24.09.2012 Aufrufe

Zeit1 - Regionale10

Zeit1 - Regionale10

Zeit1 - Regionale10

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Der schaffende Mensch Welten des Eigensinns<br />

Schloss Trautenfels<br />

Der schaffende Mensch<br />

Welten des Eigensinns


Der schaffende Mensch<br />

Welten des Eigensinns<br />

Pawel Althamer mit seiner Klasse für Objektbildhauerei<br />

der Akademie der Bildenden Künste, Wien,<br />

Franz Kapfer, L/B, Christian Philipp Müller,<br />

Maria Papadimitriou, Kateřina Šedá<br />

3. Juni bis 31. Oktober 2010<br />

Eine Kooperation von


Inhalt<br />

1<br />

10<br />

32<br />

48<br />

64<br />

80<br />

98<br />

120<br />

Peter Pakesch, Dietmar Seiler<br />

Ein lebendes Labor<br />

oder: Die Regionale im Schloss<br />

Adam Budak<br />

Die Performance des einheimischen Lebens<br />

oder: Die Herstellung der Welt in die<br />

Landschaft der Selbstbedingtheit<br />

L/B<br />

Beautiful Steps #5<br />

Christoph Doswald<br />

Simply Beautiful<br />

Über das Moment des Schönen<br />

im Werk von Lang/Baumann<br />

Kateřina Šedá<br />

Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels<br />

Tomáš Pospiszyl<br />

Ein Glashügel und<br />

beleuchtete Kreuzungen<br />

Maria Papadimitriou<br />

Alpine Altar<br />

Jennifer Allen<br />

Für immer Parken<br />

Christian Philipp Müller<br />

Burning Love (Lodenfüßler)<br />

Andrè Rottmann<br />

Der Stoff, aus dem die Kunst ist<br />

Christian Philipp Müllers Eigensinn<br />

Pawel Althamer mit seiner Klasse für<br />

Objektbildhauerei der Akademie der<br />

Bildenden Künste, Wien<br />

Things You Can Walk Into<br />

Franz Kapfer<br />

Sieh-Dich-Für<br />

Pierre Bourdieu<br />

Ein Zeichen der Zeit<br />

138<br />

150<br />

162<br />

190<br />

220<br />

246<br />

252<br />

258<br />

268<br />

274<br />

280<br />

Martin Prinzhorn<br />

Codename Zement<br />

Günther Marchner<br />

Peripher idyllisch<br />

Schnappschüsse einer<br />

eigensinnigen Landschaft<br />

Peter Gruber<br />

Der Autor, seine realen und<br />

fiktiven Protagonisten<br />

Wegnotizen auf einem literarischen<br />

Weitwanderweg<br />

Christof Huemer<br />

Wenn Helene kommt<br />

Hannah Arendt<br />

Das Herstellen<br />

Richard Sennett<br />

Die Hand<br />

Elke Murlasits<br />

Think Global, Fabricate Local?<br />

Auf den Spuren des „schaffenden<br />

Menschen” in der Region Liezen<br />

Gernot Rabl<br />

Glaube oder Aberglaube?<br />

Gernot Rabl<br />

Historischer Aufriss zur Geschichte von<br />

Schloss Trautenfels in Verbindung mit<br />

klassischen Architektur- und Raumfragen<br />

Gundi Jungmeier<br />

Schöne Ferienwohnung in ruhiger Lage<br />

Einblicke in die Gestaltung von Privaträumen<br />

auf der Sonnenalm in Bad Mitterndorf<br />

Gundi Jungmeier<br />

Das schlechte Gewissen des Homo faber<br />

Standpunkte zur Ausweisung von Natura<br />

2000-Schutzgebieten im steirischen Ennstal<br />

Günther Marchner<br />

Wetterfest in die Globalisierung<br />

Notizen zur unverwüstlichen<br />

Karriere des Lodens


4 — 5<br />

Vorwort<br />

Ein lebendes Labor<br />

oder: Die Regionale im Schloss<br />

Peter Pakesch im Gespräch mit Dietmar Seiler<br />

PP: Mit dieser Ausstellung befinden wir uns in einem Projekt mit einigen<br />

ungewöhnlichen und neuen Ansätzen. Wir sind dabei, aus den Perspektiven<br />

von Gegenwartskunst und kulturwissenschaftlicher Recherche<br />

einen Blick auf eine ganze Region zu werfen. Gerade die Ausstellung in<br />

Schloss Trautenfels zeigt exemplarisch viel davon auf. Wie verhält sich<br />

das für dich?<br />

DS: Für mich ist wichtig, dass ein Festival wie die regionale von der<br />

konkreten Realität einer Region und ihren echten Potenzialen ausgeht.<br />

Es wäre das Schlimmste für ein Festival, das temporär in eine Region<br />

kommt, diese Region mit mehr oder weniger beliebigen kulturellen<br />

Aktivitäten überziehen, die dann wieder vorbei sind − sozusagen<br />

ein „Festival aus der Retorte“. Das muss man dazusagen, weil das<br />

mittlerweile dauernd passiert. Gerade Festivals sind zurzeit bevorzugte<br />

Instrumente einer etwas missverstandenen Regionalentwicklung: Wenn<br />

der Tourismus nicht so gut funktioniert, wie man es gerne hätte, und<br />

die Industrie, die Wirtschaft im Umbruch sind, dann macht man Kultur,<br />

und schon hat man ein neues Standbein. Es wird bald klar sein, dass das<br />

so nicht funktioniert. Deswegen ist es für mich ganz wesentlich, dass<br />

die regionale10 dort anschließt, wo es bereits eine auffällige kulturelle<br />

Lebendigkeit gibt, und da ist das Schloss Trautenfels ein eminent wichtiger<br />

Ankerpunkt in der Region.<br />

PP: Da trifft sich natürlich etwas in unserem Interesse, denn wenn<br />

wir als Universalmuseum Joanneum gefordert sind, mit unseren verschiedenen<br />

Standorten adäquat umzugehen, ist Schloss Trautenfels<br />

natürlich etwas besonderes und spezielles. Es liegt in einer Region, die<br />

weit von den anderen Museumsstandorten entfernt und sehr spezifisch<br />

gewachsen ist. Schloss Trautenfels ist ein sehr spannendes Museum,<br />

das quasi wie eine Insel anmutet, wir bezeichnen es auch manchmal als<br />

„das Joanneum in Klein“ − es hat den selben Anspruch der Universalität<br />

innerhalb seiner eigenen Sammlung, die naturwissenschaftliche Aspekte<br />

ebenso umfasst wie Volkskunde, Archäologie oder Kunst. Dieses breite<br />

Spektrum wird in regelmäßigen Ausstellungen immer wieder neu<br />

präsentiert, aber gleichzeitig stellt sich für uns die große Frage: Wie<br />

verhalten wir uns als einer der großen kulturellen Faktoren da oben?<br />

Ich sage bewusst „da oben“, weil damit klar wird, wie weit weg es von<br />

unseren anderen Standorten großteils urbaner Kultur ist. So reflektiert<br />

Schloss Trautenfels schon rein kulturell sehr viel von den Problemstellungen<br />

