Theaterpädagogisches Begleitmaterial - Theater Marburg
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Des Kaisers neue Kleider<br />
<strong><strong>Theater</strong>pädagogisches</strong> <strong>Begleitmaterial</strong> zur<br />
Inszenierung von Fabian Sattler<br />
für die Klassenstufen 1 bis 6<br />
Spielzeit 2012/13
ZUM INHALT<br />
ZUM UMGANG MIT DEN MATERIALIEN Seite 2<br />
DIE BESETZUNG Seite 3<br />
DARUM GEHT'S – EINE KURZE STÜCKBESCHREIBUNG Seite 4<br />
DAS MÄRCHEN Seite 5<br />
ÜBER DEN AUTOR DES MÄRCHENS Seite 9<br />
ZUR MARBURGER INSZENIERUNG Seite 11<br />
WIE GEHEN INS THEATER – EIN KLEINER THEATERKNIGGE Seite 13<br />
BESONDERE INFORMATIONEN ZU IHREM THEATERBESUCH Seite 14<br />
SPIELE ZUR SENSIBILISIERUNG DER WAHRNEHMUNG Seite 15<br />
VORSCHLÄGE ZUR SPIELPRAKTISCHEN NACHBEREITUNG Seite 16<br />
„Und, wie war's?“ – Gemeinsamer Austausch über den <strong>Theater</strong>besuch Seite 16<br />
„Kleider machen Leute?! – Aber was für welche!“ Seite 17<br />
„HAST du noch oder BIST du schon?“ Seite 18<br />
INHALTLICH VERTIEFENDE TEXTE FÜR INTERESSIERTE LEHRER/INNEN Seite 20<br />
Beobachtungsverhältnisse Seite 20<br />
Die kleinen Könige der Warenwelt. Kinder im Visier der Werbung Seite 22<br />
Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? Seite 28<br />
QUELLEN & IMPRESSUM Seite 32<br />
1
ZUM UMGANG MIT DEN MATERIALIEN<br />
Liebe Pädagoginnen und Pädagogen,<br />
mit diesem <strong>Begleitmaterial</strong> wollen wir Ihnen Informationen und spielpraktische Anregungen an die<br />
Hand geben, mit denen Sie ihren <strong>Theater</strong>besuch von „Des Kaisers neue Kleider“ vor- und<br />
nachbereiten können. Die Materialien und alle Arbeitsvorschläge sind für Kinder von 6 bis 12<br />
Jahren geeignet.<br />
Auf den ersten Seiten finden Sie den Text des ursprünglichen Märchens sowie Informationen über<br />
den Märchenautor und die Besonderheiten und Schwerpunkte der <strong>Marburg</strong>er Dramatisierung und<br />
der Inszenierung von Fabian Sattler. Außerdem gibt es Vorschläge zur organisatorischen und<br />
spielerischen Vorbereitung Ihres <strong>Theater</strong>besuchs mit den SchülerInnen.<br />
Im zweiten Teil der <strong>Begleitmaterial</strong>ien, ab Seite 16, finden Sie Anregungen und Vorschläge zur<br />
Nachbesprechung und zur spielpraktischen Vertiefung ausgewählter Themen des Stücks mit Ihren<br />
SchülerInnen.<br />
Das Team der <strong>Theater</strong>pädagogik wünscht Ihnen und Ihren SchülerInnen ein gelungenes<br />
<strong>Theater</strong>erlebnis und eine kreative und anregende Auseinandersetzung mit dem Stück!<br />
Über eine Rückmeldung zu Ihrem <strong>Theater</strong>besuch und zu Ihren Erfahrungen mit der Vor- und<br />
Nachbereitung auf der Grundlage unserer Materialien sowie über Anregungen freuen wir uns!<br />
Herzlichst,<br />
Ihre<br />
Nina Eichhorn<br />
(<strong>Theater</strong>pädagogin)<br />
Hessisches Landestheater <strong>Marburg</strong><br />
<strong>Theater</strong>pädagogik<br />
Am Schwanhof 68-72<br />
35037 <strong>Marburg</strong><br />
06421 - 99 02 36<br />
theaterpaedagogik@theater-marburg.de<br />
2
DIE BESETZUNG<br />
Des Kaisers neue Kleider<br />
von Hans Christian Andersen / 5+<br />
in einer Adaption von Fabian Sattler und Annette Pfisterer<br />
Mit:<br />
Zweiter Schneider Johannes Eimermacher (als Gast)<br />
Der Kaiser Moritz Fleiter (als Gast)<br />
Der Baron Jürgen H. Keuchel<br />
Frau Grobitsch Franziska Knetsch<br />
Major Stiefel Michael Köckritz (als Gast)<br />
Graf Lüppo Sebastian Muskalla<br />
Maestro Rambaldi / Erster Schneider Daniel Sempf<br />
Monsieur LaRoque Tobias M. Walter<br />
Regie: Fabian Sattler<br />
Bühne: Tobias Schunk<br />
Kostüme: Anne Brügel<br />
Musik: Bojan Vuletic<br />
Dramaturgie: Florian Heller<br />
Regieassistenz: Anne Richter<br />
Premiere: 01. Dezember 2012, Stadthalle Erwin-Piscator-Haus, <strong>Marburg</strong><br />
Dauer: ca. 70 Minuten, keine Pause<br />
3
DARUM GEHT'S – EINE KURZE STÜCKBESCHREIBUNG<br />
Man stelle sich vor: Ein Kaiser mit dem unbändigen Wunsch zu gefallen, zwei gewitzte Betrüger<br />
und ein ganzer Hofstaat, der sich nicht traut, die offensichtliche Wahrheit auszusprechen. Hans<br />
Christian Andersens Kunstmärchen „Des Kaisers neue Kleider“ von 1837 zählt zu seinen<br />
bekanntesten Texten. Es erzählt von einem Kaiser, der seine ganze Aufmerksamkeit seiner<br />
Garderobe und seinem Äußeren widmet. So fällt es zwei Gaunern, die sich als Weber ausgeben,<br />
nicht schwer, eine lukrative Anstellung an seinem Hofe zu ergattern. Nach und nach werden alle<br />
Minister und Diener des Kaisers zu Opfern – nicht nur der Betrüger, sondern auch ihrer eigenen<br />
Unsicherheit und Gefallsucht. Der besondere Clou ihrer Kreationen sei nämlich, so die<br />
vermeintlichen Weber, dass sie für denjenigen unsichtbar seien, der seines Amtes unfähig oder<br />
dumm sei. Auch wenn niemand die angeblich so sagenhaften Stoffe sehen kann, wagt es daher<br />
keiner, diese Wahrheit auszusprechen, um nicht als dumm oder unfähig zu gelten. Aus Angst zu<br />
versagen oder dem Druck der öffentlichen Meinung nicht zu genügen, verstricken sich alle<br />
Beteiligten mehr und mehr in einem Netz aus Lügen und Heuchelei, während der drohende erste<br />
öffentliche Auftritt des Kaisers in seinen ,neuen Kleidern’ immer näher rückt. Am Ende steht ein<br />
Staatsoberhaupt blamiert vor seinem Volk: zwar nicht bis auf die Knochen, aber bis auf die<br />
Unterhose.<br />
Andersens Geschichte stellt Kindern und Erwachsenen die Frage, wie sehr man sich Moden und<br />
Autoritäten unterwerfen sollte. Vertraut man der eigenen Wahrnehmung oder ordnet man sich dem<br />
allgemeinen Konsens unter? Hat die Mehrheit automatisch recht? Das Märchen zeigt, dass Macht<br />
und Autorität nichts Natürliches sind, sondern auf einer stillschweigend akzeptierten kollektiven<br />
Verabredung beruhen.<br />
4
DAS MÄRCHEN<br />
Des Kaisers neue Kleider<br />
Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf hübsche Kleider hielt, dass er all sein<br />
Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein. Er kümmerte sich nicht um seine Soldaten,<br />
kümmerte sich nicht um das <strong>Theater</strong> und liebte es nicht, in den Wald zu fahren, außer um seine<br />
neuen Kleider zu zeigen. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und wie man sonst von<br />
einem König sagt, er ist im Rate, sagte man hier immer: „Der Kaiser ist in der Kleiderkammer!“<br />
In der großen Stadt, in der er wohnte, ging es sehr munter zu. Jeden Tag kamen viele Fremde,<br />
eines Tages kamen auch zwei Betrüger. Sie gaben sich für Weber aus und sagten, dass sie das<br />
schönste Zeug, das man sich denken könne, zu weben verstünden. Nicht allein Farben und Muster<br />
wären ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die von dem Zeuge genäht würden, besäßen<br />
auch die wunderbare Eigenschaft, dass sie für jeden Menschen unsichtbar wären, der nicht für<br />
sein Amt tauge oder unverzeihlich dumm sei. „Das wären ja prächtige Kleider“, dachte der Kaiser.<br />
„Wenn ich die an hätte, könnte ich ja dahinterkommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem<br />
Amte, das sie haben, nicht taugen; ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das<br />
Zeug muss sogleich für mich gewebt werden!“ Und er gab den beiden Betrügern viel Handgeld,<br />
damit sie ihre Arbeit beginnen möchten.<br />
Sie stellten auch zwei Webstühle auf und taten, als ob sie arbeiteten; aber sie hatten nicht das<br />
geringste auf dem Stuhle. Frischweg verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold,<br />
das steckten sie in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht<br />
hinein.<br />
„Nun möchte ich doch wohl wissen, wie weit sie mit dem Zeuge sind!“ dachte der Kaiser. Aber es<br />
war ihm ordentlich beklommen zumute bei dem Gedanken, dass derjenige, der dumm war oder<br />
schlecht zu seinem Amte passte, es nicht sehen könne. Nun glaubte er zwar, dass er für sich<br />
selbst nichts zu fürchten brauche, aber er wollte doch erst einen andern schicken, um zu sehen,<br />
wie es damit stände. Alle Menschen in der ganzen Stadt wussten, welche wunderbare Kraft das<br />
Zeug habe, und alle waren begierig zu sehen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar sei.<br />
„Ich will meinen alten ehrlichen Minister zu den Webern senden!“ dachte der Kaiser. „Er kann am<br />
besten sehen, wie das 'Zeug sich ausnimmt, denn er hat Verstand, und keiner versteht sein Amt<br />
besser als er!“<br />
Nun ging der gute alte Minister in den Saal hinein, wo die zwei Betrüger saßen und an den leeren<br />
Webstühlen arbeiteten. „Gott behüte uns!“ dachte der alte Minister und riss die Augen auf; „ich<br />
kann ja nichts erblicken!“ Aber das sagte er nicht.<br />
Beide Betrüger baten ihn, gefälligst näher zu treten, und fragten, ob es nicht ein hübsches Muster<br />
und schöne Farben seien. Dabei zeigten sie auf den leeren Webstuhl, und der arme alte Minister<br />
fuhr fort, die Augen aufzureißen; aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. „Herrgott!“<br />
dachte er, „sollte ich dumm sein? Das habe ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch wissen!<br />
Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, es geht nicht an, dass ich erzähle, ich könnte das<br />
Zeug nicht sehen!“ „Nun, Sie sagen nichts dazu?“ fragte der eine, der da webte. „Oh, es ist<br />
hübsch! Ganz allerliebst!“ antwortete der alte Minister und sah durch seine Brille. „Dieses alte<br />
Muster und diese Farben! Ja, ich werde dem Kaiser sagen, dass es mir sehr gefällt.“ „Nun, das<br />
freut uns!“ sagten beide Weber, und darauf nannten sie die Farben mit Namen und erklärten das<br />
seltsame Muster. Der alte Minister passte gut auf, damit er dasselbe sagen könnte, wenn er zum<br />
Kaiser zurückkäme, und das tat er.<br />
Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold, das sie zum Weben brauchen<br />
5
wollten. Sie steckten alles in ihre eigenen Taschen, auf den Webstuhl kam kein Faden, aber sie<br />
