Miriam Schumi zu - Österreichischer Austauschdienst
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18<br />
Karin Pointner<br />
Irgendwo im Norden<br />
Wieso mich niemand besuchen kam<br />
Karin Pointner studierte Internationale<br />
Entwicklung an der Universität Wien. Sie<br />
absolvierte einen Erasmus-Aufenthalt in<br />
Estland an der Tartu Ülikool.<br />
Diese Kurzgeschichte ist der Siegerbeitrag<br />
des Erasmus-Essay-Wettbewerbs.<br />
Stefan ist gerade in Spanien. Und das sieht man. Tagtäglich<br />
beglückt Stefan die Facebook-Gemeinde mit<br />
Party-, Strand- und Sonnenscheinfotos während wir in<br />
Wien bei Minusgraden im November durch die trübe<br />
Nebelsuppe nicht einmal die eigene Hand sehen. Stefan<br />
kommentiert seine eigenen Fotos mittlerweile auf<br />
Spanisch. Unlängst fragte ein Freund: ›Bist du eigentlich<br />
nur <strong>zu</strong>m Partymachen nach Valencia gegangen?‹,<br />
und erhielt dafür prompt vier likes, darunter eins von<br />
Stefan selbst. Günstige Wochenendtrips nach Valencia<br />
gehen momentan weg ›wie die warmen Semmeln‹<br />
und bescheren dem Vorarlberger Erasmus-Wahl-Spanier<br />
Besucherandrang und Freizeitstress, der sich am<br />
besten mit Sangria aushalten lässt.<br />
Mich kam während meines Auslandssemesters niemand<br />
besuchen. Kein Wunder, denn nicht einmal meine<br />
eigenen Eltern waren sich sicher, in welcher Stadt<br />
ich ein halbes Jahr lang studierte – Riga? Tallinn? Vilnius?<br />
Moskau? Helsinki? Ich war auf alle Fälle ›irgendwo<br />
da oben‹. Meine Freundinnen und Freunde schüttelten<br />
nur unverständlich den Kopf, als ich ihnen erklärte,<br />
dass ich einige Monate in der estnischen Kleinstadt<br />
Tartu verbringen wurde. Obwohl Kleinstadt für den<br />
Kleinstaat Estland noch untertrieben ist – Estland ist<br />
ein Dorf und Tartu mit seinen 100.000 Einwohnern<br />
das da<strong>zu</strong>gehörige Wirtshaus, denn Tartu ist die Universitätsstadt<br />
schlechthin. Selbst ich fing an im Laufe<br />
des Aufenthalts die Hauptstadt Tallinn für ihr lachhaftes<br />
Universitätsleben <strong>zu</strong> belächeln, womit wir schon<br />
beim Thema waren: Ja, Tallinn ist die Hauptstadt von<br />
Estland. Estland, das ist jener der drei Baltischen Staaten,<br />
der am nördlichsten gelegen ist, auf der Weltkarte<br />
nicht einmal einen Zentimeter von Finnland entfernt.<br />
Finnland, das kennt jeder: Elche, Helsinki, Nokia, Mumins,<br />
dem Alkohol nicht abgeneigte saunierende Finnen<br />
... Aber Estland? Sprechen dort nicht alle Russisch?<br />
Gefühlte tausend Mal habe ich erklärt, dass TALLINN<br />
die Hauptstadt ist und nicht Riga, tausend Mal habe<br />
ich bestätigt, dass Estland wirklich bei<br />
der EU ist, dass in ganz Estland wirklich<br />
weniger Menschen leben als in Wien,<br />
unzählige Male habe ich versucht <strong>zu</strong> erklären,<br />
dass die Sprache Estnisch heißt,<br />
und am allermeisten musste ich Freund/<br />
innen, Kolleg/ innen, Bekannten, Verwandten,<br />
Leuten, die mich gern haben<br />
und die mich manchmal auch gern haben<br />
können, erklären, wieso ich mir ausgerechnet<br />
Estland als Erasmus- Zielland<br />
ausgesucht habe, und nicht eine Partymeile<br />
in Spanien, die Hitze der Toskana<br />
oder <strong>zu</strong>mindest das trendige Berlin.<br />
Ja, ich gebe <strong>zu</strong>, es ist nicht leicht <strong>zu</strong> verstehen,<br />
wieso sich eine Studentin bei<br />
klarem Verstand bereits in Wien mehrere<br />