seiner Region und dessen Einzugsgebiet, das vielleicht mehr<br />

nach Salzburg reicht als nach Graz. Damit will ich sagen, dass sich<br />

Region hier anders definiert. Diesen Ort als Museum nutzen zu können,<br />

ist einerseits spektakulär, erschwert aber auch den Zugang, weil dieser<br />

abgehobene Ort an der Wegkreuzung in erster Linie als Burg gesehen<br />

wird. Hier finden wir schon sehr viel symbolisches Potenzial, das wir<br />

auch nicht so einfach für uns knacken können. Schloss Trautenfels ist<br />

ein starker regionaler Faktor, aber wir können nicht davon ausgehen,<br />

dass es alle Bewohnerinnen und Bewohner der Region in- und auswendig<br />

kennen, obwohl es dort sonst nicht viel anderes gibt, in diesem<br />

Gewicht bzw. in vergleichbarer Ausrichtung. Gleichzeitig merken wir<br />

an den Besucherzahlen im Sommer, welche starke Rolle der Tourismus<br />

dort spielt. Es trifft eine außergewöhnliche Museumssituation auf eine<br />

diverse, aber auch starke und motivierte Community, was eben für das<br />

Joanneum spannend ist, und für dieses konkrete Ausstellungsprojekt<br />

als Motor wirkt bzw. Beteiligung einfordert.<br />

DS: Die Community ist für dich...<br />

PP: …der stärkste Verein, den wir haben! Die Community sind die vielen<br />

Menschen, die sich im Verein Schloss Trautenfels engagieren und die<br />

teilweise auch in der REX-Initiative mitarbeiten. Das große Interesse<br />

bzw. der Wille, in einer kulturellen Entwicklung vor Ort dabei zu sein, ist<br />

dort für mich geradezu verblüffend ausgeprägt.<br />

DS: In diesen beiden Punkten, die du ansprichst, befinden sich die regionale<br />

und das Schloss Trautenfels in einer ähnlichen Ausgangsposition.<br />

Das Schloss liegt auf einem Hügel, und man stellt sich die Frage: Wer<br />

kommt denn da rauf? Das gilt auch für ein Festival, das in eine Region<br />

hineingeht und dabei Dinge passieren lässt, die womöglich nicht unbedingt<br />

selbstverständlich sind. Ebenfalls nicht ganz unwesentlich finde<br />

ich den universellen Anspruch des Museums, der trotzdem irgendwie<br />

begrenzt werden muss. Wir haben dabei dieselbe geografische Begrenzung,<br />

den Bezirk Liezen. Aber beides − der universellt Anspruch und die<br />

notwendige Abgrenzung – muss auch permament hinterfragt werden.<br />

Was heißt es eigentlich, wenn eine im Grunde nur administrative Einheit


6 — 7<br />

Vorwort<br />

sagt: Wir sind jetzt eine Region, die ein Festival macht. Und wenn genau<br />

diese Einheit nichts ist, womit sich Menschen tatsächlich identifizieren,<br />

weil der Bezirk dafür einfach zu groß ist. Identifikation findet innerhalb<br />

sehr viel kleinerer Räume statt. Also muss man sich schon fragen, was<br />

es eigentlich bedeutet, diese Grenze zu behaupten. Und das führt dann<br />

schon zum nächsten Schritt, bei dem die Ausstellung inhaltlich beginnt,<br />

nämlich überhaupt die Frage zu stellen: Was ist eigentlich „das Regionale“?<br />

Es gilt, einerseits ganz abstrakt zu betrachten, warum bestimmte<br />

Vorstellungen, Ideen und Ansichten zu dem gehören, was wir für<br />

„regional“ halten, aber andererseits auch ganz konkret zu hinterfragen,<br />

was eine Region denn von anderen Gebieten unterscheidet? Ich glaube,<br />

dass die Projekte im Rahmen dieser Ausstellung einiges dazu beitragen<br />

können.<br />

PP: Ich fand es spannend, wie unterschiedlich die Künstlerinnen und<br />

Künstler auf diese Fragen zugegangen sind. Was mich allgemein verblüfft<br />

hat – und das ist etwas, womit die Kunst heute sehr spezifisch<br />

umgehen kann – ist die Möglichkeit, die wichtigen Elemente, die eine solche<br />

Gegend auszeichnen, aufzunehmen und damit arbeiten zu können,<br />

und zwar im Kontext einer Haltung, die quasi allerorts geschehen kann.<br />

Mit diesem Spannungsfeld bewusst so umzugehen, darin sehe ich schon<br />

eine große Kraft, die weder regional noch global ist. Es sind Elemente<br />

von Narrativen, von Geschichten, die eben in nicht eindeutiger und nicht<br />

eindeutig zu trennender Art und Weise miteinander verbunden sind, und<br />

die natürlich dem Alltag an so einem Ort viel mehr entsprechen. Es gibt<br />

dort natürlich genauso eine landwirtschaftliche Produktion, die aufgrund<br />

der Produkte nur dort sein kann, aber ein paar Kilometer weiter findet<br />

man auch Einkaufszentren, die auf der ganzen Welt in haargenau derselben<br />

Form existieren können. Auch das Leitmotiv der regionale10, „In der<br />

Mitte am Rand“, greift diese Dialektik eines Ortes auf, der verkehrsmäßig<br />

enorm durchfahren ist – die nahe gelegene Phyrnautobahn zählt zu den<br />

Hauptverkehrssträngen zwischen Nord- und Südosteuropa −, in dem sich<br />

aber auch die Entlegenheit manifestiert. Ich bin froh, dass dort etwas in<br />

dieser Schärfe stattfindet, und auch darüber, dass dies von sehr unterschiedlichen<br />

