Zeit1 - Regionale10
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86 — 87<br />
Christian Philipp Müller<br />
9<br />
Ebda., S. 137.<br />
10<br />
Zu denken ist ebenso<br />
an Arbeiten von Franz<br />
Erhard Walther aus den<br />
Sechzigerjahren und die<br />
Parangolés von Hélio<br />
Oiticica; zu letzterem<br />
siehe Sabeth Bucchmann:<br />
Denken gegen das<br />
Denken. Produktion,<br />
Technologie, Subjektivität<br />
bei Sol LeWitt, Yvonne<br />
Rainer und Hélio Oiticica.<br />
Berlin: b_books 2007, S.<br />
228ff.<br />
11<br />
Siehe dazu George Baker,<br />
Christian Philipp Müller:<br />
A Balancing Act. In:<br />
October 82, Herbst 1997,<br />
S. 95-118, S. 110f, 115. In<br />
diesem Text reflektieren<br />
Baker und Müller anlässlich<br />
des gleichnamigen<br />
Projekts des Künstlers für<br />
die Documenta X in Kassel<br />
1997 die Geschichte<br />
der öffentlichen Skulptur<br />
auf dem Friedrichplatz in<br />
Kassel in der Spannung<br />
zwischen Formalismus<br />
(Walter de Maria, Vertical<br />
Earth Kilometer, 1977)<br />
und Engagement (Joseph<br />
Beuys, 7000 Eichen,<br />
1982). Burning Love (Lodenfüßler)<br />
kann in dieser<br />
Hinsicht als Fortführung<br />
dieser Auseinandersetzung<br />
mit den historischen<br />
Voraussetzungen ortsspezifischen<br />
Arbeitens<br />
gelten.<br />
12<br />
Vgl. Didi Huberman,<br />
a.a.O., S. 42.<br />
13<br />
Siehe dazu Christian<br />
Philipp Müller, a.a.O., S.<br />
72-79.<br />
Trachtenmode scheint und so offen für alternative Besetzungen ist, jenen<br />
„morphologische[n] und bedeutsame[n] Reichtum“ buchstäblich, „auf<br />
welchen ein einfaches Tuch“ in der ästhetischen Erfahrung „unsere Augen<br />
lenken kann“ 9 .<br />
Andererseits stiftet Müller anders als die Arbeiten der „Land Art“, die hier<br />
unter anderem 10 kunsthistorisch Pate standen, und jenseits der nominalistischen<br />
Behauptung, Alltagsmaterial in Kunst verwandeln zu können,<br />
unter diesem einfachen Deckmantel eine soziale Gemeinschaft im öffentlichen<br />
Raum, die durch die Stoffbahn aus Loden gleichermaßen konstituiert<br />
und zusammengehalten wird. So überbrückt er wie schon in früheren<br />
seiner Arbeiten zumindest auf Zeit die Kluft, die sich in der Geschichte<br />
und Theorie der (nach)modernen Kunst zwischen den Bereichen des Ästhetischen<br />
und Sozialen vermeintlich unüberwindlich aufgetan hat. 11 Das<br />
Rechteck aus Stoff, das als abstrakte Bodenplastik oder farbenfroher<br />
Bildersatz beispielsweise auch in Ausstellungen von Cosima von Bonin<br />
oder Falke Pisano anzutreffen ist, wird in Gebrauch genommen, am Körper<br />
getragen und durch Berg und Tal gesandt. Freiwillig vereint unter einem<br />
kollektiven Wetterfleck, der keiner mehr oder noch keiner ist, aber auch<br />
durch die Fäden des Stoffes auf der gemeinsam zu bewältigenden Strecke<br />
zwischen dem Handwerksbetrieb und dem Museum im Schloss sind die<br />
Teilnehmer der Performance temporär aneinander gebunden bzw. aufeinander<br />
angewiesen. So findet Müller ein bewegtes, dialektisches Bild für<br />
den Umstand, dass der schaffende Mensch dieser Region in seiner Identität<br />
– anders als es Tourismusmanager und Kulturfunktionäre nahezulegen<br />
