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FALSCHE PRIORITÄTEN - Stadtgespräche Rostock

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<strong>FALSCHE</strong> <strong>PRIORITÄTEN</strong><br />

GEDRUCKTE<br />

GEDRUCKTE<br />

KÖRPERHALTUNG<br />

KÖRPERHALTUNG<br />

MAGAZIN<br />

FÜR FÜR BEWEGUNG,<br />

MOTIVATION UND UND<br />

DIE DIE NACHHALTIGE<br />

KULTIVIERUNG<br />

DER DER REGION ROSTOCK<br />

stadtgespraeche- stadtgespraeche- rostock.de rostock.de<br />

ISSN ISSN 0948-8839 0948-8839<br />

ERSCHEINT<br />

ERSCHEINT<br />

QUARTALSWEISE<br />

QUARTALSWEISE<br />

SEIT SEIT 1994 1994<br />

AUSGABE NR.<br />

17. JAHRGANG // ///____EINZELHEFTPREIS: 2,50 € ___///// JAHRESABO (4 AUSGABEN): 10,00 €


Gemeinhin gilt die Autoindustrie als Trendsetter mit einem besonderen Gespür für die Kundenbedürfnisse.<br />

Im Angesicht von Ölkrise, Krieg und Klimawandel scheinen die Bemühungen um noch mehr PS, noch mehr<br />

Leistung und noch mehr Luxus eher anachronistisch. Herausfordernd unsinnig geradezu. Wie eine Waffenmesse<br />

in Winnenden z.B.<br />

FOTO: TOM MAERCKER KEINE ANZEIGE


00.1 __ //// EDITORIAL | INHALT<br />

Liebe Leserinnen<br />

und Leser,<br />

Baustellen und damit einhergehende<br />

Diskussionsthemen gibt es in <strong>Rostock</strong><br />

derzeit reichlich. Und folgerichtig haben<br />

wir uns auch im aktuellen Heft mit den<br />

Themen Darwineum, Theaterkrise und Verandastreit in Warnemünde<br />

auseinandergesetzt. Aber sind das die wirklich essentiellen Themen für<br />

die Zukunft unserer Stadt? Was ist mit dem Kampf für eine schnellstmögliche<br />

AKW-Abschaltung, mit Kürzung der Sozialarbeiterstellen an<br />

<strong>Rostock</strong>er Schulen (ein Beitrag dazu folgt im nächsten Heft), den Anliegen<br />

denen sich die Bürgerbegehren des letzten Jahres gewidmet haben?<br />

Mit der dringend benötigten Bereitschaft zur Betreuung von Pflegekindern<br />

in <strong>Rostock</strong>, wie ihn der Beitrag von Grit Gaida beschreibt? Wo<br />

braucht es mehr Unterstützung, was ist essentiell und was gegebenenfalls<br />

vernachlässigbar?<br />

In der Vielfalt der angerissenen Themen möchte das aktuelle Heft einen<br />

Beitrag dazu leisten, dass jeder Leser seine ganz eigene Antwort auf die<br />

Frage finden kann, worauf die Prioritäten hinsichtlich Finanzierung und<br />

Engagement in <strong>Rostock</strong> gelegt werden sollten. Und wofür es sich lohnt<br />

zu kämpfen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine entscheidungsbefördernde<br />

und spannende Lektüre,<br />

Ihre Kristina Koebe<br />

Inhalt dieses Heftes<br />

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

Bestellschein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .6<br />

A. Bothe | D. Holtermann: Atommülltourismus<br />

in Mecklenburg-Vorpommern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2<br />

Autonome Hochschulgruppe <strong>Rostock</strong>: Wo<br />

Faulheit regiert, der Private profitiert . . . . . . . . . . . 8<br />

Sybille Bachmann: Bürgerbegehren &<br />

Bürgerentscheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

C. Mannewitz: Eine Bürgerinitiative für einen<br />

Theaterneubau? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

G.H.P.: Theater um das Große Haus . . . . . . . . . . . 18<br />

G. Lichtenstein: Theater - was soll's? . . . . . . . . . . . 19<br />

K.-M. Henkel: <strong>Rostock</strong> 21 - Rettet den<br />

Barnstorfer Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

B. Kluger: <strong>Rostock</strong>s Schnäppchen . . . . . . . . . . . . . 23<br />

I. Wenzl: Der Widerstand gegen Gentechnik<br />

in Mecklenburg-Vorpommern lebt . . . . . . . . . . . . 26<br />

G. Gaida: Wie viel Verantwortung hätten Sie<br />

denn gern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28<br />

A. Krönert: Motivation und Engagement für<br />

eine bessere Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />

J. Langer: Drei Lesezeichen. Empörung -<br />

Aufstand - K-Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />

Männer: Bildet Grüppchen!!<br />

FOTO: TOM MAERCKER


00.2 __ //// ENERGIEWENDE | IMPRESSUM<br />

Atommülltourismus<br />

in Mecklenburg-Vorpommern<br />

Die Castoren bleiben länger zu Besuch<br />

ADELWIN BOTHE | DANIEL HOLTERMANN<br />

Unterwegs mit der Eisenbahn entlang der Strecke oder einfach nur im Stadtgeschehen - es sind immer wieder gelbe Xe zu<br />

finden. Das Zeichen für den Widerstand gegen eine unverantwortliche Atompolitik ist einmal mehr heimisch geworden in<br />

Mecklenburg-Vorpommern. Auch der Versuch, Zwischenlager dort zu errichten, wo kaum Menschen wohnen oder weniger<br />

Protest erwartet wird, erweist sich als Irrtum. Nach den ersten beiden Castor-Transporten steht fest, dass die Zeiten der<br />

heimlich, still und leise durchgeführten Atommülltransporte vorbei sind. Das Anti-Atom Bündnis NordOst zieht ein Resümee.<br />

Hintergrund: Atompolitik und das Zwischenlager<br />

Nord (ZLN)<br />

An der Küste leben die meisten Menschen vom Tourismus und<br />

sorgen sich um das Image, wenn bekannt wird, dass sich in<br />

Mecklenburg Vorpommern das größte deutsche Zwischenlager<br />

befindet. Gleich zweimal innerhalb von drei Monaten wackelte<br />

das schöne Bild von idyllischen Ostseestränden durch die Castor-Transporte<br />

in das Zwischenlager bei Lubmin. Diese brachten<br />

erstmals hochradioaktiven Müll aus dem Forschungsschiff<br />

„Otto Hahn“ und dem ehemaligen Kernforschungszentrum<br />

Karlsruhe.<br />

Damit fangen die Widersprüche schon an. Nicht nur, dass das<br />

die Atomenergie an sich ein unverantwortliches Risiko darstellt,<br />

sie kollidiert auch mit den Grundlagen der Demokratie.<br />

Das Zwischenlager Nord war für Atommüll aus dem AKW<br />

Rheinsberg und Lubmin gebaut. Hiesige LandespolitikerInnen<br />

versprachen, es lediglich hierfür zu nutzen, obwohl die damalige<br />

Umweltministerin Angela Merkel sagte, dass „die Zukunft<br />

des Lagers derzeit nicht verbindlich festlegbar sei“.<br />

Kennzeichnend ist auch die Dimensionierung des ZLN: Darin<br />

ist viel mehr Platz als für die derzeit veranschlagten Mengen<br />

benötigt würde. Mit der Einlagerung von weiterem Müll ist der<br />

Wortbruch getan und das Vertrauen in die Demokratie schwindet.<br />

Einer Umfrage von Infratest-dimap zufolge spricht sich ein<br />

Großteil der Bevölkerung gegen Atomenergie aus, diesem Fakt<br />

wird aber durch die PolitikerInnen nicht Rechnung getragen.<br />

Im Frühjahr 2011 stehen die Landesregierung und das Innenministerium<br />

vor der Entscheidung, die weitere Einlagerung<br />

von Atommüll nach Lubmin zu genehmigen. Darüber hinaus<br />

gibt es Bestrebungen der Energiewerke Nord (EWN) auf unbegrenzte<br />

Pufferlagerung von radioaktiven Stoffen sowie hinsichtlich<br />

des Ausbaus des Zwischenlagers. Entgegen anderslautender<br />

Landtagsbeschlüsse und trotz des Auftretens des Ministerpräsidenten<br />

Erwin Sellering bei der Auftaktdemo gegen<br />

den Castortransport im Dezember ist dieser Antrag noch nicht<br />

abgelehnt. Das erweckt den Anschein, als möge die Landesregierung<br />

gerade im Hinblick auf die bevorstehende Landtagswahl<br />

im September 2011 keine Auseinandersetzung um das<br />

Zwischenlager und als ob nach der Wahl neue „Überraschungen“<br />

drohen.<br />

Über die Kritik am Wortbruch der PolitikerInnen hinaus hat<br />

das Anti-Atom-Bündnis NordOst immer wieder deutlich gemacht,<br />

dass der Protest sich grundsätzlich gegen Atomkraft<br />

richtet - angefangen mit den Menschenrechtsverletzungen<br />

beim Uranabbau bis zur ungelösten Entsorgungsfrage. Was soll<br />

der Atommüll im Zwischenlager Nord? Der Transport und die<br />

Transporte im Allgemeinen sind unnötig, da es keine sicheren<br />

End- und Zwischenlager gibt und der Müll nur zwischen den<br />

Standorten hin und her transportiert wird. Das ist Atommüll-


tourismus, der eine Lösung des Atommüllproblems lediglich vortäuscht. Dabei steht<br />

der Müll dann in einer nicht geschützten Leichtbauhalle, in der die Behälter langsam<br />

vor sich hin rosten.<br />

Die Transporte sind gefährlich und ein unverantwortliches Sicherheitsrisiko. Bei einem<br />

Unfall droht eine radioaktive Verstrahlung der gesamten Umgebung und sowohl<br />

für die Castor-Transporte als auch für das Zwischenlager gibt es keine Katastrophenschutzpläne.<br />

Wenn es zu einem Defekt der Castorbehälter käme, stände im Zwischenlager<br />

keine „heiße Zelle“ zur Verfügung, in die der Atommüll sicher umgelagert<br />

werden kann. Eine Umlagerung könnte nur in dem nächstgelegenen AKW passieren.<br />

Woher kommt der Müll?<br />

Der in Karlsruhe verarbeitete Atommüll stammt vor allem aus den Atomkraftwerken<br />

der Energiekonzerne. Sie haben ihn als Forschungsmüll deklariert und könnten ihn<br />

auf diese Weise kostenlos im staatlichen Forschungszentrum Karlsruhe entsorgen.<br />

Insbesondere der Energiekonzern EnBW, Betreiber der Atomkraftwerke in Baden-<br />

Württemberg, hat bisher davon profitiert. Die Folgekosten für Transporte und Lagerung<br />

werden komplett vom Staat, also aus Steuergeldern bezahlt. Die Kosten und die<br />

Verantwortung für mehrere 100.000 Jahre mit strahlendem Müll liegen bei der Gesellschaft.<br />

Was muss getan werden? Der erste Schritt besteht darin, kein weiteres Gramm Atommüll<br />

mehr zu produzieren – also endlich die AKWs abzuschalten! Es geht um Verantwortungsübernahme<br />

der Energiekonzerne - aber eben auch der PolitikerInnen. Diese<br />

übernehmen die Verantwortung für die Entscheidungen einer Legislaturperiode und<br />

nicht für mehrere hunderttausende Jahre. Das wäre nötig, aber niemand in den Regierungen<br />

der letzten Jahrzehnte hat sich dieser Aufgabe gestellt. Eine solche Kurzsichtigkeit<br />

ist unverantwortlich!<br />

Die Forderung des Anti-Atom Bündnisses NordOst ist aktueller denn je: Sofortige<br />

Abschaltung und Stilllegung aller Atomanlagen und AKW. Mit jedem Tag, den die<br />

Atomkraftwerke weiterlaufen, rauben wir uns und nachfolgenden Generationen ein<br />

Stück Zukunft. Wir Menschen können nicht auf Kosten der kommenden Generationen<br />

leben! Es gibt noch viele weitere schwerwiegende Argumente gegen die Atomenergie<br />

- jetzt ist die Zeit den Argumenten auch Taten folgen zu lassen. Geschieht das<br />

nicht durch die Politik, ist die Zivilgesellschaft gefordert.<br />

An der Schiene - Die Protestaktionen gegen die Transporte<br />

Zwei Mützen, zwei Paar Socken, drei Hosen, Unterhemd, mehrere Pullover und vieles<br />

mehr. Verpackt nach dem Zwiebelprinzip fahren die DemonstrantInnen in den frühen<br />

Morgenstunden des 16. Dezember 2010 zu einer der Mahnwachen entlang der<br />

Strecke zwischen Greifswald und Lubmin gefahren. Es war kalt, sehr kalt. Und für<br />

den angebrochenen Tag waren weiterhin Minusgrade, Schneefall und starke Windböen<br />

angekündigt. An der Mahnwache behalfen sich die ausharrenden DemonstrantInnen<br />

mit einem großen Zelt und Feuertonnen. Ein Dorf weiter bestand die Mahnwache<br />

aus einer Ferienwohnung. Davon gibt es hier mehrere, denn das Zwischenlager<br />

Nord, in das im Laufe des Tages der radioaktiv strahlende Müll gebracht werden sollte,<br />

liegt in einer Urlaubsregion. Bereits im Morgengrauen ging es los, von den Mahnwachen<br />

durch den tiefen Schnee, vorbei an der Polizei auf die Schiene. Nicht schotternd,<br />

sondern schlotternd saßen dort mehrere hundert DemonstrantInnen zusammen.<br />

Ein bisschen mehr Bewegung hätte gut getan. Die Kälte tat dem berauschenden<br />

Glück trotzdem keinen Abbruch. Sie haben sich quer gestellt und damit deutlich gemacht,<br />

dass es keinen Weg des geringen Widerstandes gibt.<br />

Impressum<br />

<strong>Stadtgespräche</strong> Heft 62:<br />

„Falsche Prioritäten”<br />

Ausgabe März 2011<br />

(Redaktionsschluss: 20. März 2011)<br />

Herausgeber (seit 2010)<br />

<strong>Stadtgespräche</strong> e.V. in Zusammenarbeit mit der Bürgerinitiative<br />

für eine solidarische Gesellschaft e.V. <strong>Rostock</strong><br />

Redaktion und Abonnement (seit 2010)<br />

PF 10 40 66<br />

18006 <strong>Rostock</strong><br />

Fax: 03212-1165028<br />

E-Mail: redaktion@stadtgespraeche-rostock.de<br />

Internet: www.stadtgespraeche-rostock.de<br />

Verantwortlich (V.i.S.d.P.):<br />

Dr. Kristina Koebe<br />

Tom Maercker<br />

Redaktion:<br />

Dr. Kristina Koebe<br />

Tom Maercker<br />

Dr. Peter Koeppen<br />

Dr. Jens Langer<br />

Die einzelnen Beiträge sind namentlich gekennzeichnet<br />

und werden von den Autorinnen und Autoren<br />

selbst verantwortet.<br />

Layout: be:deuten.de //Klimagestalter<br />

Mediadaten:<br />

Gründung: 1994<br />

Erscheinung: 17. Jahrgang<br />

ISSN: 0948-8839<br />

Auflage: 23 0 Exemplare<br />

Erscheinung: quartalsweise<br />

Einzelheftpreis: 2,50 € (Doppelheft: 5,00 €)<br />

Herstellung: KDD<br />

Anzeigenpreise (Kurzfassung)<br />

(ermäßigt / gültig für 2011)<br />

3. Umschlagseite (Spalten-Millimeter-Preis): 0,25 €<br />

4. Umschlagseite (nur komplett): 145,00 €<br />

Details auf unserer Website im Internet<br />

Verkaufstellen in <strong>Rostock</strong>:<br />

Unibuchhandlung Weiland, Kröpeliner Str. 41/80<br />

die andere Buchhandlung, Wismarsche Str. 6/7<br />

Kröpeliner Tor, Kröpeliner Str.<br />

Made by Mira, Neue Werderstr. 4-5<br />

Foto-Studio Zimmert, Lange Str. 12<br />

Printzentrum, <strong>Rostock</strong>er Hof, Kröpeliner Str. 26<br />

buch...bar Carmen Hamann, Altschmiedestr. 27<br />

Bankverbindung<br />

(für Abo-Überweisungen und Spenden)<br />

Kto.: 1203967<br />

BLZ: 13090000<br />

bei der <strong>Rostock</strong>er VR-Bank<br />

Abonnement:<br />

Jahresabonnement (4 Ausgaben): 10,00 €<br />

Jahressoliabo (4 Ausgaben): 20,00 €<br />

Einen Aboantrag finden Sie auf S. 6 (bzw. als<br />

PDF-Datei zum Ausdrucken und Ausfüllen auf<br />

unserer Website im Internet).