Akteuren aufgezeigt wird − sowohl von jenen, die vor Ort<br />

leben, wie auch von Künstlerinnen und Künstlern. Gerade hier möchte ich<br />

zum Beispiel Papadimitriou und Althamer erwähnen, die ja beide immer<br />

sehr stark insistiert haben, eine lokale Praxis mit einem großen, global<br />

vertretbaren Anspruch zu machen. Das ist durchaus ein Spezifikum, das<br />

auch bei allen anderen deutlich wird.<br />

DS: Das heißt, du siehst hier auch eine mögliche Stoß- und Zielrichtung,<br />

um einen Gegensatz, dem man ja permanent begegnet − zwischen einem<br />

unangenehm gewendeten Regionalismus und einem alles gleichmachenden<br />

Globalismus −, vielleicht auflösen zu können?<br />

Schloss Trautenfels um 1800<br />

PP: Ja sicher, ich würde da gar nicht in der Möglichkeitsform sprechen.<br />

Ich denke, dass dies sinnvolle Strategien sind, um eine kulturelle<br />

Geschichte der nächsten Jahre zu schreiben. Ich denke, dass wir mitten<br />

in diesem Prozess stehen, wobei sich manche stärker und manche<br />

weniger stark daran beteiligen, mit diesen Diversitäten besser umzugehen<br />

und Lokalitäten umfassend verstehen zu wollen. Wir leben heute<br />

nicht mehr in einer einheitlich geformten Welt. Ich meine, in Zeiten<br />

einer bipolaren Welt gab es Orientierungspunkte, die sehr hierarchisch<br />

aufgebaut waren. Wir nehmen heute mehr und mehr wahr, dass sich<br />

geografische Hierarchien in andere Richtungen entwickeln. Es ist natürlich<br />

nicht so, dass die Welt enthierarchisiert wurde, aber wir erleben die<br />

Wirklichkeit einer multipolaren Welt, eines sehr heterogenes Europas,<br />

die wir auch begreifen lernen müssen. Es ist ja nicht so, dass wir uns<br />

im Zusammenhang mit einer globalen Position thematisieren, sondern<br />

zunächst gilt es, unsere europäische Identität zu entwickeln. Das sind<br />

Prozesse, die Hand in Hand gehen. Diese zu buchstabieren, würde ich<br />

fast sagen, diese Sprache, dieses Konstrukt, zu lernen, zu formulieren,<br />

zu definieren, führt zu interessanten Ansätzen. Gleichzeitig suchen wir<br />

eine andere Reflexion, die wir im Zusammenhang der Ausstellung als<br />

eine kulturwissenschaftliche betrachten. So kann bewusst betrachtet<br />

werden, wie sich diese Kunst, die sich mit dem Alltag beschäftigt, zum<br />

Alltag der Menschen verhält, die damit umgehen.<br />

DS: Ich finde es sehr wichtig, dass es ergänzend zu den künstlerischen<br />

Positionen diese zusätzliche Ebene, diese begleitenden Projekte gibt,<br />

an denen sich die Menschen aus der Region beteiligen – das ergibt ein


8 — 9<br />

Vorwort<br />

schönes Bild, auch für das Museum. Ich denke, uns beide interessiert an<br />

dieser Ausstellung auch die Frage, wie ein regionales Museum sich in<br />

Zukunft formulieren kann, wenn es vor allem weg will von der Zuschreibung<br />

„Das ist die ‚Burg‘, die definiert und erzählt euch eure eigene<br />

Geschichte“, wenn es ein Haus sein will für die Menschen der Region.<br />

In diesem Prozess vermittelt die Vorstellung, dass Künstlerinnen<br />

und Künstler von außen gemeinsam mit Menschen aus der Region an<br />

Erzählungen und Geschichten aus der Region arbeiten, ein sehr schönes<br />

Bild von einem lebendigen Laboratorium, das dieses Museum in Zukunft<br />

vielleicht sein kann.<br />

PP: Ein wichtiges Thema und eine große Herausforderung: Wie funktionieren<br />

solche Museen, was sind ihre Aufgaben, was ist geschichtliche<br />

Repräsentation, was ist reine Information, die vorliegt und notwendig<br />

ist? Aber es stellt sich heute auch mehr und mehr die Frage nach<br />

Prozessen − danach, wie man mit Wissen umgeht, wie man dadurch<br />

Identitäten schafft, wie man mit der Verfügbarkeit von Bildern umgeht,<br />

wie sich das alles manifestiert, sowohl für innen wie für außen. Ich<br />

meine, das Spannende gerade an einem Museum wie Schloss Trautenfels<br />

ist, dass wir hier ein Haus haben, das für Touristinnen und Touristen<br />

genauso interessant ist wie für Menschen aus der Region. Die Bedeutung<br />

des vermittelten Wissens ist hier eine ganz andere, vor allem,<br />

wenn es sich um lokal konnotiertes Wissen handelt – der schöne Name<br />

des Museums ist ja Landschaftsmuseum, es wird also etwas bewahrt,<br />

an Geschichte, an Landeskunde für die lokale Bevölkerung zum einen,<br />

zum anderen werden aber auch Besucher/innen von auswärts darüber<br />

informiert, was das Ortsspezifische ausmacht. In einer Welt, die wie<br />

gesagt dabei ist, sich extrem umzugestalten, ist es spannend, inwieweit<br />

Prozesse auch so ablaufen können, dass sie nicht in einer Musealisierung<br />

im schlechten Sinn münden, die also das Klischee des verstaubten<br />

„Museums von früher“ bedienen, sondern sich dynamisch entwickeln,<br />

ohne dabei die zu vermittelnden Inhalte über Bord zu werfen. Wenn ich<br />

mir zum Beispiel das Projekt von Christian Philipp Müller anschaue, der<br />

bewusst auf Textilfertigung mit Loden − also auf eine sehr starke lokale<br />

Tradition − eingeht und dabei gleichzeitig eine Strategie der Avantgarde<br />

im Umgehen damit verwendet, finde ich das einen sehr wichtigen<br />

Ansatz, um etwas klassisch Landeskundliches aufzubrechen. In diesem<br />

Zusammenhang wird es interessant sein, inwieweit das Museum und<br />

auch sein Publikum in der Folge mit solchen Projekten umgehen, und<br />

wie sich das Narrativ des Museums in dieser Region und in den nächsten<br />

Jahren weiterentwickelt.<br />

A.H. Payne nach L. Mayer<br />

Der Grimming, um 1840 (Detail)


10 — 11<br />

Trautenfels, 1681, aus<br />

dem Steirischen Schlösserbuch<br />

von G.M. Vischer<br />

(Kupferstich)<br />

Detail aus dem<br />

Freskenraum, Schloss<br />

Trautenfels<br />

1<br />

Gilles Deleuze: Logik des<br />

Sinns. Frankfurt a. M.:<br />

Suhrkamp 1993, S. 100.<br />

Die Performance des einheimischen Lebens<br />

oder: Die Herstellung der Welt in der<br />

Landschaft der Selbstbedingtheit<br />

Adam Budak<br />

Was gibt es Bürokratisches in diesen phantastischen Maschinen, die die<br />

Völker und Gedichte sind? Es reicht, daß wir uns ein wenig zerstreuen,<br />

damit wir uns auf der Oberfläche wissen, daß wir unsere Haut wie eine<br />

Trommel spannen, damit die „große Politik“ beginnt. Ein leeres Feld, weder<br />

für den Menschen, noch für Gott; Singularitäten; die weder allgemein noch<br />

individuell, weder persönliche noch universelle sind, all dies durchquert<br />

von Zirkulationen, Echos, Ereignissen, die mehr Sinn und mehr Freiheit verschaffen,<br />

mehr Wirksamkeiten, als der Mensch je erträumt und Gott sich je<br />

vorgestellt hatte. Das leere Feld zirkulieren zu lassen und die prä-individuellen<br />

und unpersönlichen Singularitäten zum Sprechen zu bringen, kurz,<br />

den Sinn zu produzieren: Darin besteht heute die Aufgabe. 1<br />

Im Herzen des Eigensinns<br />

Anmutig, doch asketisch und streng dient die im Jahr 1261 wohl im wahren<br />

Geiste des „Eigensinns“ erbaute vormalige Burg Neuhaus an der Kreuzung<br />

zwischen der Salzstraße und der Straße durch das Ennstal und vor einem<br />

herrlichen Alpenpanorama am Fuße des Grimmings − 1664 von den Grafen<br />

Trautmannsdorff unter dem Namen Schloss Trautenfels in Form eines<br />

Barockschlosses wiederaufgebaut − wohl als Beispiel für ein ganz besonderes<br />

Bauwerk: Einst Bewacher der Brücken über die Enns und der steirischen<br />

Grenze, dient dieses großartige rechteckige Gebäude mit überdachten<br />

Innenhöfen und einem mächtigen Turm, mit erlesenen Innenräumen,<br />

Fresken mit Darstellungen u. a. von Menschen bei der Arbeit, Gemälden mit<br />

mythologischen Anspielungen in der Galerie und in vielen Räumlichkeiten<br />

der Beletage, heute dem Universalmuseum Joanneum, Österreichs ältestem<br />

und zweitgrößtem museologischem Schatz, als Landschaftsmuseum<br />

und fungiert als Hommage an die einheimische Bevölkerung, die regionale<br />

Geschichte und Erinnerung. Fern jeder schlössertypischen Extravaganz,<br />

bedeckt und gar nicht so reizvoll, im Herzen bescheiden und anonym, stellt<br />

es ein kaltes Denkmal für (architektonischen) Anticharme dar, das zu Recht<br />

Stiegentür in Schloss<br />

Trautenfels, Manfred<br />

Wolff-Plottegg<br />

Buchstaben-Ornament<br />

zum Gedenken an Franz<br />

Hillebrand, um 1804<br />

2<br />

Manfred Wolff-Plottegg:<br />

Hybrid Architektur & Hyper<br />

Funktionen. Wien:<br />

Passagen Verlag 2006;<br />

ders.: Architektur-Algorithmen.<br />

Wien: Passagen<br />

Verlag 1996.<br />

an unserer Unwissenheit und seiner Unsichtbarkeit leidet und nachdrücklich<br />

nach Aufmerksamkeit heischt.<br />

Offensichtlich befinden wir uns hier genau im Herzen jenes Eigensinns,<br />

im zerkratzten Spiegel der Mentalität und des Alltags dieser Region und<br />

ihrer Bewohner, in einer (ursprünglichen) physischen wie psychischen Verteidigungslinie.<br />

