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Theaterpädagogisches Begleitmaterial - Theater Marburg

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Gespräche über die Konsumwelt im allgemeinen und über bestimmte Markenausprägungen im<br />

besonderen.<br />

Zwischen dem neunten und elften Lebensjahr pflegen Kinder den „fanatischen Realismus“. Mit<br />

unglaublicher Sturheit und Ausdauer gehen sie jeder noch so geringfügig scheinenden<br />

Widersprüchlichkeit nach. Sie entwickeln sich zu unbequemen Detailfanatikern, nehmen gnadenlos<br />

jeden Gegenstand, jedes Produkt genau unter die Lupe und sehen es als ihre Pflicht, kein gutes<br />

Haar daran zu lassen. Optische Illusionen? Kinderkram; dafür sind sie nicht mehr anfällig.<br />

Werbern, die sie mit oberflächlichen, lieblos hingemalten Scheinbildern um den Finger wickeln<br />

wollen, machen sie das Leben zur Hölle.<br />

Dabei, so erfuhr Thomas Bever bei seinen Untersuchungen zu seiner Arbeit „Young viewer's<br />

troubling response to TV-ads“, geraten ihre figurativen Denkmuster entwicklungsbedingt in Konflikt<br />

mit ihren operationalen Denkstrukturen. Macht ein Kind in diesem Alter negative Erfahrungen mit<br />

der Werbung, reagiert es mit Verallgemeinerungen. Das Urteil, zu dem es gelangt, ist hart und bis<br />

auf weiteres unumstößlich. Der achtjährige Fabian hat sein Urteil längst gefällt: „Die von der Werbung<br />

lügen sowieso immer nur.“ Ihm ist dabei allerdings nicht bewußt, daß dieses Urteil ein vorgefertigtes<br />

ist und durch die konsequente Erziehungsarbeit seiner Mutter zustande kam.<br />

Zehn- bis Zwölfjährige heißen im Marketingfachjargon „Pre-Teens“, doch wehe, man versucht sich<br />

in diesem Ton an sie heranzumachen. Man wird kläglich scheitern. Vorbei die heile, uncoole<br />

Kinderwelt. Ihre Kinderklamotten haben sie ein für allemal abgelegt, ja, sie entwickeln eine<br />

extreme Animosität gegen alles, was kindlich, in ihren Augen also kindisch ist. Mit Riesenschritten<br />

und weit aufgesperrtem Mund stürmen sie in die Welt der Jugendlichen - um sie zu erobern,<br />

würden wir annehmen. Um sich ihr anzupassen, entspricht jedoch eher der Realität.<br />

Die Werbeindustrie hechelt diesen Kindern hinterher und kann sie kaum fassen: Sie definieren sich<br />

- manchmal nur für ein paar Wochen - über mittlerweile mindestens 400 sich ständig ändernde<br />

Szeneabsplitterungen - ob sie sich vorübergehend zu „Cyberpunk“ oder „Hippie-Revival“, zu<br />

„Techno“, „Grunge“, zu den „Mods“ oder gar zur Gruppe der „Poetry“ hingezogen fühlen, ist in diesem<br />

Alter noch so zufällig wie diese Trendauswahl. Neugierig saugen sie alles auf, was für sie neu ist,<br />

auch wenn sie längst noch nicht alles verarbeiten können. Die meisten von ihnen sind total<br />

überfordert. Doch auch wenn sie es merken würden - nie in ihrem viel zu schnell dahinrasenden<br />

Leben würden sie es zugeben. Das brauchen sie auch nicht, denn meist sind sie ohnehin schon<br />

viel weiter, als ihre verständnislos zusehenden – und deshalb häufig wegsehenden – Eltern<br />

annehmen.<br />

Die Marketingfachwelt hat sich aus der Psychologie und Medizin das Wort „Akzeleration“, das die<br />

Vorverlegung der körperlichen Reifung im Kindes- und Jugendalter bezeichnet, geliehen, um das zu<br />

beschreiben, was es den Erwachsenen beinahe unmöglich macht, die Generation ihrer Kinder zu<br />

verstehen: Heute heranwachsende junge Menschen entwickeln sich deutlich schneller als frühere<br />

Generationen. Hinreichend geklärt sind die Ursachen dieses Phänomens zwar bis heute nicht,<br />

doch geht man davon aus, daß veränderte Ernährung, verstärkte Sonnenexposition und<br />

hormonale wie genetische Einflüsse dazu geführt haben, daß der durchschnittliche<br />

Dreizehnjährige heute bis zu fünfzehn Zentimeter größer ist als sein Altersgenosse zu Beginn dieses<br />

Jahrhunderts.<br />

Würde sich dieses Phänomen tatsächlich auf die veränderte Körpergröße beschränken, müßte<br />

allenfalls die Bekleidungsindustrie reagieren. Doch um die physische Reifung allein geht es nicht.<br />

Die heutigen Kids wachsen ihren Eltern in jeder Hinsicht über den Kopf - auch in geistiger. Dafür<br />

macht die Wissenschaft unter anderem die extreme Reizflut verantwortlich, mit der die Kinder<br />

tagein, tagaus konfrontiert sind und die ihr gesamtes Nervensystem intensiver beansprucht als noch<br />

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