FOTO: TOM MAERCKER


00.5 __ //// ENERGIEWENDE<br />

Um die angereisten DemonstrantInnen unterzubringen, gab es<br />

neben einem Camp vor allem eine Bettenbörse, bei der über<br />

400 Betten zu vergeben waren; viele davon auch in Ferienappartements.<br />

Noch vor drei Jahren demonstrierten beim letzten<br />

Atommülltransport lediglich 160 Menschen. Diesmal waren es<br />

über 3.500 TeilnehmerInnen bei der Auftaktdemonstration am<br />

11.12.2010, welche von einem breiten Bündnis organisiert<br />

wurde. Der Castor-Transport kam mit über 10 Stunden Verspätung<br />

im Zwischenlager an.Auch der zweite Transport im Februar<br />

2011 hatte mit erheblichen Verzögerungen zu kämpfen.<br />

Schon im Vorfeld des Transportes wurden viele Menschen mit<br />

dem Castor-Streckenaktionstag bundesweit entlang den Strekken<br />

mobilisiert. An mehr als 22 Orten zwischen Karlsruhe und<br />

Greifswald protestierten über 3000 Menschen. Der Transport<br />

hatte es von Anfang an schwer. Es war nicht willkommen, dass<br />

er überhaupt die Reise antrat. Überall waren die DemonstrantInnen,<br />

mal auf der Schiene, mal an der Schiene - immer mit<br />

dem Ziel vor Augen: So geht es nicht weiter.<br />

Das dezentrale Aktionenkonzept ging beim zweiten Mal noch<br />

besser auf. An mehr als 22 Orten entlang der Strecke gab es unterschiedlichste<br />

Aktionsformen wie Mahnwachen, Schienenchecks<br />

und Sitzblockaden. Schon am Startpunkt des Transports<br />

in Karlsruhe waren u.a. 700 Menschen an der Nachttanzblockade<br />

beteiligt. Dort rollte der Transport auf Straßenbahnschienen<br />

durch dichtbesiedelte Gebiete der Stadt. Im Raum<br />

Karlsruhe wurde eine allgemeine Verfügung ausgesprochen -<br />

alle Versammlungen entlang der Strecke waren verboten und<br />

Grundrechte außer Kraft gesetzt. Wenn Atompolitiik mit so<br />

undemokratischen Mitteln durchgesetzt werden muss, ist die<br />

Frage, ob sich die Atomkraft überhaupt noch rechtfertigen<br />

lässt.<br />

Auf dem Weg gen Norden kam es immer wieder zu kleineren<br />

und größeren Hindernissen - Menschen hingen an den Gleisen<br />

oder ketteten sich an. Mit der Aktion „Schienencheck“ inspizierten<br />

viele Gruppen die Castor-Strecke und sorgten immer<br />

wieder für Wirbel und ungeplante Stopps. Besorgniserregend<br />

und unverantwortlich war die Geschwindigkeit, mit der der<br />

Transport an Menschen vorbeiraste. Je näher der Transport<br />

sich dem ZLN näherte, desto häufiger wurden die Protestaktionen<br />

und fanden ihren Abschluss in den Sitzblockaden nahe<br />

Lubmin.<br />

Anlass zur Kritik gab vor allem das Verhalten der Polizei. Neben<br />

überproportional vielen Personen und Fahrzeugkontrollen<br />

stellte die Polizei rechtswidrig Platzverweise aus. Nachdem Widerspruch<br />

eines Aktivisten stellte das Verwaltungsgericht in<br />

Greifswald fest, dass aus dem Platzverweis weder hervorginge,<br />

welche Behörde den Platzverweis erlassen habe, noch die<br />

Rechtsgrundlage eindeutig sei. Zudem agierten die Beamten<br />

mit unverhältnismäßiger Gewaltanwendung bei der Mahnwache<br />

in Kemnitz, obwohl keine Straftaten begangen wurden und<br />

die Versammlung friedlich verlief. Die Beamten kesselten die<br />

Mahnwache ein und untergruben zum wiederholten Male das<br />

Versammlungsrecht, des Weiteren wurden DemonstrantenInnen<br />

mit gezielten Faustschlägen ins Gesicht Gewalt zugefügt.<br />

Insgesamt beteiligten sich mehr als tausend Menschen bundesweit<br />

an den Protestaktionen gegen den Atommülltourismus<br />

und die verantwortungslose Energiepolitik der Bundesregierung.<br />

Im Vergleich zum Castor-Transport im letzten Dezember<br />

gab es eine erfreuliche Zunahme der dezentrale Proteste und eine<br />

große Vielfalt an Protestformen, mit denen viele Menschen<br />

für die Atomproblematik sensibilisiert werden konnten. Die<br />

Besonderheit besteht darin, dass nicht alle zu Aktionen nach<br />

Greifswald fuhren, sondern vor Ort und an der Strecke aktiv<br />

wurden. Es gab eine breite Auftaktdemonstration, einen symbolischen<br />

„Castor-Transport“ zu Merkels Wahlkreisbüro in<br />

Stralsund, eine Lichterkette, Andachten, eine Demonstration,<br />

um rechte Heimatschützer von vornherein aus der Bewegung<br />

auszuschließen, eine Aktionswoche in Schwerin, viele Vorträge,<br />

Aktionstrainings und nicht zuletzt direkte Aktionen, wie mehrere<br />

Kletter- und Ankettaktionen von Greenpeace, Robin<br />

Wood und freien Aktivistinnen. Diese Vielfalt des Protestes,<br />

die seit Langem die Anti-Atom-Bewegung bereichert, zeigt<br />

dass sich Menschen aller Altersstufen am Widerstand beteiligen.<br />

Das Konzept ging auf, selbst die eingerechneten Zeitpuffern<br />

seitens der Polizei mit einkalkulierend kam der Transport verspätet<br />

an und wurde genauso lange aufgehalten wie der vorherige<br />

Transport im Dezember. Viele AtomkraftgegnerInnen haben<br />

sich den Protesten im Nordosten angeschlossen. Ein weiteres<br />

Ergebnis ist das Anti-Atom-Bündnis NordOst selbst. Innerhalb<br />

weniger Monate hat sich eine breite Bewegung aufgestellt,<br />

die trotz der historischen Verbundenheit zum ehemaligen<br />

AKW bei Lubmin, große Unterstützung und Sympathie in der<br />

Bevölkerung erhalten hat.<br />

Aktuelle Entwicklungen in Japan und die Reaktionen<br />

aus der Politik<br />

Unsere Gedanken sind bei den Menschen in Japan, die nicht<br />

nur mit den Folgen der Naturkatastrophe zu kämpfen haben,<br />

sondern auch noch der nuklearen Bedrohung ausgesetzt sind.<br />

Es ist nicht vorstellbar, was dort passiert ist und wie sich die Situation<br />

in den nächsten Tagen und Monaten weiter entwickeln<br />

wird. Die hiesigen PolitikerInnen sprechen jetzt von einer Zäsur<br />

und wollen deutsche AKW früher oder später stilllegen.<br />

Warum kommt da nur schwer Freude auf ?<br />

Erstens passiert dies vor dem Hintergrund der schrecklichen<br />

Ereignisse in Japan und zweitens fühlt man sich von den Politikerinnen<br />

für dumm verkauft. Diese Zäsur hätte es vor 25 Jahren<br />

nach dem Super-Gau in Tschernobyl geben müssen. Tausende<br />

Menschen haben durch die Katastrophe ihr Leben verloren<br />

und viele Weitere leiden an Spätfolgen - auch in Deutschland,<br />

wo radioaktive Partikel abgeregnet sind. Merkel und Co.<br />

wussten dies und haben trotzdem an ihrem „revolutionären“<br />

Energiekonzept mit Laufzeitverlängerungen festgehalten. Sie<br />

haben bewusst das Restrisiko kleingeredet, um der Atomindustrie<br />

riesige Profite zu ermöglichen. Dieses Restrisiko wird Japan<br />

jetzt zum Verhängnis und ist Grund für den Kurswechsel<br />

der Regierung. „Man habe nichts gewusst“ ist eine Verleugnung


00.6 __ //// ENERGIEWENDE<br />

der KritikerInnen und der Anti-Atomkraftbewegung, die<br />

schon seit Jahrzehnten den sofortigen Ausstieg fordern. Auch<br />

in Deutschland gab es seit dem Beginn des deutschen Atomzeitalters<br />

rund 4200 meldepflichtige Störfälle in AKWs, im<br />

Schnitt ist das jeden dritten Tag ein Störfall. Das Risiko ist real<br />

und tritt nicht nur alle 10.000 Jahre auf.<br />

Die Lehren hätten spätestens nach Tschernobyl gezogen werden<br />

müssen. Stattdessen wurden Ängste um Stromversorgung<br />

und Preise geschürt. Wenn die Kosten für die Entsorgung eingerechnet<br />

würden, wäre Atomstrom die teuerste Form der<br />

Energiegewinnung überhaupt. Außerdem zeigt z.B. das Jahr<br />

2007, in dem 6 AKWs aus verschiedenen Gründen nicht am<br />

Netz waren und trotzdem noch Strom aus drei Kraftwerken exportiert<br />

wurde, dass Abschaltungen ohne Importe möglich<br />

sind. Wolfgang Ehmke aus dem Wendland kommentierte dies<br />

wie folgt: „Selbst bei einem vollständigen Atomausstieg gingen<br />

die Lichter nicht aus, bei einer Katastrophe sehr wohl“.<br />

Deshalb sollten wir uns nicht von neuen Ausstiegsversprechen<br />

an der Nase herumführen lassen. Es muss einen sofortigen Atomausstieg<br />

geben und die Abschaltung aller Atomanlagen weltweit.<br />

Lasst uns zusammen für eine atomfreie Zukunft arbeiten.<br />

Wir wollen gemeinsam gedenken und uns für eine Zukunft<br />

mit erneuerbaren Energien einsetzen. Neben den schon spon-<br />

Weiter Informationen:<br />

Anti-Atom-Bündnis Nord-Ost: www.lubmin-nixda.de<br />

Aktionen zum Tschernobyl-Gedenktag: www.tschernobyl25.de<br />

Abonnement<br />

Rechnungsanschrift (=Abonnent):<br />

Firma/Organisation: ....................................................................<br />

Abonnent: ....................................................................<br />

Anschrift: ....................................................................<br />

Land, PLZ, Ort: ....................................................................<br />

für Rückfragen:<br />

Vorwahl - Telefon: .............................................<br />

E-Mail: ....................................................................<br />

tan stattfindenden Aktionen ist am 25.04.2011 bundesweiter<br />

Aktionstag zum Atomausstieg und Anlass, der Opfer der Katastrophe<br />

in Tschernobyl und anderer nuklearer Katastrophen zu<br />

gedenken.<br />

Am 22.04.2011 wird es eine Auftaktkundgebung in Schwerin<br />

vor dem Landtag geben. Direkt im Anschluss wird von dort aus<br />

mit Fahrrädern, Treckern, Inlinern und anderen fahrbaren Untersätzen<br />

über Ostern quer durch M-V nach Lubmin gefahren.<br />

Die von der Friedensbewegung genutzte Osterzeit will das Anti-Atom<br />

Bündnis NordOst zum Anlass nehmen, um auch auf<br />

die militärische Verflechtung der Atomindustrie aufmerksam<br />

zu machen. Bei der Wiederaufarbeitung entsteht Plutonium,<br />

der Stoff aus dem die Atombombe ist. Zivile Nutzung ist also<br />

von militärischer nicht zu trennen und ein weiterer Grund für<br />

eine sofortige Energiewende. Zum Abschluss des Anti-Atom-<br />

Trecks wollen wir am Montag, dem 25.04.2011, vor dem Zwischenlager<br />

Nord dem Tschernobyl-Unglück gedenken und danach<br />

mit einer Demonstration zur Seebrücke nach Lubmin ziehen.<br />

Es gibt nur ein Abschalten. Und zwar sofort! Wir machen<br />

solange weiter, bis auch das letzte Atomkraftwerk Geschichte<br />

geworden ist. ¬<br />

AUSSCHNEIDEN, AUSFÜLLEN, UNTERSCHREIBEN UND BITTE PER POST/FAX AN DIE REDAKTIONSADRESSE (ODER SIE BESTELLEN IM INTERNET: WWW.STADTGESPRAECHE-ROSTOCK.DE)<br />

Ja, hiermit abonniere ich ............. Exemplar(e) des Magazins „<strong>Stadtgespräche</strong>“ ab der nächsten<br />

verfügbaren Ausgabe zum Jahresabonnement-Preis (4 Ausgaben) von Standard (10,00 EUR)<br />

bzw. Soliabo (20,00 EUR). Ich kann dieses Abonnement jederzeit zum Jahresende kündigen,<br />

andernfalls verlängert es sich um ein weiteres Jahr. Hier meine Angaben:<br />

Wer bekommt das Heft (=Postanschrift)?<br />

(falls abweichend von der Rechnungsanschrift)<br />

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widerrufen werden. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung<br />

des Widerrufs.<br />

Datum/Unterschrift: ....................................................................


FOTO: TOM MAERCKER


00.8 __ //// UNI AKTUELL<br />

Wo Faulheit regiert,<br />

der Private profitiert<br />

Wie Novus Marketing die <strong>Rostock</strong>er Universität privatisiert<br />

AUTONOME HOCHSCHULGRUPPE ROSTOCK<br />

Studierende werden zu Kriminellen gemacht<br />

Schon vor einiger Zeit hat das eigenständig organisierte Studentenwerk<br />

<strong>Rostock</strong> das Vermarktungsmonopol der Räume<br />

des Studentenwerkes, insbesondere der Mensen, an das Rostokker<br />

Marketingunternehmen Novus Marketing (NM) verkauft.<br />

Ein Graus für alle Studierenden, die in der Mensa oder vor der<br />

Mensa keine studentischen Veranstaltungen mehr bewerben<br />

oder eigene Zeitungen verteilen können und wie Kriminelle<br />

vertrieben wurden, wenn sie es dennoch taten. Ordnung und<br />

Sauberkeit oder auch Feuerschutz müssen je nach Bedarf als<br />

Begründung der neuen Spielregeln herhalten.<br />

Als die Studierenden dann zum Bildungsstreik im Sommer<br />

2010 aufriefen, taten sie es auch in der Mensa. Daraufhin bekam<br />

das Streikbüro der Studierenden im Mai 2010 eine Rechnung<br />

von NM zugesandt mit der Aufforderung, unverzüglich<br />

152 Euro Schadensersatz zu zahlen, da die Studierenden „die<br />

Rechte der Firma Novus Marketing beeinträchtigt hatten, die<br />

alleinige Inhaberin der Vermarktungsrechte der Mensa Süd ist“<br />

und die Studierenden den „Schaden gemäß § 9 UWG zu ersetzen<br />

haben“.<br />

Professorinnen und Professoren werden zu Kriminellen<br />

gemacht<br />

Seit dem 1.10.2010 hat sich Novus Marketing das Vermarktungsmonopol<br />

für die gesamte <strong>Rostock</strong>er Universität angeeignet,<br />

also für alle Fakultäten. Guten Mutes verschickte die Firma<br />

sogleich Rechnungen an Professorinnen und Professoren, die<br />

eigenmächtig, nun illegale, Aushänge für ihre Vorlesungen gemacht<br />

hatten. Der Vertrag zwischen der Uni und NM beinhaltet<br />

außerdem laut<br />

§4, dass „Werbung für religiöse Gruppierungen ausgeschlossen<br />

ist“. Ein Theologieprofessor beispielsweise hat ab dem 1. Okto-<br />

ber nicht mehr das Recht, eine Veranstaltung einer evangelischen,<br />

buddhistischen oder hussitischen Gruppierung zu bewerben.<br />

Er würde gegen §4 des Vertrages verstoßen und sich<br />

strafbar machen. Sollte Novus Marketing ihn dennoch beim<br />

Aufhängen eines Plakates erwischen, ist die Firma vertraglich<br />

verpflichtet, ihn bei der Unileitung anzuzeigen. Studierende,<br />

die im November 2010 einen Alternativen Bildungskongress<br />

bewarben, bekamen erneut Post von der Firma, die studentische<br />

Flyer aufgespürt, beweistechnisch fotografiert und sichergestellt<br />

hatte.<br />

Der Vertrag mit Novus Marketing<br />

Novus Marketing, ein auf Hochschulmarketing spezialisiertes<br />

Unternehmen eines ehemaligen <strong>Rostock</strong>er Studenten, hat sich<br />