fuhren fort, wie bisher an dem leeren Webstuhl zu arbeiten.<br />
Der Kaiser sandte bald wieder einen anderen ehrlichen Staatsmann hin, um zu sehen, wie es mit<br />
dem Weben stände und ob das Zeug bald fertig sei. Es ging ihm ebenso wie dem Minister; er<br />
schaute und schaute, weil aber außer dem leeren Webstuhle nichts da war, konnte er nichts<br />
erblicken. „Ist das nicht ein hübsches Stück Zeug?“ fragten die beiden Betrüger und zeigten und<br />
erklärten das prächtige Muster, das gar nicht da war. „Dumm bin ich nicht!“ dachte der Mann. „Ist<br />
es also mein gutes Amt, zu dem ich nicht tauge? Das wäre lächerlich, aber man darf es sich nicht<br />
merken lassen!“ und so lobte er das Zeug, das er nicht sah, und versicherte ihnen seine Freude<br />
über die schönen Farben und das herrliche Muster. „Ja, es ist ganz allerliebst!“ sagte er zum<br />
Kaiser.<br />
Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeuge. Nun wollte der Kaiser es selbst<br />
sehen, während es noch auf dem Webstuhle war. Mit einer ganzen Schar auserwählter Männer,<br />
unter ihnen auch die beiden ehrlichen Staatsmänner, die schon früher dort gewesen waren, ging er<br />
zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus Leibeskräften webten, aber ohne Faser oder<br />
Faden. „Ist das nicht prächtig?“ sagten die beiden alten Staatsmänner, die schon einmal da<br />
gewesen waren. „Sehen Eure Majestät, welches Muster, welche Farben!“ Und dann zeigten sie auf<br />
den leeren Webstuhl, denn sie glaubten, dass die andern das Zeug gewiss sehen könnten.<br />
„Was!“ dachte der Kaiser, „ich sehe gar nichts! Das ist ja schrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich<br />
nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte!“ - „Oh, es ist<br />
sehr hübsch!“ sagte er. „Es hat meinen allerhöchsten Beifall!“ Und er nickte zufrieden und<br />
betrachtete den leeren Webstuhl, denn er wollte nicht sagen, dass er nichts sehen könne. Das<br />
ganze Gefolge, das er bei sich hatte, schaute und schaute und bekam nicht mehr heraus als alle<br />
andern; aber sie sagten wieder Kaiser: „Oh, das ist sehr hübsch!“ Und sie rieten ihm, diese neuen<br />
prächtigen Kleider das erste mal bei der großen Prozession, die bevorstand, zu tragen. „Herrlich,<br />
wundervoll, exzellent!“ ging es von Mund zu Mund; man war allerseits innig erfreut darüber, und<br />
der Kaiser verlieh den Betrügern den Ritterorden, im Knopfloch zu tragen, und den Titel:<br />
Kaiserliche Hofweber.<br />
Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem die Prozession stattfinden sollte, saßen die Betrüger<br />
auf und hatten über sechzehn Lichter angezündet. Die Leute konnten sehen, dass sie stark<br />
beschäftigt waren, des Kaisers neue Kleider fertig zu machen. Sie taten, als ob sie das Zeug aus<br />
dem Webstuhl nähmen, sie schnitten mit großen Scheren in die Luft, sie nähten mit Nähnadeln<br />
ohne Faden und sagten zuletzt: „Nun sind die Kleider fertig!“<br />
Der Kaiser kam mit seinen vornehmsten Kavalieren selbst dahin, und beide Betrüger hoben einen<br />
Arm in die Höhe, gerade als ob sie etwas hielten und sagten: „Seht, hier sind die Beinkleider! Hier<br />
ist der Rock! Hier der Mantel!“ und so weiter. „Es ist so leicht wie Spinnwebe, man sollte glauben,<br />
man habe nichts auf dem Leibe; aber das ist gerade der Vorzug dabei!“ „Ja!“ sagten alle Kavaliere;<br />
aber sie konnten nichts sehen, denn es war nichts da. „Belieben Eure Kaiserliche Majestät jetzt<br />
ihre Kleider allergnädigst auszuziehen“, sagten die Betrüger, „so wollen wir Ihnen die neuen<br />
anziehen, hier vor dem großen Spiegel!“ Der Kaiser legte alle seine Kleider ab, und die Betrüger<br />
taten so, als ob sie ihm jedes Stück der neuen Kleider anzögen. Sie fassten ihm um den Leib und<br />
taten, als bänden sie etwas fest, das war die Schleppe; der Kaiser drehte und wendete sich vor<br />
dem Spiegel. „Ei, wie gut das kleidet! Wie herrlich das sitzt!“ sagten alle. „Welches Muster, welche<br />
Farben! Das ist eine kostbare Tracht!“ „Draußen stehen sie mit dem Thronhimmel, der über Eurer<br />
6
Majestät in der Prozession getragen werden soll“, meldete der Oberzeremonienmeister.<br />
„Ja, ich bin fertig!“ sagte der Kaiser. „Sitzt es nicht gut?“ Und dann wandte er sich nochmals vor<br />
dem Spiegel, denn es sollte scheinen, als ob er seinen Schmuck recht betrachte.<br />
Die Kammerherren, die die Schleppe tragen sollten, griffen mit den Händen nach dem Fußboden,<br />
gerade als ob sie die Schleppe aufhöben. Sie gingen und taten, als ob sie etwas in der Luft hielten;<br />
sie wagten nicht, es sich merken zu lassen, dass sie nichts sehen konnten.<br />
So ging der Kaiser in der Prozession unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf<br />
der Straße und in den Fenstern riefen: „Gott, wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich;<br />
welch herrliche Schleppe hat er am Rocke, wie schön das sitzt!“ Keiner wollte es sich merken<br />
lassen, dass er nichts sah, denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr<br />
dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wie diese.<br />
„Aber er hat ja nichts an!“ sagte endlich ein kleines Kind. „Herrgott, hört die Stimme der Unschuld!“<br />
sagte der Vater, und der eine flüsterte dem anderen zu, was das Kind gesagt hatte. „Er hat nichts<br />
an, dort ist ein kleines Kind, das sagt, er hat nichts an!“<br />
„Aber er hat ja nichts an!“ rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn es schien ihm,<br />
sie hätten recht, aber er dachte bei sich: „Nun muss ich die Prozession aushalten.“ Und so hielt er<br />
sich noch stolzer, und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.<br />
7
ÜBER DEN AUTOR DES MÄRCHENS<br />
Auszüge aus Wolfgang Mönninghof: Das große Hans Christian Andersen Buch. Patmos<br />
Verlag, 2005.<br />
Mein Leben ist ein hübsches Märchen, reich und überaus glücklich'. Wäre mir, als ich, ein Knabe<br />
noch, arm und allein in die Welt hinausging, eine mächtige Fee begegnet und hätte sie mir gesagt:<br />
„Wähle deine Bahn und dein Ziel, und je nach deiner geistigen Entwicklung und wie es<br />
vernünftigerweise in dieser Welt zugehen muss, will ich dich schützen und führen!“ - mein<br />
Schicksal hätte nicht glücklicher, klüger und besser geleitet werden können, als es geschehen ist.<br />
Die Geschichte meines Lebens wird der Welt sagen, was sie mir sagt: Es gibt einen liebevollen<br />
Gott, der alles zum besten führt. (Hans Christian Andersen)<br />
Hans Christian Andersen stirbt am 4. August 1875 um 11.05 Uhr als wohlhabender Mann. Seine<br />
Eltern waren beide im Armenhaus gestorben. Andersen, der am 4. September 1819 mit dreizehn<br />
Reichstalern nach Kopenhagen aufgebrochen war, hinterlässt 30.000 Reichstaler - nach heutigem<br />
Wert immerhin mehr als 500.000 €. Dazu kommen die Rechte an seinen Werken, die der<br />
Kopenhagener Buchhändler Reitzel für 20.000 Reichstaler erwirbt.<br />
Kaum ein Dichter wurde mehr geehrt als der Sohn eines armen holsteinischen Flickschusters aus<br />
Odense auf der dänischen Insel Fünen. Und kaum einer war der Ehrungen und der Anerkennung<br />
so bedürftig. Die Liste derer, denen Andersen seine Aufwartung macht, ist ein who is who der<br />
Prominenten seiner Zeit: Sie reicht von Heinrich Heine, Honore de Balzac, Victor Hugo und<br />
Charles Dickens bis zu Alexander von Humboldt, Franz von Lenbach, Peter Cornelius, Gioacchino<br />
Rossini, Franz Liszt, Robert und Clara Schumann. Sie alle finden sich in Andersens VIP-Kartei.<br />
Besonders Heines Lyrik hat es ihm angetan. Im Frühjahr 1829 verfällt er – wie so viele seiner<br />
Zeitgenossen — nach dem Erscheinen des Bestsellers Buch der Lieder in eine regelrechte Heine-<br />
Raserei, liest und rezitiert unaufhörlich dessen Gedichte. (...)<br />
Andersen ist keine streitbare Natur, direkten Auseinandersetzungen geht er möglichst aus dem<br />
Weg. Er freut sich über jeden, der sich ihm gegenüber positiv und freundschaftlich zeigt, und er ist<br />
stark verärgert, wenn er auf Kritik und Spott stößt. Diesen Ärger artikuliert er nie offen, sondern nur<br />
in den Tagebüchern oder in Briefen an die wenigen wirklich Vertrauten und – verschlüsselt – in<br />
seinen Märchen. So erfolgreich er auch wird – nie vergisst er die Demütigungen und die bittere Not<br />
seiner Jugend: sein Scheitern als Pubertierender in der rauen Arbeitswelt einer Tuchfabrik, die<br />
Trunksucht der Mutter und die Wahnvorstellungen des Großvaters. Sein Rechtfertigungszwang<br />
zieht sich wie ein roter Faden durch seine drei Autobiografien, auch das ein Beleg dafür, wie sehr<br />
er sich der Mitwelt erklären will. Seine fast kindliche Eitelkeit und die Gier nach Ruhm bieten<br />
vielfältig Anlass für boshafte Angriffe. Er vergisst nichts und rächt sich in seinen Märchen. Dort<br />
stehen seine Kritiker als gaffende Masse, die einen nackten Kaiser bewundert, da stolzieren sie als<br />
eingebildete Diener umher, die in ihrer Hochmütigkeit nichts als „p“ sagen können, oder sie<br />
tratschen als gackernde Hühner im Hühnerhof herum. In den Märchen gelingt es ihm, all das zu<br />
formulieren, was er im wirklichen Leben nicht ausdrücken kann. Mit den Märchen wird er<br />
unsterblich. Aber sein Alltag schmerzt ihn. Besonders seine lückenhafte Schulbildung und seine<br />
mangelhafte Rechtschreibung bieten Angriffsflächen.<br />
9
Andersen teilt, wie seine Kollegen Daniel Defoe mit Robinson Crusoe und Jonathan Swift mit dem<br />
Gulliver das Schicksal eines Autors, dessen Werk vorzugsweise als Texte für Kinder gereinigt und<br />
verstümmelt in die literarische Welt tritt. Der Kulturhistoriker Egon Friedell meint: „Das große<br />
Publikum nimmt zu Andersen ungefähr dieselbe Stellung ein wie jener preußische Gardeleutnant,<br />
der behauptete, Julius Cäsar könne unmöglich ein großer Mann gewesen sein, denn er habe ja<br />
bloß für unsere Lateinklassen geschrieben. Weil nämlich Andersen ein so großer Dichter war, dass<br />
er sogar von Kindern verstanden wird, glauben die Erwachsenen, er sei für sie nicht gescheit<br />
genug.“ (...)<br />