Das Schloss fungiert als kritischer Apparat, als Matrix<br />

eklektischen Denkens, als Metapher und Allegorie, Ausdruck einer mühevollen<br />

Bautradition, die aufgepeppt wurde durch eine hübsche Fin-de-millenium-artige<br />

Revitalisierung (1990-92) durch den steirischen Architekten<br />

Manfred Wolff-Plottegg, Verfasser von Hybrid Architektur und Hyper Funktionen<br />

und leidenschaftlicher Verfechter von „Architekturalgorithmen“ 2 ,<br />

deren Prinzipien das Aussehen (und oft auch die Bedeutung) von bekannten<br />

architektonischen Elementen verändern. Plotteggs teils futuristische,<br />

teils märchenhafte Intervention mit gleichsam nostalgischen Untertönen<br />

ist ein verblüffendes und höchst verspieltes Beispiel für moderne Handwerkskunst<br />

im historischen Kostüm. Ein Tor ist eine Treppe, Pflastersteine<br />

sind Lampenschirme und Elemente des Burggrabens bilden Mauern in dieser<br />

algorithmischen Architektur, die das Schloss als Rätsel aus realen wie<br />

fiktiven Geschichten betrachtet. Ein solcher räumlicher Plot scheint gut zu<br />

dem ornamentalen Relief zu passen, das in eine Wand beim Schlosseingang<br />

gemeißelt ist – datiert mit 1790 und im Gedenken an Franz Hillebrand,<br />

einen einheimischen Handwerker aus der nahen Stadt Rottenmann. Das<br />

geheimnisvolle Tableau ist ein einzigartiges, beinah borgesianisches Rätsel<br />

und Diagrammgedicht aus Buchstaben, die, wenn man sie vom Zentrum<br />

aus in Richtung der Ränder liest, den Namen der bedeutendsten Familie<br />

der Region ergeben, die sich der Eisenverarbeitung widmete, welche neben<br />

dem Eisenabbau und der Verarbeitung anderer Bodenschätze der Gebirgsregion<br />

wie Kupfer, Silber und Salz die wirtschaftliche Entwicklung der Region<br />

wie auch ihr kulturelles Erscheinungsbild in bedeutendem Maße prägte.<br />

Er ist aber auch ein kosmologisches Porträt des Homo faber von Trautenfels,<br />

einem der wichtigsten „Lokalmatadore“ der Region; genauso wie die<br />

Trautenfels’sche Metapher des Eigensinnigen eine Vielzahl der Lesarten<br />

des Einen zu erlauben scheint, die in ihrer labyrinthischen Struktur eine<br />

oder aber viele Möglichkeiten eröffnen, etwa auch das Wortspiel mit Denkmal<br />

(Monument) und „Denk mal!“ (im Sinne von Denkanstoß), und auf diese<br />

Weise symbolisch den Rahmen für ein Kunstprojekt bilden, das sowohl Tribut<br />

an einen Mikrokosmos als auch Dokument einer lokalen Gemeinschaft<br />

sein will.<br />

Annäherung an den Homo faber<br />

Inszeniert in den Räumlichkeiten des Schlosses Trautenfels ist die Ausstellung<br />

Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns eine Baustelle des<br />

Selbstseins und der Subjektivität. „Vita activa”, einer der grundlegenden


12 — 13<br />

Adam Budak<br />

3<br />

Hannah Arendt: Vita activa<br />

oder Vom tätigen Leben, 8.<br />

Aufl., München: Piper 2010.<br />

4<br />

Ebda, S. 14.<br />

5<br />

Margaret Canovan: Einleitung.<br />

In: Hannah Arendt:<br />

Human Condition. 2. Aufl.,<br />

mit einer Einleitung von<br />

Margaret Canovan. Chicago:<br />

The University of Chicago<br />

Press 1998, S. XVI.<br />

6<br />

Vgl. Hannah Arendt: Vita<br />

activa, S. 23.<br />

7<br />

Ebda., S. 16.<br />

8<br />

Ebda., S. 18.<br />

Begriffe aus Hannah Arendts bahnbrechendem Werk Vita activa oder Vom<br />

tätigen Leben (1960) 3 , steckt das Wirkungsfeld für sechs Kunstprojekte ab,<br />

in denen die Eigenheiten der historischen wie der zeitgenössischen Gegebenheiten<br />

der Region Liezen, die − wie im Slogan („In der Mitte am Rand“)<br />

des ausrichtenden Festivals, der regionale10, betont wird − im geografischen<br />

Zentrum Österreichs liegt doch gleichzeitig an der (steirisch-regionalen)<br />

Peripherie, im Transitdenken, am Knotenpunkt dreier wichtiger nationaler<br />

Fernstraßen.<br />

„Was wir tun, wenn wir tätig sind“ 4 ist Arendts elementarer Vorschlag<br />

zu einer Neubetrachtung der Condition humaine in ihrem Buch, das, wie<br />

Margaret Canovan anmerkt, während der Studentenbewegung der 1960er-<br />

Jahre begeistert als Lehrbuch der partizipatorischen Demokratie 5 aufgenommen<br />

wurde und das nach wie vor eine Quelle der Inspiration und der<br />

Kontroverse darstellt. In der Tat bilden „das Schaffen“ – die Aktivität, die<br />

sie „Herstellen“ nennt – und „das Soziale” den Rahmen für ihre Analyse<br />

einer menschlichen Welt, die von Dauer sein kann. Vita activa tritt als<br />

Arendts Version des aristotelischen bios politicos auf, das ein dem Bereich<br />

des im eigentlichen Sinne Politischen gewidmetes Leben meinte 6 . „Mit<br />

dem Begriff Vita activa“, – schreibt Hannah Arendt – „sollen im folgenden<br />

drei menschliche Grundtätigkeiten zusammengefasst werden: Arbeiten,<br />

Herstellen und Handeln. Sie sind Grundtätigkeiten, weil jede von ihnen<br />

einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der<br />

Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist.“ 7 Die Tätigkeit der Arbeit<br />

entspricht dem biologischen Prozess des menschlichen Körpers und die<br />

Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben<br />

selbst. Die Grundbedingung, die dem Handeln entspricht, ist das Faktum<br />

der Pluralität, nämlich die Tatsache, dass nicht ein Mensch, sondern viele<br />

Menschen auf der Erde leben. Und im Herstellen letztendlich „manifestiert<br />

sich das Widernatürliche eines von der Natur abhängigen Wesens, das sich<br />

der immerwährenden Wiederkehr des Gattungslebens nicht fügen kann und<br />

für seine individuelle Vergänglichkeit keinen Ausgleich findet in der potentiellen<br />