zum Ziel gesetzt, das im Studium Gelernte und die Idee der<br />

Kommerzialisierung öffentlicher Einrichtungen sogleich an der<br />

Universität auszuprobieren. Manche Geister, die die Uni ruft,<br />

wird sie nun kaum mehr los. Gleichzeitig verschafft sich das<br />

Unternehmen mit der kostenlosen Bewerbung des zu seiner<br />

Firma gehörenden „Jobshooters“ Vorteile gegenüber allen anderen<br />

kommerziellen Aushängen.<br />

Der Presse- und Öffentlichkeitsreferent der Uni hat unter vier<br />

Augen mit NM einen 3-Jahres-Vertrag ausgetüftelt, der vor allem<br />

die Gewinnaufteilung regelt. So muss die Firma jährlich<br />

mindestens 6.000 Euro an die Uni abdrücken - das sind im<br />

Monat mindestens 500 Euro plus Mehrwertsteuer. 80% der<br />

Gewinne aus digitaler Werbung/ Bildschirme und 80% der Gewinne<br />

aus Plakaten und Flyern darf NM sich selbst einstecken,<br />

die Uni bekommt nur 20%. Anders sieht es mit Werbung auf<br />

der Uni-Homepage aus: Hier bekommt die Firma nur 50% der<br />

Gewinne, allerdings soll die neue Einnahmequelle den Anreiz<br />

schaffen, sich um Werbung auf den Uni-Internetseiten zu bemühen.<br />

Wie schön wäre es doch, wenn wir demnächst gleich


MONTAGE: AUTOR<br />

auf der Hauptseite von E.on-Atomstrom begrüßt werden (Vorschlag:<br />

„Oben ankommen – wir bieten auch Castortransporte<br />

aus Süddeutschland an“), vor dem Einloggen in StudIP eine<br />

Gentechnik-Kartoffel von BASF wegklicken müssen oder uns<br />

die allseits hilfsbereite Bertelsmann-Stiftung ihre Dienste aufdrängt.<br />

Schon jetzt holt Novus Marketing Sponsoren großer<br />

Firmen mit ihren Logos in die Uni, um die Aushängetafeln zu<br />

finanzieren. Das steht nicht im Vertrag sondern ist das auf Profitlogik<br />

beruhende Produkt des Jungunternehmers.<br />

Bedauernswert eigentlich, dass der Öffentlichkeitsreferent<br />

nicht selbst auf solch brillante Idee kam. Es mangelt unserer<br />

Hochschule doch noch an Werbetafeln – nach dem Motto:<br />

BMW-Bibliothek Südstadt, Suez-Hörsaal Uniklinik, Coca-<br />

Cola-Campus Ulmenstraße, Toilettenbrille – sponsored by<br />

Viss Scheuermilch.<br />

Meinungsfreiheit außer Kraft gesetzt<br />

Der Vertrag macht keinen Unterschied zwischen kommerziellen<br />

und nichtkommerziellen Aushängen. Genauer gesagt regelt<br />

§3 die Gewinne aus kommerziellen Aushängen, während §4<br />

jegliche „Werbung für weltanschauliche Gruppierungen und<br />

politische Parteien ausschließt“. Damit hat keine politische<br />

Hochschulgruppe, wie etwa die Hochschulgruppen der Jungen<br />

Union, der Julis, der Jusos, der Grünen, des SDS und freier<br />

Gruppen (z.B. Bildungsstreik), der studentischen Piraten,<br />

IPPNW- und der Amnesty-HSG, der GEW- und der DGB-<br />

Hochschulgruppe, aber auch die in der Uni vertretenen Gewerkschaften<br />

als „weltanschauliche Gruppierung“ mehr das<br />

Recht, Veranstaltungen an der Universität zu bewerben.<br />

Wo die Uni als öffentliche Einrichtung die Verteilungshoheit<br />

an externe Unternehmen abgibt, verkauft sie gleichzeitig für eine<br />

kleine Gebühr das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung.<br />

Wer eine universitäre Veranstaltung bewerben möchte, muss<br />

sich vor der externen Firma entblößen und als uni-zugehörig<br />

outen. Die Verteilung erfolgt dann ausschließlich über die externe<br />

Firma. Wer selber verteilt, bekommt pauschal eine Rechnung<br />

und wird durch die Firma bei der Unileitung angezeigt.<br />

Die Aufhebung des Grundrechtes beginnt an der Stelle, an der<br />

Menschen eingeschüchtert und kriminalisiert werden, die ihr<br />

Recht in Wort, Bild oder Schrift in Anspruch nehmen oder es<br />

von vornherein unterlassen, da sie irrtümlicherweise glauben,<br />

dass es verboten sei. Die Aufhebung des Grundrechtes findet<br />

dort seine Vollendung, wo in §4 weltanschaulichen Gruppierungen<br />

die Bewerbung von Veranstaltungen an der Uni verboten<br />

wird.<br />

Die Rolle der Uni-Leitung<br />

Es ist ein Skandal, dass ein einziger Mensch, nämlich der Presse-<br />

und Öffentlichkeitsreferent, der der Unileitung unterstellt<br />

ist, auf Grund eigener Arbeitsfaulheit öffentliche Aufgaben<br />

privatisiert, ohne dass im Vorfeld ein einziges demokratisches<br />

Gremium einbezogen worden ist oder darüber informiert wurde.<br />

Nicht einmal das Rektorat war davon in Kenntnis gesetzt<br />

worden, obwohl es dasjenige Gremium ist, das die politische<br />

Verantwortung dafür trägt. Ein Angestellter des öffentlichen<br />

Dienstes sollte von der Allgemeinheit nicht dafür bezahlt werden,<br />

die Allgemeinheit zu entrechten. Ein Staatsdiener, der gegen<br />

die Interessen der Bevölkerung arbeitet, sollte nicht länger<br />

an einer öffentlichen Einrichtung beschäftigt werden. Es ist<br />

dem Rektorat angeraten, personelle Konsequenzen zu ziehen.<br />

Wie die Wirtschaft weltanschauliche Politik macht<br />

Während politische Hochschulgruppen im Vertrag als weltanschauliche<br />

Instanzen der Meinungsbeeinflussung diskriminiert<br />

werden und ihre Werbung verboten wird, arbeitet die Privatwirtschaft<br />

an der <strong>Rostock</strong>er Uni als angesehener und politisch<br />

gänzlich unverfänglicher Partner. Offen und verdeckt gehen<br />

private Unternehmerinnen und Unternehmer in der Hochschule<br />

ein und aus. Mit Konferenzen und Vorträgen besetzen<br />

sie ihre Themen an der Hochschule, veranstalten Infobörsen<br />

und sind auf Werbeplakaten allgegenwärtig (Atomforum, Verbund-Netz-Gas<br />

Leipzig, Bertelsmann-Stiftung, Biovativ, Price-<br />

WaterhouseCoopers). Unternehmen beeinflussen das universitäre<br />

Denken und Handeln über Arbeitsaufträge (wie die Ge-


0.10 __ //// UNI AKTUELL<br />

staltung der Homepage) und stehen als ständige Berater nicht<br />

nur dem Bildungsministerium zur Verfügung.<br />

Bei jeder Gelegenheit pflanzen die Privaten dieselben ideologischen<br />

Phrasen in die Köpfe von Studierenden und Universitätsangehörigen:<br />

Hochschulen müssten miteinander in Wettbewerb<br />

treten, Studierende effizient und schnell studieren. Bildung<br />

sei eine Ware, mit der eine Studierende auf dem Markt<br />

konkurrieren müsse. Mit diesen und jenen Wettbewerbsvorteilen<br />

würde sich ein Studierender behaupten, die Uni mit besonderen<br />

Profilen Standortvorteile gegenüber anderen verschaffen.<br />

Eine Ideologie jedoch, die auf Egoismus und Konkurrenz unter<br />

den Menschen setzt, ist eine politisch rechte, auf Ausbeutung<br />

und Unterdrückung beruhende Weltanschauung. Eine solche<br />

Politik, wie sie die Wirtschaft an der Hochschule betreibt, zerstört<br />

das friedliche Zusammenleben unserer Gesellschaft.<br />

Über den Ideenwettbewerb und das Gründerbüro hat die Privatwirtschaft<br />

einen optimalen Fuß in der Uni-Tür. Der Gründerpreis,<br />

den studentische Jungunternehmer bekommen, versetzt<br />

eben jene Studierenden in eine solche Konkurrenzsituation.<br />

Hier nutzt die lokale Privatwirtschaft die finanzielle Unsicherheit<br />

der Studierenden aus, für die die bundesdeutsche Privatwirtschaft<br />

schon lange Lobbyarbeit betrieben hat: Sie hat<br />

den Staat arm gemacht, der seinerseits Studierende unter prekären<br />

finanziellen Bedingungen studieren lässt. Die allerwenigsten<br />

Lernenden bekommen elternunabhängiges BaföG das zum<br />

Leben reicht. Sie sind auf das Geld ihrer Eltern angewiesen<br />

oder müssen neben dem Studium im Niedriglohnsektor arbeiten.<br />

In diese Lücke springt das Gründerbüro und ermutigt Studierende,<br />

sich selbständig zu machen und noch während des Studiums<br />

ein Unternehmen zu gründen. Mit dem sogenannten<br />

Gründerpreis und ein paar Euroscheinen wird dem oder der zu<br />

kürenden studentischen Jungunternehmer/in dann wie dem<br />

Hund mit einem Würstchen vor der Nase weisgemacht, dass<br />

dies der richtige Weg in die Zukunft sei. Die Euroschein-Lekkerlis<br />

kommen nicht von der Uni, sondern von der Jury, die<br />

sich aus Vertretern der Wirtschaft zusammensetzt. Damit ist<br />

der Gründerpreis weder ein Preis der Uni, noch sind die Vergabekriterien<br />

universitätsöffentlich diskutiert und beschlossen<br />

worden. Mit der Austragung des Ideenwettbewerbes in den<br />

Räumen der <strong>Rostock</strong>er Universität missbraucht die Privatwirtschaft<br />

das Image der Hochschule, um der Öffentlichkeit zu<br />

suggerieren, dass die Universität diese Politik teile und Prekarität<br />

und Konkurrenz unter Studierenden der Normalzustand<br />

sei. Nach dieser Logik gewann dann auch ein Student den<br />

Preis, der Ledertaschen aus Billiglohnländern importiert und<br />

dabei europäische Arbeitsrechtsstandards und deutsches Tierschutzrecht<br />

umgeht. Ein weiterer Preisträger war das Unternehmen<br />

Novus Marketing, das gegenwärtig die <strong>Rostock</strong>er Universität<br />

in Schach hält. Auf diese Weise macht die Privatwirtschaft<br />

in der Uni Politik als weltanschauliche Gruppierung.<br />

Die Rolle der studentischen Gremien<br />

Nachdem nun die Hochschulgruppen so langsam aufwachen<br />

und feststellen, dass sie ihre eigenen Veranstaltungen nicht<br />

mehr bewerben dürfen, gibt es auch im StuRa vermehrt Diskussionen.<br />

Der ASTA hat dankenswerter Weise die Initiative<br />

ergriffen und sich in einem ersten Schritt für die Offenlegung<br />

dieses skandalösen Vertrages eingesetzt, auch wenn die Hälfte<br />

des Vertrages fehlt. In einem weiteren Schritt hat der ASTA<br />

den Druck auf Novus Marketing insofern erhöht, als dass es<br />

nun außervertraglich plötzlich für Gremien und studentische<br />

Gruppen möglich sein soll, unentgeltlich Flyer und Plakate zu<br />

verteilen. Es besteht aber weiterhin die Pflicht, sie über die externe<br />

Firma zu verteilen und sich vor ihr als uni-zugehörig zu<br />

outen. Nur dann entgeht eine Gruppe der Strafverfolgung, der<br />

Androhung eine Rechnung zugeschickt zu bekommen und bei<br />

der Unileitung angezeigt zu werden. Auch wenn diese Lockerungen<br />

ein erster Erfolg sind, trügt der Schein: die mündlichen<br />

Absprachen sind nicht Teil des Vertrages; der Vertrag sieht unentgeltliche<br />

Werbung nicht vor und verbietet ausdrücklich<br />

Werbung von weltanschaulichen Gruppierungen wie der<br />

Hochschulgruppen. Auch stellt sich die Frage, ob die außervertraglichen<br />

Zugeständnisse nur so lange anhalten, wie der<br />

Druck auf NM besteht und NM um sein Image bangt. Insgeheim<br />

spekuliert der 3-Jahres-Vertrag auf die Rotation in den<br />

universitären Gremien und die allgemeine Vergesslichkeit.<br />

Eine andere Hochschule ist möglich<br />

Selbstverständlich gibt es Alternativen zur Privatisierung unserer<br />

Hochschule. Aufgabe der Wissenschaft ist Reflektion und<br />

ihre Verortung in der Gesellschaft, um die sich politische<br />

Hochschulgruppen Gedanken machen und ihren selbstverständlichen<br />

Platz an der Uni haben. Die Universität ist als öffentliche<br />

Einrichtung Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung,<br />

an der das Denken in alle Richtungen erlaubt zu sein hat<br />

und nicht einfach aus niederen Beweggründen verboten werden<br />

kann.<br />

Wenn Lobbygruppen aus der externen Wirtschaft Einfluss<br />

nehmen möchten, dann darf das, wenn überhaupt, nur in dem<br />

Maße erfolgen, wie es auch allen anderen und andersdenkenden<br />

- und erst recht internen - Gruppierungen ermöglicht werden<br />

muss. Der Vertrag zwischen dem Uni-Öffentlichkeitsreferenten<br />

und Novus Marketing stellt das Grundrecht auf Meinungsfreiheit<br />

und die universitäre Demokratie in Frage. Nicht<br />

die Arbeit studentischer Gruppen ist illegal, sondern der Vertrag<br />

mit Novus Marketing!<br />

Wir lassen uns weder illegalisieren noch kriminalisieren. Stattdessen<br />

ist der illegale Vertrag fristlos und entschädigungslos zu<br />

kündigen und Novus Marketing mit samt dem politisch verantwortlichen<br />

Öffentlichkeitsreferenten aus der Uni zu werfen.<br />

Boykottiert Novus Marketing! ¬


„Das unbefugte Auslegen und Anbringen von Werbematerial ist strengstens untersagt. Zuwiederhandlungen<br />

werden unverzüglich geahndet und führen zu Kosten in Höhe von mind. 750 Euro. Auftraggeber haften für<br />

ihre Erfüllungs- und Verichtungsgehilfen.“ Ohne Kommentar.<br />

FOTO: TOM MAERCKER


00.12 __ //// WIDERSTANDS-KNOWHOW<br />

Bürgerbegehren &<br />

Bürgerentscheid<br />

„Do‘s und Don'ts“<br />

SYBILLE BACHMANN<br />

Bürgerbegehren und Bürgerentscheid sind hohe demokratische Güter. Sie stellen einerseits eine<br />

politische Errungenschaft dar und erfordern gerade deshalb andererseits ein hohes Maß an Verantwortung.<br />

Jedes gescheiterte Begehren kann entmutigen, jedes unsinnig initiierte Begehren<br />

kann das Beteiligungsinstrument selbst diskreditieren.<br />

Die Hürde für ein Bürgerbegehren in der Hansestadt <strong>Rostock</strong><br />

ist relativ gering, denn 4.000 Unterschriften bekommt man für<br />

fast alles zusammen. Und dennoch war keines der Begehren<br />

seit 2008 formal erfolgreich: Das Begehren der Linken zu kommunalen<br />

Unternehmen liegt vor dem Verwaltungsgericht auf<br />

Eis, das Begehren von Bündnis 90/Die Grünen zu den Kopflinden<br />

in Warenmünde wurde für unzulässig erklärt, die Begehren<br />

von UFR zum Traditionsschiff sowie einer Bürgerinitiative<br />

zum Darwineum dürften das gleiche Schicksal ereilen.<br />

Dabei sind die Regeln zur Durchführung eines Bürgerbegehrens<br />

jedem zugänglich. Für Mecklenburg-Vorpommern kann<br />

man das Merkblatt von Prof. Roland Geitmann aus Kehl anwenden.<br />

Es ist unter http://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/md/pdf/buergerentscheid/mecklenburgvorpommern/leitfaden_mevo.pdf<br />

zu finden und informiert,<br />

wie mittels Bürgerbegehren ein Bürgerentscheid erreicht wird.<br />

Folgende Kernpunkte sind zu beachten:<br />

Thematischer Anwendungsbereich<br />

Bei dem Bürgerbegehren muss es sich um eine Angelegenheit<br />

des eigenen Wirkungskreises der Hansestadt <strong>Rostock</strong> handeln,<br />

d.h. eine Angelegenheit, für die die Bürgerschaft zuständig ist.<br />

Landes- und Bundesangelegenheiten können nicht Gegen-<br />

stand sein, ebenso wenig wie das Geschäft der laufenden Verwaltung,<br />

das dem Oberbürgermeister obliegt.<br />

Hinzu kommen entsprechend § 20, Abs. 2 der Kommunalverfassung<br />

M-V sechs weitere Ausschlussgebiete, die nicht in allen<br />

Bundesländern so bestehen: die innere Organisation der Verwaltung,<br />

die Rechtsverhältnisse der haupt- und ehrenamtlich<br />

Tätigen, das Haushalts-, Rechnungsprüfungs- und Abgabenwesen,<br />

das Einvernehmen zu Baugenehmigungen sowie Bauleitpläne<br />

und Planungsfeststellungsverfahren. Ausgeschlossen<br />

sind ebenso Angelegenheiten, zu denen in den letzten zwei Jahren<br />

bereits ein Bürgerentscheid stattgefunden hat. Am Anwendungsbereich<br />

ist in <strong>Rostock</strong> bisher kein Bürgerbegehren gescheitert.<br />

Fragestellung<br />

Die Fragestellung des Bürgerbegehrens muss ausdrücken, dass<br />

über eine konkrete Angelegenheit ein Bürgerentscheid stattfinden<br />

soll. Die bereits zu benennende Frage des Bürgerentscheids<br />

muss mit JA oder NEIN beantwortbar sein, sie darf nicht suggestiv<br />

sein.<br />

Als Lösungsmuster kann angewandt werden: „Die Unterzeichner/innen<br />

fordern einen Bürgerentscheid über die folgende<br />

Frage: >Sind Sie dafür, dass… …


Bei der Fragestellung gibt es ein striktes Kopplungsverbot, d.h.<br />

unterschiedliche Angelegenheiten dürfen nicht in einem Bürgerbegehren<br />

zusammengefasst werden. Jedoch können zusammengehörende<br />

Teilbereiche in eine Abstimmungsfrage gefasst<br />

werden, wie z.B. „Sind Sie für eine Verkehrslösung im Bereich<br />

XY, die folgenden Anforderungen genügt: 1,2,3…“<br />

Positiv ist die Regelung, dass die Bürgerschaft bei Mängeln in<br />

der Fragestellung mit den Vertretungsberechtigten des Bürgerbegehrens<br />

eine Änderung vereinbaren kann, damit die Frage<br />

verständlich oder zulässig wird.<br />

Beim Bürgerbegehren zum Nichtverkauf von Anteilen an kommunalen<br />

Unternehmen führte unter anderem das Kopplungsverbot<br />

zur Beanstandung des Oberbürgermeisters und letztlich<br />

vor Gericht. Es waren alle kommunalen Unternehmen zusammengefasst<br />

worden, obwohl sie in unterschiedlicher Rechtsform<br />

und mit einem unterschiedlichen Eigentümeranteil der<br />

Kommune existieren. Der Vorschlag, jeweils einen Bürgerentscheid<br />

zu jedem einzelnen Unternehmen am selben Tag durchzuführen,<br />

was die Bürgerschaft hätte beschließen können, wurde<br />

seitens der Linken abgelehnt.<br />

Die Fragestellung zu den Kopflinden lautete: „Sind Sie dafür,<br />

dass die Kopflinden in der Warnemünder Mühlenstraße im<br />

Zuge der grundhaften Straßensanierung weitestgehend erhalten<br />

werden?“ Kleingedruckt hieß es unter der Unterschriftenliste:<br />

„Mit der Unterschrift beantworten Sie die gestellte Frage<br />

mit „ja“.“ Hier fehlte die Einforderung eines Bürgerentscheids.<br />

Die direkt gestellte Frage konnte zudem nicht mit JA oder<br />

NEIN beantwortet werden. Selbst die Fragestellung ist kritisch<br />

zu betrachten, suggeriert sie doch, dass es nach der Straßensanierung<br />

keine Bäume geben würde. Zudem könnte im Falle der<br />

Umsetzung eines solchen Beschlusses ein Definitionsstreit entbrennen,<br />

was weitestgehender Erhalt bedeutet.<br />

Den gleichen Mangel gibt es bei der Initiative zum Darwineum:<br />

„Sind Sie dafür, dass das Vorhaben Darwineum innerhalb<br />

der von der Zoo-GmbH <strong>Rostock</strong> bisher belegten Fläche<br />

von ca. 37 ha errichtet werden soll?“ Keine Einforderung eines<br />

Bürgerentscheids in der Fragestellung und keine Ja/Nein-Möglichkeit.<br />

Würde es nicht weitere Gründe für die Unzulässigkeit<br />

der Begehren zu den Kopflinden und zum Darwineum geben,<br />

könnte die Bürgerschaft jedoch über das Manko hinwegsehen.<br />

Begründung<br />

Eine Begründung des Begehrens ist gesetzlich vorgeschrieben<br />

und stellte bisher für Initiatoren keine Hürde dar. Allerdings<br />

bezogen sich die Begründungen bei allen Begehren bis dato<br />

ausschließlich auf die Pro-Seite des jeweiligen Anliegens. Völlig<br />

aus dem Blick geraten ist die Zielgruppe derjenigen, die das gewollte<br />

Vorhaben ablehnen, aber für eine Entscheidung durch<br />

die Bürger wären. Auch wenn die Aufnahme von Contra-Argumenten<br />

nicht vorgeschrieben ist, könnte die Akzeptanz von<br />

Begehren wesentlich erhöht und direkte Demokratie selbstverständlicher<br />

werden, wenn eine Gegenüberstellung erfolgen<br />

würde. Zudem erfordert das Gelingen eines Bürgerentscheids<br />

die Teilnahme durch mindestens 25 % der Wahlberechtigten<br />

der Hansestadt <strong>Rostock</strong>. Gehen nur Befürworter hin, weil nur<br />

sie sich angesprochen fühlen, kann diese Hürde zum Hindernis<br />

werden.<br />

Kostendeckungsvorschlag<br />

Bürgerbegehren, die gegenüber einer gültigen Beschlusslage der<br />

Bürgerschaft zusätzliche Aufwendungen erfordern, bedürfen<br />

eines Kostendeckungsvorschlags. Da Bürger diesen in der Regel<br />

nicht erarbeiten können, dürfen sie die Beratung durch die<br />

Stadtverwaltung in Anspruch nehmen.<br />

Das Begehren zu den Kopflinden ist an dieser Frage gescheitert.<br />

Die Initiatoren erkannten das Eintreten von Mehrkosten<br />

nicht an, weil sie die Nachfolgekosten unberücksichtigt ließen,<br />

und unterbreiteten daher keinen Deckungsvorschlag. Das Begehren<br />

zum Traditionsschiff geht ausschließlich von Verholungskosten<br />

des Schiffes in den Stadthafen aus. Sämtliche mit<br />

einer Schiffsverlagerung entstehenden Nachfolgekosten wie<br />

Ausbaggerungen, Medienanschlüsse, Neuplanungen etc. blieben<br />

unerwähnt. Da Kosten und Deckungsquellen nicht benannt<br />

werden, ist die Unzulässigkeit gegeben. Ebenso beim Begehren<br />

zum Darwineum. Hier werden gar keine Mehrkosten<br />

benannt, obwohl sie für jeden auf der Hand liegen.<br />

Unterschriftensammlung<br />

Unterschriften sind auf Listen zu sammeln, welche die Forderung<br />

nach einem Bürgerentscheid (siehe Fragestellung) und eine<br />

Kurzbegründung (am besten auf der Rückseite) enthalten<br />

müssen, ggf. einschließlich Kostendeckungsvorschlag. Ebenso<br />

zu benennen sind bis zu drei vertretungsberechtigte Personen,<br />

die in <strong>Rostock</strong> wahlberechtigt sein müssen, mit ihren Anschriften.<br />

Eine Person reicht bereits aus. Jede neue Unterschriftenseite<br />

muss diese Angaben enthalten.<br />

Auf den Listen unterschriftsberechtigt sind nur diejenigen, die<br />

am Tag des Eingangs des Begehrens bei der Stadtverwaltung als<br />

wahlberechtigt registriert sind. Es empfiehlt sich daher die Erstellung<br />

einer Unterschriftenliste nach dem Muster Nachname,<br />

Vorname, Geburtsdatum, Anschrift, Datum der Unterzeichnung.<br />

Das Listenformular sollte vor Beginn der Sammlung mit<br />

der Stadtverwaltung beraten werden. Für das Sammeln der Unterschriften<br />

gibt es im Allgemeinen keine Zeitvorgabe, es sei<br />

denn das Begehren richtet sich gegen einen Bürgerschaftsbeschluss.<br />

Beim Begehren zu den Kopflinden fehlen die Anschriften der<br />

Vertretungsberechtigten. Die Unterschriften zum Traditionsschiff<br />

wurden nicht auf Listen, sondern einem abtrennbaren<br />

Flyer-Abschnitt mit Einzelunterschrift gesammelt.