Hans Christian Andersen, gezeichnet 1841 in Dresden<br />
10
ZUR MARBURGER INSZENIERUNG<br />
von Florian Heller<br />
Hans Christian Andersens Kunstmärchen Des Kaisers neue Kleider aus dem Jahr 1837, das dieser<br />
nach Motiven aus der Erzählung Exemplo XXXII aus der Sammlung von Don Juan Manuel aus<br />
dem Jahr 1335 verfasste, erzählt von einem Kaiser, der sich für nichts als seine Garderobe interessiert<br />
und so zum leichten Opfer zweier Betrüger wird, die sich als Schneider ausgeben und ihn zuletzt<br />
dazu bringen, völlig nackt vor sein Volk zu treten – in dem Glauben, er trage die feinsten Stoffe,<br />
die nur für dumme oder ihres Amtes untaugliche Menschen unsichtbar seien. So wie der Kaiser<br />
selbst, trauen sich auch seine Minister und der gesamte Hofstaat nicht zu sagen, dass sie die Kleider<br />
nicht sehen können, aus Angst dass ihre Dummheit und Unfähigkeit erkannt würde. Erst ein<br />
Kind, aus dem Volk als „Stimme der Unschuld“ bezeichnet, lässt den Schwindel auffliegen und<br />
rückt mit der Wahrheit heraus: „Aber er hat ja gar nichts an!“ Diese Wahrheit allerdings bleibt konsequenzlos.<br />
Das Märchen endet damit, dass der Kaiser sich konsequent weiter in Pose wirft und<br />
die Prozession vor dem Volk zu Ende gebracht wird. Wenn man so weit gegangen ist, muss man<br />
auch bis zum Ende gehen. Zuzugeben, dass man Opfer eines Betruges geworden ist, ist keine<br />
Option.<br />
Andersens Märchen über die Differenz zwischen Sein und Schein, ist noch heute ein schlagendes<br />
Sinnbild für soziale Verblendungszusammenhänge aller Art. Während die pleitegehenden Großbanken<br />
mit Mitteln aus dem Gemeinschaftstopf gerettet werden weil sie angeblich „too big to fail“<br />
sind, taucht der Slogan „Der Kaiser ist nackt!“ als Parole in der Occupy-Bewegung auf, um auf Zustände<br />
aufmerksam zu machen, die eigentlich offensichtlich sind, von Politik und Wirtschaft aber<br />
ignoriert werden, weil das Versagen des Systems nicht zugegeben werden darf.<br />
Fernab dieser politischen Debatte aktualisiert Fabian Sattler in der für seine eigene Inszenierung<br />
von ihm und Annette Pfisterer neu erstellten <strong>Theater</strong>fassung den Stoff, um ihn auf Konflikte gerade<br />
für Kinder in der heutigen Zeit lesbar zu machen. Dafür rückt er keinesfalls das Setting vom Kaiserhof<br />
in einen Sozialraum der Gegenwart, ändert aber an entscheidenden Stellen die Figurenkonstellationen<br />
ab. In Sattlers Fassung ist der Kaiser kein alter, arroganter und unsympathischer<br />
Zeitgenosse, dem man es von Herzen gönnen könne, betrogen und bloßgestellt zu werden.<br />
Vielmehr ist der Kaiser hier noch sehr jung, unerfahren und neu im Amt. Er sieht sich mit vielen<br />
hohen Ansprüchen an seine Person konfrontiert, denen er entsprechen soll. Er will ein guter<br />
Kaiser sein – aber wie ist man ein guter Kaiser? Er ist auf seine Minister angewiesen, die ihm als<br />
Berater zur Seite stehen sollen, nur dass die äußerst unterschiedliche Vorstellungen davon haben,<br />
was einen guten Kaiser auszeichnet. Während Graf Lüppo die Wichtigkeit der politischen Verantwortung<br />
und der Wahrung der Tradition betont, wollen Monsiuer LaRoque und der Baron eher sicherstellen,<br />
dass der Kaiser zumindest von Außen betrachtet etwas hermacht. Mit dem richtigen<br />
„Look“ wird er in den Augen des Volkes auch all die Eigenschaften bekommen, die einen guten<br />
Kaiser auszeichnen. Er muss modisch vorne dabei sein, auf der Höhe der Zeit, avantgarde. Doch<br />
diese beiden Minister scheinen zudem im eigenen Interesse zu handeln, verscherbeln sie doch die<br />
neuen Entwürfe für die Kleider des Kaisers jedes Jahr in der abgespeckten Form einer großen Modekollektion<br />
nachträglich auch an das gemeine Volk und kassieren damit ordentlich ab.<br />
Auch das ist bei Fabian Sattlers Inszenierung Thema: Welche Versprechungen macht die Modeindustrie,<br />
welche Wünsche weckt sie in uns. Ein Thema, das gerade bei Kindern und Jugendlichen<br />
immer aktueller wird. Wem will ich gefallen, wem will ich genügen – und muss ich<br />
11
das? Wem kann ich vertrauen? Kann ich mir selbst vertrauen? Ist das, was alle sagen automatisch<br />
richtiger als das, was ich selbst denke und lohnt es sich, gegen den Druck einer Mehrheit eine eigene<br />
Meinung zu vertreten? Zählt die Wahrheit oder der Konsens?<br />
Am Ende des Märchens fallen bei Fabian Sattler Kaiser und Kind in eines. Der junge Kaiser<br />
selbst muss am Ende den Mut aufbringen, zuzugeben, dass er die Kleider nicht sehen kann,<br />
den Betrug aufdecken und damit auch seine eigenen Ängste eingestehen. Nicht die<br />
„Stimme der Unschuld“, sondern die eigene Auseinandersetzung mit Problemen ermöglicht<br />
den Weg aus der Sackgasse. Doch wenn man diesen Schritt wagt, eröffnen sich einem auch<br />
die Möglichkeiten, bisherige Verhältnisse neu zu gestalten.<br />
12
WIR GEHEN INS THEATER<br />
Damit der <strong>Theater</strong>besuch für Sie und Ihre SchülerInnen zu einem möglichst entspannten,<br />
spaßvollen und bereichernden Erlebnis wird, können Sie sich in den Tagen vorher eine<br />
Schulstunde Zeit nehmen und das anstehende Erlebnis gemeinsam vorbereiten.<br />
Folgende Fragen können dabei gemeinsam beantwortet werden:<br />
• Wer war schon einmal im <strong>Theater</strong> und kann von seinen Erfahrungen berichten. (Ggf.<br />
können Sie den letzten gemeinsamen <strong>Theater</strong>besuch Revue passieren lassen)<br />
• Was ist das besondere am <strong>Theater</strong> (z.B. im Unterschied zum Kino)?<br />
• Wie heißt das Stück, das wir sehen werden?<br />
• Wovon handelt das Stück?<br />
Es bietet sich an, mit den Kindern das Märchen von Andersen als Einstimmung zu lesen.<br />
Es ist dabei auch sinnvoll, die Kinder darauf vorzubereiten, dass sich das <strong>Theater</strong>stück vom<br />
originalen Märchen unterscheiden wird und dass dies die künstlerische Freiheit des<br />
Produktionsteams (und des <strong>Theater</strong>s im Allgemeinen) ist, so wie die Kinder selbst eigene Ideen<br />
und Gedanken in ihre Spiele mit einfließen lassen und diese dadurch verändern.<br />
EIN KLEINER THEATERKNIGGE<br />
So wie es Verabredungen zwischen den Schauspielern auf der Bühne gibt, gibt es auch<br />
unausgesprochene Verabredungen zwischen Schauspielern und Zuschauern. Die wichtigsten<br />
haben wir Ihnen hier aufgelistet:<br />
Was man als Zuschauer während der Vorstellung unter anderem darf: lachen / weinen /<br />
mitsingen / gebannt zuhören / sich aufregen / sich abregen / sich so setzen, dass man was sehen<br />
kann / im Notfall leise aufs Klo gehen / schlafen, wenn einem langweilig ist / mitmachen, wenn man<br />
von den Schauspielern dazu aufgefordert wird / applaudieren<br />
Was man als Zuschauer lieber bleiben lässt: trinken / essen / telefonieren / fotografieren /<br />
andere am Zuschauen oder Zuhören hindern / grundlos im Zuschauerraum umherlaufen /<br />
unaufgefordert auf die Bühne gehen<br />
13
BESONDERE INFORMATIONEN ZU IHREM THEATERBESUCH<br />
Im Anschluss an jede Vorstellung von „Des Kaisers neue Kleider“ gibt es wie in jedem Jahr unsere<br />
beliebte Autogrammstunde mit den Schauspielern der Produktion. Sie und ihre SchülerInnen<br />
können Plakate und Postkarten des Stücks sowie T-Shirts in verschiedenen Größen erwerben, um<br />
diese dann signieren zu lassen. Der Preis beträgt 0,50 € für eine Postkarte, 2,50 € für ein Plakat<br />
und ca. 13,- € für ein T-Shirt.<br />
Der Erlös kommt zu einem Teil dem Sozialfonds des Hessischen Landestheaters <strong>Marburg</strong><br />
zugute, mit dem Kindern aus sozial schwachen Familien ein <strong>Theater</strong>besuch im Klassenverband<br />
ermöglicht wird. Denn ein <strong>Theater</strong>besuch sollte nicht am Geld scheitern.<br />
Mit dem anderen Teil der gespendeten Einnahmen wird ein soziales Projekt in <strong>Marburg</strong><br />
unterstützt.<br />
Die „Signierstunde“ im Anschluss an jede Vorstellung dauert circa 15 bis 20 Minuten, diese<br />
sollten Sie bei einer eventuellen Busbestellung für die Rückfahrt zur Schule mit einplanen.<br />
14
SPIELE ZUR SENSIBILISIERUNG DER WAHRNEHMUNG<br />
Auf einer <strong>Theater</strong>bühne gibt es unheimlich viel zu entdecken. Nichts ist „zufällig“ oder „einfach so<br />
da“, alles hat eine Bedeutung, jedes noch so kleine Detail haben sich die <strong>Theater</strong>macher gut<br />
überlegt. Um möglichst offene Augen und Ohren zu haben, können die Kinder im Vorfeld ihres<br />
<strong>Theater</strong>besuchs ihre Wahrnehmung sensibilisieren, damit ihnen im <strong>Theater</strong> möglichst wenig<br />
entgeht und sie auch in den leisen Momenten des Stücks immer etwas zu entdecken haben.<br />
Die folgenden Spiele dienen als Anregung zum gemeinsamen Entdecken und als Einstimmung auf<br />
den baldigen <strong>Theater</strong>besuch.<br />
Ich sehe was, was Du nicht siehst<br />
Alltäglich bewegen wir uns in vertrauten Räumen und schauen doch nie richtig hin, oder?<br />
Mal sehen, wir gut Ihr euren Klassenraum kennt!<br />
Die Kinder stehen im Kreis und schließen die Augen. Ein Kind darf die Augen wieder öffnen, den<br />
Blick kurz durch den Raum wandern lassen und dann eine Frage zum Raum stellen (z.B. Welche<br />
Farbe haben die Vorhänge? Wie viele Bücher liegen auf dem Lehrertisch? etc.) Wer die richtige<br />
Antwort weiß oder zu wissen glaubt, sagt sie laut in den Kreis (Die Augen bleiben aber immer noch<br />
geschlossen!). Wer als erster richtig rät, darf die Augen öffnen und die nächste Frage stellen. Der<br />
Fragende der Vorrunde schließt die Augen nun ebenfalls und rät mit.<br />
Detektiv<br />
Es werden Paare gebildet. Einer ist der Detektiv, einer der Verdächtige. Die Detektive müssen gute<br />
Beobachter sein, ähnlich wie die Zuschauer im <strong>Theater</strong>.<br />
Der Detektiv schaut sich seinen Verdächtigen genau an, dann dreht er sich um und schließt die<br />
Augen. Der Verdächtige verändert nun 3 sichtbare Dinge an seinem Äußeren (z.B. setzt die Brille<br />
ab, nimmt die Kette ab, krempelt seine Ärmel hoch etc.). Wenn er fertig ist, tippt er den Detektiv<br />
