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SCHACH IN DER SCHULE - LEBE Lehrerinnen und Lehrer Bern

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schulpraxis spezial<br />

Märchen: «Der Knabe mit<br />

den Karos im Kopf»<br />

von Richard Reich (* 1961):<br />

20<br />

Der Schweizer Journalist Richard Reich verfasste<br />

für das «NZZ FOLIO Nr. 1 / 2007» das<br />

folgende Sportmärchen mit dem Titel «Der<br />

Knabe mit den Karos im Kopf» (Seite 13):<br />

«Es lebte einst ein Knabe, der war der Stolz<br />

seiner Eltern. Er war schnurgerade gewachsen<br />

<strong>und</strong> auch sonst ordentlich anzusehen. Er hatte<br />

festes Haar, eine gute Haut <strong>und</strong> ehrliche<br />

Augen. Er war liebenswürdig <strong>und</strong> hilfsbereit.<br />

Er war ernsthaft <strong>und</strong> doch nicht verbissen. Er<br />

war anspruchsvoll, aber nur gegen sich selber.<br />

Denn dieser Junge war von einer Intelligenz,<br />

die manchmal schmerzte.<br />

Kaum auf der Welt, konnte der Knabe<br />

rascher zählen als Vater <strong>und</strong> Mutter. Kaum<br />

im Kinder-garten rechnete er schneller als die<br />

Gymnasiallehrer, in deren Lektionen er sich<br />

dereinst langweilen sollte. Kaum im Gymnasium,<br />

wusste der Junge erst recht nicht mehr,<br />

wohin mit seiner Intelligenz. Sein heisser<br />

Kopf vibrierte wie ein Kochtopf, dessen Inhalt<br />

niemand abzu-schöpfen wusste – nicht seine<br />

Eltern, die ihn mehr bew<strong>und</strong>erten als betreuten;<br />

nicht seine <strong>Lehrer</strong>, für die er kein Kind war,<br />

sondern ein Problem; nicht die Schulkameraden,<br />

die er abstiess wie Ölzeug das Wasser.<br />

Auch sonst hatte der Bub seine Eigenheiten,<br />

zum Beispiel ging er andauernd aufs<br />

Klo. Wann genau er damit begonnen hatte,<br />

wusste niemand zu sagen. Jedenfalls sass<br />

der Junge eines Tages wie selbstverständlich<br />

in der Schulbank, die sich am nächsten bei<br />

der Zimmertür befand. Von diesem Platz aus<br />

blickte er während des ganzen Unterrichts<br />

ohne Unterbruch auf die Wandtafel.<br />

Er tat das auch, wenn es dort nichts zu lesen<br />

gab. Wurde er aufgerufen, sagte er immer<br />

das Richtige, <strong>und</strong> nach jeder korrekten Antwort<br />

erhob er sich, um zur Toilette zu gehen.<br />

In Mathematik- oder Physikst<strong>und</strong>en konnte das<br />

alle fünf Minuten vorkommen. Falls ihn einer<br />

der <strong>Lehrer</strong> auf sein ungewöhnliches Verhalten<br />

ansprach, sagte er nur: ‹Mir ist heiss.› Und<br />

darauf ging er ohne weiteres aus dem Zimmer.<br />

Obwohl der Knabe im Lauf der Zeit<br />

immer seltener befragt oder überhaupt angesprochen<br />

wurde, verliess er das Schulzimmer<br />

immer öfter. Bald verbrachte er ganze<br />

Lektionen auf der Toilette. Dadurch verpasste<br />

er Prüfungen, erhielt ungenügende Zensuren<br />

sowie schlechte Betragensnoten. Aber<br />

der Knabe nahm das nicht zur Kenntnis. Er<br />

fühlte sich wohl in der Schulhaustoilette.<br />

Dort war es zu allen Jahreszeiten kühl, man<br />

blieb meistens ungestört, <strong>und</strong> der Geruch der<br />

verschiedenen Lösungs- <strong>und</strong> Reinigungsmittel<br />

hatte etwas Beruhigendes. Der Boden war so<br />

blank gebohnert, dass man bedenkenlos eine<br />