0.14 __ //// WIDERSTANDS-KNOWHOW<br />

Einreichung<br />

Die Einreichung eines Bürgerbegehrens mir allen Unterschriftenlisten<br />

hat bei der Präsidentin der Bürgerschaft zu erfolgen.<br />

Richtet sich ein Bürgerbegehren gegen einen von der Bürgerschaft<br />

gefassten Beschluss, muss die Einreichung bereits 6 Wochen<br />

nach Beschlussfassung bzw. Bekanntwerden des Beschlusses<br />

erfolgen.<br />

Zulassung<br />

Über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens entscheidet die Bürgerschaft<br />

im Benehmen mit dem Innenministerium. Dies ist<br />

notwendig, damit es zu keiner rein politischen Entscheidung<br />

kommt, sondern eine inhaltliche und formale Bewertung des<br />

Begehrens erfolgt. Die Stellungnahme der Kommunalaufsicht<br />

ist dem Beschluss zur Zulässigkeit stets beizufügen. Auf dieser<br />

Grundlage kann die Bürgerschaft die Durchführung eines Bürgerentscheids<br />

beschließen.<br />

Sie kann sich aber auch gleich dem Bürgerbegehren anschließen<br />

und die beantragte Maßnahme beschließen. Dann entfällt<br />

der Bürgerentscheid. Wird in einem solchen Fall allerdings die<br />

Frage der Zulässigkeit politisch zur Seite geschoben, führt dies<br />

fast automatisch zu Widerspruch und Beanstandung des gefassten<br />

Beschlusses durch den Oberbürgermeister. Dann haben<br />

Gerichte das Wort und es dauert sehr lange. Bei Abschluss des<br />

Verfahrens dürfte sich das Anliegen in der Regel bereits erledigt<br />

haben.<br />

Fazit<br />

Bei näherer Betrachtung ist es relativ einfach, ein Bürgerbegehren<br />

zu initiieren und zur Zulassung zu führen, wenn man einige<br />

„Knackpunkte“ berücksichtigt: Die Fragestellung, die Unterschriftenliste,<br />

die Deckungsquelle bei Mehrkosten. Bei all diesen<br />

Fragen kann die Stadtverwaltung beratend in Anspruch genommen<br />

werden. Fehler sind somit vermeidbar.<br />

Dafür, dass die gesetzlich geregelte Hilfestellung bisher nicht in<br />

Anspruch genommen wurde, scheint es andere Gründe zu geben.<br />

Manchmal ist es Unkenntnis. Oftmals aber sind Initiatoren<br />

von ihrer Auffassung so überzeugt, dass selbst gut gemeinte<br />

Ratschläge missverstanden werden und unberücksichtigt bleiben.<br />

Formales Scheitern aber schadet immer der Demokratie.<br />

Im Übrigen ließe sich der Aufwand eines Bürgerbegehrens für<br />

einen Bürgerentscheid in manchen Fällen vermeiden: Bürger<br />

könnten Fraktionen für ihre Anliegen gewinnen, um einen Beschluss<br />

in der Bürgerschaft herbeizuführen. Auch ein Antrag<br />

auf Durchführung eines Bürgerentscheids wäre möglich, initiiert<br />

von Bürgern bei Fraktionen oder durch Fraktionen selbst.<br />

¬


FOTO: TOM MAERCKER


FOTO: ANJA KREHER


0.17 __ //// THEATERKRISE<br />

Die Schließung des <strong>Rostock</strong>er Volkstheaters vor wenigen Wochen hat den Diskussionen um einen Theaterneubau eine neue Dringlichkeit<br />

verliehen - immer wieder artikulieren <strong>Rostock</strong>er Bürger ihre Unterstützungsbereitschaft, der jedoch bis dato noch die gemeinsame Struktur<br />

und Koordinierung fehlt, mit der sie die größtmögliche Wirksamkeit erzielen könnten.<br />

Vor allem aber scheint es uns wichtig, über den Diskussionen um ein Gebäude nicht die Konkretisierung eines tragfähigen und attraktiven<br />

Konzepts für das Volkstheater zu vergessen. Auf der Suche nach Ansatzpunkten haben wir 3 <strong>Rostock</strong>er befragt, die sich dem Volkstheater<br />

verbunden fühlen und bereit sind, sich für dessen Erhalt und Neubelebung zu engagieren. Diskutieren Sie mit und ergreifen Sie<br />

Initiative. Infos zum Thema finden Sie übrigens unter http://blog.volkstheater-rostock.de<br />

Eine Bürgerinitiative für<br />

einen Theaterneubau?<br />

CORNELIA MANNEWITZ<br />

Da würde ich gern mitmachen. Aber es müsste eine sein, die<br />

_ wirklich, der Etymologie des Wortes entsprechend, etwas<br />

anfängt, sprich, dass es ernst gemeint ist. Es gab schon viele<br />

kurzfristige Initiativen, schöne Fotos in der Zeitung, Händeschütteln<br />

und das war’s. Angefangen hat immer nur eine<br />

Diskussion um den Standort. Sie dauert auch jetzt schon<br />

wieder viel zu lange. Eine neue Initiative im Superwahljahr<br />

2011? Bürger wollen manchmal auch gewählt werden. Dafür<br />

ist ein Theaterbau eine zu nachhaltige Folie.<br />

_ nicht zu bürgerlich ist. Theater wird heute vermutlich nur<br />

noch durch die gerettet, die eigentlich gar nicht an Theater<br />

denken. Der Bürger, der früher seine der ökonomischen relativ<br />

spät nachfolgende kulturelle Emanzipation vom Adel<br />

mit einem Theaterbau illustrierte, argumentiert heute mit<br />

dem Standortfaktor Theater – und hört damit auf, wenn<br />

sich der Standort auch profitabler retten lässt. Was der Adel<br />

heute macht – na ja … Der Nichtbürger, der noch bei<br />

Shakespeare unten im Sand oder später oben auf der Galerie<br />

stand oder gleich in seinen Bildungsverein ging und sich um<br />

das Lennonsche Diamantenrasseln nicht scherte, ist heute<br />

mit seinem Verständnis von Bildung als Leiter für den sozialen<br />

Aufstieg auch dem Theater entfremdet. Er hat aber<br />

wenigstens keine Kapitalverwertungserwartungen an das<br />

Theater. Wenn er unabhängige Vertreter hat (Arbeitsloseninitiativen,<br />

Anti-Atom-Gruppen, … und, ja, Gewerkschaften!)<br />

sollten sie bei einer solchen Initiative unbedingt dabei<br />

sein. Je theaterferner sie sind, desto besser – dann erkennen<br />

sie ihre Lobbychancen nicht so schnell.<br />

_ wirklich etwas für das Theater tun will. Dazu muss man<br />

wissen, welches Theater in sozialen Umbruchzeiten nötig<br />

ist. Teile des Theaters wissen das schon. Die Gruppe Rimini<br />

Protokoll hat einmal Zuschauer unter die Aktionäre von<br />

Daimler geschleust und sie die dortige Hauptversammlung<br />

wie ein Theaterstück ansehen lassen. (Das soll aber nicht<br />

heißen, dass man kein Theatergebäude mehr braucht!) Ansonsten<br />

schleicht sich gerade wieder mehr Strukturkonservatismus<br />

ein auf den großen Bühnen. Der viele Gorki<br />

(„Nachtasyl“) ist vielleicht ein Gegenbeweis. Aber das muss<br />

diskutiert werden: theaterimmanent (Theater ist so gattungsübergreifend,<br />

wie eine Kunst nur sein kann – welche<br />

weitere Kunst im Umfeld ist also zu berücksichtigen?) und<br />

mit Blick auf die soziale Funktion des Theaters: Von der<br />

Tradition der Agitpropgruppen gar nicht zu reden – heute<br />

touren freie Gruppen mit Umwelt- und Friedensthemen,<br />

machen soziale Bewegungen neben „dem“ Theater her Straßentheater,<br />

sie üben das brasilianische Theater der Unterdrückten,<br />

sie können damit das ausdrücken, was sie sagen<br />

wollen; da liegen inhaltliche und methodische Perspektiven<br />

für das heutige professionelle Theater, die ihm auch eine<br />

breite Basis verschaffen könnten.<br />

_ einen Neubau will und nicht die alte Leiche immer noch<br />

einmal wieder schminken, aber dann wirklich einen neuen.<br />

Wie? Episches Theater im Neorokoko – das wirkt nur im<br />

BE (schön paradox). Im Berliner Grips-Theater, berühmt<br />

für gesellschaftskritische Stücke, gibt es nur Sitzbänke. Man<br />

rückt zusammen, so weit man mag. Anderswo ist ein Platz<br />

links oben in der Ecke optisch eine Katastrophe, dort nicht:


0.18 __ //// THEATERKRISE<br />

Die Szene wendet sich bewusst allen Seiten zu. Das ist auch<br />

schon alt, aber in Zeiten, in denen selbst die Oberammergauer<br />

Passionsspiele, für die sich früher die zur Statisterie<br />

geborene Dorfjugend die Haare wachsen lassen und nicht<br />

zum Militär einberufen werden durfte, in kleinen Häppchen<br />

von Starregisseuren inszeniert werden und im Saale<br />

stattfinden, werden solche Signale wieder verstanden. Kein<br />

x-tes Haus, das wie ein Schiff aussehen soll, weil das Nachwenderostock<br />

von solchen inzwischen schon voll ist. Keine<br />

Elbphilharmonie, aber nicht, weil sie zu viel kostet (und<br />

sich damit prima als theaterbauliches Schreckgespenst für<br />

Kassenwarte eignet), sondern weil die falschen Leute hineingehen<br />

würden. In Westberlin steht das ehemalige Theater<br />

der Freien Volksbühne, heute Haus der Berliner Festspiele;<br />

von außen würde man es nicht für ein Theater halten,<br />

aber auf der Bühne toben Jelinek-Texte und Bearbeitungen<br />

der Pekingoper für die reifere europäische Jugend<br />

und gleichzeitig was für ein Spaß, durch die Glastür auf den<br />

Ein anonymer Leserbriefschreiber beklagte unlängst „[…] die<br />

einseitigen Diskussionen um die abrupte, aber richtigerweise<br />

konsequente Schließung des VTR. […] Jeder einzelne Vorstellungstag<br />

hätte zu einer Katastrophe führen können, eine achtlos<br />

weggeworfene Kippe, ein technischer Defekt o.ä. Wenn<br />

Menschen verletzt würden oder gar ums Leben gekommen wären,<br />

ja dann hieße es: Warum haben die Verantwortlichen nicht<br />

gehandelt, um das zu verhindern, sie haben es doch lange genug<br />

gewusst! Jetzt hat der Staatsanwalt das Wort, jetzt müssen<br />

Köpfe rollen!“ Ganz so einfach ist es aber nicht.<br />

Als Begründung für die überraschende Schließung wurde in<br />

der Presse das aktuelle Brandschutzgutachten genannt. Wer<br />

aber auch nur kurz in das Brandschutzkonzept (Konzept, nicht<br />

nur Gutachten!) vom 21.9.10 (!) hineinschaut, wird eines Besseren<br />

belehrt. Der Verfasser des Konzeptes stellt zunächst fest,<br />

dass die bisherigen Umbauten (1975) „unter Berücksichtigung<br />

der damals rechtskräftigen baulichen Regelwerke“ erfolgten.<br />

„In den Jahren 1996 bis 2009 fanden wiederkehrende Prüfungen<br />

statt, in deren Verlauf Abweichungen von heute gültigen<br />

Regelwerken … festgestellt wurden. In Verbindung mit der letzten<br />

wiederkehrenden Prüfung (September 2009) wurden die<br />

Betreiber des Volkstheaters <strong>Rostock</strong> von der Abteilung Bauordnung<br />

des Bauamtes der Hansestadt <strong>Rostock</strong> darauf hingewiesen,<br />

dass aufgrund der festgestellten Mängel gegen die weitere<br />

Nutzung des Gebäudekomplexes im jetzigen baulichen<br />

Rasen zu treten, und was für ein Zuschauerraum, an dem<br />

die ergonomischen Sitze noch das am wenigsten Bemerkenswerte<br />

sind – und dem Gesamtkonzept lag, wohlgemerkt,<br />

ein bürgerlicher Impetus zugrunde … Den Architekten<br />

wird schon etwas einfallen.<br />

Ansonsten wird man einfach feststellen, dass die Situation mit<br />

dem jahrzehntelang verschleppten Neubau einfach oberpeinlich<br />

ist, auch international (darauf könnte übrigens bei Gelegenheit<br />

auch wieder einmal hingewiesen werden), und zum<br />

Stadtjubiläum natürlich irgendwie ein neues Theater haben.<br />

Aber man könnte jetzt die besten Tugenden einer Bürgerinitiative<br />

nutzen (klares Ziel, Laienverstand, Heterogenität, Neugier,<br />

Kollektivismus – oder sind sie das nicht?), eines zu bauen, über<br />

das man vorher nachgedacht hat und das man dann auch hinterher<br />

immer verteidigen wird. ¬<br />

Theater um das Große Haus<br />

G.H.P.<br />

Zustand erheblich brandschutztechnische Bedenken bestehen<br />

und dass ein weiterer sicherer Betrieb als Versammlungsstätte<br />

gegenwärtig als nicht gewährleistet angesehen wird“ (Ebd. Anmerkenswert<br />

auch: Erst nach der Theater-GmbH-Gründung<br />

wurde „der Betreiber“, also die GmbH, von der Stadtverwaltung<br />

auf Brandschutzmängel hingewiesen. Die bestanden zwar<br />

auch schon vorher, aber dann hätte ja die Stadtverwaltung sich<br />

selbst darauf hinweisen müssen).<br />

Das Brandschutzkonzept geht in 18 Punkten detailliert auf alle<br />

notwendigen Maßnahmen ein, die teilweise bauliche Veränderungen<br />

notwendig machen, teils aber auch durch rein organisatorische<br />

Maßnahmen (wie z.B. Rauchverbot) realisiert werden<br />

können.<br />

Den Ausführungen des Brandschutzsachverständigen ist nicht<br />

zu entnehmen, warum das Große Haus per Dekret über Nacht<br />

geschlossen werden musste. Das Brandschutzkonzept datiert<br />

vom 21. September 2010. Zwischen Schließung und Konzeptvorlage<br />

liegen also vier Monate, in denen angeblich oder<br />

wirklich Menschenleben gefährdet wurden. Mehr noch: Bereits<br />

im September 2009, also vor 16 Monaten, wurde „ein weiterer<br />

sicherer Betrieb als nicht gewährleistet angesehen“. Warum<br />

erst jetzt die abrupte Schließung? Um uns Bürgern das<br />

leicht irreal anmutende Stadthafenkonzept (Tunnel und Fußgängerbrücke<br />

mit potentiellem Theaterneubau) verkaufen zu<br />

können? Oder warum sonst?