Unvergänglichkeit des Geschlechts. Das Herstellen produziert eine<br />

künstliche Welt von Dingen (…) In dieser Dingwelt ist menschliches Leben<br />

zu Hause, (…) und die Welt bietet Menschen eine Heimat in dem Maße,<br />

indem sie menschliches Leben überdauert, ihm widersteht und als objektivgegenständlich<br />

gegenübertritt. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit<br />

des Herstellens steht, ist Weltlichkeit“. Arendt weiter: „(…) das Herstellen<br />

errichtet eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden<br />

in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so<br />

etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält.“ 8 Im Bereich der Arbeit tritt<br />

der Mensch als Homo faber auf, als der schaffende Mensch, manchmal auch<br />

Weltbildner, Werkzeugmacher oder Schöpfer aller Dinge genannt. Arendt<br />

übernahm diesen Begriff von Henri Bergson, der in seinem Buch Schöpferische<br />

Entwicklung (1921; im frz. Original 1907 erschienen) auf den Homo<br />

9<br />

Henri Bergson: The Creative<br />

Evolution. Übers. v. Arthur<br />

Mitchell. New York, Dover:<br />

1998, S. 139.<br />

10<br />

Hannah Arendt: Vita activa,<br />

S. 451.<br />

11<br />

Danette diMarco: Paradise<br />

Lost, Paradise Regained.<br />

Homo faber and the Makings<br />

of a New Beginning<br />

in „Oryx and Crake“. Zit.<br />

nach: http://findarticles.<br />

com/p/articles/mi_qa3708/<br />

is_200504/ai_n13641438/<br />

(letzter Zugriff: 12.5.2010).<br />

12<br />

Sophie Loidolt: Conditio<br />

humana. So lebt der<br />

Mensch. Unveröffentlichtes<br />

Manuskript, in Auftrag<br />

gegeben vom Universalmuseum<br />

Joanneum. Wien/<br />

Graz: 2010, S. 2.<br />

13<br />

Richard Sennett: The<br />

Craftsman. New Haven: Yale<br />

University Press 2008.<br />

faber verwies, indem er Intelligenz in ihrem ursprünglichen Sinne definierte,<br />

als „die Fähigkeit zur Herstellung von künstlichen Gegenständen, besonders<br />

von Werkzeugen zur Herstellung von Werkzeugen und zur unendlichen<br />

Variation der Herstellung“ 9 . Arendt entwickelt diese Definition, indem sie<br />

behauptet: „Das lateinische Word faber, das vermutlich mit facere im Sinne<br />

des hervorbringenden Machens zusammenhängt, bezeichnet den Künstler<br />

oder Handwerker, der hartes Material bearbeitet – Holz, Stein oder Metall” 10<br />

Nach Arendt hängt die Herrschaft des Homo faber von einer Konstante ab:<br />

Er betrachtet sich selbst als das Maß aller Dinge. Obwohl er zur Vollendung<br />

seines Werkes zweifellos auf natürliche Ressourcen angewiesen ist,<br />

entgeht ihm diese Tatsache, und folglich markiert er die Ressourcen in seinem<br />

von ihm hergestellten Werk als unsichtbar. Arendt behauptet, indem<br />

sie eine populäre marxistische Behauptung wiederholt, dass der Prozess<br />

im Produkt verloren geht, dass mit der Herstellung und der letztendlichen<br />

Vergegenständlichung des Produkts der Homo faber selbst die verschiedenen<br />

für menschliche Kreativität und Geschicklichkeit bei ihrer Veränderung<br />

des innersten Wesens der Natur unabdingbaren Komponenten aus den<br />

Augen verliert. Für Arendt ist die wirkliche Tragödie des Homo faber seine<br />

Selbstbefangenheit in seiner eigenen Aktivität. Er hat die vergegenständlichte<br />

Produktion eingeführt und sich vom Animal laborans das Verlangen<br />

nach Überfluss angeeignet – und somit das Ziel der Ernährung und Grundversorgung<br />

der Gemeinschaft durch natürliche Ressourcen ersetzt durch<br />

jenes der persönlichen (oft finanziellen) Erfüllung durch die Nutzung der<br />

natürlichen Ressourcen zur Schaffung eines Mehrwerts. 11 Der Homo faber<br />

baut sich selbst eine Welt. Er erschafft Werke. Als „artifex“ wie als Schöpfer<br />

ist er Meister seines Werkes/Objekts – bis hin zur Möglichkeit, es wieder<br />

zu zerstören. Die Welten, die er erzeugt, sind, wie Sophie Loidolt anmerkt,<br />

„Welten des Eigensinns. Doch dieser Eigensinn ist immer ein weltlicher<br />

Wille. Er ist ein Streben nach einem Sein, das für seine individuelle Vergänglichkeit<br />

keinen Ausgleich findet in der potenziellen Unvergänglichkeit<br />

des Geschlechts. Weil dieses Sein eine Identität und eine Erzählung in sich<br />

birgt, die in den Werken, die es stets neu herstellt, von Trinkgefäßen bis<br />

hin zu Landschaftsgestaltung, immer manifest ist. Auch wenn das Herstellen<br />

von den natürlichen Ressourcen abhängig ist und auf sie vertraut, ist<br />

das dann selbst nicht mehr Natur, weil es den ewigen Kreislauf von Genese<br />

und Verfall durchbricht und auf einer neuen linearen Zeitebene endet. Die<br />

Tätigkeit des Herstellens hat seine eigene zeitliche Abfolge – einen Anfang<br />

und ein Ende. Doch als eine Tätigkeit ist es natürlich ein Prozess, aber keiner,<br />

der sich einfach erschöpft und erneuert. Ein Werk entsteht daraus, das<br />

in die Welt entlassen werden kann und selbst „‚die Welt’ ist, die bewusst<br />

geformt wurde“. 12 Richard Sennett betont die Rolle des Homo faber in<br />

Arendts conditione humana teatrum und hebt dabei neue Eigenschaften<br />

im Gegensatz zum Animal laborans hervor. 13 Während das Animal laborans<br />

das Herstellen als Selbstzweck betrachtet, ist der Homo faber damit<br />

beschäftigt, „gemeinsam ein Leben zu schaffen.“ Laut Sennett ist „der


14 — 15<br />

Adam Budak<br />

14<br />

Ebda., S. 7.<br />

15<br />

Julia Kristeva: Hannah<br />

Arendt. New York: Columbia<br />

University Press 2001,<br />

S. 223.<br />

16<br />

G. W. F. Hegel: Phenomenology<br />

of Mind. Mineola:<br />

Dover Publications: 2003.<br />

17<br />

H. S. Harris: Hegel’s Ladder.<br />

Bd. 1. Indianapolis (u.a.):<br />

Hackett 1997, S. 385.<br />

18<br />

Alexander Kluge, Oskar<br />

Negt: Geschichte und<br />

Eigensinn. Frankfurt a. M.:<br />

Suhrkamp 1993.<br />

Homo faber der Richter über materielle Arbeit und Praxis, kein Kollege des<br />

Animal laborans sondern sein Vorgesetzter. Deshalb leben wir Menschen<br />

(nach Arendts Ansicht) in zwei Dimensionen. In einer stellen wir Dinge her;<br />

in diesem Zustand handeln wir amoralisch, ganz in Anspruch genommen<br />

von der jeweiligen Aufgabe. Doch bergen wir auch eine andere, höhere<br />

Lebensart in uns, in der wir in der Produktion innehalten und gemeinsam<br />

zu diskutieren und zu bewerten beginnen. Wogegen das Animal laborans<br />

auf die Frage ‚Wie?’ fixiert ist, fragt der Homo faber ‚Warum?’“ 14<br />

Mehrdeutigkeiten: Eigensinn<br />

Aufgabe dieser Ausstellung ist die Untersuchung der möglichen Beziehung<br />

zwischen dem Homo faber und der Welt des Eigensinns. Wie schon eingangs<br />

erwähnt, sind seine Selbstbefangenheit und seine Selbstwahrnehmung<br />

als das Maß aller Dinge möglicherweise ein Beweis für das eigensinnige<br />

Wesen des Homo faber. Der Eigensinn als „logischer Eigensinn”<br />

(Egoismus) wurde von Hannah Arendt als Privatsinn und im Gegensatz<br />

zum Gemeinsinn verwendet. 15 Der Begriff Eigensinn selbst hat eine lange<br />

Rezeptionsgeschichte. Durch seine Verbindung zu einem Begriff moderner<br />

Individualität, der unbedingt auch Selbsttäuschung und ironische Inszenierung<br />