Semester lang mit den 14 Fällen<br />
der estnischen Sprache beschäftigt.<br />
Eine Sprache, die von knapp einer Million<br />
Menschen gesprochen wird, und in<br />
der man sich durch Buchstabenfolgen<br />
wie ›uu‹, ›‹ii‹ und ›oo‹ selbstbelustigen<br />
kann. Zumindest liegt das estnische tere<br />
(›Hallo‹) nahe beim österreichischen<br />
›dere‹ und die Worter muts, reisiburoo<br />
und piljard lassen deutschsprachigen<br />
Einfluss erahnen. Dass man, wenn man<br />
<strong>zu</strong>m rand geht, nicht an die estnische<br />
Grenze muss, sondern <strong>zu</strong>m Strand geht,<br />
wurde mir spätestens bei unserer Wanderung<br />
um den Puhajarv (Heiligensee)<br />
klar. Doch das Wort, das ich in Estland<br />
am meisten benutzte war terviseks und<br />
das hat nicht die Bedeutung, die man<br />
aufgrund der letzten Silbe vermuten<br />
mag. Terviseks wird nicht nur gesagt,<br />
wenn jemand niest, sondern vor allem,<br />
wenn man mit einem Gläschen Wodka<br />
anstößt, ausgerustet mit einer sauren<br />
Essiggurke in der linken Hand.<br />
Ich nahm an diversen organisierten<br />
Sommer-Ausflügen teil – vom gemeinsamen<br />
Saunabesuch, einer Schnitzeljagd<br />
im Wald, dem Wochenendtrip <strong>zu</strong>r<br />
Insel Saaremaa bis hin <strong>zu</strong> einem Besuch<br />
der KGB-Gefängniszellen war wirklich<br />
v.l.n.r.: Roman David-Freihsl (Juror, derStandard), Barbara Weitgruber<br />
(Sektionschefin, BMWF), Karin Pointner (1.Preis Erasmus-Essaywettbewerb),<br />
Ernst Gesslbauer (Leiter der Nationalagentur Lebenslanges Lernen)<br />
alles dabei, was das Eramus-Herz begehrt – lernte tausende<br />
Studierende aus aller Welt kennen – die brasilianischen<br />
Studierenden sahen in Estland <strong>zu</strong>m ersten<br />
Mal in ihrem Leben Schnee, die Franzosen verzückten<br />
uns mit ihrem Charme, die Italiener waren die besten<br />
Spaghetti- Koche, wenn wir nach den Bar-Besuchen<br />
noch Hunger hatten, die Polen zeigten uns, dass man<br />
Wodka auch <strong>zu</strong>m Frühstück trinken kann und die<br />
Deutschen bewiesen, dass man statt feiern auch wirklich<br />
fleißig studieren kann. Ich tanzte mit verrückten<br />
Esten durch die Stadt, besuchte spannende Lehrveranstaltungen,<br />
unternahm Reisen nach Stockholm,<br />
Helsinki, Riga und St. Petersburg, baute Freundschaften<br />
auf, die bis heute halten, kur<strong>zu</strong>m: Ich verlor mein<br />
Herz an dieses Zwergenland im Norden!<br />
Seit meiner Rückkehr war ich noch viele Male in Estland<br />
– ich habe dort ein Praktikum in einem Kulturinstitut<br />
gemacht, bin mit dem Auto von Wien (mit<br />
Zwischenstopps in Polen, Litauen und Lettland) nach<br />
Tartu gefahren, habe meine 200-seitige Diplomarbeit<br />
über estnische Entwicklungspolitik geschrieben und<br />
für die da<strong>zu</strong>gehörigen Recherchen mehrere Wochen<br />
dort verbracht.<br />
Ich habe aber auch erkannt bzw. wurde daran erinnert,<br />
welch großartige Menschen in Estland leben, welch<br />
spannende Geschichten dieses Land <strong>zu</strong> bieten hast,<br />
wie wichtig mir meine dortigen Freundinnen und<br />
Freunde sind und wie toll es ist, das Erasmus- Semester<br />
nach dem Motto ›studiere lieber ungewöhnlich‹ <strong>zu</strong><br />
verbringen oder wie die Esten sagen: ›Igal sudamel<br />
oma paik‹ – Jedes Herz hat seinen Ort. Und ein Teil<br />
meines Herzens ist ganz bestimmt in Estland <strong>zu</strong>hause.<br />
Karin ›gefällt das‹.<br />
© oead-llp; apa/schedl