Ich glaube, die eingangs zitierte Leserzuschrift muss im entscheidenden<br />

Punkt leicht umformuliert werden: „Warum haben<br />

die Verantwortlichen nicht rechtzeitig gehandelt, sie haben<br />

es doch lange genug gewusst! JETZT hat der Staatsanwalt das<br />

Wort, JETZT müssen Köpfe rollen!“ Haben Sie schon Anzeige<br />

Theater - was soll's?<br />

GEORG LICHTENSTEIN<br />

Kann es die Welt verändern? Wohl kaum. es auch nicht. Aber<br />

den Menschen? Ich meine, bei mir hat es das getan.<br />

Es war einmal bei Kriegsende ein total desillusionierter Junge;<br />

nämlich ich. Der hatte sich siebzehn Jahre lang mit falschen<br />

Idealen eingedeckt. Ich war heimgekehrt vom Wehrdienst als<br />

Luftwaffenhelfer. Die Schuppen fielen mir nicht auf einmal<br />

von den Augen. Ohne Ideale konnte, und vor allem wollte ich<br />

nicht leben. Allmählich erschlossen sich mir die Schätze der<br />

Kultur. Speziell erfuhr ich den beglückenden Reichtum von<br />

Theater. Es kann Erkenntnisse vermitteln indem es beispielhafte<br />

Erlebnisse verschafft; im Musiktheater noch um die emotionale<br />

Dimension erweitert - vergleichbar der Religion auf anderer<br />

Ebene.<br />

Wie mir erging es vielen Mitmenschen. Beinahe wehmütig<br />

denke ich an die Aufbruchsstimmung der ersten Nachkriegsjahre<br />

als all die bisher vorenthaltene dramatische Literatur erlebbar<br />

wurde. Die Theater konnten die Zuschauermengen<br />

kaum fassen Kleine Städte leisteten sich eigene Ensembles. 1m<br />

ersten Nachkriegswinter saß man zeitweise im Mantel, auch<br />

mit Mütze im Theater und zahlte manchmal den Eintritt mit<br />

einem Brikett. (Schicksals)-schlagartig war diese Euphorie mit<br />

der Währungsreform 1948 vorbei. Das neue Geld setzte andere<br />

Prioritäten. Aber nicht bei mir. Ich blieb dem Theater 'verfallen'<br />

und wählte es zu meinem Beruf.<br />

Nun ist Theater und Theater nicht dasselbe. Für mich kam nur<br />

jenes infrage, das Hamlet in seiner 'Rede an die Schauspieler'<br />

wie folgt charakterisiert: „[…] dessen Ziel es war, ist und bleibt,<br />

der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten, der Tugend ihre<br />

eignen Züge, der Schmach ihr eignes Bild, und dem Jahrhundert<br />

und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen.“<br />

Um diesem Anspruch gerecht zu werden, „haben Autoren und<br />

Schauspieler sich eine große Autorität anzueignen, koste es was<br />

es wolle“, so die weiterführende Konsequenz Federico Garcia<br />

Lorcas. Das Theater muss seine Besucher in diesem Sinne un-<br />

erstattet, Herr Anonymus? Und natürlich muss JETZT die zügige<br />

„Ertüchtigung“ des großen Hauses erfolgen. Geld ist<br />

schließlich genug da. Aber das ist schon wieder ein anderes<br />

Thema. ¬<br />

terhalten und nicht die Bedürfnisse derer befriedigen, welche<br />

die zahlenmäßig größte Gruppe darstellen, denn auch sie finanziert<br />

den Unterhalt des Theaters nur zum geringen Teil.<br />

Schon vor 450 Jahren beklagte Shakespeare in der zitierten<br />

Hamlet-Rede, auch er „[…] habe Schauspieler spielen gesehen<br />

und von anderen preisen hören, […] die weder den Ton noch<br />

den Gang von Christen, Heiden oder Menschen hatten und so<br />

stolzierten und blökten, daß ich glaubte, irgendein Handlanger<br />

der Natur hätte Menschen gemacht und sie wären ihm nicht<br />

geraten.“<br />

Meiner unumstößlichen Überzeugung nach ist Theater den<br />

Autoren verpflichtet und nichts darf über die Bühne gehen, das<br />

dem Anliegen und der Aussage des jeweiligen Werkes widerspricht.<br />

Das setzt voraus, daß nur Werke aufgeführt werden, in<br />

denen beides ablesbar ist.<br />

Ich habe als Schauspieler und Regisseur die Zeit am <strong>Rostock</strong>er<br />

Volkstheater miterlebt und gestaltet, als diese Maxime oberstes<br />

Inszenierungsprinzip war. So entstanden die weit über <strong>Rostock</strong>s<br />

Grenzen berühmten Regieleistungen Hanns Anselm<br />

Pertens mit zahllosen Gastspielen im In- und Ausland.<br />

Werktreue ist und bleibt ein Erfolgsrezept. Möge sie die Auswüchse<br />

landauf, landab gängigen profilierungsneurotischen<br />

'Regietheaters' zur Freude der Freunde des Theaters einmal ablösen!<br />

¬


FOTO: TOM MAERCKER


0.21 __ //// DARWINEUM<br />

<strong>Rostock</strong> 21 -<br />

Rettet den Barnstorfer Wald<br />

KNUTH-MICHAEL HENKEL<br />

Was in Stuttgart die Bahn ist, ist in <strong>Rostock</strong> der Zoo. Gemeinsam<br />

mit der lokalen Politik und überwiegend wohlwollend von<br />

den Medien begleitet, hat Zoodirektor Nagel alles getan, um<br />

den <strong>Rostock</strong>ern ein Stück natürliche Lebensqualität zu nehmen<br />

- den größten Teil des noch frei zugänglichen Barnstorfer<br />

Waldes.<br />

Die Begründung lautet, dass die vom Zoo skandalös lange unter<br />

unwürdigen Bedingungen gehaltenen Menschenaffen ein<br />

neues Zuhause brauchen, Darwineum genannt. Nun war uns<br />

<strong>Rostock</strong>ern das ja nicht neu, viel Jahre haben wir alle für ein<br />

neues Affenhaus („Schaffen für die Affen“) gespendet. Immer<br />

in der Annahme, dass das alte heruntergekommene jetzt durch<br />

ein neues Haus ersetzt wird, an der alten Stelle.<br />

Was passiert stattdessen? Nach der klammheimlichen Einzäunung<br />

eines Waldstückes von ca. 10 ha im November letzten<br />

Jahres werden jetzt Stück für Stück Tatsachen geschaffen. Bäume<br />

werden gefällt (im Jahr des Baumes 2011!). Die Bürger werden<br />

langsam darauf vorbereitet, dass der Zoo das 27-Millionen-<br />

Euro-Projekt nicht allein stemmen kann und auf unbestimmte<br />

Zeit weitere Kosten zu den ohnehin jährlich benötigten 2,8<br />

Mio € für den Zoo anfallen. Dabei hat <strong>Rostock</strong> genug Baustellen:<br />

Theater gerade geschlossen, Samoa rottet vor sich hin,<br />

Schiffbaumuseum als Rudiment, Freibad der Neptunschwimmhalle<br />

vergammelt usw.<br />

Jetzt versucht eine Bürgerinitiative, wenigstens die schlimmsten<br />

Auswüchse zu mildern. Der Zoo hat auf seinem alten Gelände<br />

genug ungenutzte Flächen, dort sollte das Darwineum hin.<br />

Dann bleibt zwar das finanzielle Risiko für die Stadt und die<br />

<strong>Rostock</strong>er Bürger, aber Spaziergänger, Sportler und alle <strong>Rostock</strong>er<br />

könnten den Wald weiter frei nutzen. Allerdings werden<br />

durch den Zoo aktuell selbst kleine Zugeständnisse verweigert,<br />

z.B. wenigstens den alten Weg zur beliebten Jägerhütte zu<br />

erhalten und nicht benötigte Waldflächen aus der Umzäunung<br />

zu nehmen.<br />

Am schlimmsten war für mich in den letzten Monaten allerdings<br />

die Demagogie und absichtliche Verbreitung von Halbund<br />

Unwahrheiten, die der gut bezahlte Zoodirektor unter<br />

Einbeziehung von <strong>Rostock</strong>er Politikern und anderen Netzwerken<br />

betreibt, um das Projekt in einem guten Licht darzustellen.<br />

Wer Mitte Januar 2011 in der von der Ostseezeitung organisierten<br />

„Aufklärungs“-Veranstaltung war, konnte nur staunen<br />

über die Arroganz, mit der Herr Nagel in trauter Verbindung<br />

mit städtischen Senatoren und Bürgerschaftsmitgliedern alle<br />

Einwände der Bürger abbügeln konnte, die wie Bittsteller auftreten<br />

mussten.<br />

Genau wie in Stuttgart wird dieser Einsatz vermutlich vergeblich<br />

bleiben, ab Mitte Mai sollen die Bagger mit der Arbeit beginnen.<br />

Für das Darwineum wird ein großer Teil eines beliebten<br />

<strong>Rostock</strong>er Naherholungsgebietes geopfert, dass, anders als<br />

von Herrn Nagel behauptet und älteren <strong>Rostock</strong>ern sicher<br />

noch gut bekannt, in den 60er bis 80er Jahren eine so beliebte<br />

öffentliche Wiese wie heute der Kastanienplatz war, ehe sie in<br />

den 90er Jahren durch den Zoo systematisch mit Bauschutt<br />

vollgekippt und umzäunt wurde. Die Besucherzahlen werden<br />

weiter sinken wegen dieses Flächen- und Investitionsgigantismus.<br />

Mit 56 ha ist der <strong>Rostock</strong>er Zoo für Familien schon jetzt<br />

nicht an einem Tag zu schaffen. Herr Nagel leidet unter Realitätsverlust,<br />

wenn er mit ein paar Aquarien und einem größeren<br />

Gewächshaus die Besucherzahlen des Zoos dauerhaft um 50%<br />

steigern will, egal woher das Geld kommt. Daran ändert auch<br />

die Planung eines letztlich kommunal geförderten Restaurants<br />

nichts.<br />

Neue zoogerechte Ideen müssen her. Und die Arroganz des <strong>Rostock</strong>er<br />

Milieus muss weg. ¬<br />

<strong>Rostock</strong>er Bürgerinitative „Rettet den Barnstorfer Wald“ hier vor<br />

dem Rathaus / Bürgerschaftssitzung am 09.03.2011


0.22 __ //// TITELTHEMA<br />

FOTO: TOM MAERCKER


0.23 __ //// VERANDASTREIT<br />

<strong>Rostock</strong>s Schnäppchen<br />

BJÖRN KLUGER<br />

<strong>Rostock</strong>, das Tor zur Welt - ein Slogan, der weiterhin die aufstrebende<br />

Hansestadt begleiten soll. Eine Reihe von größeren<br />

Unternehmen siedelt im Hafen, die Fähre braucht einen neuen<br />

Anleger, die Kreuzfahrer drängeln um die Wette. Neben diesen<br />

verschiedenen wirtschaftlichen Interessen gibt es aber auch sie<br />

noch – die Einwohner und Einwohnerinnen des „Fleckchens“<br />

Warnemünde. Und die machen mobil. Eine Bürgerinitiative<br />

unter Mitwirkung verschiedener Ingenieure streitet um die Existenz<br />

vieler Anwohner des Bäder- und Touristenortes.<br />

Was ist geschehen?<br />

Seit gut einem Jahr läuft ein Streit um die sogenannten „Veranden“<br />

der Hausbesitzenden. Die Stadt, ausführend das Liegenschafts-<br />

und Bauamtes, versuchte, neue Einnahmen zu generieren.<br />

Unter Berufung auf Landesvorschriften und Eigentumsfragen<br />

verlangt die Hansestadt <strong>Rostock</strong> ein Nutzungsentgelt für<br />

die überbauten Eigentumsflächen der Stadt, auf denen diese<br />

Veranden errichtet worden sind.<br />

Manche von ihnen stehen seit gut 100 Jahren an ihrem Platz,<br />

wurden erweitert, untrennbar mit Hauptgebäuden verbunden<br />

und stets durch die Eigentümer erhalten. Stillschweigend duldete<br />

sie die Stadtverwaltung, kassierte bis 2008 eine Verwaltungsgebühr,<br />

die sie dann aber erließ. Jetzt, zwei Jahre später,<br />

werden die Hauseigentümer/-innen mit dem Anliegen, diesen<br />

Rechtszustand im Sinne der Stadt <strong>Rostock</strong>s zu verändern, erneut<br />

zur Kasse gebeten. Und nun sind mitunter 30.000 bis<br />

40.000 € umgerechnet auf die Nutzfläche. Selbst ein Herstellen<br />

des ursprünglichen Zustandes durch die Eigentümer – von Abriss<br />

bis Rückbau – lassen Erhaltungssatzung / Sanierungssatzung<br />

und Denkmalschutz nicht zu. Aber mal ehrlich – Warnemünde<br />

ohne Veranden in den Gassen und am Alten Strom, was<br />

bleibt dann noch?<br />

Oder steckt dahinter der Versuch, Warnemünde als Luxusort<br />

zu etablieren? Die Mittelmole, das Areal für das Sporthotel, die<br />

„Dünenlandschaft“ für eine Freizeiteinrichtung - alle Grundstücke<br />

in Filetlage gingen weg wie warme Semmeln und dies zu<br />

Grundstückspreisen von 20 bis zu max. 200 €/m2.<br />

Warum zahlte die WIRO als hundertprozentige städtische<br />

Tochter für 70.000 m2 nur 14,0 Mio € (200€/m2), ging die beste<br />

Warnow_Innenstadtlage für die BG Neptun mal eben für<br />

knapp 120 €/m2 über den Tisch, steht das Sporthotel bald auf<br />

einen Grundstück, das für einen Preis von 21 €/m2 in der Parkstraße<br />

in Warnemünde verscherbelt wurde. Wurden hier geringere<br />

Preise im Dienste von Investoreninteressen angesetzt?<br />

Welche Absprachen liefen hinsichtlich der Grundstücksveräußerungen,<br />

welche Zielvereinbarungen konnten die Verkäufe erzielen?<br />

Was soll letztendlich an der Mittelmole entstehen?<br />

Welche Klientel wird sich dort heimisch fühlen dürfen?<br />

Ist das gerecht, dass das Herz Warnemündes einmal mehr von<br />

der Hansestadt in die Zange genommen wird? Sind die Einwohner/-innen<br />

selbst schuld, wenn sie nach dem Grundsatz<br />

von Treu und Glauben auf den Bestandsschutz zu vertrauen?<br />

Das Landgericht <strong>Rostock</strong> sprach 2004 mit dem so genannten<br />

Schippmann-Urteil (AZ. 1 S 161/03) den Einwohnern/-innen<br />

die Rechtmäßigkeit am Eigentum zu und setzte sogar das Einverständnis<br />

der Stadt durch Duldung der bekannten Zustände<br />

voraus. Zudem wurde der wirtschaftliche Nutzen der Stadt für<br />

diese Verandaflächen mit 0 € beziffert. Die Duldung wurde<br />

daraufhin seitens der Stadt durch die Kündigung der „Leihverträge“<br />

am 04.02.2010 unterbrochen. Seitdem hängt der<br />

Haussegen in Warnemünde wieder richtig schief.<br />

Neben dem jahrlangen Vertrauen auf die geduldete Rechtslage<br />

(ob aus Unkenntnis oder Fahrlässigkeit der Stadt sei dahingestellt)<br />

verließen sich die Anwohnenden darauf, dass der Bestandsschutz<br />

ihnen diese Bauten in ihrem Zustand sicherte<br />

(stillschweigender Leihvertrag unter Duldung der Stadt). Neben<br />

der Einstufung der Veranden als Überbau gemeindlicher<br />

Fläche sowie dem Bestandsschutz der entstandenen Anlagen ist<br />

mittlerweile unstrittig, dass eine Geldrente dem Eigentümer<br />

der Grundfläche (hier der Stadt <strong>Rostock</strong>) für den Zeitpunkt<br />

der Grenzüberschreitung zusteht. Bis hierhin sind die Vorstellungen<br />

der Anwohner ziemlich ähnlich. Nun wurde jedoch ein<br />

aktueller Verkehrswert der teilweise seit 100 Jahren bestehenden<br />

Veranden angesetzt. Und nicht nur das. Da die Veranden<br />

bekanntlich zum Ortskern Warnemündes und zur Beschaulich-


0.24 __ //// VERANDASTREIT<br />

keit beitragen, weisen diese nur ein Geschoß auf. Gekoppelt<br />

mit dem aktuellen Verkehrswert der Grundstücke und der<br />

überbauten Fläche in m2 macht das bis zu 1.560 € / m2 auf der<br />

Westseite des Alten Stromes aus. Im Vergleich dazu stehen die<br />

m2-Preise der genannten Aufwertungsbauten der Stadt und<br />

weiterer Investoren in Höhe von max. 200 € m2. Diese 200 € /<br />

m2 teilen sich noch mal durch 6 Geschosse und damit reduziert<br />

sich der m2-Preis auf ca. 30 €. Insgesamt wurde damit mehr Fläche<br />

als die gesamten Flächen der Warnemünder Veranden zusammen<br />

zu einem äußerst geringen Preis durch die WIRO ersteigert.<br />

Dem gegenüber stehen Familien, die sich genötigt sahen / wurden,<br />

einem Vergleich zuzustimmen, der ihnen Rechnungen seitens<br />

der Stadt in einer Höhe von bis zu 40.000 € für ihre Verandaüberbauung<br />

einbrachte. Hier waren die „Eingeschosser“<br />

dann für umgerechnet 1.200 € / m2 Grundfläche zu haben.<br />

Der Stadt liegen die Vorgaben und Einlassungen der Bürgerinitiative<br />

vor, die zusätzlich noch die „Nordfenster“-Diskussion<br />

beinhaltet. Mehrere Kompromissvorschläge zur Beilegung des<br />

Streits liegen vor. Diese reichen von der vernünftigen Einstellung,<br />

die Erhebung erst bei Weiterveräußerung oder beim Ableben<br />

der jetzigen Besitzer/-innen vorzunehmen, bis hin zur<br />

Zahlungsbereitschaft der Einwohner auf Grundlage des Verkehrswertes<br />

zum Zeitpunkt der Errichtung bzw. Veränderungen<br />

der Veranden. Soweit der juristische Aspekt.<br />

Die politische Dimension ist das rüde Vorgehen der Stadt gegen<br />

das „Fleckchen“, die de facto erzwungenen Vergleiche mit<br />

einzelnen Familien. Immer greifbarer wird hier ein Vision vom<br />

Luxusressorts Warnemünde, das seine ursprünglichen Einwohner/-innen<br />

nur dann dulden will/kann, wenn diese auch bereit<br />

sind zu zahlen.<br />

Die Frage der Mittelmole wirft so seine Schatten voraus. Was<br />

hier kommen soll, wer seine Finger noch im Spiel hat und was<br />

am Ende den Bewohner/-innen von Warnemünde bevorsteht,<br />

scheint zum jetzigen Zeitpunkt noch offen. Die Diskussion<br />

sollte aber verantwortungsvoll geführt werden. Eine Aufwertung<br />

von Stadtgebieten, die Eventisierung oder Inszenierung<br />

von Städten ist längst nicht mehr der neueste Schrei unter bewussten<br />

Stadtplaner/innen. Liveable cities, Authenzität von<br />

Städten und seiner Bewohner/-innen heißen die Formeln der<br />

Zukunft – Leitmotive, die ohne Großevents und Luxus auskommen<br />

können und dennoch Touristen anziehen. (s.a.: „Keine<br />

Inszenierung von Metropolen“, FR vom 26./27.02.2011).<br />

Oder sollen wir glauben, dass an der Mittelmole dann doch zu<br />

nah am Wasser gebaut wird? Als Gedächtnisstütze: Im Jahr<br />

2002 zur Zeit des Jahrhunderthochwassers nahm sich ein<br />

Flüsschen, namens Weißeritz, wieder sein ursprüngliches Flussbett<br />

in Dresden. Vor 111 Jahren war an der Stelle der Mittelmole<br />

noch die offene Ostsee. ¬<br />

Nachtrag<br />

Mit Beschluss vom 09.03.2011 schien zunächst Bewegung in<br />

die Sache gekommen zu sein: Die Bürgerschaft beauftragte den<br />

Oberbürgermeister, den so genannten Verandastreit in Warnemünde<br />

dadurch zu beenden, dass sie bei der Festlegung des Verkehrswertes<br />

der Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Grundstücke,<br />

d.h. der Errichtung der jeweiligen Veranda, herangezogen<br />

würde.<br />

Die Verwaltung <strong>Rostock</strong>s lehnt aber ab. Sie will keinen Überbau<br />

(§912 BGB), sondern einen Anbau sehen. Gleichzeitig<br />

wird angemerkt: „Der Beschlussvorschlag kann durch die Verwaltung<br />

nicht umgesetzt werden, da er den geltenden Vorschriften<br />

der Kommunalverfassung widerspricht. Gemäß den<br />

Regelungen des § 57 Abs. 1 und 2 der Kommunalverfassung<br />

Mecklenburg-Vorpommern (alte Fassung, die gem. § 16 Abs. 1<br />

des Gesetzes zur Einführung der Doppik im kommunalen<br />

Haushalts- und Rechnungswesens weiter gilt) darf eine Gemeinde<br />

Vermögensgegenstände grundsätzlich nur zum vollen<br />

Wert veräußern, dies gilt entsprechend für die Überlassung der<br />

Nutzung.<br />

Hinsichtlich der in Ansatz zu bringenden Grundstückswerte<br />

ist auf den jeweiligen Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen.<br />

Ausnahmen hiervon sind lediglich dann denkbar, wenn ein<br />

besonderes öffentliches Interesse dies rechtfertigen würde. Ein<br />

besonderes öffentliches Interesse für eine Bevorzugung der Verandaeigentümer<br />

hinsichtlich der Konditionen von<br />

Mieten/Nutzungsentgelten oder Kaufpreisen ist nicht ersichtlich.<br />

Insbesondere auch nicht unter dem Gesichtspunkt, dass<br />

mit einer nicht unbedeutende Anzahl von Betroffenen (ca. 60)<br />

Regelungen zu den Grundstücken auf der Basis der vollen Werte<br />

getroffen wurden. Die in der Begründung des Vorschlags geäußerte<br />

Auffassung, es sei unangebracht, aktuelle Verkehrswerte<br />

heranzuziehen, ist daher rechtsirrig und nicht von den geltenden<br />

Vorschriften gedeckt.“<br />

Auf diese Weise wird weiterhin eine konstruktive Lösung des<br />

Streits im Einvernehmen mit den Bürgern/-innen der Stadt<br />

verhindert – der Ausgang der entsprechenden Gerichtsverfahren<br />

ungewiss.