auf die Schulter, dieser dreht sich um, öffnet die Augen und muss nun die 3 Veränderungen finden.<br />
Wenn er alles richtig entdeckt hat, tauschen die Paare die Rollen und ein zweiter Durchlauf des<br />
Spiels beginnt.<br />
Zauberkiste<br />
Die Kinder stehen oder sitzen im Kreis. Die Lehrerin / Spielleiterin stellt pantomimisch eine große<br />
unsichtbare Kiste in die Kreismitte und „zaubert“ ein Ding daraus hervor (z.B. ein Tier, ein<br />
Musikinstrument, einen Teller Suppe etc.), indem sie es pantomimisch darstellt bzw. benutzt. Die<br />
Kinder beschreiben, was sie sehen und versuchen zu erraten, was da hervorgezaubert wurde.<br />
Wenn es erraten wurde, wird das Ding zurück in die Kiste befördert. Der Nächste in der Runde ist<br />
an der Reihe und zaubert etwas aus der Kiste hervor.<br />
Schaut doch mal...!<br />
In einem gemeinsamen Gespräch können Sie die Kinder für die Dinge sensibilisieren, die zu (fast)<br />
jedem <strong>Theater</strong>stück dazugehören und doch immer neu und verschieden sind. Tragt in der Gruppe<br />
möglichst viele Aspekte zusammen, auf die man als Zuschauer achten kann und über die man sich<br />
später austauschen kann: Maske / Kostüme / Sprache und Körperhaltungen der Figuren /<br />
Bühnenbild / Farben / Lichteffekte / Raumaufteilung / Requisiten etc.<br />
15
VORSCHLÄGE ZUR SPIELPRAKTISCHEN NACHBEREITUNG<br />
Wir hoffen, dass Sie einen gelungenen <strong>Theater</strong>besuch erlebt haben. Hier finden Sie nun<br />
Anregungen zur spielpraktischen Nachbereitung der <strong>Marburg</strong>er Inszenierung mit Ihren<br />
SchülerInnen. Als Zeitraum dafür ist eine großzügige doppelte Schulstunde von insgesamt 90<br />
Minuten vorgesehen. Sollten Sie nur eine Schulstunde Zeit haben, können Sie Arbeitsvorschlag 2<br />
überspringen und lediglich 1 und 3 kombinieren.<br />
Wir wünschen Ihnen viel Spaß dabei!<br />
Arbeitsvorschlag 1<br />
„Und, wie war's?“ – Gemeinsamer Austausch über den <strong>Theater</strong>besuch<br />
Materialien: keine<br />
Vorbereitung: keine Dauer: 10 bis 15 Minuten<br />
Diese kleine Gesprächsrunde dient der ersten Reflektion des Vorstellungsbesuches in der Gruppe.<br />
Die gesammelten Eindrücke bekommen hier Raum, es entsteht ein erster Eindruck darüber, wie<br />
die SchülerInnen den <strong>Theater</strong>besuch fanden, was ihnen besonders aufgefallen ist und auch was<br />
sie irritiert hat und welche Fragen sie sich stellen. Jeder darf seine Meinung äußern, Diskussionen<br />
sind erwünscht, eine falsche Bemerkung gibt es nicht.<br />
Ablauf:<br />
Die SchülerInnen sitzen idealerweise im Stuhlkreis und äußern sich der Reihe nach zum<br />
<strong>Theater</strong>besuch. Sie können das Gespräch mit folgenden Fragen anregen, die, beim allgemeinen<br />
Eindruck beginnend, immer dichter an die Inhalte und Themen des Stücks heranführen:<br />
• Was hat Euch am besten gefallen? Welches waren eure Lieblingsmomente und warum?<br />
• Welche Figuren gab es in dem Stück? Welche davon waren Euch sympathisch /<br />
unsympathisch und warum?<br />
• Wie fandet Ihr das Bühnenbild und die Kostüme?<br />
• An welchen Stellen musstet Ihr lachen? Was fandet Ihr traurig oder tragisch?<br />
• Was hat Euch nicht so gut gefallen und warum?<br />
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />
• Worin unterscheidet sich die Geschichte des Stücks vom originalen Andersen-Märchen?<br />
• Wie hat Euch das „andere“ Ende gefallen? Warum gefällt es Euch besser / nicht so gut?<br />
• Was glaubt ihr: Warum fädelt Graf Lüppo den Betrug mit den unsichtbaren Kleidern ein?<br />
• Wie wichtig ist Euch schöne oder modische Kleidung und warum?<br />
Hinweis: Es ist immer gut, wenn die SchülerInnen ihre Meinungen versuchen zu begründen. Sie<br />
schulen so zunehmend ihre Fähigkeit, <strong>Theater</strong> nicht nur rein subjektiv, sondern auch unter<br />
inhaltlichen, formalen und ästhetischen Gesichtspunkten zu interpretieren und zu beurteilen.<br />
16
Arbeitsvorschlag 2<br />
„KLEIDER MACHEN LEUTE?! – ABER WAS FÜR WELCHE!“<br />
Schöne Kleider sind für viele Leute wichtig. Wer gut aussieht, kommt gut an. Aber warum gibt<br />
eigentlich immer die Modeindustrie vor, welche Kleidung toll und angesagt ist oder wie ihr Besitzer<br />
damit auf die anderen wirkt? Überlegt einmal, wie Ihr Euch kleiden würdet, was eure Kleidung über<br />
das gutes Aussehen hinaus eigentlich „können“ muss, damit Ihr Euch in ihr wohl und einzigartig<br />
fühlt.<br />
Materialien: Musik für den Catwalk<br />
Vorbereitung: keine<br />
Dauer: bei 6 Kleingruppen ca. 30 Minuten<br />
Ablauf:<br />
Es werden Kleingruppen mit ca. 5 Personen gebildet. Jede Gruppe entwickelt ein unsichtbares<br />
Outfit, das es so vorher noch nie gegeben hat! Sie überlegt, wie die Kleider (Hut, Jacke, Hose,<br />
Schuhe, Gürtel etc.) aussehen, was sie besonders und einzigartig macht und welche besonderen<br />
Fähigkeiten sie ihrem Träger verleihen (z.B. fliegen, besonders gut hören, unsichtbar werden,<br />
unbesiegbar sein etc.). Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wenn die Gruppe mit der<br />
Entwicklung ihrer Ideen fertig ist, entscheidet die Gruppe, wer die Modelle, wer die Modedesigner<br />
und wer die Modeberater spielt.<br />
Dann wird im Klassenraum Platz für einen kleinen Laufsteg geschaffen und jede Gruppe<br />
präsentiert ihre einzigartige „Kollektion“: Die Modelle laufen erst zur Musik einmal den Laufsteg<br />
rauf und runter und bleiben dann in einer Pose stehen. Die Modedesigner erzählen nun (spontan<br />
und frei), was die Modelle gerade tragen und welche besonderen Fähigkeiten ihnen die Kleider<br />
verleihen. Die Modelle unterstützen die Erzähler mit dazu passenden Körperhaltungen und<br />
Bewegungen oder pantomimischem Spiel.<br />
Am Schluss jeder Präsentation können die Zuschauer Fragen stellen, z.B. zu Preisen oder<br />
darüber, wie sich die Kleidung in ungewöhnlichen Situationen oder ungewöhnlichen Orten<br />
bewähren würde. Die Fragen werden von den Modeberatern oder den Designern beantwortet.<br />
Nachdem alle Gruppen präsentiert haben, kann die ganze Klasse über ihre Lieblingskollektion<br />
abstimmen und die Abstimmung begründen.<br />
17
Arbeitsvorschlag 3<br />
„HAST du noch oder BIST du schon?“<br />
Für viele Kinder scheinen Marken und die neuesten Klamotten oder Spielzeuge das Maß aller Dinge<br />
bei der Wahl ihrer Freundschaften zu sein. Wer „hat“, ist cool und wird leichter Anführer oder bester<br />
Kumpel (oder sogar Klassensprecher) als ein Kind, das wenig Geld für teure und modische<br />
Besitztümer hat. Dabei geht es natürlich nur vordergründig um materielle Güter. Vielmehr geht es um<br />
die Anerkennung und den Respekt der Klassenkameraden und Freunde, welche man sich durch das<br />
Zurschaustellen des materiellen Wertes erhofft – frei nach dem Motto: „Hast Du was, bist Du was“.<br />
In diesem Arbeitsvorschlag sollen die Kinder den Konsumzwang, in den sie durch dieses Werben um<br />
Anerkennung und Respekt geraten und die damit verbundenen Oberflächlichkeiten, spielerisch<br />
hinterfragen lernen.<br />
Materialien: evlt. weiße Blätter und Buntstifte, Tafel und Kreide<br />
Vorbereitung: Zur Vorbereitung oder inhaltlicher Vertiefung empfehlen wir Ihnen als LehrerIn den<br />
Essay über Mode, Marken und Konsumterror ab Seite 22 dieser Materialmappe.<br />
Dauer: ca. 45 Minuten<br />
Ablauf:<br />
Sprecht in der Klasse darüber, mit welchem Jungen oder Mädchen Ihr gern befreundet seid und<br />
warum? Was findet Ihr an anderen Kindern cool? Wie muss für Euch der ideale „Anführer“ oder die<br />
ideale „Anführerin“ (und / oder Klassensprecher) sein? � Alles, was die Kinder nennen, wird auf<br />
einer Seite der Tafel festgehalten. Nun sollen sich die Kinder folgendes Szenario vorstellen:<br />
• Ihr kommt allein auf eine Insel in einem fernen Land. Auf dieser Insel ist es meisten warm<br />
und sonnig und es gibt auch genügend Trinkwasser. Als Nahrung dienen Euch die Früchte<br />
von den Bäumen, aber es gibt keine Läden oder Shoppingcenter, Geld existiert nicht bzw.<br />
ist wertlos. Ihr wisst, dass man Euch in ein paar Wochen findet und Ihr wieder nach Hause<br />
könnt. Auf der Insel leben noch andere Kinder, deren Sprache Ihr leicht versteht. Ihr<br />
möchtet nicht die ganze Zeit bis zu Eurer Rückkehr nach Hause allein bleiben,sondern<br />
neue Freunde finden.<br />
Mit welchen Kindern freundet Ihr Euch an? Wie müssen diese „sein“, damit Ihr Euch<br />
mit ihnen wohl fühlt?<br />
Mit euren neuen Freunden gründet Ihr eine Bande. Wie entscheidet ihr, wer der / die<br />
Anführerin wird? Welche Eigenschaften muss er oder sie besitzen?<br />
Wieder wird alles, was die Kinder nennen, an der Tafel festgehalten (auf der freigebliebenen<br />
Seite).<br />
Nun können Gruppen gebildet werden, in denen die Kinder eine Szene entwickeln, die auf dieser<br />
Insel spielen könnte und in der deutlich wird, wie ihre neuen Freunde sind. Die Gruppen präsentieren<br />
ihre Szenen vor den anderen. Nach jeder Präsentation gibt es Applaus für die Spieler.<br />
Anschließend kann über das Gesehene gesprochen werden, die Zuschauer können sagen, was<br />
ihnen besonders gut gefallen hat.<br />
Wenn noch Zeit bleibt oder die Kinder nicht in Spiellaune sind, können sie auch eine Szene auf der<br />
18
Insel malen. Anschließend werden die Bilder mit Klebeband an den Wänden des Klassenraums<br />
befestigt. Dann gehen die Kinder durch den Raum und betrachten die Bilder, wie in einer<br />
Ausstellung oder in einem Museum.<br />
Zum Abschluss können in der Klasse noch einmal über mögliche aufgetauchte Unterschiede in der<br />
Freundes- oder Anführerwahl in ihrem Alltag hier und der Fantasie-Insel gesprochen werden.<br />
Gemeinsam kann überlegt werden, welche Eigenschaften ein guter Freund / ein guter Anführer<br />
nun wirklich haben sollte.<br />
19
INHALTLICH VERTIEFENDE & KRITISCHE TEXTE FÜR INTERESSIERTE LEHRER/INNEN<br />
Beobachtungsverhältnisse<br />
von Susanne Lüdemann<br />
Das Märchen von Des Kaisers neuen Kleidern ist unter anderem eine Parabel über die sozialen<br />