beinhaltet, artikuliert er die hegelianische Haltung einer „Gewissheit<br />

seiner selbst“. In Die Phänomenologie des Geistes (1807) definiert<br />

Hegel Eigensinn als Selbstbewusstsein, das sogar in Knechtschaft bestehen<br />

bleibt. 16 Der Eigensinn bezeichnet ein starrsinniges Festhalten an<br />

einer einzigen flüchtigen Art und Weise, wie die Dinge sind. Hegel betont<br />

sowohl die Ambiguität des Eigensinns (in aktiver Souveränität genauso<br />

wie im Leid und in der Abhängigkeit, als auch die „Freiheit des Eigensinns“,<br />

die das „leere Ich“ charakterisiert. 17 Der Eigensinn, so wie auf ihn<br />

in der Phänomenologie des Geistes ausdrücklich verwiesen wird, wird als<br />

die primitive Entschlossenheit des unreifen menschlichen Tieres wahrgenommen,<br />

„seinen Willen durchzusetzen“. Oskar Negt und Alexander Kluge<br />

untersuchen in Geschichte und Eigensinn (1993) 18 die gesellschaftskritischen<br />

Implikationen von Hegels Konzept. Ihre Verwendung des Begriffes<br />

Eigensinn untersucht ein Wortspiel mit ihm: „eigen-Sinn“, „jemandes eigner<br />

Sinn“ – d. h. „Sturheit“, „Halsstarrigkeit“ oder „das Eigentum betreffender<br />

Sinn“. Kluge folgert, diese Form der Eigenwahrnehmung, die für menschliche<br />

Wesen unerlässlich ist, wenn Sie die Autoren ihres eigenen Lebens sein<br />

wollen, kann nur durch ein Miteinander entstehen. Eigensinn bezeichnet<br />

ein Ringen nach Anerkennung und Selbstgewissheit. Für Andreas W. Daum<br />

bezeichnet der Eigensinn als analytisches Konzept „eine ganz bestimmte<br />

Logik, die von Einzelpersonen und Gruppen in deren sozialer Interaktion<br />

verfolgt wird. Es ist nicht bloß eine Sturheit oder Weigerung, sich an die<br />

Regeln zu halten; der Begriff bezeichnet nicht unbedingt den Widerstand<br />

des Volkes gegen die Autorität. Er bezeichnet vielmehr die Sehnsucht,<br />

unabhängig von den Forderungen oder Ansprüchen der anderen zu handeln<br />

19<br />

Andreas W. Daum: Kennedy<br />

in Berlin. Paderborn (u.a.):<br />

Schöningh 2003, S. 129.<br />

20<br />

Alf Lüdtke (Hrsg.): The<br />

History of Everyday Life.<br />

Reconstructing Historical<br />

Experiences and Ways of<br />

Life. Princeton: Princeton<br />

University Press 1995.<br />

21<br />

Kathleen Canning: Feminist<br />

History after the Linguistic<br />

Turn: Historicizing<br />

Discourse and Experience.<br />

Signs 19/1994.<br />

22<br />

Charles Bright: The Powers<br />

that Punish: Prison and<br />

Politics in the Era of the<br />

„Big House“. Ann Arbor:<br />

University of Michigan<br />

Press 1996.<br />

23<br />

Ebda, S. 231.<br />

und Handlungsmacht einzufordern, wenn auch nur vorübergehend oder in<br />

einem begrenzten Rahmen.“ 19 Der Arbeitshisto-riker Alf Lüdtke versteht<br />

unter Eigensinn die wieder in Besitz genommenen Räume der Selbsttätigkeit.<br />

Hier wird – gewissermaßen – der Ungehorsam des Eigensinns oder<br />

von jemandes eignem Sinn semantisch mit „sich aneignen” verknüpft. 20<br />

Kathleen Cannings Untersuchung des Eigensinns greift auf Lüdkes Arbeit<br />

zurück, doch ebenso auf Joan W. Scott, und er definiert Erfahrung als „den<br />

Ereignissen in dem Augenblick in dem sie passieren Sinn geben (…) sowie<br />

als ein ‚eigensinniges Distanzieren‘, das eine ‚Neurahmung‘, eine ‚Neuorganisation‘<br />

ermöglicht, oder eine ‚kreative Neuaneignung der Bedingungen<br />

des täglichen Lebens‘“. 21 Die Betonung auf „Zustimmung, Neurahmung und<br />

Neuaneignung“ in dieser Definition „impliziert, dass Subjekte über eine Art<br />

Handlungsmacht verfügen“, und zwar dahingehend, wie sie die Welt auf<br />

Basis der ihnen in ihrem soziohistorischen Kontext zur Verfügung stehenden<br />

Diskurse interpretieren. Lüdkes Eigensinn als Selbsttätigkeit impliziert<br />

eine Reihe von Mehrdeutigkeiten und eine Ambivalenz der Übereinstimmung,<br />

die in Lüdkes Augen grundlegend war für das Flickwerk der Aneignung<br />

und Reaktion, Annahme und Distanz, das die „Räume der Arbeiter“<br />

als die ihren definierte: bei sich selbst sein oder bei seinen Freunden, doch<br />

in jedem Fall „‚Distanz gewinnend‘ von den Anweisungen oder Normen<br />

von oben und von ‚außen‘“. Eigensinn ist die Praxis der Zusammenarbeit,<br />

während man dagegenhält, klarzukommen ohne überzulaufen, das Spiel<br />

mitzuspielen ohne daran zu glauben – auf der Suche nach einem Raum,<br />

in dem man wirklich sein kann, aber weder im Widerstand noch in Komplizenschaft.<br />

22 Eigensinn erweist sich als Element, das dem Arbeiter bleibt.<br />

Man sagt, er sei „die Freiheit, die in der Knechtschaft bleibt“, aber auch<br />

ein Geschick, das nur über Macht über irgendetwas verfügt“. Heute ist er<br />

die Freiheit, die sich an einer Eigentümlichkeit festmacht. Im vorgesetzlichen<br />

Kontext der Lehensherrschaft und Leibeigenschaft war der Eigensinn<br />

bereits eine wichtige Fähigkeit; doch nun in der kultivierten Welt des Stoizismus<br />

ist er das rechtsgültig anerkannte freie Bewusstsein. 23<br />

Die Suche nach einem modernen Hephaistos<br />

Das Leben und das Herstellen, sowie die Leidenschaft, die dahintersteht,<br />

stehen im Mittelpunkt der Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des<br />

Eigensinns. Wie durch die Linse eines Vergrößerungsglases wird hier die<br />

Condition humaine porträtiert und sie findet ihren Ausdruck in der Performance<br />

eines emanzipierten und autonomen Ichs. Der Eigensinn erscheint<br />

als geistiger und körperlicher Mechanismus, der die Identität eines gesellschaftlichen<br />

und kulturellen Mikrokosmos formt und bedingt: die Konstruktion<br />

einer „eigensinnigen“ Weltanschauung als Raum zwischen den Augen,<br />

eine Landschaft der Selbstbedingtheit … Wir befinden uns im vagen Territorium<br />

eines Zwischenbereichs, in dem das Kleine und Intime, das Persönliche<br />

und Exklusive, das unvermeidliche Globale und Kosmopolitische der<br />

heutigen Gesellschaft herausfordern. Der Eigensinn ist ein problematisches


16 — 17<br />

Adam Budak<br />

24<br />

Richard Sennett: The<br />

Craftsman, S. 213.<br />

Terrain, in dem Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeitsgefühl mit der<br />