heisse Wange, eine glühende Stirn auf die<br />

kalten Kacheln legen konnte. Diese Kacheln<br />

waren von quadratischer Form <strong>und</strong> in einem<br />

Karomuster ausgelegt, immer abwechselnd<br />

schwarz <strong>und</strong> weiss.<br />

Am Fenster hatte es einen niedrigen, kaputten<br />

Heizkörper. Dort sass der Knabe <strong>und</strong><br />

wartete, dass der Tag, dass der Unterricht,<br />

dass das Leben vorüberging. Während er<br />

wartete, starrte er mit gesenktem Kopf auf die<br />

Karos <strong>und</strong> spielte Schach. Das Spielfeld wurde<br />

von acht mal acht Kacheln gebildet, die den<br />

Boden zwischen Heizkörper <strong>und</strong> Waschbecken<br />

bedeckten.<br />

Mehr brauchte der Knabe nicht. Er bedurfte<br />

keiner Holz- oder Elfenbeinfiguren <strong>und</strong> auch<br />

keines Gegenspielers. Mit halb geschlossenen<br />

Augen schob er in hohem Tempo unsichtbare<br />

Bauern, fliegende Pferde <strong>und</strong> schwebende Königinnen<br />

umher. Ebenso mühelos wechselte er<br />

zwischen zwei Zügen im Geiste die Seiten. Das<br />

Resultat blieb das gleiche: jede Partie endete<br />

unentschieden.<br />

Eines Tages ging der Knabe überhaupt<br />

nicht mehr ins Klassenzimmer, sondern suchte<br />

gleich nach dem ersten Läuten die Schülertoilette<br />

auf; noch in derselben Woche flog<br />

er vom Gymna-sium. Statt nach Hause ging<br />

Illustration:<br />

Markus Roost.<br />

Mit fre<strong>und</strong>licher<br />

Genehmigung<br />

von NZZ Folio.<br />

21<br />

schulpraxis spezial<br />

der Knabe nun ins städtische Hallenbad. Dort<br />

schloss er sich in die Toilette ein <strong>und</strong> legte seinen<br />

kochenden Kopf auf die hellblauen, nach<br />

Chlor <strong>und</strong> Javel-wasser duftenden Kacheln.<br />

Eine St<strong>und</strong>e blieb er reglos liegen. Dann ging<br />

er zum Bahnhof, fuhr in die Hauptstadt <strong>und</strong><br />

wurde Schachweltmeister.»<br />

Kommentar<br />

Reich nimmt in seinem Märchen Bezug auf<br />

den Schach-Weltmeisterschaftskampf vom<br />

Oktober 2006 in Elista / Kalmückien, wo der<br />

Russe Wladimir Kramnik den Bulgaren Weselin<br />

Topalov als Titelverteidiger besiegte <strong>und</strong> damit<br />

neuer Schachweltmeister wurde. Im Laufe des<br />

Wettkampfs suchte Kramnik derart häufig<br />

die Toilette auf, dass sein entnervter Gegner<br />

– erfolglos – Protest einlegte. Er äusserte<br />

die Vermutung, dass Kramnik elektronische<br />

Hilfsmittel in Anspruch nehme, obwohl zuvor<br />

alle Aufenthaltsorte im Turniergebäude akribisch<br />

mit Metalldetektoren abgesucht worden<br />

waren. Auf dem Höhepunkt der Affäre<br />

schaltete sich sogar der russische Präsident<br />

Putin persönlich ein, um den Wettkampf vor<br />

dem Abbruch zu retten. Zum Präsidenten der<br />

FIDE (Fédération internationale des échecs),<br />

Iljumschimow, der Präsident der russischen<br />

Teilrepublik ist (<strong>und</strong> damit wohl ein direkter<br />

«Untergebener» des russischen Präsidenten),<br />

soll Putin gesagt haben: «Das kann doch nicht<br />

sein, dass sich zwei so intelligente Leute über<br />

Toiletten streiten!»<br />

(Zitiert aus einem Interview im «Schach Magazin<br />

64» Nr. 24 / 2006)

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