Bedingungen des Sehens. Dabei dekuvriert es ganz nebenbei ein Phantasma, das sich mit (und<br />
gegen) Niklas Luhmann als Phantasma der Beobachtung zweiter Ordnung bezeichnen lässt. Um<br />
den Preis der Gegenstands Verknappung soll diese nämlich leisten, was Beobachtung erster<br />
Ordnung nicht zu leisten vermag. Sie soll einen „universalen Weltzugang“ vermitteln und den<br />
Beobachter zweiter Ordnung dadurch allen anderen Beobachtern überlegen machen:<br />
„Aber Beobachtung zweiter Ordnung ist ja nicht nur Beobachtung erster Ordnung. Sie ist weniger und<br />
sie ist mehr. Sie ist weniger, weil sie nur Beobachter beobachtet und nichts anderes. Sie ist mehr,<br />
weil sie nicht nur diesen ihren Gegenstand sieht (= unterscheidet), sondern auch noch sieht, was<br />
er sieht und wie er sieht, was er sieht; und eventuell sogar sieht, was er nicht sieht, und sieht, dass<br />
er nicht sieht, dass er nicht sieht, was er nicht sieht. Auf der Ebene der Beobachtung zweiter<br />
Ordnung kann man also alles sehen: das, was der beobachtete Beobachter sieht, und das, was der<br />
beobachtete Beobachter nicht sieht. Die Beobachtung zweiter Ordnung vermittelt einen<br />
universalen Weltzugang.“<br />
Eben so lautet auch das Versprechen, mit dem die Betrüger Andersens Märchenkaiser aufwarten.<br />
Angetan mit den fabelhaften neuen Kleidern, soll der Kaiser nicht nur sehen, was seine Untertanen<br />
sehen und wie sie sehen, sondern in Sonderheit auch, was sie nicht sehen; eventuell soll er sogar<br />
sehen können, dass sie nicht sehen, was sie nicht sehen - und dass sie auch das nicht sehen.<br />
Dieser Einblick in das Sehen- und Nichtsehenkönnen der anderen soll es dem Kaiser erlauben,<br />
gute und schlechte („dumme“, „amtsuntaugliche“) Untertanen voneinander zu unterscheiden, und<br />
ihm so das Herrschen erleichtern – ein praktisches Motiv, das neben die narzisstische Prämie der<br />
Allsehendheit tritt, die den Monarchen in die panoptische Position eines absoluten Subjekts<br />
bringen soll.<br />
Man könnte zwar meinen, dass er in dieser Position - der Position des Souveräns und<br />
absolutistischen Herrschers - ohnehin schon sei und deshalb der Dienste jener Betrüger gar<br />
nicht bedürfte. Es ist jedoch ein altes Paradox der Fürstenherrschaft, dass man im Zentrum<br />
der Macht ganz besonders wenig sieht und deshalb gute Ratgeber braucht.<br />
[...]<br />
Die Betrüger in Andersens Märchen tauchen also am Platz der Ratgeber auf. Das Kleid, das<br />
sie zu weben versprechen, hat allerdings die besondere Eigenschaft, alle Ratgeber<br />
überflüssig zu machen: Einem Lügendetektor gleich, soll es den Kaiser in den Stand<br />
setzen, allein über wahr und falsch, Wert und Unwert seiner Untertanen zu befinden; es<br />
verspricht also, Objektivität dort einzuführen, wo vorher nur die Verantwortung des - besser oder<br />
schlechter beratenen - subjektiven Urteils stand. Dass der Kaiser hier überhaupt Bedarf verspürt,<br />
zeigt ihn bereits als Angehörigen eines Zeitalters, dem die bloße Autorität des Herrschers nicht<br />
mehr reicht, das Gesetz zu machen; aufgeklärter als seine Untertanen, geht es ihm um Wahrheit<br />
dort, wo diese sich mit seinem bloßen Befehl begnügen (und folglich sehen, was sie sehen sollen).<br />
20
Der Plot des Märchens lebt bis zu einem gewissen Grad aus dem daraus resultierenden<br />
Gegeneinander zweier Wissens- oder Wahrheitsordnungen: Galt der alten Ordnung als wahr, was<br />
der Kaiser sagt (weil es der Kaiser sagt), so gilt in der neuen Ordnung als Kaiser, wer die Wahrheit<br />
sagt (weil er die Wahrheit sagt) - und sei es auch ein kleines Kind. „Kaiser“ ist hier nur noch der,<br />
dem es gelingt, sich als Letzter in der Kette der Beobachter zu positionieren.<br />
[...]<br />
Im Spiel um die Position dessen, der am meisten sieht, ist der Kaiser schon deswegen im Nachteil,<br />
weil er sich zu sehen gibt. Die Schauseite der Macht, auf die ihn die absolutistische Ordnung stellt,<br />
verlangt von ihm, der am besten Sichtbare von allen zu sein; als absolutes Subjekt des Blicks ist er -<br />
anders als der allsehende Gott, dessen irdisches Pendant er zu sein wähnt - zugleich das absolute<br />
Objekt der Blicke aller. Es ist also gerade die körperliche Seite der Macht, an der Andersen ihn<br />
scheitern lässt. Verstrickt in die intersubjektive Dialektik des Blicks wie noch der geringste seiner<br />
Untertanen, kann auch oder gerade der Kaiser nicht sehen, dass er nicht sehen kann, was er nicht<br />
sehen kann.<br />
21
Auszüge aus Melissa Müller: Die kleinen Könige der Warenwelt. Kinder im Visier der<br />
Werbung. Campus Verlag, 1997.<br />
Zielgruppe Kinder: zum Zähneausbeißen<br />
„Kaum eine Branche, die sich nicht für Kinder und Jugendliche interessiert. Immerhin sind sie die<br />
Kunden von morgen“, berichtet die Leiterin des Jugendforschungsinstituts in München, Brigitte Melzer-<br />
Lena, die sich seit 25 Jahren mit Kindern als Konsumenten beschäftigt. Kaum eine Zielgruppe, die<br />
Werber und Produktentwickler so ins Schwitzen bringt wie die Kinder.<br />
Kinder? In der Werbewelt ist der Begriff tabu. Die Altersgruppen zwischen fünf und fünfzehn heißen<br />
Girls, Boys, Kids, Youngsters, Minis, Subteens. Durch die Brille der Werbewelt gesehen sind sie keine<br />
unmündigen Dreikäsehochs, sondern hyperkritische, „total abgedrehte“, „ur-anspruchsvolle“<br />
Trendsetter. Naturgemäß bilden sie die Zielgruppe, die sich am rasantesten verändert. Anders als<br />
die der Erwachsenen wird sie von der Werbewelt in der Regel aber nur nach dem Alter unterteilt<br />
und nicht etwa in A-, B- und C-Schichten, die vom Einkommen oder der Aus- und Berufsbildung<br />
abhängen.<br />
Kindergarten- und Vorschulkinder<br />
Ihre Umwelt ist keine Dingwelt, sondern eine Markenwelt. Kinder im Alter von etwa fünf fahren<br />
verfügen über eine erstaunliche, oft geradezu beängstigende Markenkenntnis. Täglich lernen sie<br />
neue Begriffe kennen. Im Kindergarten, auf dem Spielplatz und im Ballettunterricht erfahren sie,<br />
was andere Kinder besitzen. Wenn Julia ihren Freundinnen ihre „Hot Skatin' Barbie“ im neuesten<br />
Rollerskate-Outfit vorführt, dann wird die Puppe plötzlich zum Maß aller Dinge. Wenn Christoph mit<br />
seinem neuen Mountainbike angeradelt kommt, dann sieht Clemens auf dem Klapprad, das er von<br />
seinem älteren Bruder „geerbt“ hat, ziemlich alt aus.<br />
Vorschulkinder tragen erstmals massiv Konsum- und Markenwünsche an die Eltern heran. Diese<br />
lassen sich von der scheinbaren Unersättlichkeit ihrer Kleinen ziemlich beunruhigen - eine<br />
Unersättlichkeit, deren Ursache jedoch leicht zu erklären ist: Sie ist oft nichts anderes als der<br />
Ausdruck des zermürbenden alltäglichen Kampfes um Anerkennung in ihrem Freundeskreis,<br />
der für die Kinder nun vordergründig wichtiger ist als die Beziehung zu den Eltern. Besitz schafft<br />
diese Anerkennung. Besitz schafft Sympathie und Respekt.<br />
Nur eine Minderheit zeigt in diesem Alter schon Verständnis für die ökonomische Funktion von<br />
Geld, für Wirtschaft oder Werbung. Jene Kinder, die den Anschein vermitteln, mit Geld bereits<br />
umgehen zu können, sind uns wahrscheinlich ohnehin suspekt. Wir empfinden sie als altklug und<br />
wünschen uns, sie mögen doch „noch Kinder bleiben“.<br />
Die kognitive Fähigkeit von Fünfjährigen, Informationen aufgrund bereits erworbener Erfahrungen<br />
zu verarbeiten, ist in der Regel schon recht weit ausgebildet. Allein - es fehlt ihnen an Erfahrung. Die<br />
scheinbaren Wirklichkeiten, die ihnen etwa das Fernsehen vorsetzt, nehmen sie deshalb als<br />
Realität hin. Eine Puppe, die auf dem Bildschirm mit einem strahlenden Lächeln durch das<br />
Kinderzimmer fliegt, kann fliegen. Phantasie und Realität auseinanderzuhalten, fällt den Kindern<br />
schwer. Die ihnen präsentierten Wirklichkeiten auf ihre „Echtheit“ hin einzuschätzen, das können<br />
die meisten Kindergartenkinder schon aufgrund der Flut von neuen Reizen und Eindrücken, die<br />
ohne Pause auf sie einströmen, kaum leisten. Deshalb sind sie durch irreführende Werbung<br />
besonders gefährdet.<br />
Schulkinder<br />
Sie bauen intensiven Kontakt zu älteren Kindern auf, sehen, welche Kleider die „Großen“ tragen<br />
oder welche „Statussymbole“ sie für „unbedingt notwendig“ erachten. Sie führen begeisterte<br />
22
Gespräche über die Konsumwelt im allgemeinen und über bestimmte Markenausprägungen im<br />
besonderen.<br />
Zwischen dem neunten und elften Lebensjahr pflegen Kinder den „fanatischen Realismus“. Mit<br />
unglaublicher Sturheit und Ausdauer gehen sie jeder noch so geringfügig scheinenden<br />
Widersprüchlichkeit nach. Sie entwickeln sich zu unbequemen Detailfanatikern, nehmen gnadenlos<br />
jeden Gegenstand, jedes Produkt genau unter die Lupe und sehen es als ihre Pflicht, kein gutes<br />
Haar daran zu lassen. Optische Illusionen? Kinderkram; dafür sind sie nicht mehr anfällig.<br />
Werbern, die sie mit oberflächlichen, lieblos hingemalten Scheinbildern um den Finger wickeln<br />
wollen, machen sie das Leben zur Hölle.<br />
Dabei, so erfuhr Thomas Bever bei seinen Untersuchungen zu seiner Arbeit „Young viewer's<br />
troubling response to TV-ads“, geraten ihre figurativen Denkmuster entwicklungsbedingt in Konflikt<br />
mit ihren operationalen Denkstrukturen. Macht ein Kind in diesem Alter negative Erfahrungen mit<br />
der Werbung, reagiert es mit Verallgemeinerungen. Das Urteil, zu dem es gelangt, ist hart und bis<br />
auf weiteres unumstößlich. Der achtjährige Fabian hat sein Urteil längst gefällt: „Die von der Werbung<br />
lügen sowieso immer nur.“ Ihm ist dabei allerdings nicht bewußt, daß dieses Urteil ein vorgefertigtes<br />
ist und durch die konsequente Erziehungsarbeit seiner Mutter zustande kam.<br />
Zehn- bis Zwölfjährige heißen im Marketingfachjargon „Pre-Teens“, doch wehe, man versucht sich<br />
in diesem Ton an sie heranzumachen. Man wird kläglich scheitern. Vorbei die heile, uncoole<br />
Kinderwelt. Ihre Kinderklamotten haben sie ein für allemal abgelegt, ja, sie entwickeln eine<br />
