02.01.2013 Aufrufe

Theaterpädagogisches Begleitmaterial - Theater Marburg

Theaterpädagogisches Begleitmaterial - Theater Marburg

Theaterpädagogisches Begleitmaterial - Theater Marburg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Auszug aus Wolfgang Ullrich: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? Fischer<br />

Verlag 2006.<br />

Kultur der Fiktionalisierung<br />

Ohne Wohlstandsgesellschaft stünden die Konsumenten unter dem Druck, für möglichst wenig<br />

Geld möglichst viel Gebrauchswert zu erwerben. Sie wären damit beschäftigt, ihre alltäglichen<br />

Bedürfnisse zu stillen, und hätten kaum Ressourcen übrig, noch etwas für ihre Seelenlage zu tun.<br />

Aber auch Wohlstand genügt nicht, um sich von Dingen mehr Sinn zu wünschen. Vielmehr kommt<br />

es dazu erst, wenn die Qualität der Waren gleichmäßig relativ hoch ist. Solange eine Produktklasse<br />

nicht ausgereift ist, wird die Konkurrenz zwischen verschiedenen Fabrikaten nämlich noch primär<br />

über den Vergleich ihres Gebrauchswerts ausgetragen. Sobald aber viele Hersteller ähnlich gute<br />

Produkte auf den Markt bringen, müssen sie sich durch andere Merkmale von ihren Mitbewerbern<br />

unterscheiden. Erst jetzt besitzt das Label, das die Phantasien der Konsumenten besonders gut<br />

aufnimmt, einen Wettbewerbsvorteil. In einer entwickelten Wohlstandsgesellschaft kommt es also<br />

zu einer „Verschiebung von der Warenproduktion zur Imageproduktion“, wie es die Gründer der<br />

Werbeagentur Jung von Matt, ähnlich vielen anderen, formulierten. Eine Marke wie Nike – so ihre<br />

pointierte Wendung – „verkauft keine Schuhe, sondern Träume, Sichtweisen, Gedanken“. Wer einen<br />

Turnschuh erwirbt, soll heute also die Chance haben, sein Leben ähnlich zu fiktionalisieren wie ein<br />

Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts, der das Nibelungenlied oder Felix Dahns Ein Kampf um Rom<br />

(1876) las.<br />

Das Individuum fühlt sich stärker, wenn es von Dingen umgeben ist, die ihm zusätzliche<br />

Möglichkeiten – schmeichelhafte Rollen in alternativen Biographien – verheißen. Wer einen<br />

Geländewagen kauft, macht es oft nicht wegen dessen Gebrauchswert, sondern um den eigenen<br />

„Möglichkeitssinn“ zu beleben. Immerhin könnte man mit einem solchen Auto ganz anderes und viel<br />

mehr anstellen als mit einer herkömmlichen Limousine.<br />

Eine „Welterweiterung“ zu bewirken, ist für den Wirtschaftstheoretiker Birger Priddat die Aufgabe<br />

von Konsumgütern, wozu sie „überzeugende Geschichten erzählen“ oder sogar als „eine Form der<br />

Literatur oder Kunst“ gestaltet sein müssen.<br />

Mit den Dingen erwirbt man also zugleich Stoff für Überhöhungen des eigenen Lebens. Der<br />

Soziologe Jeremy Rifkin behauptet, daß Statussymbole nicht mehr in primär materiellen Dingen<br />

bestehen, sondern es (fast) allein darum geht, zu welchen Erfahrungen und Gefühlen sich jemand<br />

konsumistisch Zugang verschaffen kann. Der emotionale Mehrwert dessen, was man kauft, wird<br />

zur eigentlichen ökonomischen Größe. Rifkin bezeichnet dieses Phänomen als „kulturellen<br />

Kapitalismus“, werden doch offenkundiger als je zuvor immaterielle Güter wie Erlebnisse und<br />

Atmosphären zu marktfähigen Gütern. 53 Seit den 1990er Jahren hat sich dafür auch der vom<br />

Soziologen Gerhard Schulze etablierte Begriff „Erlebnisgesellschaft“ durchgesetzt; konstatiert<br />

wird ein Wandel von „außenorientiertem“ zu „innenorientiertem Konsum“, also eine<br />

Verschiebung vom Gebrauchs- und Statuswert hin zum Emotions- und Fiktionswert der<br />

Produkte. Primär geht es mittlerweile also darum, was ein Ding „im Inneren“ des<br />

Konsumenten auslöst.<br />

Die Erlebnisse, die man kauft, bleiben dennoch oft an den Besitz von Dingen gebunden. Anstatt sein<br />

Geld nur noch in Erlebnisrestaurants, bei Sportveranstaltungen, im Abenteuerurlaub oder bei<br />

exklusiven Kultur-Events auszugeben, will man auch weiterhin Produkte haben, die eine bestimmte<br />

Erfahrungswelt gegenwärtig werden lassen. Gerade demjenigen, zu dem ein Ding nicht von<br />

vornherein paßt, verspricht sein Besitz die Teilhabe an einem sonst verschlossenen Milieu, einer<br />

28

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!