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OFFENE TORE - Orah.ch

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<strong>OFFENE</strong> <strong>TORE</strong> 1 / 2009 43<br />

Seit dem Tod eines geliebten Bruders im Jahre 1765 denkt Oberlin oft über den mögli<strong>ch</strong>en<br />

Zustand der Verstorbenen na<strong>ch</strong>. Im Laufe seines Lebens entwickelt er eine regelre<strong>ch</strong>te<br />

»Wissens<strong>ch</strong>aft vom Jenseits«. – Geprägt dur<strong>ch</strong> die marxistis<strong>ch</strong>e Kritik an der<br />

Vertröstung auf ein »besseres Jenseits« stehen wir einem Christentum oft skeptis<strong>ch</strong><br />

gegenüber, das zu sehr das Leben na<strong>ch</strong> dem Tod in die Mitte stellt. In Folge dessen<br />

versteht die moderne Theologie das Rei<strong>ch</strong> Gottes ni<strong>ch</strong>t als himmlis<strong>ch</strong>e, bessere Wirkli<strong>ch</strong>keit;<br />

sondern sie will das Rei<strong>ch</strong> Gottes einseitig in dieser Welt verwirkli<strong>ch</strong>en: Jenseitshoffnung<br />

und Einsatz für eine bessere Welt werden gegeneinander ausgespielt. –<br />

Oberlins Denken und Handeln zeigt, dass das ni<strong>ch</strong>t sein muss. Er hat eine innige Synthese<br />

zwis<strong>ch</strong>en Diesseits und Jenseits ges<strong>ch</strong>affen, deren Sinnpotential den eindimensionalen<br />

modernen Entwürfen überlegen ist. Die Jahrzehnte vor und na<strong>ch</strong> 1800 sind<br />

eine widersprü<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Zeit. Das Gedankengut der Aufklärung wird zum Allgemeingut;<br />

man bemüht si<strong>ch</strong>, »den Geist des Wunderglaubens aus der historis<strong>ch</strong>en Grundlage des<br />

Christentums abzutreiben« (Clemens Brentano). Andererseits werden Beri<strong>ch</strong>te über<br />

Geisterers<strong>ch</strong>einung und Offenbarungen somnambuler Medien vers<strong>ch</strong>lungen. Goethe<br />

<strong>ch</strong>arakterisiert diesen Zeitgeist im »Faust« treffend: »Ihr seid no<strong>ch</strong> immer da! Nein, das<br />

ist unerhört. / Vers<strong>ch</strong>windet do<strong>ch</strong>! Wir haben ja aufgeklärt! / Das Teufelspack, es fragt<br />

na<strong>ch</strong> keiner Regel. / Wir sind so klug, und denno<strong>ch</strong> spukt’s in Tegel.« – Der Pietismus<br />

wendet si<strong>ch</strong> mit grossem Interesse sol<strong>ch</strong>en Geistererfahrungen zu. Sie s<strong>ch</strong>affen eine<br />

neue Gewissheit, dass der Glaube an einen Gott und an ein Weiterleben na<strong>ch</strong> dem Tod<br />

keine Hirngespinste sind. 1768 veröffentli<strong>ch</strong>t der Zür<strong>ch</strong>er Pfarrer Johann Kaspar Lavater<br />

seine »Aussi<strong>ch</strong>ten in die Ewigkeit«, 1808 der Augenarzt und Ökonom Heinri<strong>ch</strong> Jung-<br />

Stilling seine »Theorie der Geisterkunde«. Beide Werke versu<strong>ch</strong>en die aufgebro<strong>ch</strong>ene,<br />

übersinnli<strong>ch</strong>e Erfahrungswelt mit dem biblis<strong>ch</strong>en Zeugnis in Einklang zu bringen.<br />

Oberlin ma<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> mit all dem vertraut. Insbesondere der Pfarrer Friedri<strong>ch</strong> Christoph<br />

Oetinger wird ihm zum geistigen Führer; er hat si<strong>ch</strong> mit den Visionen des s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en<br />

Sehers Emanuel Swedenborg auseinandergesetzt. Dur<strong>ch</strong> die Erfahrungswelt der<br />

Visionäre wird die Es<strong>ch</strong>atologie (= Lehre von den letzten Dingen) der protestantis<strong>ch</strong>en<br />

Orthodoxie fragwürdig: der s<strong>ch</strong>roffe Dualismus von Himmel und Hölle wird dur<strong>ch</strong> ein<br />

Zwis<strong>ch</strong>enrei<strong>ch</strong> verbunden. Dieses Zwis<strong>ch</strong>enrei<strong>ch</strong> als Bleibestätte der Toten zwis<strong>ch</strong>en<br />

Tod und Jüngstem Geri<strong>ch</strong>t wird zu einem festen Bestandteil der pietistis<strong>ch</strong>en Es<strong>ch</strong>atologie.<br />

Es ist kein statis<strong>ch</strong>er Raum, sondern eine Stufenordnung auf Gott hin. Der verstorbene<br />

Mens<strong>ch</strong> kann si<strong>ch</strong> darin dur<strong>ch</strong> eigenes Tätigsein weiter zu Gott hin entwickeln.<br />

Der Entwicklungsgedanke der Aufklärung wird glei<strong>ch</strong>sam auf das Jenseits ausgedehnt.<br />

– Ein Beispiel ma<strong>ch</strong>t den Umbru<strong>ch</strong> zur traditionellen Jenseitsvorstellung deutli<strong>ch</strong>: Oberlin<br />

kritisiert die Trosts<strong>ch</strong>rift eines Autors, der glaubt, dass ein verstorbenes Kind na<strong>ch</strong><br />

dem Tode glei<strong>ch</strong> als vollkommenes Wesen vor Gott stehe; Oberlin merkt an, dass man<br />

au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Tode keine Sprünge ma<strong>ch</strong>e: dieses Kind wa<strong>ch</strong>se au<strong>ch</strong> im Jenseits zuerst

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