extreme Animosität gegen alles, was kindlich, in ihren Augen also kindisch ist. Mit Riesenschritten<br />
und weit aufgesperrtem Mund stürmen sie in die Welt der Jugendlichen - um sie zu erobern,<br />
würden wir annehmen. Um sich ihr anzupassen, entspricht jedoch eher der Realität.<br />
Die Werbeindustrie hechelt diesen Kindern hinterher und kann sie kaum fassen: Sie definieren sich<br />
- manchmal nur für ein paar Wochen - über mittlerweile mindestens 400 sich ständig ändernde<br />
Szeneabsplitterungen - ob sie sich vorübergehend zu „Cyberpunk“ oder „Hippie-Revival“, zu<br />
„Techno“, „Grunge“, zu den „Mods“ oder gar zur Gruppe der „Poetry“ hingezogen fühlen, ist in diesem<br />
Alter noch so zufällig wie diese Trendauswahl. Neugierig saugen sie alles auf, was für sie neu ist,<br />
auch wenn sie längst noch nicht alles verarbeiten können. Die meisten von ihnen sind total<br />
überfordert. Doch auch wenn sie es merken würden - nie in ihrem viel zu schnell dahinrasenden<br />
Leben würden sie es zugeben. Das brauchen sie auch nicht, denn meist sind sie ohnehin schon<br />
viel weiter, als ihre verständnislos zusehenden – und deshalb häufig wegsehenden – Eltern<br />
annehmen.<br />
Die Marketingfachwelt hat sich aus der Psychologie und Medizin das Wort „Akzeleration“, das die<br />
Vorverlegung der körperlichen Reifung im Kindes- und Jugendalter bezeichnet, geliehen, um das zu<br />
beschreiben, was es den Erwachsenen beinahe unmöglich macht, die Generation ihrer Kinder zu<br />
verstehen: Heute heranwachsende junge Menschen entwickeln sich deutlich schneller als frühere<br />
Generationen. Hinreichend geklärt sind die Ursachen dieses Phänomens zwar bis heute nicht,<br />
doch geht man davon aus, daß veränderte Ernährung, verstärkte Sonnenexposition und<br />
hormonale wie genetische Einflüsse dazu geführt haben, daß der durchschnittliche<br />
Dreizehnjährige heute bis zu fünfzehn Zentimeter größer ist als sein Altersgenosse zu Beginn dieses<br />
Jahrhunderts.<br />
Würde sich dieses Phänomen tatsächlich auf die veränderte Körpergröße beschränken, müßte<br />
allenfalls die Bekleidungsindustrie reagieren. Doch um die physische Reifung allein geht es nicht.<br />
Die heutigen Kids wachsen ihren Eltern in jeder Hinsicht über den Kopf - auch in geistiger. Dafür<br />
macht die Wissenschaft unter anderem die extreme Reizflut verantwortlich, mit der die Kinder<br />
tagein, tagaus konfrontiert sind und die ihr gesamtes Nervensystem intensiver beansprucht als noch<br />
23
vor einigen Jahrzehnten. Das zwingt sie schon sehr früh zur selektiven Konzentration. Die<br />
unweigerliche Folge davon ist, daß sie sich in immer jüngerem Alter auf eine immer reifere Art mit ihrer<br />
Umwelt auseinandersetzen müssen. Dadurch werden sie zwar physisch und psychisch immer früher<br />
„erwachsen“ – sie sind jedoch auch stärker reizbar.<br />
Was heute als Kernzeit der Jugend gilt, „absolvieren“ sie im Sauseschritt zwischen dem dreizehnten und<br />
fünfzehnten Lebensjahr. Allerspätestens ab sechzehn erheben sie Anspruch auf das „Erwachsensein“,<br />
allerdings auf widersprüchliche Weise: In ihren Erwartungen werden die Kids von heute immer früher zu<br />
jungen Erwachsenen. Sie sind aber immer später bereit, die Verantwortung von Erwachsenen zu<br />
übernehmen. Sie haben auch keinen Grund dazu: Sie dürfen (fast) alles, sie haben (fast) alles. Wo<br />
könnte es ihnen besser gehen als daheim. Die Jugend von heute ist eine Generation der Nesthocker.<br />
Hotel Mama, Palazzo Papa. Aus ökonomischer Sicht eine durchaus praktische Entscheidung.<br />
Statussymbol Marke: Ich kaufe, also bin ich<br />
Kinder legen im Besitz von Produkten untereinander Rangordnungen fest. Diese Produkte sind die<br />
einfachste, weil greifbarste Methode, sich selbst und seine Beziehung zur Umwelt zu definieren<br />
und in der rasenden Geschwindigkeit des durchschnittlichen Produktlebenszyklus wieder und wieder<br />
zu redefinieren. Quadratisch, praktisch, gut. Die Erwachsenenwelt läßt dies zu. Was sollen die<br />
Kinder selbst daran also noch so ungewöhnlich finden?<br />
Werbung suggeriert Kindern den Konsum als wesentliches Kriterium, sich selbst in ihrer Umwelt zu<br />
positionieren. „I shop therefore I am“, ließ die amerikanische Medienkünstlerin Barbara Krueger auf<br />
eine braune Einkaufstüte drucken, „Ich kaufe ein, also bin ich“.<br />
„Erst indem ich einkaufe, bin ich“ mag zwar als moderne Parodie auf Descartes' „Cogito ergo sum“<br />
formuliert sein, dahinter versteckt sich jedoch eine ebenso geistreiche wie bitterböse Anspielung<br />
auf die Konsumhörigkeit der Menschen. Shopping als Selbstzweck, ja als Zweck des Daseins. In<br />
unserem allgemeinen Wertgefüge hat die Konsum- und Warenwelt einen völlig überhöhten<br />
Stellenwert bekommen. Erst der Besitz von Dingen macht den Menschen aus. Erst durch den<br />
Besitz von Dingen kann ein Mensch den Wert eines Mitmenschen schätzen, er kann ihn<br />
abschätzen. Der „besitzende“ Mensch wird damit selbst zur mehr oder weniger wertvollen Ware.<br />
Was viele Erwachsene als überhöhten Stellenwert der Produktwelt kritisieren und nachdenklich<br />
macht, kommt vielen Kindern heute bereits ganz und gar selbstverständlich über die Lippen. „Das<br />
Beste ist für mich gerade gut genug ...“ Und zwar nicht nur, wenn sie gerade einen Heißhunger auf die<br />
bekannte Keksmarke verspüren.<br />
Damit hat Werbung eine strukturierende Bedeutung für kindliche Selbstkonzepte<br />
gewonnen. Wer ein bestimmtes Produkt nicht besitzt oder nur teilweise daran partizipiert,<br />
muß sich von dem, der es besitzt, als minderwertig definieren lassen. Oder er dreht – nicht<br />
selten bereits voller Aggressionen – den Spieß um und versucht, seine vermeintliche<br />
Überlegenheit über den Konsumverzicht zu demonstrieren – eine unbequeme und deshalb<br />
rare Haltung.<br />
Mein Freund, die Marke<br />
„Coca Cola“, im Brockhaus-Lexikon zwischen der alten spanischen Stadt „Coca“ und dem<br />
Rauschmittel „Cocain“ verewigt, feierte im Mai 1996 seinen hundertsten Geburtstag. Mit 20 Prozent<br />
Marktanteil - allein in Deutschland kommt auf dreizehn getrunkene Flaschen „Coca Cola“ gerade<br />
eine „Pepsi Cola“ - ist „Coca Cola“ nicht nur eindeutiger Marktführer im Softdrinkbereich, sondern<br />
auch der bekannteste Markenname der Welt - seit Jahrzehnten. Der dunkelbraune Sprudel weiß,<br />
wie man älter wird, ohne zu altern: indem er den geheimnisvollen Mittelweg zwischen Kontinuität<br />
und Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen geht. In anderen Worten: Er bleibt sich selbst<br />
24
treu, macht sich aber trotzdem ständig Gedanken darüber, was seine Freunde von ihm erwarten.<br />
Er weiß, wie man differenzierte Markenauftritte plant und trotzdem sein Gesicht bewahrt:<br />
Präsentation ohne Prostitution.<br />
Nicht ganz so spektakulär, aber mit ähnlich dauerhaftem Erfolg, halten sich der immer junge blaue<br />
Creme-Oldie „Nivea“ oder die unverwüstlichen „Levi's“-Jeans auf dem Markt.<br />
Andere Marken verkaufen sich bereits seit Generationen stetig, aber mehr oder minder im<br />
Verborgenen, und plötzlich – weil sie in irgendeinem Film eine tragende Rolle spielen, weil ein<br />
Spitzensportler sie trägt oder trinkt, oder der neue Werbespot den Nerv der Zeit trifft – starten sie zur<br />
Kultmarke durch. So geschehen mit dem Sprudel von „Sinalco“. Solche Marken verschwinden<br />
jedoch, nach einer kurzen Euphorie, meist wieder in der Versenkung.<br />
Wieder eine andere – neue – Marke erhebt eine Generation von Kids selbst zur Kultmarke. Sie<br />
gesteht ihr für einen bestimmten Zeitraum einen Identifikations-, einen Innovations- und einen<br />
Erlebniswert zu, den ein Produkt mit einem anderen Namen, erfüllt es auch den gleichen Zweck,<br />
nie und nimmer haben kann. Ein Name, ein Slogan als unverwechselbare Identität; eine Seele für<br />
ein seelenloses Produkt in einer austauschbaren Produktwelt. „Kinder suchen sich Marken aus wie<br />
Freunde“, glaubt Gerhard Puttner, Geschäftsführer der Wiener Werbeagentur „Dr. Puttner & BSB“.<br />
Tatsächlich wünschen sich die Kinder „verläßliche Beziehungen“, wollen eine gewisse Ordnung und<br />
Struktur in ihr Leben bringen. Wo Ordnung und Struktur Mangelware ist, können sogar<br />
Kleidermarken einen ganz entscheidenden Halt geben. „Wir glauben heute nicht mehr an die<br />
Auferstehung, sondern an Produkte, mit denen es uns (vermeintlich) besser geht, wenn wir sie<br />
haben“, so der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk. „Diesel“, „Pod und Wet“, „Chiemsee“, „Replay“,<br />
„Chevignon“, „Doc Martens“, „Nike“, „Levi's“ - die Liste der Hitkleidung von Kindern und Jugendlichen ist<br />
lang. Mit der Wahl einer bestimmten Kleidung gibt man der eigenen Szene zu verstehen:<br />
„Ich bin einer von euch.“ Wer ein solches Produkt erwirbt, kauft damit auch die Sicherheit,<br />
den Erwartungshaltungen seiner soziokulturellen Umwelt zu entsprechen.<br />
Daß nur wenige Freundschaften das Potential haben, solche fürs Leben zu werden, erfahren<br />
Kinder schon sehr früh. Entspricht eine Marke nicht mehr dem Geschmack der „Anführer“, so<br />
sinken die Marktanteile - zum Leidwesen von Industrie und Werbung - mit rasanter<br />
Geschwindigkeit in den Keller. Gelten unter angepaßten Konsumkids „Chevignon“-Hosen - zu<br />
haben für lächerliche 100 Mark und morgen schon zu klein - im Idealfall kombiniert mit dem<br />
Rucksack der gleichen Marke ab etwa 130 Mark, heute noch als ungemein „cool“, kann das<br />
morgen schon ganz anders sein. Bevorzugt die an Basketball orientierte Kinder- und Jugendszene<br />
Jeans und T-Shirts der Marke „Diesel“ (ab etwa 120 Mark), hat sie morgen vielleicht einen anderen<br />
Favoriten. Erklärt der Klassensprecher die „Sony-Playstation“ für „absolut unterirdisch“, dann tut sich<br />
auch die einfallsreichste „Rich-Racer-Revolution-Sony-Playstation“-Werbung schwer, ihr Ziel zu<br />
erreichen. Um ihrem Schuhwerk das Kultpotential zu erhalten, investieren die sportlichen<br />
