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Marmor.“<br />
„Ali hat sie erst kürzlich nahe der irakischen Grenze gefunden“, erklärte Chess. „Mein<br />
Bruder war immer auf der Suche nach neuen Schätzen für unsere Sammlung und hat keine<br />
Höhle ausgelassen, an der er vorbeigekommen ist. Der Ausflug war einer seiner letzten.“<br />
Man konnte nicht übersehen, wie sehr Chess an den Sachen ihres ermordeten Bruders hing.<br />
Alon fühlte sich geschmeichelt, dass die hübsche Archäologin ausgerechnet ihn gefragt<br />
hatte, ob er beim Sortieren der Fundstücke helfen wollte.<br />
„Ist das Ihr Bruder?“, Alon zeigte auf ein schwarz umrandetes Foto, das in einem Holzregal<br />
stand.<br />
Chess antwortete, ohne sich danach umzudrehen. „Ja. Ja, das ist... das war Ali, mein<br />
Bruder.“<br />
„Wie alt ist das Foto?“<br />
„Älter.“ Sie machte eine lange Pause und atmete tief ein. „Nach dem Tod unseres Vaters<br />
hat er sich um mich gekümmert.“<br />
Chess kämpfte mit den Tränen. „Er war der beste Bruder, den ich mir wünschen konnte...“<br />
Alon hatte das Gefühl, als würde Chess weiterreden wollen - aber sie tat es nicht.<br />
Für eine Weile starrten die beiden einander stumm an. Während er nach den richtigen<br />
Worten suchte, hatte sich die Palästinenserin wieder gesammelt und wechselte das Thema.<br />
„Wissen Sie, was das ist?“ Sie reichte ihm eine perfekt polierte schwarze Steinscheibe, die<br />
etwa handtellergroß war.<br />
„Ich bin mir nicht ganz sicher.“ Alon stand auf und hielt die Scheibe näher an den alten<br />
Leuchter, der mitten über dem riesigen Holztisch von der Decke hing. Erst bei<br />
ausreichendem Licht waren die unregelmäßigen Linien zu erkennen, die den Stein wie<br />
Flüsse durchzogen. „Eine Karte?“, fragte er vorsichtig.<br />
„Kalt“, antwortete Chess, „ganz kalt.“ Sie nahm den Stein wieder an sich und ging damit zu<br />
einer Gießkanne, die auf der Fensterbank stand. „Um das Geheimnis dieses Artefakts zu<br />
lüften, muss man seine Oberfläche mit Flüssigkeit benetzen. Sehen Sie...“<br />
Das Wasser bildete eine hauchdünne Schicht auf der Scheibe.<br />
„Ein Spiegel!“ Alon bemerkte sein erstauntes Gesicht auf der glatten Oberfläche.<br />
Einige Kilometer entfernt fuhr unterdessen ein schwerer Jeep auf der Straße Richtung Osten.<br />
Keiner seiner Insassen hatte in der vergangenen Viertelstunde ein Wort verloren. Nur das<br />
Brummen des Dieselmotors mischte sich mit dem Geräusch, das die grobstolligen Räder<br />
auf dem Sandboden erzeugten. „Wir müssten jetzt gleich zur Abzweigung kommen“,<br />
unterbrach der Beifahrer die abgenutzte Stille. Und tatsächlich tauchte kurz darauf im<br />
schwachen Halogenlicht der Scheinwerfer eine Weggabelung auf. In der folgenden<br />
Linkskurve reflektierten ausgebleichte Kamelknochen das gelbliche Scheinwerferlicht. Die<br />
Dunkelheit ringsum unterstrich ihr gespenstisches Leuchten.<br />
Kaum an der Abzweigung vorbei, verringerte der Wagen merklich das Tempo. Der Fahrer<br />
betätigte den grün beleuchteten Schalter neben dem Lenkrad, worauf das Armaturenbrett<br />
10<br />
dunkel wurde. Gleichzeitig erlosch auch die Außenbeleuchtung des Jeeps und die Nacht<br />
versteckte seine Konturen.<br />
Im ersten Stockwerk von Chess’ Haus befand sich eine kleine Essküche. Alon folgte seiner<br />
Gastgeberin über eine dunkel gebeizte Holztreppe nach oben. Sie hat wirklich eine gute<br />
Figur. Er hielt exakt vier Stufen Abstand – gerade genug, um die von schwarzen Jeans<br />
betonten Rundungen der Palästinenserin in Augenhöhe zu behalten.<br />
„Ich hoffe, Sie haben ordentlich Hunger mitgebracht.“<br />
Mein Magenknurren war doch kaum zu überhören. „Was gibt es denn Gutes?“<br />
„In Kräutersauce gekochtes Hühnchen mit Reis und Fladenbrot.“<br />
Chess betrat die Küche zuerst und bat Alon, sich an den gedeckten Tisch zu setzen, der<br />
zwei Erwachsenen bequem Platz bot. Die Einrichtung war nicht mehr neu, machte aber<br />
einen sehr gemütlichen Eindruck. Eine helle Steinplatte diente als Arbeitsfläche. Der<br />
Farbton war nahezu identisch mit den diagonal verlegten Bodenfliesen.<br />
„Was denken Sie über die letzten Seiten im Buch der Gog und Magog, die Hiob Ihnen am<br />
Nachmittag gezeigt hat?“<br />
„Wie kommen Sie jetzt darauf?“, fragte Chess, die sich daran machte, die Teller zu füllen.<br />
„Ach, nur so.“<br />
„Ich denke, dass Hiob mit seiner Vermutung Recht hat und die Eintragungen durchaus Sinn<br />
ergeben. Auch wenn der uns bisher verborgen bleibt.“ Sie machte eine kurze Pause. „Und<br />
Sie? Wie denken Sie darüber?“<br />
„Ich bin noch unschlüssig, ob es solche Fahrräder mit Schornsteinen wohl wirklich gibt“,<br />
schmunzelte Alon.<br />
„Wenn an der Sache etwas dran ist, findet Hiob das bestimmt heraus.“<br />
„Oh ja, das wird er“, nickte der Israeli.<br />
Chess war bereits mit dem Servieren des Essens beschäftigt. Von dem, was sich unter ihrem<br />
Küchenfenster abspielte, bekam sie nichts mit.<br />
Im Schutz der Dunkelheit erreichten zwei Schatten die Rückseite des Hauses. Während der<br />
eine begann, die Fensterflügel auf Schwachstellen abzutasten, bewegte sich der andere<br />
zielstrebig auf die Terrasse zu. Ihre Tarnanzüge hoben sich kaum von der dunklen Fassade<br />
ab. Der erste der beiden hatte das Glashaus erreicht, dessen Tür einen Spalt geöffnet war.<br />
Ohne zu zögern, nutzte er die sich bietende Möglichkeit, um geräuschlos ins Haus zu<br />
gelangen.<br />
„Es stört Sie doch nicht, wenn ich aus der Flasche trinke?“, zögerte Chess, bevor ihre<br />
Lippen die Bierflasche berührten.<br />
Alon schüttelte den Kopf. Seit er begonnen hatte, in Chess’ Kräutersauce nach dem<br />
Hühnchen zu stochern, war er erstaunlich ruhig geworden. Seine Mutter war nie auf die<br />
Idee gekommen, ein Huhn mit Haut zu kochen. Er war sich sicher, niemand, den er kannte,<br />
wäre auf diese Idee gekommen. Ausgesprochen widerwillig lösten sich die gummiartigen<br />
Hautfetzen vom Fleisch. Wie kann eine Frau, die so hübsch ist, nur so furchtbares Essen