Presseanfrage der „<strong>Stadtgespräche</strong>“ an die Hansestadt <strong>Rostock</strong> zu diesem Thema<br />

1<br />

Wie ist der Standpunkt der Stadt <strong>Rostock</strong> zum<br />

vorgelegten Kompromissvorschlag für das<br />

Nutzungsentgelt der Warnemünder Veranden<br />

zur Bemessung des Verkehrswertes zum Zeitpunkt<br />

der „Überbauung“ und einen durchschnittlichen<br />

m2-Preis von 0 bis 120 Euro/m2?<br />

Gemäß den Regelungen des § 57 Abs. 1 und 2 der Kommunalverfassung<br />

Mecklenburg-Vorpommern (alte Fassung, die gem. §<br />

16 Abs. I des Gesetzes zur Einführung der Doppik im kommunalen<br />

Haushalts- und Rechnungswesens weiter gilt) darf eine<br />

Gemeinde Vermögensgegenstände grundsätzlich nur zum vollen<br />

Wert veräußern, dies gilt entsprechend nur die Überlassung<br />

der Nutzung. Hinsichtlich der in Ansatz zu bringenden<br />

Grundstückswerte ist auf den jeweiligen Zeitpunkt des Vertragsschlusses<br />

abzustellen.<br />

Lediglich in den Fällen, in denen es sich bei der Veranda nicht<br />

um einen Anbau, sondern um einen Überbau handelt, ist für<br />

die Ermittlung der an den Eigentümer zu zahlenden Überbaurente<br />

auf den Zeitpunkt der Errichtung der Veranda abzustellen<br />

(vgl. § 912 BGB). Die Überbauregelungen wurden und<br />

werden durch die Verwaltung immer dann angewandt, wenn<br />

die Voraussetzungen eines Überbaus vorliegen. Sie sind jedoch<br />

nicht anwendbar, wenn es sich um einen Anbau handelt, wie<br />

bspw. bei dem durch das OLG <strong>Rostock</strong> mit Urteil vom<br />

12.11.2009 - 3 U 30/08 entschiedenen Fall.<br />

In diesem Verfahren wurde der Verandaeigentümer zur Zahlung<br />

eines Nutzungsentgeltes verurteilt, dessen Höhe durch einen<br />

vom Gericht beauftragten öffentlich erstellten und vereidigten<br />

Gutachter zur Ermittlung von Grundstückswerten festgestellt<br />

wurde. Der Gutachter ist bei der Berechnung von den<br />

Bodenrichtwerten des Jahres 2009 ausgegangen und das Gericht<br />

ist dem gefolgt.<br />

2<br />

Was war der ausschlaggebende Punkt für die<br />

Einforderung von Pachtgebühren für durch<br />

die Stadt geduldete Nutzungen trotz des damit<br />

einhergehenden Bestandsschutzes?<br />

Gemäß den Vorschriften der Kommunalverfassung<br />

hat jede Gemeinde Vermögensgegenstände wirtschaftlich zu<br />

verwalten. Dies beinhaltet, dass städtische Flächen Dritten<br />

grundsätzlich nur entgeltlich zur Verfügung gestellt werden.<br />

Bereits 1993 wurde die Frage des weiteren Umgangs mit den<br />

betroffenen Flächen aufgegriffen. Erste rechtgeschäftliche<br />

Grundstücksverträge zu Verandaflächen erfolgten bereits 1995.<br />

Aufgrund von über mehrere Jahre laufenden Gerichtsverfahren,<br />

durch mehrere Instanzen, bestand eine unklare Rechtslage.<br />

Aus diesem Grunde ruhte die Forderung nach Nutzungsentgelten<br />

zwischenzeitlich. Nach dem im Jahre 2004 eine Forderung<br />

der Stadt durch das Landgericht noch abgelehnt worden war,<br />

hat das Oberlandesgericht <strong>Rostock</strong> in November 2009 den Verandaeigentümer<br />

zur Zahlung eines Nutzungsentgeltes verurteilt.<br />

3<br />

Wie ist Ihrer Meinung nach das bedeutende<br />

Missverhältnis zwischen den angestrebten<br />

Pachterträgen für die Verandafläche in Höhe<br />

von bis zu 1.560 €/m2- Westseite in Bezug<br />

auf die drastisch geringeren Grundstückspreise<br />

pro m2 Nutzfläche der „Dünenlandschaft“ (19<br />

Euro/m2), des Sporthotels Parkstraße (21 Euro/m2) oder<br />

für das ehemalige Neptungelände (120 Euro/m2) plus<br />

freiem Baurecht sowie die 200 €/m2 Grundstückspreis<br />

für die Mittelmole zu erklären?<br />

In der Regel ist der Wert eines Grundstücks von den individuellen<br />

Nutzungsmöglichkeiten abhängig. Sie werden im Wesentlichen<br />

beeinflusst durch die Lage des Grundstücks, das Maß<br />

und die Art der zulässigen baulichen Nutzung, den Erschließungszustand,<br />

die Bodenbeschaffenheit, grundstücksbezogene<br />

Rechte und Belastungen, aber auch den Stand der städtebaulichen<br />

Planungen (bspw. ob Baurecht besteht oder erst geschaffen<br />

werden muss). So hat die Lage eines Grundstückes entscheidenden<br />

Einfluss auf die Ertragserwartungen eines potenziellen<br />

Grundstückskäufers. Erzielbare Mieteinahmen oder<br />

sonstige Umsätze liegen in ausgewählten Einzelhandelslagen<br />

(sogenannten 1a-Lagen) wesentlich über denen anderer Bereiche.<br />

Die Ertragserwartungen haben erwiesenermaßen unmittelbar<br />

Einfluss auf Kaufpreisvereinbarungen bei Grundstücksgeschäften.<br />

Solange Art und Ausmaß der Nutzung eines Grundstückes<br />

nicht verbindlich geregelt sind und seine Erschließung nicht<br />

gesichert ist, liegen die Kaufpreise erfahrungsgemäß deutlich<br />

unterhalb der Grundstückspreise von sogenannten baureifen<br />

Grundstücken in vergleichbaren Lagen.<br />

Das hier geschilderte Geschehen auf dem Grundstücksmarkt<br />

wird durch den Gutachterausschüsse für Grundstückswerte gemäß<br />

§ 193 BauGB in den Bodenrichtwerten abgebildet. Auf<br />

der Grundlage einer' Kaufpreissammlung werden durchschnittliche<br />

Lagewerte für den Boden – in der Regel für baureife<br />

Grundstücke - abgeleitet. Im Bereich nördlich der Bahnhofsbrücke<br />

am Alten Strom wurde durch den Gutachterausschuss<br />

ein durchschnittlicher Wert des Grund und Bodens in<br />

Höhe von 1560 EUR/m2 ermittelt.<br />

Aufgrund der unterschiedlichen konkreten Verhältnisse verbietet<br />

sich ein undifferenzierter Vergleich von Grundstückswerten<br />

ohne Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse. An dieser<br />

Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass in dem in Bezug<br />

genommen OLG-Urteil ein vom Gericht beauftragte Gutachter<br />

die Wertermittlung vorgenommen hat. ¬


0.26 __ //// GENTECHNIK<br />

Der Widerstand gegen<br />

Gentechnik in Mecklen-<br />

burg-Vorpommern lebt<br />

INGE WENZL<br />

Die Amflora ist zumindest vorerst weg vom Fenster, doch es bleiben die Versuchsfelder bei<br />

<strong>Rostock</strong> – und damit noch viel zu tun für die Gentechnikgegner.<br />

Gut zehn Jahre lang kämpfte BASF für die Zulassung seiner<br />

genmanipulierten Stärkekartoffel Amflora, bis die EU im März<br />

2010 endlich ihre kommerzielle Nutzung erlaubte. Ein Grund<br />

zum Feiern für den Gentechnikriesen. Doch der Start der Amflora<br />

verlief alles andere als erfolgreich: Bei deutschen Bauern<br />

und Stärkefabrikanten stieß sie auf Desinteresse und von Seiten<br />

der Bevölkerung und Umweltgruppen regte sich deutlicher<br />

Widerstand gegen das Vermehrungsfeld in Zepkow. Im Herbst<br />

2010 schwappte der Skandal um die Vermischung von Amflora<br />

mit der nicht zugelassenen genmanipulierten Sorte Amadea in<br />

Schweden nach Deutschland über. In seiner Folge ließ der<br />

mecklenburgische Landwirtschaftsminister Till Backhaus 18<br />

Tonnen Amflorakartoffeln vernichten. Doch das war noch<br />

nicht alles: Die Ernte fiel – nach Beobachtung der Bürgerinitiative<br />

„Müritzregion gentechnikfrei“ – mit 120 Tonnen deutlich<br />

geringer aus als erwartet. „Auch sahen die Kartoffeln nicht<br />

gut aus“, berichtet Ilse Lass, eines ihrer Mitglieder. „Ihre Blätter<br />

waren gekräuselt und hatten braune Stellen“, was auf Pilz- oder<br />

Virenbefall hindeuten könne.<br />

Ob das der Grund dafür war, auch die restliche Ernte zu vernichten,<br />

darüber kann bislang nur spekuliert werden. BASF<br />

stritt ab - ihre Kartoffeln seien nicht pilz- oder virenanfälliger<br />

als konventionelle. Eine Verarbeitung der Zepkower Kartoffeln<br />

zu Stärke in Tschechien hätte sich nicht rentiert. Fakt ist, dass<br />

der Chemiekonzern die Amflora dieses Jahr nicht mehr wie geplant<br />

auf 1000 Hektar anbauen will, sondern nur noch auf zwei<br />

Hektar im Gentechnikschaugarten in Üplingen für die Pflanzgutproduktion.<br />

Auch in Schweden ist die Anbaufläche kleiner<br />

als 2010. Erst ab 2013 wolle man wieder für die kommerzielle<br />

Nutzung produzieren, so BASF. Die Amfloragegner glauben<br />

nicht daran: „Es war schon bei der Zulassung klar, dass es sich<br />

um ein Auslaufmodell handelt: Die Kartoffel ist 13 Jahre alt!<br />

BASF wird schon noch die eine oder andere Kartoffel in der<br />

Pipeline haben“, meint Stephanie Töwe, die Gentechnikexpertin<br />

von Greenpeace – wie die Amadea: „Aber ihr Zulassungsverfahren<br />

steckt, ebenso wie das der genmanipulierten Stärkekartoffel<br />

Avebes, noch in den Kinderschuhen.“<br />

Gemeinsam gegen Amflora<br />

Die örtliche Bürgerinitiative und die Anwohner feiern die<br />

Schlappe als Miterfolg ihres Widerstands. Denn genau wie im<br />

Vorjahr hatten auch 2010 verschiedene Gruppen und Einzelpersonen<br />

mit unterschiedlichsten Aktionen an einem Strang<br />

gezogen. Im April letzten Jahres besetzten rund 20 Greenpeace-Aktivisten<br />

das Eingangstor zu dem Amflora-Saatgut-Lager<br />

des Bauern Niehoff. Einige von ihnen kettete sich mittels<br />

Beton-Stahl-Konstruktionen dort an. Nur zwei Tage später –<br />

die Polizei hatte die Blockade nach gut zwei Stunden geräumt<br />

– waren sie wieder da und pflanzten auf dem Zepkower Versuchsfeld<br />

die konventionell gezüchteten Stärkekartoffeln Eliane<br />

und Henriette.<br />

Ein weiterer Höhepunkt des letztjährigen Widerstands am<br />

Zepkower Kartoffelfeld war die „Feldbefreiung“ Ende Juli:<br />

Sechs AktivistInnen der Initiative „Gendreck weg“ rannten mit<br />

Säcken auf den Acker und begannen munter Pflanzen herauszureißen<br />

und Kartoffeln aufzusammeln. So wollten sie auf das<br />

Risiko einer Vermischung mit essbaren Kartoffeln aufmerksam<br />

machen. Ihr Protest richtete sich jedoch auch ganz allgemein


gegen die Agrogentechnik. Rund 80 Prozent der Bevölkerung<br />

lehne diese ab, doch darüber setzten sich Politik und Industrie<br />

einfach hinweg: „Ich will, dass die Zulassung widerrufen wird“,<br />

erklärte Holger-Isabelle Jänicke, einer der Aktivisten: „Solange<br />

weder Politiker noch Gerichte Mensch und Natur vor der Gentechnik<br />

schützen, müssen wir eben selbst für den faktischen<br />

Widerruf sorgen.“<br />

Einen Monat später trafen sich am Feldrand Feldbefreier aus<br />

ganz Europa. An ihrer Pressekonferenz nahm als Überraschungsgast<br />

auch der Landwirtschaftsminister Mecklenburg-<br />

Vorpommerns, Till Backhaus, teil und bezeichnete sich – so erinnert<br />

sich Ilse Lass – als einen der ihren. Ernst nehmen kann<br />

ihn dabei in diesen Kreisen niemand mehr: „Backhaus spricht<br />

mit gespaltener Zunge“, meint der Agrarreferent des BUND<br />

Mecklenburg-Vorpommern, Burkhard Roloff: „Er will nach<br />

wie vor die Forschung an der Agrogentechnik und brüstet sich<br />

in der Öffentlichkeit damit, dass er das AgroBioTechnikum auf<br />

den Weg gebracht hat. Neun Millionen Steuergelder sind unter<br />

der rot-roten Landesregierung dort hineingeflossen. Aber nach<br />

Außen tut er, als wenn er die Gentechnik nicht will, weil die<br />

Bauern sie ablehnen.“ Doch damit nicht genug: Das Land habe<br />

der Forschungseinrichtung auch noch Land pachtfrei zur Verfügung<br />

gestellt.<br />

Hochburg der Agrogentechnik<br />

Um das AgroBioTechnikum, ihre Betreiber und ihre Abschöpfung<br />

der Steuergelder ging es auch in dem Vortrag „Monsanto<br />

auf mecklenburgisch“ des Gießener Antigentechnikaktivisten<br />

und Publizisten Jörg Bergstedt auf dem 6. Landestreffen der<br />

gentechnikfreien Regionen (GFR), am 22. März in Dalwitz.<br />

Bergstedt hat gerade in Gießen eine sechsmonatige Haftstrafe<br />

für seine Teilnahme an einer Feldbefreiung an der Gießener<br />

Uni abgesessen. Der Geschäftsführerin des AgroBioTechnikums<br />

Kerstin Schmidt und der Professorin für Agrobiotechnologie<br />

Inge Broer ist er ein Dorn im Auge. Mittels einer Klage<br />

hatten Schmidt und der Innoplanta-Chef Uwe Schrader<br />

(FDP) erfolglos versucht, ihn mundtot zu machen. Das Saarbrückener<br />

Oberlandesgericht entschied jedoch im August letzten<br />

Jahres in zweiter Instanz, dass Bergstedt seine Broschüre<br />

„Die organisierte Unverantwortlichkeit“ weiterverteilen und<br />

unter anderem behaupten darf, das AgroBioTechnikum diene<br />

vor allem „der Propaganda und der Veruntreuung großer Mengen<br />

von Steuergeldern“, Uwe Schrader und Kerstin Schmidt<br />

seien „rücksichtslos und profitorientiert“ und Angehörige einer<br />

„Gentechnikmafia“.<br />

Das Agrobiotechnikum ist immer noch eine der Hochburgen<br />

der Agrogentechnik in Deutschland. In Groß Lüsewitz (Thulendorf<br />

) führen Broer, ihre Mitarbeiter und Studenten schon<br />

seit Jahren Freilandversuche an gemanipulierten Kartoffeln,<br />

Weizen sowie seit letztem Jahr auch an Petunien durch. Außer<br />

diesen Versuchen, die für mehrere Jahre beantragt und genehmigt<br />

sind, hat die Uni <strong>Rostock</strong> dieses Jahr Freilandversuche an<br />

gentechnisch verändertem Tabak sowie erneut an Weizen beantragt.<br />

Manöver Kerstin Schmidts, der Gemeinde Thulendorf Land<br />

abzukaufen, scheiterten ebenso wie die, auf Gemeindeflächen<br />

wieder Versuche durchführen zu dürfen. „Auf die Frage, was sie<br />

denn für die Gemeinde tun könne, um sie versöhnlicher zu<br />

stimmen, erhielt sie von Gemeindepolitikern die Antwort:<br />

'Woanders hingehen'“, erzählt Ute Strauß. Doch das wird nicht<br />

so einfach sein. „Diese Frau (Inge Broer) hat einen enormen<br />

Einfluss in der Uni“, versichert Fabian Nehring von der Grünen<br />

Hochschulgruppe.<br />

Studenten, Anwohner und die Bürgerinitiative <strong>Rostock</strong>er Land<br />

bekämpfen die Freisetzungsversuche in Groß Lüsewitz schon<br />

seit Jahren. Ute und Andreas Strauß, an deren Grundstück und<br />

Ferienhaus die Anlagen unmittelbar grenzen, laden für den 30.<br />

April zu einem Informationsspaziergang zum Versuchgelände<br />

mit Bergstedt ein. Um 18.30 Uhr wird er auf im Hofladen von<br />

Biofrisch in Teschendorf sein neues Buch „Monsanto auf<br />

Deutsch: Seilschaften der deutschen Gentechnik“ vorstellen.<br />

Ebenfalls geplant ist ein Vortrag des Ehepaar Strauß über das<br />

Wohnen am Feld.<br />

Zu militanteren Mitteln griffen Unbekannte am 8. März diesen<br />

Jahres: Nach Angaben der Betreiber warfen sie mehr als 50<br />

Fensterscheiben der Gewächshäuser ein. Den Schaden bezifferten<br />

sie auf 10.000 Euro. Die Polizei will per Email ein Bekennerschreiben<br />

erhalten haben, das mit „autonome aktionszelle<br />

genstaat“ unterzeichnet gewesen sei.<br />

Auf weitere Aktionen in Groß Lüsewitz und anderswo kann<br />

man gespannt sein. Bereits im Dezember 2010 trafen sich in<br />

Leipzig Vertreter gentechnikkritischer Verbände, wie BUND,<br />

Genetisches Netzwerk, Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft<br />