Schuhmacher Millionen über Millionen. Derzeitige Bestseller: „Nike Air Max“ mit Luftpolstersohle oder<br />
„Reebok“-Sneakers. Wie lange noch?<br />
Immer häufiger wird gar ein „Ende des Markenkultes“ prophezeit. Norbert Lalla etwa, Chefredakteur<br />
der Jugendzeitschrift Bravo, will festgestellt haben, daß „das extreme Markenbewußtsein<br />
nachgelassen hat“. Es bleibt offen, ob tatsächlich die Markenorientierung der Jugendlichen<br />
und Kinder nachläßt oder ob die Erwachsenen die Marken der Kids nicht mehr kennen bzw.<br />
dem rasanten Markenwechsel nicht mehr folgen können.<br />
Die Kids machen Trends - und sie lassen sich Trends servieren, die sie dankbar mitmachen; stets<br />
auf der Suche nach Befriedigung. Ob die Markenartikler häufiger nur auf die bereits deutlich<br />
kommunizierten Vorlieben der Kinder reagieren oder ob sie mit ihren Markenkreationen selbst neue<br />
Richtungen vorgeben, womöglich soziale Entwicklungen in Gang bringen, scheint eine „Henne-Ei-<br />
25
Frage“ zu sein. Die Antwort ist unerheblich. Worauf es ankommt, ist schließlich die Reaktion der<br />
Kids. Und die scheinen zu dem Stoff, aus dem die Werbe- und Konsumwelt ist, immer dann zu<br />
greifen, wenn die wirkliche Befriedigung fehlt.<br />
Konsumopoliten der Welt, vereinigt Euch<br />
Konsum ist wertfrei und nicht a priori negativ. Konsumieren ist nicht prinzipiell eine Ersatzhandlung.<br />
Konsumieren will – das vergessen wie heute manchmal – zuallererst ganz normale<br />
Bedürfnisse befriedigen: den Hunger stillen, den Durst löschen und Schutz gegen die Kälte bieten.<br />
Zu konsumieren bedeutet zu kommunizieren, zu interagieren, die Sinne zu schärfen, die Kreativität<br />
zu wecken. Auch daran ist – a priori – nichts Negatives zu finden. Konsumieren generell als<br />
Fetischhandlung unmündiger Verbraucher diskriminiren zu wollen, würde die Problematik der<br />
Konsumgesellschaft deshalb ins falsche Licht rücken.<br />
Und doch hat sich der Konsum als solcher einen negativen Beigeschmack eingehandelt; denn<br />
unsere Umwelt, die Gesellschaft, in der wir uns bewegen, in der unsere Kinder aufwachsen, weckt<br />
Wünsche, Erwartungen, Ansprüche, Hoffnungen, stellt Forderungen, die durch immer neue,<br />
üppigere, ausuferndere Konsumerlebnisse befriedigt werden sollen. „Alle Probleme, die die<br />
Lebensqualität bestimmen – Gesundheit, Vorsorge, Glück, Arbeit etc.“, schreiben die<br />
Wissenschaftler Norbert Bolz und David Bossart, „hängen von Konsumakten ab.“ Die Warenwelt<br />
hat in vielen Fällen eine überdimensionale Bedeutung bekommen, menschliche Werte geraten<br />
dagegen häufig ins Hintertreffen.<br />
Von Konsumerismus, Konsumterror, Konsumsucht und Konsumgier ist deshalb die Rede,<br />
konsumgeile Menschen setzen habgierige Konsumkids bzw. willige Konsumenten in die Welt. Für<br />
einen erschreckend großen Teil der Kinder spielt im menschlichen Miteinander das „Haben“ heute<br />
eine größere Rolle als das „Sein“, denn erst das Haben bedingt das Sein. Hast du was, dann bist<br />
du was. Eine Katastrophe würde sich anbahnen, wäre das plötzlich nicht mehr so: Würden wir<br />
unser Konsuminteresse tatsächlich wieder auf unsere Grundbedürfnisse beschränken, die<br />
Marktwirtschaft stünde vor ihrem Zusammenbruch – und mit ihr die Zukunft unserer Kinder. Also<br />
machen wir brav mit. Mehr noch: Obwohl die meisten von uns das Spiel sehr wohl durchschauen,<br />
haben wir den Konsum zu einer Form von Selbstausdruck stilisiert, der sich in einem hohen Stil-<br />
und Markenbewusstsein manifestiert.<br />
Unsere Kinder haben es nie anders kennengelernt. Sie bekommen mit, welch hohen<br />
Stellenwert die Erwachsenen ihren materiellen Wünschen einräumen, wieviel Energie und<br />
Zeitaufwand sie investieren, um Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen. Endlich die neue<br />
Wohnzimmergarnitur, die man den Nachbarn vorführen, endlich das neue Auto, mit dem<br />
man bei der Verwandtschaft vorfahren kann. So wachsen Kinder mit künstlich erzeugten,<br />
von der Werbung zusätzlich angeheizten Wünschen und Bedürfnissen auf, sei es „nur“<br />
nach Süßwaren, sei es nach Spielzeug oder nach sehr viel kostspieligeren Dingen wie<br />
modischer Kleidung und elektronischen Gebrauchsgegenständen. Immer jüngere Kinder –<br />
kaum des Sprechens mächtig – nimmt die Werbewirtschaft ins Visier. Werbespots versuchen,<br />
schon in Zweijährigen konkrete Wünsche zu wecken. Im Alter von fünf bis sechs Jahren haben sie<br />
meist schon weit mehr Wünsche, als die Eltern und andere edle Spender zu erfüllen in der Lage<br />
sind. Bei einem einzigen Kaufhausbesuch äußert das Durchschnittskind fünfzehn Kaufwünsche.<br />
Zusätzlich dreht sich zu Hause, auf Autofahrten, im Kino, beim Essen, in den Ferien und<br />
besonders stark vor dem Fernsehgerät – geballt natürlich in den mit Werbung gefüllten<br />
Programmpausen – alles um die unerfüllten Kinderwünsche.<br />
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Unsere Kinder kommen heute schon als „Konsumenten“ auf die Welt – ein Phänomen des<br />
Industriezeitalters, das sich seit den siebziger und achtziger Jahren manifestierte. Die<br />
Geburtsstunde der Konsumkids in den neuen Bundesländern fällt nach der Marketing-<br />
Zeitrechnung ins Wiedervereinigungs- und Aufbruchsstimmungsjahr 1989: der Nachholbedarf auf<br />
der einen, die Euphorie auf der anderen Seite stachelte die Kauflust so richtig an.<br />
Die Wirtschaft hat die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft längst als Goldgrube geortet; sie<br />
schätzt ihre Neugierde, Aufgeschlossenheit und Unbeirrbarkeit – Rezessionsmeldungen, die ihre<br />
Eltern zur Vorsicht mahnen, scheinen die Kauflust der Kleinen nicht bremsen zu können: Sie<br />
geben – Krise hin oder her – aus, ohne nachzurechnen und ohne penibel Buch zu führen.<br />
Die Kleinsten sind das größte Potential der Werbewelt. Die meisten von ihnen leben in nie<br />
dagewesenem Wohlstand und nehmen mit großer Selbstverständlichkeit am Lebensstil ihrer Eltern<br />
teil. Ihre Begehrlichkeit lässt sich noch leichter wecken als die der Erwachsenen. „Die meisten<br />
Kinder und Jugendlichen sind heute knallharte Hedonisten“, urteilt der Psychologe Jürgen Meixner.<br />
„Nach dem Motto: Alles für mich, nichts für die Gesellschaft.“<br />
27
Auszug aus Wolfgang Ullrich: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? Fischer<br />
Verlag 2006.<br />
Kultur der Fiktionalisierung<br />
Ohne Wohlstandsgesellschaft stünden die Konsumenten unter dem Druck, für möglichst wenig<br />
Geld möglichst viel Gebrauchswert zu erwerben. Sie wären damit beschäftigt, ihre alltäglichen<br />
Bedürfnisse zu stillen, und hätten kaum Ressourcen übrig, noch etwas für ihre Seelenlage zu tun.<br />
Aber auch Wohlstand genügt nicht, um sich von Dingen mehr Sinn zu wünschen. Vielmehr kommt<br />
es dazu erst, wenn die Qualität der Waren gleichmäßig relativ hoch ist. Solange eine Produktklasse<br />
nicht ausgereift ist, wird die Konkurrenz zwischen verschiedenen Fabrikaten nämlich noch primär<br />
über den Vergleich ihres Gebrauchswerts ausgetragen. Sobald aber viele Hersteller ähnlich gute<br />
Produkte auf den Markt bringen, müssen sie sich durch andere Merkmale von ihren Mitbewerbern<br />
unterscheiden. Erst jetzt besitzt das Label, das die Phantasien der Konsumenten besonders gut<br />
aufnimmt, einen Wettbewerbsvorteil. In einer entwickelten Wohlstandsgesellschaft kommt es also<br />
zu einer „Verschiebung von der Warenproduktion zur Imageproduktion“, wie es die Gründer der<br />
Werbeagentur Jung von Matt, ähnlich vielen anderen, formulierten. Eine Marke wie Nike – so ihre<br />
pointierte Wendung – „verkauft keine Schuhe, sondern Träume, Sichtweisen, Gedanken“. Wer einen<br />
Turnschuh erwirbt, soll heute also die Chance haben, sein Leben ähnlich zu fiktionalisieren wie ein<br />
Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts, der das Nibelungenlied oder Felix Dahns Ein Kampf um Rom<br />
(1876) las.<br />
Das Individuum fühlt sich stärker, wenn es von Dingen umgeben ist, die ihm zusätzliche<br />
Möglichkeiten – schmeichelhafte Rollen in alternativen Biographien – verheißen. Wer einen<br />
Geländewagen kauft, macht es oft nicht wegen dessen Gebrauchswert, sondern um den eigenen<br />
„Möglichkeitssinn“ zu beleben. Immerhin könnte man mit einem solchen Auto ganz anderes und viel<br />
mehr anstellen als mit einer herkömmlichen Limousine.<br />
Eine „Welterweiterung“ zu bewirken, ist für den Wirtschaftstheoretiker Birger Priddat die Aufgabe<br />
von Konsumgütern, wozu sie „überzeugende Geschichten erzählen“ oder sogar als „eine Form der<br />
Literatur oder Kunst“ gestaltet sein müssen.<br />
Mit den Dingen erwirbt man also zugleich Stoff für Überhöhungen des eigenen Lebens. Der<br />
Soziologe Jeremy Rifkin behauptet, daß Statussymbole nicht mehr in primär materiellen Dingen<br />
bestehen, sondern es (fast) allein darum geht, zu welchen Erfahrungen und Gefühlen sich jemand<br />
konsumistisch Zugang verschaffen kann. Der emotionale Mehrwert dessen, was man kauft, wird<br />
zur eigentlichen ökonomischen Größe. Rifkin bezeichnet dieses Phänomen als „kulturellen<br />
Kapitalismus“, werden doch offenkundiger als je zuvor immaterielle Güter wie Erlebnisse und<br />
Atmosphären zu marktfähigen Gütern. 53 Seit den 1990er Jahren hat sich dafür auch der vom<br />
Soziologen Gerhard Schulze etablierte Begriff „Erlebnisgesellschaft“ durchgesetzt; konstatiert<br />
wird ein Wandel von „außenorientiertem“ zu „innenorientiertem Konsum“, also eine<br />
Verschiebung vom Gebrauchs- und Statuswert hin zum Emotions- und Fiktionswert der<br />
Produkte. Primär geht es mittlerweile also darum, was ein Ding „im Inneren“ des<br />
Konsumenten auslöst.<br />
Die Erlebnisse, die man kauft, bleiben dennoch oft an den Besitz von Dingen gebunden. Anstatt sein<br />
Geld nur noch in Erlebnisrestaurants, bei Sportveranstaltungen, im Abenteuerurlaub oder bei<br />
exklusiven Kultur-Events auszugeben, will man auch weiterhin Produkte haben, die eine bestimmte<br />
Erfahrungswelt gegenwärtig werden lassen. Gerade demjenigen, zu dem ein Ding nicht von<br />