suchen – nicht in einheimischen Trachten zu repräsentieren und fixieren<br />
ist. Der Faltenwurf des Lodens lässt diesen charakteristischen Stoff, in<br />
dem sich lokaler Eigensinn manifestieren soll, zwischen formlosem Haufen<br />
und drapierter, solider, dauerhafter Form 12 changieren.<br />
Müllers Burning Love (Lodenfüßler) wirft einen retrospektiven Blick auch<br />
auf eine Reihe thematisch verwandter Arbeiten des Künstlers zu Fragen<br />
von regionaler oder nationaler Identität und deren Repräsentation: Auf<br />
der Rückseite des Katalogs und dem Plakat zum Österreichischen Pavillon<br />
der Biennale von Venedig 1993, auf der Müller seine heute schon klassische<br />
Arbeit Grüne Grenze 13 präsentierte und als Schweizer neben der<br />
Amerikanerin Andrea Fraser und dem Österreicher Gerwald Rockenschaub<br />
auf Einladung des damaligen Kommissärs Peter Weibel – in den Augen<br />
einiger unstandesgemäß – die Alpenrepublik repräsentierte, sind alle drei<br />
Künstler in einem urigen Wirtshaus (österreichisch: „Beisl“) versammelt<br />
und in Trachtenmode gekleidet zu sehen, 14 wie um den auch damals<br />
längst schon obsoleten Anspruch der Großausstellung auf einen nationalstaatlichen<br />
Wettstreit in der globalisierten Gegenwartskunst vollends<br />
ad absurdum zu führen. Selbst- und Fremdverständnis traten in diesem<br />
Bild rigoros auseinander und der Mythos einer österreichischen Identität,<br />
die eine geschlossene Gesellschaft von angestammten Privilegien<br />
14<br />
Solche Porträtaufnahmen<br />
waren darüber<br />
hinaus Teil der Arbeit<br />
almost adjusted to the<br />
new background,1993,<br />
die in Colin de Lands<br />
New Yorker Galerie<br />
American Fine Arts,<br />
Co. im Rahmen der von<br />
James Meyer kuratierten<br />
Ausstellung Whatever<br />
Happened to Institutional<br />
Critique? zu sehen<br />
war.<br />
15<br />
Siehe dazu auch Alexander<br />
Alberro: Unraveling<br />
the Seamless Totality:<br />
Christian Philipp Müller<br />
and the Reevaluation of<br />
Established Equations.<br />
In: Grey Room 06, Winter<br />
2002, S. 5-25, S. 20.<br />
16<br />
Siehe dazu ausführlicher<br />
André Rottmann:<br />
Faksimile: Kalkül und<br />
Anschauung in Serie.<br />
Überlegungen zu den<br />
Ringier Jahresberichten<br />
1997 – 2008. In: Wladimir<br />
Velminski (Hrsg.):<br />
Bildwelten des Wissens.<br />
Kunsthistorisches Jahrbuch<br />
für Bildkritik, hrsg.<br />
von Horst Bredekamp,<br />
Matthias Bruhn, Gabriele<br />
Werner, Bd. 7.2. Berlin<br />
2009 [im Druck].<br />
17<br />
Siehe dazu Christian<br />
Philipp Müller, a.a.O., S.<br />
136-139, sowie Christian<br />
Meyer: Christian Philipp<br />
Müller und die Familie<br />
der Österreicher. In:<br />
Camera Austria, Heft 49,<br />
1994, S. 15-23.<br />
18<br />
Vgl. Didi-Huberman,<br />
a.a.O., S. 27.<br />
19<br />
Siehe zu der Bedeutung<br />
dieses Konzepts für<br />
die Arbeit Müllers Ein<br />
Gespräch zwischen<br />
James Meyer und Christian<br />
Philipp Müller. In:<br />
Christian Philipp Müller,<br />
a.a.O., S. 44-57, S. 57.<br />
signalisieren soll, wird als Teil plakativen Marketings lesbar. 15 Auch die<br />