(AbL), „Gendreck weg“ sowie Landwirte, Imker und<br />

Studenten, um Pläne für 2011 zu schmieden. Daraus ging die<br />

bundesweite Demo gegen Massentierhaltungen und Gentechnik<br />

im Januar in Berlin hervor, an der rund 20.000 Menschen<br />

teilnahmen, aber auch andere Aktionen, die bis dato noch geheimgehalten<br />

werden. Und noch etwas Anderes steht an: „Im<br />

Sommer wollen wir ein richtiges Fest machen, dass wir die Amflora<br />

aus der Müritzregion vertrieben haben“, kündigt Ilse Lass<br />

an. Eingeladen sind alle, die mitfeiern möchten. ¬


Wie viel Verantwortung<br />

hätten Sie denn gern?<br />

„Das Kind im Blick“ Pflege-Familien-Zentrum der<br />

Caritas-Mecklenburg e.V.<br />

GRIT GAIDA IST MITARBEITERIN IM PFLEGE-FAMILIEN-ZENTRUM<br />

FOTO: CARITAS/PRIVAT


0.29 __ //// PFLEGEFAMILIEN<br />

Eine Anmerkung vorab – Hervorragend, Sie lesen weiter! Haben<br />

Sie eigentlich eine Ahnung, wie oft wir uns als Berater für<br />

Pflegefamilien und Vermittler von Pflegekindern fragen, was<br />

eine geeignete „Werbestrategie“ sein könnte, um viel mehr<br />

Menschen als Pflegeeltern zu begeistern und zu finden? Menschen,<br />

die bereit sind und Lust haben, sich gesellschaftlich zu<br />

engagieren und zwar nicht mal eben so nebenher, sondern so<br />

richtig. Was wir damit sagen wollen: Wie kann es uns - dem<br />

„Das Kind im Blick“ Pflege-Familien-Zentrum der Caritas<br />

Mecklenburg e.V. – gelingen, Familien oder Einzelpersonen dazu<br />

zu bewegen, Verantwortung für fremde Kinder zu übernehmen,<br />

die dringend Hilfe brauchen? Manche vorrübergehend<br />

und andere auf Dauer.<br />

Na klar, wir können Ihnen viele anrührende Geschichten erzählen.<br />

Geschichten, die tagtäglich Kinder, kleine Kinder erleben.<br />

Damit bewegen wir sicher einige Herzen und der ein oder<br />

andere von Ihnen kommt ins Nachdenken. Oder wir berichten<br />

Ihnen von engagierten Pflegeeltern und erfolgreichen Vermittlungen.<br />

Vermutlich würde damit der Eindruck entstehen, dass<br />

doch alles ganz gut läuft und es scheinbar genug Menschen<br />

gibt, die sich der Sache annehmen. Es gab auch schon große<br />

Plakataktionen und Werbefilme, sogar hier in <strong>Rostock</strong>. Deutlich<br />

wird immer wieder, dass es kein leichtes Unterfangen ist,<br />

Menschen für diese nachhaltige Aufgabe aufzuschließen.<br />

Verständlich, geht es dabei doch darum, sich als ganzen Menschen<br />

zu präsentieren, sein ganz persönliches, privates Leben<br />

ein Stück nach außen zu öffnen und damit einem fremden<br />

Kind den Weg zu ebnen, neue, bessere, förderliche Erfahrungen<br />

zu machen. Es geht wirklich und wahrhaftig um die Zukunft<br />

dieses zunächst fremden Kindes. Und schließlich gibt es<br />

ja auch jede Menge Vorurteile gegenüber Pflegeeltern. Dass die<br />

das ja nur wegen des Geldes tun. Oder, dass die ja nur keine eigenen<br />

Kinder kriegen können. Naja, der Phantasie sind da keine<br />

Grenzen gesetzt. Auch die Brisanz in Pflegeverhältnissen ist<br />

inzwischen kein Geheimnis mehr. Pflegefamilien und Herkunftseltern<br />

sollen im Interesse des Kindes zusammenarbeiten.<br />

Natürlich ist das nicht immer einfach. Wie also können wir es<br />

schaffen, mehr Menschen für diese Form gesellschaftlichen Engagements<br />

zu begeistern?<br />

Wir wollen Ihnen unsere Arbeit vorstellen, ganz nüchtern und<br />

klar. Das Wichtigste dabei: Wir brauchen Sie. Die Kinder<br />

brauchen Sie. Man kann sogar sagen, andere Familien, die es<br />

nicht geschafft haben, den eigenen Kindern eine Lebensperspektive<br />

zu bieten, brauchen Sie. Und es gibt eine Reihe von<br />

schönen Erfahrungen. Es gibt viele Pflegefamilien, die sagen,<br />

dass es sich auf jeden Fall lohnt für diese Kinder da zu sein und<br />

zwar nicht wegen des Geldes. Wir glauben ohnehin, dass es gar<br />

nicht möglich ist, dieses Engagement in Geld aufzuwiegen. Da<br />

zählen ganz andere Dinge.<br />

Was für Menschen sind das eigentlich, so eine Betreuung eines<br />

Kindes übernehmen? Die typischen Pflegeeltern gibt es nicht.<br />

Ebenso unterschiedlich wie die Erfahrungen der zu vermittelnden<br />

Kinder, sehen auch die Lebensentwürfe der Menschen aus,<br />

die sich entscheiden Pflegeeltern zu werden. Auch in ihrer Mo-<br />

tivation gibt es große Differenzen. Nehmen wir zum Beispiel<br />

Familie H.. Beide berufstätigen Eheleute sind Anfang 50 und<br />

haben bereits zwei eigene Kinder groß gezogen. Sie wollten anderen<br />

Kindern helfen. Ziemlich schnell entschieden sie sich,<br />

ein Pflegekind aufzunehmen. Nach dem Motto, „wenn Kinder<br />

Hilfe brauchen, hilft doch jeder“, stellten sie sich ihrer neuen<br />

Aufgabe. Und wie sie selber zugeben müssen, gab es da auch<br />

viele Schwierigkeiten, mit denen sie so nicht gerechnet hatten.<br />

Inzwischen lebt ein weiteres Pflegekind in der Familie. Dieses<br />

Mal suchte sich das Kind selbst seine Pflegeeltern aus, weil es<br />

die Familie bereits vom Spielplatz kannte. Es gehört schon ein<br />

gehöriges Maß an Entschlossenheit dazu, wenn man eine solche<br />

Entscheidung trifft. Gelohnt hat sich dieser Weg für die<br />

Pflegeeltern vor allem dann, wenn die Kinder Einiges mitbekommen,<br />

was ihnen auf ihrem weiteren Lebensweg hilft.<br />

Es gibt auch Pflegeeltern, die in ihren Lebensansichten noch<br />

einmal gewaltig durchgeschüttelt werden. Viele sind dankbar<br />

für die neuen Eindrücke und froh, ihren „Horizont erweitern“<br />

zu können. Es gibt verschiedene Pflegeformen. Eine „zeitlich<br />

befristete Vollzeitpflege“ zum Beispiel, ist eine Pflegeform zur<br />

Vorbereitung einer Rückführung ins Elternhaus. Während das<br />

Kind vorrübergehend bei einer Pflegefamilie lebt, arbeiten<br />

Fachkräfte des Amtes für Jugend und Soziales intensiv mit den<br />

leiblichen Eltern an der Veränderung der Verhaltensweisen, die<br />

zur Herausnahme des Kindes geführt haben. Regelmäßig finden<br />

Besuchskontakte statt. Bei dieser Pflegeform wird ein hohes<br />

Maß an Kooperationsbereitschaft von allen Beteiligten erwartet.<br />

Jedes Pflegekind bringt eigene Erfahrungen mit, und<br />

ganz gleich wie schlimm das Leben vorher war, brauchen die<br />

leiblichen Eltern irgendwie ihren Platz im Leben der Kinder.<br />

Da entsteht schon ganz schnell mal das Gefühl, die leibliche<br />

Familie sitze quasi mit am Tisch.<br />

Die Pflegeeltern gehen sehr unterschiedlich damit um. Während<br />

die einen bei den Besuchskontakten ganz ungezwungen<br />

auf die junge, überforderte Mutter zugehen und sogar Freude<br />

für das Kind empfinden, wenn sie es geschafft hat, den Termin<br />

einzuhalten, fällt es den anderen schwer, den leiblichen Eltern<br />

gegenüberzutreten. Und man darf eben auch nicht vergessen,<br />

dass die Kinder das gewohnte bisherige Leben ganz schön auf<br />

den Kopf stellen können. Aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte,<br />

die geprägt ist von Vernachlässigung, Gewalt und<br />

Hilflosigkeit, verhalten sich die Kinder oft überraschend anders.<br />

Da ist es gut, wenn es Pflegeeltern gelingt, mit Humor,<br />

Konsequenz und Gelassenheit die schwierigen Alltagssituationen<br />

zu meistern.<br />

Was passiert bei uns also?<br />

Menschen, die von sich glauben, dass sie genug Zeit, Verantwortungsgefühl,<br />

Humor und Liebe mitbringen, um ein Pflegekind<br />

aufzunehmen, können sich bei uns vorab informieren.<br />

Freundliche Mitarbeiter im Pflege-Familien-Zentrum werden<br />

sich ganz auf Ihre Fragen einstellen. Dieses Gespräch ist erst<br />

einmal völlig unverbindlich. Dabei können Sie etwas über die<br />

Hintergründe der zu vermittelnden Pflegekinder erfahren,


0.30 __ //// PFLEGEFAMILIEN | ÖKOHAUS - EINE BILANZ<br />

über den weiteren Ablauf zur Überprüfung als Pflegeeltern und<br />

was Sie sonst noch so interessiert.<br />

Sollte Ihr Interesse dadurch gestärkt worden sein, heißt es, sich<br />

näher mit dem Team des Pflege-Familien-Zentrums bekannt zu<br />

machen. Es folgen weitere Gespräche, einige Fragebögen sind<br />

zu bearbeiten und es wird von Ihnen erwartet, dass Sie sich zu<br />

einem Vorbereitungskurs, der im Frühjahr und im Herbst stattfindet,<br />

anmelden. Daran nehmen ca. 15 Personen teil, die<br />

ebenfalls mehr erfahren möchten über die Vermittlung und das<br />

Zusammenleben von und mit Pflegekindern. Insgesamt dauert<br />

der Kurs 3 Monate. Sie treffen sich wöchentlich an einem<br />

Abend und kommen intensiv in Kontakt mit anderen Bewerbern<br />

und auch Pflegeeltern. Der Kurs ist kostenfrei. Lediglich<br />

die Unterbringungskosten für erwachsene Personen an einem<br />

Blockwochenende in einer Tagungsstätte außerhalb von <strong>Rostock</strong><br />

sind zu erbringen. Darüber können Sie sich aber im Detail<br />

im Pflege-Familien-Zentrum informieren.<br />

Während Sie den Vorbereitungskurs besuchen, werden Sie<br />

auch in Kontakt mit Mitarbeitern des Amtes für Jugend und<br />

Soziales kommen. Das Amt wird für Sie, wenn Sie sich tatsächlich<br />

entscheiden Pflegeeltern zu werden, ein ganz wichtiger Kooperationspartner<br />

bleiben. Wir werden Sie auf den Kontaktaufbau<br />

mit den Mitarbeitern des Amtes vorbereiten und begleiten<br />

Sie gern. Für das formale Überprüfungsverfahren sind<br />

Sie verpflichtet einen schriftlichen Antrag an das Amt zu richten<br />

und entsprechende Unterlagen einzureichen. Erfahrungsgemäß<br />

lernen Sie in dieser Zeit viele neue Menschen kennen.<br />

Der Austausch untereinander wird Sie sicher in Ihrer Entscheidungsfindung<br />

unterstützen. Letztendlich setzen Sie sich auch<br />

intensiv mit Ihrer eigenen Lebensgeschichte auseinander. Das<br />

war bisher für die meisten Bewerber ein spannender Prozess.<br />

Und für uns ist es enorm wichtig, sie so gut wie möglich einschätzen<br />

zu können. Wie konfliktfähig sind Sie? Wer wollen<br />

Sie für das zu vermittelnde Pflegekind sein? Was trauen Sie sich<br />

zu und was nicht? Wer lebt in Ihrer Familie? Können alle Familienmitglieder<br />

und Freunde Ihr Vorhaben mittragen? Welchen<br />

Stellenwert haben die leiblichen Eltern für Sie? Wie sieht<br />

es mit Ihrem Erziehungsstil aus? Wollen Sie ein Kind eher auf<br />

Dauer aufnehmen oder können Sie sich auch vorstellen, ein<br />

Kind vorrübergehend zu begleiten? All diese Fragen und noch<br />

mehr werden wir thematisieren. Da sollte man sich schon gut<br />

überlegen, ob man bereit dazu ist und wofür Sie das alles tun<br />

wollen.<br />

Am Ende des Überprüfungsverfahrens sollte eine Entscheidung<br />

getroffen sein. Wenn wir uns in Kooperation mit dem<br />

Amt für Jugend und Soziales einig sind, Sie als Pflegeeltern anzuerkennen<br />

und Sie selbst klar sagen können, dass Sie ein oder<br />

mehrere Pflegekinder aufnehmen möchten, erstellen wir ein<br />

Bewerberprofil. Daraus geht hervor, für welche Kinder Sie geeignet<br />

sind. Denn wie Sie bestimmt schon bemerkt haben, suchen<br />

wir nicht Kinder für Eltern, sondern Eltern für Kinder.<br />

Bis es dann zu einer Vermittlung kommt, kann also auch eine<br />

lange Zeit vergehen. Daher ist es wichtig, dass wir regelmäßig<br />

im Kontakt bleiben. Wir bieten Fortbildungen an, Treffen mit<br />

anderen Pflegefamilien, feiern Feste. Und Sie können jederzeit<br />

Gesprächstermine mit uns vereinbaren.<br />

Es gibt noch so viel mehr zu berichten. Und auch wenn Sie<br />

nicht in den nächsten Tagen oder Wochen zu uns kommen<br />

und überzeugt und freudestrahlend ein Pflegekind aufnehmen<br />

wollen, hoffen wir doch, dass es uns mehr und mehr gelingt,<br />

das Thema „Pflegekinder“ in <strong>Rostock</strong> in das öffentliche Bewusstsein<br />

zu rücken. Sie übernehmen bereits ein Stück der Verantwortung<br />

mit uns, wenn Sie Ihren Freunden, Arbeitskollegen<br />

oder Bekannten von uns erzählen. Jeder sollte eben ganz genau<br />

für sich prüfen, ob und wie viel er an Verantwortung tragen<br />

möchte.<br />

Vielleicht bis bald. ¬


Motivation und Engagement<br />

für eine bessere Welt - eine<br />

persönliche Rückschau<br />

ANDREA KRÖNERT<br />

Global Denken - Lokal Handeln<br />

Ich kam im September 1990 nach <strong>Rostock</strong> um hier Lateinamerikawissenschaften<br />

zu studieren. Schon nach wenigen Wochen<br />

sollte unser Studiengang geschlossen werden. Nicht mit uns!<br />

Wir stellten uns quer, haben sogar einen Hungerstreik initiiert.<br />

Wir wollten genau dieses Studium. Warum? Meine Ideale von<br />

damals kann ich auch heute noch unterschreiben: Ich wollte etwas<br />

tun für eine bessere Welt und vor allem für mehr Nord-<br />

Süd-Gerechtigkeit. Der Weltgipfel von Rio 1992 mit seinem<br />

Slogan „Global Denken - Lokal Handeln“ wies uns den Weg.<br />

Ich war sicher, dass die Weltgemeinschaft nun auf dem richtigen<br />

Weg sei und ich meinen Beitrag würde leisten können.<br />

Nach dem Studium wollte ich (vorerst) in <strong>Rostock</strong> bleiben, vor<br />

allem, weil meine beiden Söhne hier ihre Kinderladen- und<br />

Schulfreunde hatten. Ich war schon während des Studiums im<br />

Ökohaus aktiv - im Weltladen, beim Umbau der Ökovilla und<br />

im Vorstand. 1998 wurde ich Bildungsreferentin für entwicklungspolitische<br />

Bildung. Zusammen mit meiner damaligen<br />

Kollegin Kirsten Hasler führten wir in Schulen Projekttage zu<br />

Eine-Welt-Themen durch. Das war Aufbauarbeit. Inhaltlich<br />

bewegten wir uns auf einem schmalen Grat zwischen Neugierde<br />

und Exotik. Bei Anfragen nach Afrika-Projekttagen mit<br />

dem Zusatz „gern mit kochen und trommeln“ fragten wir uns,<br />

welches Afrikabild wir eigentlich vermittelten und ob wir Vorurteile<br />

eher abbauten oder verfestigten. Entsprechend haben<br />

wir unsere Arbeit immer wieder reflektiert und neu ausgerichtet.<br />

Wer schnell sein will, geht allein, wer weit kommen<br />

will, geht mit anderen gemeinsam<br />

Das Ökohaus als Dach für engagierte Menschen und Gruppen<br />

- das war der Ansatz seit der Gründung und ist es bis heute:<br />

Die Gruppen haben gewechselt, aber das Ziel bleibt. Aktuell<br />

gehören zu den Mietern der Ökovilla der Naturschutzbund,<br />

die ANU und Attac. Dazu kommen die Vereinsprojekte Weltladen,<br />

das Bildungsprojekt „Nachhaltig Leben Lernen“ und der<br />

Kinderladen Kellermäuse. Außerdem gibt es in der Ökovilla<br />

das Restaurant Heumond, eine Anlaufstelle für Supervision<br />

und zwei Seminarräume. Eine Besonderheit der Ökovilla sind<br />

die Komposttoiletten, in denen aus den menschlichen Fäkalien<br />

Kompost produziert wird. Das klingt für viele Menschen komisch,<br />

ist aber eine echte Kreislaufwirtschaft!<br />

Das afrikanische Sprichwort „Wer schnell sein will, geht allein,<br />

wer weit kommen will, geht mit anderen gemeinsam“ symbolisiert<br />

für mich den Ansatz des Ökohauses. Ich habe Ökohaus<br />

immer als offenen Verein erlebt, der Menschen und Gruppen<br />

bei der Umsetzung neuer Ideen und Projekte unterstützt. Die<br />

Ökovilla selbst bietet dafür einen guten räumlichen Rahmen<br />

und eine funktionierende Infrastruktur. So kann sich das Potential,<br />

das im gemeinsamen Tun von Menschen entsteht, entfalten<br />

und entwickeln.<br />

Beispiel 1: Im Jahr 2009 hat eine Studierendengruppe der Uni<br />

<strong>Rostock</strong> das europäische Studierendenprojekt Euroenviro zum<br />