vornherein paßt, verspricht sein Besitz die Teilhabe an einem sonst verschlossenen Milieu, einer<br />
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isher unbekannten Erfahrung oder einer ungewöhnlichen Atmosphäre. Dann fungiert es als Symbol<br />
für ein besonderes Ereignis und ist zuerst Verheißung, später vielleicht Reliquie eines Erlebnisses,<br />
das man außer in seinen Phantasien nie hatte.<br />
Deshalb brauchen die Produzenten zur Erhöhung ihrer Umsätze auch nicht danach zu trachten,<br />
neue Bedürfnisse zu erzeugen oder die Waren mit Sollbruchstellen und anderen Tücken zu<br />
versehen. Die Welt der Fiktionen ist nämlich unbegrenzt und wird von einem markanten Image,<br />
einem ungewöhnlichen Design oder einer flotten Werbekampagne belebt. Aber selbst wenn keine<br />
neuartigen Impulse von einem Objekt ausgehen, kann es Erfolg haben, da die meisten Menschen<br />
nicht nur Abenteuer und Abwechslung, sondern in Varianten immer wieder dieselben Stimmungen<br />
erleben wollen.<br />
Der Wunsch nach Überhöhung und Fiktionalisierung ist auch nie endgültig erfüllbar. Die<br />
standardmäßig vorgebrachte Kritik, daß nur Enttäuschungen ansammle, wer sich dem Konsum<br />
hingebe, ist daher ebenso trivial wie an der Sache vorbei, bleibt doch ein Fiktionswertversprechen<br />
anders als ein Gebrauchswertversprechen, das sich vollständig einlösen oder das klar gebrochen<br />
werden kann, generell unerfüllbar. Doch da es von vornherein unverbindlich war und erst im Kopf<br />
des Konsumenten eine feste Form annahm, kommt es auch kaum einmal zu einer Mängelrüge (so<br />
wenig wie jemand die Natur kritisiert, wenn eine ihrer Stimmungen hinter dem zurückblieb, was<br />
erträumt wurde). Lieber nimmt man den nächsten Dingen neue und weitere Versprechen ab. Wer<br />
produziert, hat somit nur darauf zu achten, genügend solcher Versprechen zu geben.<br />
Manchem reicht es vielleicht sogar, ein symbolisch aufgeladenes Stück im Laden zu berühren, hin<br />
und her zu wenden und kurz damit zu spielen. Auch sonst locken in Läden oft die Dinge, die man<br />
gar nicht zu kaufen vorhat: Für einen Moment mit ihrem Erwerb kokettierend, kann man Phantasien<br />
wecken, die sonst zu kurz kommen, oder sich in eine Lebensform hineinversetzen, die einem bisher<br />
fremd war. Wer erst einmal darauf achtet, wird bemerken, wie häufig Menschen in Warenhäusern<br />
oder Geschäften etwas in die Hand nehmen, es vor sich halten und versonnen daraufblicken: Sie<br />
träumen gerade, in Empathie verfallen wie Leser eines Romans. Erst recht werden vor den Spiegeln<br />
von Umkleidekabinen alternative Lebensläufe skizziert.<br />
Das erklärt auch, warum viele – meist Jüngere – „shopping“ genauso als Hobby angeben wie<br />
Reisen oder Musikhören und warum sie darin ebenso selbstverständlich eine<br />
Lieblingsbeschäftigung gefunden haben wie frühere Generationen im Lesen oder mit<br />
<strong>Theater</strong>besuchen: Es ist Unterhaltung im Dialog mit sich selbst, die man so genießen kann,<br />
und damit eine angenehme Form, die eigene Individualität zu gestalten und über Schwächen<br />
oder Ängste hinwegzufiktionalisieren.<br />
Aber eigentlich reicht schon das Blättern durch ein Lifestyle-Magazin, um von der ein oder anderen<br />
Werbeanzeige dazu animiert zu werden, sich ähnlich aus dem eigenen Leben zu schleichen wie bei<br />
der Lektüre eines Liebesromans oder als Kinobesucher. Viele Models animieren sogar eigens zum<br />
Träumen: Mit dem leicht geöffneten Mund von Schlafenden und geschlossenen oder in eine<br />
indefinite Ferne blickenden Augen vermitteln sie einen Eindruck von Semiabwesenheit. Der<br />
Eindruck, von einer Werbeanzeige in eine Zwischenwelt geführt zu werden, verstärkt sich weiter<br />
durch Unscharfen-oder Fehlfarben, durch Verfremdungseffekte und ungewöhnliche<br />
Ausleuchtungen. Schon bei der Auswahl der Models wird darauf geachtet, daß sie eine<br />
nichtssagende und damit allverheißende Schönheit besitzen. Statt auf markante Gesichter setzt<br />
man auf Wesen ohne Wesen, auf eine Bedeutsamkeit ohne Bedeutung. Solche<br />
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Leerstellenschönheit liefert die perfekten Projektionsflächen; in ihnen kann sich jeder Wunsch<br />
spiegeln. Allerdings werden die verschiedenen Marken dadurch auch wieder ein Stück<br />
verwechselbarer: Man träumt bei Prada nicht anders als bei Gucciy Boss oder Versace.<br />
Die Kataloge der Versandhäuser sowie mittlerweile die Sites von Internet-Shops bieten ebenfalls<br />
Stoff zum Tagträumen. Viele Konsumenten geben an, darin eine Alternative zu anderen<br />
Unterhaltungsprogrammen wie dem Fernsehen oder Kino sowie eine angenehme Gelegenheit zu<br />
erblicken, die eigene Lebenssituation zu transzendieren. Sie richten nach eigener Aussage dann<br />
„ganze Wohnungen ein“ oder stellen sich vor, „noch jung“ zu sein. Erläge man nicht der Versuchung,<br />
schnell zu bestellen, was erst viel später bezahlt werden muß, böten Warenkataloge sogar eine<br />
schonende Variante von Konsumkultur. Soweit die Produkte als Stoff für Fiktionalisierungen<br />
dienen, braucht man sie nämlich ohnehin nicht real vor sich zu haben. Statt Waren zu konsumieren,<br />
wäre es vielmehr preiswerter, nur Abbildungen auf sich wirken zu lassen - wenngleich viele erst in<br />
dem Moment, in dem es an den Geldbeutel geht, die Macht – und den Fiktionswert – der Dinge zu<br />
spüren beginnen.<br />
Am Beginn der Konsumkultur standen Fiktionalisierungen erst recht für jedermann grundsätzlich<br />
kostenlos zur Verfügung. In den großen Warenhäusern weckten nämlich die Wareninszenierungen<br />
die Phantasie der Kunden mehr als die Produkte selbst. So verführten die Warenhäuser zu falschen<br />
– und zu hohen – Erwartungen vom Leben, produzierten also Sinnkrisen, die zu Konsum anregten,<br />
durch ihn aber nie ganz gelöst werden konnten.<br />
Sind Warenhäuser inzwischen allein nach Effizienzkriterien gestaltet und daher einheitlich angelegt<br />
und vollgestopft wie Lagerhallen, waren sie am Ende des 19. und im frühen 20. Jahrhundert noch<br />
Orte, an denen kaum ein Aufwand gescheut wurde, um Illusionen zu stiften: Ein<br />
Schaufensterdekorateur besaß eine ähnliche Rolle wie der Bühnenbildner im <strong>Theater</strong>, in manchen<br />
Abteilungen wurden die Waren wie in Museumsräumen dargeboten, in anderen wähnten die<br />
Besucher sich auf Reisen, in Indien, auf einem arabischen Basar, in einem japanischen Garten<br />
oder zumindest in Venedig oder Rom. Man stellte Jahreszeiten nach, installierte Springbrunnen<br />
oder ließ sich von Farb- und Lichtspielen inspirieren, wie sie zuerst die amerikanische Tänzerin<br />
Loie Füller zur vorletzten Jahrhundertwende eingesetzt hatte. Manche Warenhausbesitzer<br />
riskierten für eine spektakuläre Kulisse sogar ihre wirtschaftliche Existenz, sahen ihre<br />
Inszenierungen also in bildungsbürgerlicher Tradition als öffentliche Güter und nicht als rein<br />
kapitalistische Maßnahme. Dazu paßt, daß Warenhäuser wie Wanamaker's in New York<br />
regelmäßig Konzerte für die Kunden veranstalteten; 1904 dirigierte dort etwa Richard Strauss<br />
seine neue Symphonia Domestica.<br />
Mittlerweile eröffnen Warenästhetik und Marken-Images eher als ein Kaufhaus den Traum von<br />
zusätzlichen Möglichkeiten. Viele Produkte sind dabei – dies ein weiterer Unterschied zu früher –<br />
auf jugendliche Konsumenten hin ausgelegt, arbeiten 14- bis 17jährige doch besonders intensiv an<br />
ihrer Identität; sie weisen eine höhere Tagtraumaktivität auf als die meisten Älteren. Die „Points of<br />
Sale“ bieten hingegen, außer es sind Flagship-Stores großer Marken, nur noch den Rahmen – die<br />
Bühne – für die Verheißungen der Dinge. Warenhausketten haben angesichts der starken Präsenz<br />
dessen, was sie verkaufen, sogar Schwierigkeiten, sich selbst als Marken mit eigenem Charakter<br />
zu bewähren. Ihre Rolle ist inzwischen die von Moderatoren, die die Vielfalt der Angebote – das<br />
Stimmengewirr der meist lautstarken Waren – zu ordnen haben. Statt in weiten Räumen zelebriert<br />
zu werden, verdichten sich die Illusionen anderer Welten oft auf wenigen Quadratzentimetern einer<br />
Produktoberfläche: Ein Foto, ein Slogan, die Materialität, aber oft schon allein der Markenname löst<br />
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so viel wie ehedem ein großes Schaufenster oder eine raffinierte Draperie aus. Die Entwicklung der<br />
Konsumkultur ist somit auch die Geschichte einer Konzentrationsbewegung. Diese verdankt sich<br />
dem Interesse der Hersteller, den Konsumenten das Gefühl zu geben, sie könnten alternative<br />
Szenarien nicht nur erleben, sondern auch kaufen und nach Hause nehmen, ihr Leben also wirklich<br />
erneuern und verändern. Haben bedeutet Werden.<br />
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QUELLEN<br />
• Dramaturgische Materialsammlung zur Inszenierung am Hessischen Landestheater<br />
<strong>Marburg</strong> (Redaktion: Florian Heller)<br />
• Wie wäscht man einen Elefanten? Mit Schülern und Spaß ins <strong>Theater</strong> gehen: Ideen, Texte<br />
und andere Ermutigungen für eine erfreuliche Begegnung mit <strong>Theater</strong>. Hg: LAG Kinder-<br />
und Jugendtheater Südwest in der ASSITEJ<br />
IMPRESSUM<br />
Herausgeber:<br />
Hessisches Landestheater <strong>Marburg</strong><br />
Geschäftsführender Intendant:<br />
Matthias Faltz (V.i.S.d.P.)<br />
Aufsichtsratsvorsitzender:<br />
Albert Zetzsche<br />
Redaktion und Layout:<br />
Nina Eichhorn, Florian Heller<br />
Bildmaterial: Ramon Haindl<br />
Karten unter 06421.25608 oder unter kasse@theater-marburg.de<br />
Schulbuchungen unter 06421.990237 (Jürgen Sachs) oder unter j.sachs@theater-marburg.de<br />
Homepage: www.theater-marburg.de<br />
Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an:<br />
Dramaturgie: f.heller@theater-marburg.de<br />
<strong>Theater</strong>pädagogik: theaterpaedagogik@theater-marburg.de<br />
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