Rückseite des Jahresberichtes, den Müller 1999 für Ringier realisierte und<br />
für den er alle ausländischen Niederlassungen des Schweizer Medienkonzerns<br />
bereiste, 16 ziert eine Christian Philipp Müller having fun in Slovakia<br />
betitelte Fotografie, die auf humorvolle Weise die Gleichzeitigkeit der<br />
realiter effektiven Globalisierung mit archaischen Selbstbildern ins Bild<br />
setzt: Der Künstler ist mit Baseball-Mütze und Jeans-Jacke bekleidet<br />
auf einer Bank neben drei farbenfrohe Trachten tragenden Frauen im<br />
Liptauer Heimatmuseum zu sehen. Die ambivalente kulturelle Kodierung<br />
von Trachtenkleidung war ebenfalls Gegenstand von Müllers Ausstellung<br />
im Herbst 1993 in der Wiener Galerie Metropol The Family of Austrians,<br />
in der er auf die Darstellung des österreichischen Landlebens in Edward<br />
Steichens berühmter ethnografischer Erfassung der Welt im fotografischen<br />
Atlas einer Family of Man rekurrierte. Auf der Einladungskarte war<br />
Müller in einem Bild aus dem Kontext von „Grüne Grenze“ als Wanderer zu<br />
sehen, der sich wie noch heute für seine Arbeit im Schloss Trautenfels der<br />
Frage österreichischer Selbstdarstellung gleichsam von außen nähert. In<br />
Vitrinen waren Bregenzerwälder Trachten ausgestellt, flankiert von Verkaufsbroschüren<br />
und didaktischen Filmen aus den Beständen des Wiener<br />
Instituts für Kostümkunde, die auf volkstümliche Authentizität als Ware<br />
zielten und in dieser folkloristischen Überformung nationaler Identität<br />
eine Entsprechung in Steichens als Bildpaneele in der Galerie verteilten,<br />
in der US-amerikanischen Perspektive der Nachkriegszeit geradezu exotische<br />
Rückständigkeit suggerierenden Darstellungen des Landlebens in<br />
Österreich anno 1955 fanden. 17 Demgegenüber betont Müllers neue Arbeit<br />
auch ihrem Titel nach die Konnotationen regionaler Trachten, die sich<br />
Kalkül und Kontrolle zu entziehen vermögen. Für die Männer der Region<br />
gehört es sich, zur landestypischen Lederhose kniehohe Socken, sogenannte<br />
Lodenfüßler, mit aufwendigem Strickmustern zu tragen: Eines,<br />
das unbedingt symmetrisch auf dem Schienbein platziert werden muss,<br />
heißt „Brennende Liebe“. Auch in diesem traditionellen, für manchen<br />
heute befremdlich konservativen Wollstoff und seiner Verarbeitung zur<br />
Tracht bleibt menschliches Begehren mithin als untilgbarer Rest in jeder<br />
Form gegenwärtig. 18<br />
In seiner Performance im Außenraum mobilisiert Müller die anthropomorphe<br />
und Gemeinschaft stiftende, ein multiples statt rigides Verständnis<br />
von Identität 19 erlaubende Dimension seiner Bahn wollweißen Lodens. Als<br />
eine Referenz für Burning Love (Lodenfüßler) dient ihm ein Happening,<br />
das James Lee Byars 1969 in der von Anny de Decker in Antwerpen betriebenen<br />
Galerie „Wide White Space“ veranstaltete. Unter dem Titel Pink Silk<br />
Airplane brachte Byars ein 30 x 30 Meter messendes Stück Stoff in den<br />
Ausstellungsraum mit 100 kreisrunden Öffnungen für 100 Personen, die<br />
auf dem Boden gemeinsam eine imaginäre Flugreise antreten konnten:<br />
„So sassen nach einer Weile alle auf dem Boden, eingehüllt in eine rosa