Thema Alternative Energien nach <strong>Rostock</strong> geholt. Ökohaus<br />

war gern das offizielle Dach für dieses Projekt und hat die Macher/innen<br />

von Euroenviro ganz nebenbei in Projektentwicklung<br />

und -management geschult und begleitet.<br />

Beispiel 2: Die Initiativgruppe „Internationale Gärten“ hat<br />

sich im letzten Jahr an Ökohaus gewendet, um ihr Vorhaben<br />

unter dem Vereinsdach aufzubauen. Auch wenn der erste Versuch,<br />

einen solchen Garten in Evershagen aufzubauen, am lautstarken<br />

Protest einiger Anwohner/innen scheiterte, geben die<br />

Macher/innen nicht auf. Sie haben schon ein neues Grundstück<br />

ausgesucht.<br />

Beispiel 3: Seit dem letzten Jahr sind die Anti-Atomproteste<br />

endlich auch in <strong>Rostock</strong> und Mecklenburg-Vorpommern ange-


0.32 __ //// OKÖHAUS - EINE BILANZ<br />

kommen. Das <strong>Rostock</strong>er Anti-Atom-Bündnis trifft sich wöchentlich<br />

im Ökohaus und nutzt die Infrastruktur für die Planung<br />

und Vorbereitung von Aktionen. Im Ökohaus liefen auch<br />

die Fäden zusammen für die Anmeldungen für Busfahrten zur<br />

Menschenkette zwischen Krümmel und Brunsbüttel und ins<br />

Wendland. Auch wenn ich mich zeitweilig wie in einem Reisebüro<br />

für Anti-Atom-Protest-Reisen fühlte („Ja, wir haben noch<br />

einen Platz frei.“), war es doch schön zu erleben, dass es ein<br />

enormes Potential gibt. Viele Menschen in <strong>Rostock</strong> wollen sich<br />

engagieren und die Ereignisse in Japan zeigen, wie wichtig dieses<br />

Engagement ist, damit wir endlich umdenken!<br />

Wer etwas will, sucht Wege, wer etwas nicht will,<br />

sucht Gründe<br />

In den letzten vier Jahren habe ich zusammen mit meiner Kollegin<br />

Arne Schneider das Bildungsprojekt „Nachhaltig Leben<br />

Lernen“ aufgebaut. Unser pädagogisches Ziel war es, Menschen<br />

für eine nachhaltige Lebensweise zu motivieren und zu befähigen.<br />

Die Teilnehmer/innen unserer Bildungsveranstaltungen<br />

sollten Kompetenzen erwerben, um aktiv und eigenverantwortlich<br />

die Zukunft gestalten zu können. Um eine größere<br />

Ausstrahlungskraft zu entfalten, haben wir Multiplikator/innen<br />

ausgebildet. Allein 2010 haben mehr als 80 Menschen an<br />

den Schulungen teilgenommen. Die Multiplikator/innen gestalteten<br />

in ganz Mecklenburg-Vorpommern eigenverantwortlich<br />

150 Bildungsprojekte mit Schulklassen und Erwachsenengruppen.<br />

Die Themenpalette reichte von Klimagerechtigkeit über Ressourcenverbrauch<br />

am Beispiel Wasser und Regenwald bis zu<br />

globaler Ernährung, Fairem Handel und Kindersklaverei in der<br />

Kakaoproduktion.<br />

Bei allen Themen geht es immer darum, Handlungsoptionen<br />

mit den Teilnehmer/innen zu erarbeiten: Es gibt dafür mindestens<br />

drei Ebenen: 1. Ich kann ein/e bewusste/r Konsument/in<br />

sein. 2. Ich kann in meinem beruflichen und sozialen Umfeld<br />

für Veränderungen werben, zum Beispiel dafür, Recyclingpapier<br />

zu benutzen. 3. Ich kann politisch aktiv werden.<br />

Die Zusammenarbeit mit den Multiplikator/innen war für<br />

mich eine große Freude und Motivation: Ich habe das enorme<br />

Potential unseres gemeinsamen Arbeitens erlebt - kreativ, partizipativ<br />

und offen. Es gibt viel Kraft, mal nicht gegen ignorante<br />

Argumente anzukämpfen oder als idealistisch abgestempelt zu<br />

werden, sondern mit Gleichgesinnten nach Wegen zu suchen<br />

und dadurch auch selbst neue Ideen zu bekommen.<br />

Viele unserer Multiplikator/innen waren bei der Fahrt zum<br />

Klimagipfel in Kopenhagen dabei. Auch wenn der Gipfel selbst<br />

grandios gescheitert ist, war die Teilnahme für uns doch ein Erfolg.<br />

Mich persönlich hat besonders die Begegnung mit Vandana<br />

Shiva tief beeindruckt. Ihre Rede über die Folgen des Klimawandels<br />

für die Menschen in Indien und Südasien war so<br />

klar und gleichzeitig so kraftvoll. Wir können etwas verändern,<br />

wenn wir es nur wollen! Ich habe Lust mich einzumischen -<br />

trotz oder gerade wegen der komplexen und komplizierten<br />

Problemlagen. Der Ansatz für mein Engagement und für meine<br />

Motivation ist ganz einfach. Ich selbst kann jeden Tag neu<br />

entscheiden, was ich tue: Was ich einkaufe ... Wie ich mich<br />

fortbewege ...Worüber ich mit wem spreche ... Wofür ich mich<br />

engagiere ...<br />

Ich will mich in meinem Engagement nicht davon abhängig<br />

machen, ob und was die anderen tun. Sätze wie „Das bringt<br />

doch eh nichts“ oder „Da müssten ja alle mitmachen, damit es<br />

was nützt“, sind zwar nicht unwahr, aber sie lähmen. Sie machen<br />

mich manchmal persönlich traurig. Aber ich habe gelernt,<br />

mich davon nicht entmutigen zu lassen. In einer Schule in Stavenhagen,<br />

in der ich mit Schüler/innen und Lehrer/innen mit<br />

der interaktiven Ausstellung „Globales Klassenzimmer Mittelamerika“<br />

arbeitete, habe ich folgenden Spruch gelesen: „Wer etwas<br />

will, sucht Wege. Wer etwas nicht will, sucht Gründe.“ Dieser<br />

Spruch ist seither mein Leitmotiv.<br />

Jeder Abschied ist ein Neubeginn ...<br />

Im letzten Sommer habe ich drei Wochen lang sieben Gäste aus<br />

Guatemala begleitet, die im Rahmen der Schulpartnerschaft<br />

mit dem Schulcampus Evershagen in <strong>Rostock</strong> zu Gast waren.<br />

Die Gespräche mit den Gästen, besonders mit der Lehrerin<br />

Martina Perez, haben mir gezeigt, wie wichtig die kleinen<br />

Schritte sind. Martina war beeindruckt von den vielen Projekten,<br />

z.B. für fairen Handel und ökologischen Landbau. Sie bat<br />

uns, diese Arbeit unbedingt fortzusetzen. Sie hätte dadurch soviel<br />

Zuversicht und Anregungen erhalten. Wir haben auch darüber<br />

gesprochen, dass es manchmal Pausen braucht, um weiter<br />

machen zu können. Es war Martina, die mir letztlich den Anstoß<br />

gab, über ganz persönliche Veränderungen nachzudenken.<br />

Ich habe in meiner Zeit bei Ökohaus viel gelernt, konnte viele<br />

meiner Ideen und Ideale verwirklichen. Nach fast 20 Jahren ehrenamtlicher<br />

und 13 Jahren hauptamtlicher Arbeit dort suche<br />

ich für mich nun neue Wege. Mein Abschied von Ökohaus ist<br />

kein Zeichen von Resignation sondern ein bewusster Schritt,<br />

um Kraft zu tanken, um Platz zu schaffen für neue Ideen und<br />

Freiraum für zukünftige Projekte.<br />

Meine eigenen Kinder sind jetzt groß, auch von daher ist ein<br />

Neubeginn für mich jetzt möglich. Ich will die Auszeit auch<br />

dafür nutzen, zu entscheiden, wofür ich mich in den nächsten<br />

20 Jahren engagieren will. Aber zuerst gehe ich nach England,<br />

werde auf Biobauerhöfen und in anderen Projekten praktisch<br />

mitarbeiten und dabei ganz nebenbei mein Englisch verbessern.<br />

Und dann? Mal sehen - ob in <strong>Rostock</strong> oder anderswo -<br />

sicher werde ich mich auch weiterhin für eine nachhaltige Zukunft,<br />

Gerechtigkeit und Solidarität einsetzen. ¬


FOTO: TOM MAERCKER


FOTO: TOM MAERCKER


0.35 __ //// REZENSIONEN<br />

Drei Lesezeichen.<br />

Empörung - Aufstand - K-Wort<br />

JENS LANGER<br />

Stéphan Hessel, Empört Euch! Aus dem Französischen<br />

von Michael Kogon, Ullstein: Berlin 2011<br />

Eugen Kogon, der Vater des Übersetzers, hat dem Verfasser im<br />

KZ Buchenwald das Leben gerettet, indem er diesem zu einer<br />

neuen Identität verhalf. Nun bäumt sich der renommierte Diplomat<br />

( Jg. 1917) noch einmal zu einem „energischen Gruß<br />

vom Grabesrand“ (DLF 9. 2.11, 9.33 Uhr) auf gegen die<br />

Gleichgültigkeit. Das sind nur 15 Seiten, mit allem Drum und<br />

Dran angereichert auf 32 Seiten. Die haben es in sich, „beherzt,<br />

aber nicht originell“, nennt Arno Orzessek das in seiner Besprechung.<br />

Genau, beherzte Menschen sind vonnöten, damit ein<br />

originales, authentisches Leben Land gewinnt und Zukunft.<br />

Der auch als Greis alerte Kämpfer aus dem französischen Widerstand<br />

weiß, dass es Aufregung allein nicht macht. Engagement<br />

muss die Folge sein - gegen den „Massenkonsum, die Verachtung<br />

der Schwächsten und der Kultur, den allgemeinen Gedächtnisschwund<br />

und die maßlose Konkurrenz aller gegen alle“.<br />

Er stellt sich z.B. auf die Seite der eingepferchten Palästinenser,<br />

war auch mit Diplomatenpass im Gazastreifen - wobei<br />

der Weg des Juden Hessel stets gewaltlos ist und frei von Antisemitismus.<br />

Hören die Leute die Signale? Ja, aber anderswo die<br />

Völker.<br />

Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand,<br />

Nautilus-Verlag: Hamburg 2010<br />

Die Verfasserschaft stellt man sich im Chiapaslook vor und<br />

liegt damit bestimmt falsch. Es gibt - auch schon 2009, z. Zt.<br />

der Abfassung - reichlich Aufstände, in den französischen Vorstädten<br />

und auf griechischen Straßen. Da kommt noch etwas,<br />

meint das unsichtbare Komitee. Viele Fragen, was zu tun sei,<br />

werden gestellt. Die viertletzte immerhin kann ich beantworten:<br />

„Was heißt es praktisch, die Macht lokal abzusetzen?“<br />

Beim letzten Mal hab' ich das so gemacht: Am 3. Dezember<br />

abends fand ich einen Zettel des Dachdeckers Dirk Stolle auf<br />

meinem Schreibtisch: „Am 4.12. um 7.45 Uhr im Rathaus<br />

sein.“ Das passte zeitlich ganz schlecht. Ich bin aber früh hingegangen<br />

und habe mich mit meinen FreundInnen von der Bürgerinitiative<br />

getroffen. Wir sind pünktlich ins Rathaus gegangen,<br />

sprachen mit Machthabern und nahmen uns unseren Teil<br />

der Macht. Das hieß kontrollierte Verwaltungsstrukturen, Lizenz<br />

und Papier für die erste freie Zeitung in der DDR, den<br />

„Bürgerrat“. Das dauerte zum Glück nicht lange, die waren<br />

schon reif für die Machtteilung, und ich konnte noch pünktlich<br />

mit meiner Vorlesung beginnen. Wer's nicht für möglich<br />

hält, lese den Vorgang etwas ausführlicher: Christoph Links,<br />

Sybille Nitsche, Antje Taffelt, Das wunderbare Jahr der Anarchie.<br />

Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90, Ch.-<br />

Links-Verlag: Berlin 2009 2. Auflage, S. 171-177. Die Sache<br />

hat allerdings einen Haken, und mit dem ist es wie mit den<br />

Birnen: Es gibt eine einzige Sekunde ihrer Reife, in der sie<br />

köstlich sind für den Verzehr. Es wird also nicht nur politisches<br />

Gefühl gebraucht, sondern auch pomologische Sensibilität.<br />

Alain Badiou, Wofür steht der Name Sarkozy? diaphanes:<br />

Zürich-Berlin 2008<br />

Einzig auf einen glänzenden Aspekt dieses langen Essays soll<br />

verwiesen werden: Der französische Philosoph ( Jg. 1937) diskutiert<br />

ganz anders als im üblichen Pro und Contra über den<br />

Kommunismus. Er lässt uns staunen, welche Facettenvielfalt<br />

der Kommunismushypothese sich im Horizont ihrer romanischen<br />

Inkulturation ergibt. Das Original stammt bereits von<br />

2007 und hat auch seit 2008 keinen deutschen Aufschrei verursacht.<br />

Die Autorin hieß ja nicht Gesine Lötzsch.


0.36 __ //// REZENSION<br />

Ich breche hier ab mit den Krisenschriften. Es sind übrigens<br />

mehr als drei, und die Krise wird in unterschiedlichen Lagern<br />

von rechts bis links mit einigen Unterscheidungen beschrieben<br />

als das, was sie ist: hemmend, deprimierend. Bitte, zur Lektüre:<br />

Arnulf Baring, Bürger auf die Barrikaden! Deutschland auf dem Weg<br />

zu einer westlichen DDR (FAZ, 19.11. 2002)<br />

Marion Gräfin Dönhoff, Zivilisiert den Kapitalismus. Zwölf Thesen gegen<br />

die Maßlosigkeit, München 2005<br />

Thomas Macho, „Das Leben ist ungerecht.“ Unruhe bewahren, St.<br />

Pölten 2010<br />

Christoph Twickel: Gentrifi Dingsbums oder eine<br />

Stadt für alle, Edition Nautilus: Hamburg 2010, 126<br />

Seiten<br />

Begeistert ging ich durch unser altes Berliner Quartier: Große<br />

Hamburger Straße, Sophien- und Auguststraße ... : Läden über<br />

Läden, Galerien, Kneipen vom Feinsten und Szenetreffs. „Was<br />

für eine Entwicklung!“, staunte ich mit offenem Mund. Eine<br />

junge <strong>Rostock</strong>er Politologin stoppte meinen Enthusiasmus mit<br />

einem einzigen Wort: „Gentrifikation“ und schenkte mir das<br />

hier angezeigte Buch.<br />

Der Begriff gilt immer noch als so frisch, dass auch meine neuen<br />

Wörterbücher nichts dazu sagen. Der Griff zum Vokabularium<br />

Englisch-Deutsch könnte helfen. Bis „gentry“ geht diese<br />

Hilfe: (niederer!) Adel, Sippschaft. Eine hilfsweise und vorläufige<br />

Interpretation sei gewagt: Veradelung, Veredelung, Versippung<br />

eines öffentlichen städtischen Raumes, der durch die angedeutete<br />

Tendenz, der Allgemeinheit aus den Händen genommen<br />

und sie aus ihren Wohnungen in diesem Raum herausgemietet<br />

wird. Das Ganze findet in Innenstädten und nahe bei<br />

ihnen statt. „Yuppisierung, Schickimickisierung, Lattemacchisierung.<br />

Wie immer man auch das Dingsbums nennen mag: Es<br />

ist eine Maschinerie, die die Teilhabe an der Stadt über Geld<br />

und Herkunft regelt.“ (Twickel, S. 5)<br />

Inzwischen gibt es auch ein „Manifest der empörten Ökonomen<br />

- Philippe Askenazy u.a., Manifeste d'èconomistes atterréres<br />

(www.freitag.de/kultur/1105-kommentar). Kein Ende abzusehen.<br />

Das alles ist Literatur. Auf die es ankommt und die ankommen<br />

werden sie nicht lesen. Vielleicht erscheint einmal ein Wort davon<br />

als Schrift an der Wand. Bis jetzt tanzen die Verhältnisse<br />

bei uns jedenfalls noch nicht. Sie sind erstarrt. In der CSU liest<br />

man gerade erst mit Verspätung „Adel im Untergang“. Und<br />

kann es nicht fassen. ¬<br />

Wer darf in der Stadt wohnen: WO?<br />

JENS LANGER<br />

Hamburg mit seinem Gängeviertel und anderen Quartieren<br />

schildert der Autor detailliert und illusionslos: Aussteiger, Alternative,<br />

Kreative, Maler, Musiker, Schreiber ziehen wegen Lage,<br />

Ästhetik und niedrigen Mieten in heruntergekommene<br />

Stadtviertel und machen sie für Besucher interessant. Auf diesem<br />

Weg werden die Immobilien wieder für den Markt attraktiv.<br />

„So platzieren die Kulturpolitiker in den meisten deutschen<br />

Metropolen ihre Fördermittel für freie Kulturobjekte mittlerweile<br />

so, dass die erwünschten Ausnahmezustände dort entstehen,<br />

wo die Standortentwicklung sie braucht.“ ( S. 63) Konsumierbarer<br />

Ausnahmezustand und hippe Prekarität - Twickels<br />

Namensgebungen - als Anschub für das Unternehmen Stadt!<br />

In Berlin gibt es (fast) noch das Tacheles, in Leipzig existieren<br />

Wächterhäuser, über Hamburg steht nahezu alles bei Twickel.<br />

Ich stand an einem Fluss in <strong>Rostock</strong> und wusste, warum mir<br />

die dichte Bebauung bis nahe ans Wasser unheimlich vorkommt:<br />

Auch die alten Quartiere ringsum werden sich im Sog<br />

der Modernisierung verändern. Gar nicht schlecht. Aber wer<br />

wohnt dann schließlich wo? ¬


Bradley Manning<br />

... wird verdächtigt, geheime US-Militärdokumente<br />

über den Irak-Krieg an WikiLeaks weitergeleitet<br />

zu haben. Jetzt wird er in einem US-Gefängnis<br />

unter z.T. unmenschlichen Haftbedingungen fest -<br />

gehalten. Was Sie tun können, finden Sie unter:<br />

www.bradleymanning.org

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