordvorbeugung wie Suchtprävention, Depressionsbehandlung, Ehe- und Familienberatung<br />

oder gute Versorgung der alten Menschen.<br />

Die sekundäre Prävention setzt zunächst bei der Identifizierung von Risikogruppen<br />

und – schon im Vorfeld – bei der Ausräumung von Vorurteilen an.<br />

Wer vom Suizid redet, wird ihn nicht begehen<br />

Falsch: Auf zehn SuizidentInnen kommen acht, die unmissverständlich von ihrer<br />

Absicht gesprochen haben.<br />

Ein Suizid geschieht ohne Vorzeichen<br />

Falsch: Viele Betroffene haben sich lange genug durch unmissverständliche Zeichen<br />

oder Handlungen bemerkbar gemacht – vergebens.<br />

Wer einen Suizid begeht, will sich unbedingt das Leben nehmen<br />

Falsch: Die meisten SuizidentInnen schwanken zwischen dem Wunsch zu leben<br />

und zu sterben. Nur selten nimmt man diesen Kampf richtig wahr und wenn, ist<br />

man hilflos.<br />

Wer einmal zum Suizid neigt, wird es immer wieder tun<br />

Falsch: SuizidentInnen haben im allgemeinen nur während einer begrenzten Zeit<br />

ihres Lebens den Wunsch, sich zu töten. Das kann sich allerdings wiederholen.<br />

Wenn sich eine suizidale Krise auflöst, bedeutet es auch das Ende des Ri-<br />

sikos<br />

Falsch: Die meisten Suizide geschehen wenige Monate nach Beginn der Besserung.<br />

Dann hat der Patient neue Energie Entschlüsse zu fassen und auszuführen.<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

20


5.3 Risikogruppen<br />

Bestimmte soziale Konstellationen, risikohafte Situation oder Auftreten von speziellen<br />

psychischen Störungen beinhalten ein erhöhtes Risiko für selbst schädigende<br />

Handlungen. Es gilt daher, solche Konstellationen zu identifizieren und das mitmenschliche<br />

Bewusstsein dafür zu sensibilisieren.<br />

Zu den Risikogruppen/Situationen für suizidales Verhalten werden im allgemeinen<br />

gezählt:<br />

1. Affektive Psychosen (4% -15%) einer Kohorte sterben durch Suizid, bei etwa<br />

70% der Suiziden sollen affektive Erkrankungen vorliegen)<br />

2. Alte und Vereinsamte („Ungarisches Muster“)<br />

3. Chronisch Kranke (mit Schmerzen und fehlender Heilungsaussicht)<br />

4. Alkoholabhängige (bis 14%, besonderes Risiko nach 8-10 Jahren)<br />

5. Drogenabhängige (bis 30% der „Drogentoten“ sind sicher Suizide)<br />

6. PatientInnen mit Anorexien<br />

7. Personen mit Suiziddrohungen<br />

8. Personen nach Suizidversuch (10% Wiederholungen in den ersten 12 Monaten)<br />

9. Schizophrene (14% einer Kohorte; besonders gefährdet junge Männer, junge<br />

AkademikerInnen, besonders aus AkademikerInnfamilien)<br />

10. Personen mit Persönlichkeitsstörungen (z. B. emotional instabile Persönlichkeitsstörung<br />

7-10%)<br />

11. Personen in Haft (besonders in der ersten Zeit, U-Haft). Die bisher berichteten<br />

Zusammenhänge zwischen Suiziden und allgemeinen sozialen Variablen erklären<br />

wenig Varianz, die spezifische Zusammenhänge zwischen Berufen und<br />

erhöhtem Suizidrisiko zeigen. Erhöhte Raten sollen so insgesamt für Berufe<br />

gefunden werden, die klienten- bzw. patientenbezogen arbeiten (Stack,<br />

2001). Dies betrifft daher auch medizinisches Personal und Ärzte).<br />

5.4 Prädiktoren für suizidales Verhalten und Einschätzung der Suizidalität<br />

Eine Reihe von Bedingungen bzw. deren kombiniertes Auftreten können auf suizidale<br />

Krisen hinweisen. Dazu gehören depressive Zustände jeglicher Art, Partnerschaftsprobleme<br />