Sturheit und der egozentrischen Welt der Eigentümlichkeit ringen, wo das<br />

Verlangen nach Gemeinschaft auf die Manifestation ganz individueller<br />

Glaubensgrundsätze und Wahrheiten trifft. Wie lässt sich die Matrix eines<br />

solchen Glaubens darstellen? Wie lässt sich eine solche Haltung umreißen?<br />

Was sind die historischen Perspektiven und die zeitgenössischen Bedingungen<br />

einer solchen Örtlichkeit? Wie wird lokales Wissen produziert?<br />

Diese Ausstellung ist aber auch eine Fallstudie von lokaler Widerständigkeit,<br />

von Stolz, Emanzipation und Selbstermächtigung. Wir sind die schaffenden<br />

Menschen, Schmiede der Wirklichkeiten, Produzenten des Alltags,<br />

Kinder der Tradition, Schöpfer noch kommender Zukunften und Bildhauer<br />

von Orten. Als Studie performativer Zugehörigkeit geht diese Ausstellung<br />

der Frage nach, ob der Homo faber in der Welt des Eigensinns überhaupt<br />

möglich ist; ihre Anatomie einer (lokalen) Vita activa ist gleichzeitig eine<br />

Anatomie des Eigensinns, der Schauplätze seiner Aktivität, seiner auf<br />

lokale Sehnsüchte und Ambitionen zugeschnittenen Utopien im kleinen<br />

Maßstab. Wie lassen sich Dinge, Köpfe und Denkweisen formen? Die Ausstellung<br />

stellt sich der Herausforderung, in die Organisation des Privatlebens<br />

des „Lokalmatadors“ und seinem Sinn für die Gemeinschaft, deren<br />

teil er ist, hereinzuzoomen. Wie kann man an der Welt des Eigensinns teilnehmen?<br />

Was lässt sich über traurige Versuche des gezwungenen Engagements<br />

für die sogenannten – fremden – allgemeinen Belange hinaus tun?<br />

Eigensinn ist ein Flickwerk aus heroischen Taten und konservativen Ansichten,<br />

ein Land der Enge, des Stolzes und der Selbstbehauptung, wo lokaler<br />

Gemeinschaftsgeist, das Streben nach Autonomie und Emanzipation und<br />

die Vorstellungskraft des schöpferischen Geistes, der nach Senett 24 von<br />

Widerständigkeit, Ambiguität und Intuition geprägt ist, mit Sturheit und<br />

einem Willen zur Distanz und zum Ausdruck seiner eigenen Andersheit im<br />

Wettstreit liegen.<br />

Im Rahmen der künstlerischen Freiheit des Eigensinn-Syndroms reist der<br />

Prototyp des Homo faber, Odysseus mit verbundenen Augen durch dieses<br />

Land des Sturheit, in der Hoffnung, die ihm Pandoras Büchse gegeben<br />

hat, der Hoffnung, die Welt neu zu erbauen und Kultur und Zivilisation zu<br />

erneuern, im Mitgefühl mit der tragischen Figur Hephaistos, dem lahmen<br />

Gott der Handwerker, „berühmt für Erfindungen“, Erbauer aller Gebäude auf<br />

dem Olymp, Friedensbringer und Zivilisationsschaffer.<br />

Diese Ausstellung ist eine von sechs partizipatorischen und gemeinschaftsbasierten<br />

Kunstprojekten, eine fast wie in einem Kriminalstück<br />

von Pirandello orchestrierte Fallstudie, Erzählung der Region und Bestimmung<br />

ihrer einheimischen Protagonisten. Sie ist Probe, Untersuchung und<br />

Mise-en-scène von Geschichte, Tradition und Kontemporanität, ein Tableau<br />

vivant einer widerständigen Identität. Die an Sechs Personen suchen einen<br />

Maria Papadimitriou<br />

Untitled (T.A.M.A.), 2000<br />

Dreaming the New<br />

House, 2004<br />

Autor (1921) erinnernden eingeladenen Künstler machen sich auf die Suche<br />

nach einem modernen Hephaistos, indem sie der Eigentümlichkeit einer<br />

Region nachspüren, die schon immer als besonders eigensinnig galt. Die<br />

Projekte sind in der Tat Beispiele für kritischen Regionalismus – und sind<br />

ebenso dynamische Belege für einheimisches Leben, das sich seiner selbst<br />

bewusst ist. Die Psychogeografie dieser Ausstellung navigiert zwischen den<br />

verschiedensten Aspekten des Lebens der Region: Landschaftsarchitektur<br />

und die Organisation des Privatraumes (Franz Kapfer), das sprühende<br />

Leben ganz gewöhnlicher Bewohner dieser Region als soziale Skulptur<br />

(Pawel Althamer und seine Studierenden), die Bildung einer eigensinnigen<br />

Mentalität anhand der Fallstudie zu baulicher Neugestaltung in der<br />

Region (Kateřina Šedá), das Phänomen des Genius loci mit einem Verweis<br />

auf Natur und Brauchtum der Region (Maria Papadimitriou), Schlossarchitektur<br />

als Phantasmagorie (L/B) und die Produktion von realem und symbolischem<br />

Wert, wie sie sich in der Tradition eines einheimischen Gewerbes<br />

findet (Christian Philipp Müller).<br />

Maria Papadimitriou<br />

„Alpine Altar“ oder: Rituale des Alltags<br />

Maria Papadimitrious Feldforschungen folgen einer Methode, die von der<br />

Intensität von bestehenden oder neu begründeten menschlichen Beziehungen<br />

und Verbindungen befeuert wird. In ihrer Erforschung der zerbrechlichen<br />

Bereiche einer „emotionalen Topografie” legt die griechische<br />

Künstlerin ihr Augenmerk auf die Randexistenzen und Unterprivilegierten<br />

innerhalb einer gegebenen Gesellschaftsstruktur. Die Politik des sozialen<br />

Raumes, die suburbane Landschaft und der Bereich des häuslichen Lebens<br />

stehen im Mittelpunkt ihrer interdisziplinären und gemeinschaftsbasierten<br />

Projekte und bilden in erster Linie den thematischen Rahmen für ihr<br />

kollektives Langzeitprojekt T.A.M.A. – Temporary Autonomous Museum for<br />

All – eine flexible Quasi-Struktur, die in Menidi, einem heruntergekommenen<br />

Viertel im Westen von Athen, spontan ins Leben gerufen wurde und<br />

von Wanderpopulationen wie den Roma und den Vlach-Rumänen aus Veria<br />

praktisch als Zweitwohnsitz genutzt wird. Als mobile postindustrielle Stadt<br />

ist T.A.M.A., (das im Griechischen so viel wie feierliches Versprechen, eine<br />

