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Leseprobe - Albert Knorr

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Der alte Mönch begann zu erzählen: „Königshäuser und Kirchen gehörten früher zu den<br />

wenigen Privilegierten, die echte Wachskerzen als Lichtquelle verwenden konnten. Wachs<br />

war sehr teuer und die meisten Leute mussten stattdessen mit Holz oder Stroh Vorlieb<br />

nehmen, das mit einer Mischung aus Öl und Baumharz getränkt wurde. Der Gestank und<br />

die Rauchentwicklung waren ein großes Problem.“<br />

„Woher stammte das Wachs der Wachsfabrik, wenn es so kostspielig war?“, wollte Hiob<br />

wissen.<br />

Bruder Alessandro biss sich auf die Lippen, vermutlich um sich ein Lächeln zu verkneifen.<br />

Chess fiel es wie Schuppen von den Augen. Sechs Königreiche haben keinen König.<br />

„Bienen haben eine Königin!“, rief sie. „Deshalb gibt es in den sechs Königreichen auch<br />

keinen einzigen König. Die alte Wachsfabrik war eine Imkerei mit sechs Bienenstöcken.“<br />

Der Mönch bestätigte mit einem Kopfnicken. „Wie viele Bienenstöcke es genau waren,<br />

kann ich Ihnen leider nicht sagen. Aber ihre Wachsproduktion dürfte ausgereicht haben.“<br />

***<br />

Ein süßlicher Geruch strömte verlockend aus einem gekippten Fenster hinaus auf Davids<br />

Straße. In Ms. Furgersons Küche kühlte ein Ingwerkuchen aus. Ich denke, wir sollten dich<br />

jetzt anschneiden. Ihre alte Hand zitterte ein wenig, als sie das Holzgriffmesser durch die<br />

Nachspeise führte. Davids Nachbarin legte vier Stück auf einen Teller, die sie so großzügig<br />

geschnitten hatte, dass dem Kuchen mehr als ein Viertel fehlte. Das wird dem armen Mr.<br />

Wilder helfen, wieder auf andere Gedanken zu kommen, freute sie sich.<br />

Ein Haus weiter ahnte David Wilder noch nichts von der süßen Überraschung, die in Kürze<br />

an seiner Tür läuten würde. Vermutlich hätte er sonst auf das aufgewärmte Fertiggericht<br />

verzichtet, dessen letzter Bissen gerade in seinem Mund verschwand.<br />

Es klingelte im Vorzimmer. David sprang auf und lief hinaus. Irgendwann sollte ich<br />

Goliath beibringen, das Telefon zu apportieren. „Hallo, David Wilder hier.“<br />

Es war der Anruf, den David erwartet hatte. Dennoch traf ihn der Inhalt des kurzen<br />

Gesprächs eher unvorbereitet.<br />

„Sind Sie auch ganz sicher, Doktor?“ Seine Lippen verschmolzen zu einem schmalen Strich.<br />

„Ich verstehe“, hauchte er enttäuscht in den Hörer. Wortlos, aber gefasst, steckte er das<br />

Telefon zurück in die Ladestation. Seine Hand wurde schwer, als er sie nach rechts<br />

wandern ließ, bis sie das Foto von Natascha erreichte. Für einen sehr langen Moment war er<br />

unentschlossen. Dann fiel die Entscheidung zeitgleich mit dem Bild seiner Frau. Nie hätte<br />

er für möglich gehalten, dass er es eines Tages umwerfen würde und doch blickten seine<br />

feuchten Augen jetzt auf die schwarze Rückseite des Fotorahmens. Es war der richtige<br />

Augenblick, sich eine Aussage seines verstorbenen Vaters in schmerzvolle Erinnerung zu<br />

rufen. Damit ein Mensch das Vertrauen, das du in ihn gesetzt hast, missbrauchen kann,<br />

muss er es sich zuvor auch verdient haben.<br />

32<br />

David war so tief in seine Gedanken versunken, dass er Ms. Furgersons Läuten und<br />

Klopfen an der Tür gar nicht registrierte. Minuten reihten sich an Minuten, bis sie zu<br />

Viertelstunden wurden.<br />

„Goliath!“ David näherte sich mit schnellen Schritten dem Käfig. „Ich habe eine<br />

Entscheidung getroffen“, verkündete er dem weißen Riesenkaninchen. „Wir werden jetzt<br />

das tun, was Professor Woodberry von mir erwartet hat.“ Neben Goliaths Käfig stand ein<br />

Regal mit farbig bedruckten Futterdosen. David nahm die Dose mit dem blauen<br />

Blümchenmuster und schraubte sie auf. Sie war leer. Anschließend machte er dasselbe mit<br />

einer roten. Diese war gut zur Hälfte mit Pellets gefüllt, die David zügig umfüllte. Auf dem<br />

roten Dosenboden kam ein silberner Schlüssel zum Vorschein.<br />

Es entsprang Davids schlüssiger Logik, dass das Letzte, was einem Einbrecher in den Sinn<br />

käme, die Fütterung seines Haustiers wäre. Folglich war Goliaths Futter der sicherste Platz<br />

für den Tresorschlüssel.<br />

„Gleich werden wir wissen, was in dem Kuvert ist, das Professor Woodberry mir kurz vor<br />

seinem Tod gegeben hat.“<br />

***<br />

„Hier wurde seinerzeit zugemauert“, erklärte Bruder Alessandro seinen Begleitern, als sie<br />

vor einer grob verputzten Mauer im Untergeschoss stehen blieben.<br />

„Wie lange ist das her?“<br />

Der Mönch überlegte. „Kann ich Ihnen nicht genau sagen. Bestimmt hundert Jahre,<br />

wahrscheinlich sogar länger. Wir alle hier kennen die Wachsfabrik nur noch aus<br />

Erzählungen.“<br />

„Also haben wir solides, altes Mauerwerk vor uns.“ Hiob klopfte die Wand ab. „Sehr<br />

solide!“<br />

„Von wem bekommen wir die Erlaubnis, den Zugang wieder freizulegen?“, fragte Chess.<br />

„Ich fürchte, das liegt außerhalb meiner Zuständigkeit. Ich werde aber gerne bei Bruder<br />

Daniele ein gutes Wort für Sie und Ihr Ansinnen einlegen.“<br />

„Das wäre wirklich nett von Ihnen“, ermutigte ihn Chess.<br />

Der Mönch zögerte. „Es wäre hilfreich, wenn Sie mir verraten könnten, was Sie da drinnen<br />

zu finden hoffen.“<br />

„Das wissen wir leider selbst nicht.“<br />

„Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag, Bruder Alessandro“, begann Hiob. „Wenn wir<br />

Ihnen ein Loch in den Keller reißen, dann wird das niemanden im Haus sehr freuen. Am<br />

allerwenigsten Bruder Daniele. Es sei denn...“<br />

„Es sei denn was?“, fragte Chess.<br />

„Mir ist aufgefallen, dass oben im Eingangsbereich für Renovierungsarbeiten Geld<br />

gesammelt wird. Da können Sie doch sicher jede Unterstützung gebrauchen?“

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