(Liebeskummer, Trennung), jüngeres und höheres Alter, zusätzlicher Alkohol-<br />

bzw. Drogenkonsum, Depression im Rahmen einer bipolaren Erkrankung, Comorbidität<br />

mit Angsterkrankung, frühere Suizidversuche, Obdachlosigkeit, rezentes<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

21


Verlusterlebnis, soziale Isolation (getrennt, geschieden, Single), Suizidfälle in der<br />

Verwandtschaft und Suizidhandlungen im Umfeld, chronische Schmerzen bzw.<br />

schwere allgemein-medizinische Erkrankungen.<br />

Der Suizid ist eine durchaus vermeidbare Katastrophe, vorausgesetzt, dass man den<br />

Lebensmüden rechtzeitig als solchen erkennt und ihn konsequent einer fachgerechten<br />

Behandlung zuführt. Bei der Einschätzung der Suizidalität durch die Mitmenschen<br />

sollen folgende Überlegungen im Vordergrund stehen:<br />

- 90% der PatientInnen mit Suizidideen geben mehr oder weniger deutliche Hinweise;<br />

- Suizidideen, die sich „aufdrängen“ sind bedrohlicher einzuschätzen als aktive<br />

Überlegungen;<br />

- das Risiko steigt mit leichterem Zugriff auf Waffen oder Medikamente.<br />

Unter Alkohol- und Drogeneinfluss können sich Suizidideen verdichten:<br />

- Bei depressiven Menschen bedeutet eine scheinbare Entspannung oft eine bedenkliche<br />

„Ruhe vor dem Sturm“, bedingt durch die Entschlussfassung nach<br />

langem Hin- und Hergerissensein.<br />

- Der suizidal eingeengte Mensch braucht vor allem mitmenschlichen Kontakt<br />

und Ansprache, er darf keinesfalls alleingelassen werden.<br />

- Die suizidale Krise hat, gleich einem Tunnel ohne erkennbaren Ausgang vorübergehenden<br />

Charakter und stellt auch eine Chance dar.<br />

- Professionelle Hilfe soll so rasch wie möglich aufgesucht werden.<br />

Diese Richtlinien können eine kleine Hilfe zur Erkennung der Suizidgefahr, zum Abschätzen<br />

von risikoreichen Entwicklungen und zur konkreten Hilfestellung sein. Es<br />

gilt dabei zu beachten, dass Suizidprävention viel mehr ist als die Verhinderung selbst<br />

schädigender Handlungen. Der bekannte Suizidforscher Volker Faust hat dazu gesagt:<br />

„Nichts ist armseliger, als der alleinige Versuch, einen Selbsttötungswilligen lediglich<br />

davon abzuhalten, Hand an sich zu legen˝.<br />

Generell ist Suizidalität ein komplexes Phänomen. Suizidprävention muss ein gesellschaftliches<br />

Anliegen sein und ist auf verschiedenen Ebenen möglich (allgemeine sui-<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

22


zidpräventive Maßnahmen, Erkennung und Behandlung suizidgefährdeter Menschen,<br />

Versorgung von Personen nach einem Suizidversuch). Suizidprävention muss<br />

die Angehörigen mit einbeziehen. In unserem Land haben wir das Ziel, im kommenden<br />

Jahr die suizidpräventiven Aktivitäten zu intensivieren und auszubauen, um in<br />

absehbarer Zeit das von der WHO vorgegebene Ziel, die Suizidrate auf unter 15 Fälle<br />

pro 100.000 Einwohner/Jahr zu senken, wieder zu erreichen.<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

23


AutorInnen<br />

Chefarzt Prim. Dr. Albert Lingg<br />

MMag. Dr. Isabel Dittrich<br />

Prim. Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller<br />

Herausgeber<br />

aks<br />

Arbeitskreis für Vorsorge- und Sozialmedizin<br />

gemeinnützige Betriebs GmbH<br />

Rheinstraße 61<br />

6900 Bregenz<br />

T 05574 64570-0<br />

F 05574 64570-6<br />

www.aks.or.at<br />

<strong>Vorarlberger</strong> <strong>Suizidbericht</strong> <strong>2005</strong><br />

24

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!