Geste der Gabe, der Dankbarkeit oder des Versprechens bedeutet), ein weiterer<br />

künstlerischer Versuch der Aufstellung eines Wertesystems bei der<br />

Auseinandersetzung mit Themen von bestimmter gesellschaftlicher und<br />

politischer Dringlichkeit wie Einwanderung, Armut und Menschenrechte im<br />

Allgemeinen. Beinahe unter Anwendung von Camouflage-Strategien tritt<br />

Maria Papadimitriou in Gemeinschaften und Gesellschaftschichten ein,<br />

nimmt allmählich deren Alltagsgewohnheiten an, dringt ganz tief in deren<br />

Lebensbedingungen ein und diagnostiziert auf der Basis ihrer Erfahrung<br />

den Status quo dessen, was tunlichst ausgelassen wird oder was allen<br />

Strategien oder Ökonomien der offiziellen gesellschaftlichen Zugehörigkeit


18 — 19<br />

Adam Budak<br />

Maria Papadimitriou<br />

Alpine Altar, 2010<br />

(Fotomontage)<br />

25<br />

Maria Papadimitriou:<br />

T.A.M.A., 25. Biennale de<br />

Sao Paulo, Futura 2002,<br />

S. 13.<br />

und Legitimität entgeht. Ihre Kunst ist die Kunst, sich in den Anderen zu<br />

verwandeln, seine Identität anzunehmen, in eine Kommunion einzutreten.<br />

T.A.M.A. ist der Versuch der Schaffung eines „besseren“, „tragfähigen“ sozialen<br />

Raums als Möglichkeit zu gemeinsamem Handeln und einem offenen<br />

Beitrag aller. In ihren Worten „brachten mich die nomadische Lebensweise<br />

und die Eigenheiten dieser Gemeinde auf die Idee, zwischen Bewohnern,<br />

der Künstlerin, den Kunst- und Kulturschaffenden und der breiten Öffentlichkeit<br />

ein System der Kommunikation und des Austauschs zu schaffen.<br />

Innerhalb sehr kurzer Zeit realisierte ich, dass alle meine Freunde und Partner<br />

an dieser Geschichte mitwirken wollten, die ich ein temporäres autonomes<br />

Museum für alle nenne.“ 25 Das lebende Museum der Künstlerin ist<br />

eine Maschine der gesellschaftlichen Möglichkeiten, die innerhalb und<br />

außerhalb des institutionellen Rahmens individuelle wie kollektive Gesten<br />

erzeugt und vollständig auf die Teilnahme der Menschen angewiesen ist.<br />

Als Konstruktion einer gemeinsamen Stimme in der Öffentlichkeit ist ihre<br />

Arbeit eine Hommage an das Lokale, das Minoritäre, das Andere.<br />

Das Phänomen des Genius loci (des Geistes eines Ortes) war schon der<br />

Protagonist zahlreicher bisheriger Installationen von Maria Papadimitriou,<br />

die allesamt von der Energie eines ganz besonderen Ortes befeuert waren,<br />

seiner realen wie symbolischen Rolle bei der Formung des Lebens der<br />

Menschen dort, ihrer Biografien, ihrer Wahrheiten und ihrer Glaubens- und<br />

Wertesysteme. Ihre Werke packten in der Tat die Ontologie eines Genius<br />

loci an, indem das Dazwischen, das Ephemere, das Intime und das Spirituelle<br />

in einer harmonischen Mischung aus Oral History und materieller<br />

Kultur erforscht wurde. Eigens geschaffen für die Ausstellung Der schaffende<br />

Mensch. Welten des Eigensinns feiert Maria Papadimitrious Projekt<br />

Alpine Altar die lokale Natur und Bevölkerung. Geschichte, Tradition, Bräuche<br />

und andere Formen des kulturellen Ausdrucks (Volksmärchen, Sagen<br />

und Lieder) tragen zu einer komplexen Ausarbeitung der Landschaft, des<br />

Lebens in der Region und regionalen Glaubens. In einem faszinierenden<br />

Vergleich zwischen dem nahe Trautenfels aufragenden, die Umgebung<br />

dominierenden und oft auch als Mons Styriae altissimus beschriebenen<br />

Grimming (etymologisch „Berg des Donners“) und dem Olymp, dem „Heim<br />

der Götter“ – insbesondere des Donnergotts Zeus) verweist die griechische<br />

Künstlerin auf ihr Heimatland. Papadimitrious Projekt ist eine Tour de<br />

force der Schauplätze, ihrer Geschichte, ihrer symbolischen Bedeutungen<br />

und aktuellen Wahrnehmungen. Die Künstlerin konstruiert (ihr eigenes)<br />

Museum der kollektiven Sehnsüchte: Alpine Altar, ein ganz besonderer<br />

Akt der interkulturellen Übersetzung, Zusammenführung des klassischen<br />

griechischen Altars mit dem lokalen Kontext des Ennstals. Gebaut aus<br />

(Grimming-)Fels ist Papadimitrious Altar ein Schrein der Gelübde, die von<br />

den Menschen gesammelt werden und sich auf die Tradition des Schaf-<br />

Festes beziehen, das jedes Jahr in Öblarn gefeiert wird. Der Altar fungiert<br />

als Ausdruck des Glaubens der Menschen, als Projektion ihrer Träume<br />

Maria Papadimitriou<br />

Alpine Altar, 2010<br />

(Recherchematerial)<br />

und Fantasien, als Lautsprecher ihrer intimsten gewagten Gedanken und<br />

Zukunftshoffnungen. Er ist Erlösungsort und Hort der Hoffnung, Spiegel<br />

menschlicher Sehnsüchte, Treffpunkt des Unausgesprochenen und Verborgenen<br />

– ein zeitgenössischer Beichtstuhl der Gemeinde und ein utopischer<br />

Ort der Katharsis und Kommunion. Der eklektische und heroische Altar der<br />

Künstlerin ist äußerster – kollektiver – Ausdruck des Genius loci. In ihrem<br />

Brückenschlag zwischen heidnischen und christlichen, fetischistischen und<br />

religiösen, natürlichen und übernatürlichen Kräften fordert Maria Papadimitriou<br />

die eigensinnige Mentalität der Bevölkerung des Ennstals heraus.<br />

Ihr Altar ist ein Denkmal für viele Mythologien und feiert von Göttern sowie<br />

von Menschen geschaffene Reliquien und Talismane. Von Menschenhand<br />

geschaffene und auf der geheiligten Fläche eines alten Altars dargebotene<br />

Miniatur-Spielzeugschafe leisten ihren Beitrag zu Papadimitrious<br />

selbstgefertigtem Ritual: Sie sind Gelübde, Opfersymbole und aufrichtiger<br />

Ausdruck eines tiefempfundenen Glaubens, eines Bedürfnisses, das<br />

Leben symbolisch als Geschenk Gottes/der Götter und der Natur zu feiern<br />

sowie vor unbekannten Kräften zu beschützen. Das literarische Werk<br />

von Paula Grogger (1892-1984), einer hochgefeierten Schriftstellerin aus<br />

dieser Region, dient Maria Papadimitriou als weiterer Verweis auf Struktur<br />

und Geschichte der Region. Paula Groggers umfassendes Werk, und hier vor<br />

allem der Roman Das Grimmingtor (1926), ist in seiner Zusammenstellung<br />

von - in einer einzigartigen Mischung aus Hochdeutsch, lokalen Dialekten<br />

und dem seltsamen Idiom einer Chronik des 17. Jahrhunderts erzählten -<br />

Mythen und Legenden ein Tableau vivant ihrer Heimat. Als charismatische<br />

Schriftstellerin wurde Paula Grogger als eine der „populärsten Erzählerinnen<br />

von sentimentalen Volkserzählungen betrachtet, die viel zu deutschnationalem<br />

Gedankengut beitrug.“ Während ihr Werk ohne Zweifel eine<br />

wenn auch nicht unumstrittene Hymne an die Werte der Region ist, zielt<br />

Maria Papadimitriou darauf ab, dem Translokalen (oder zumindest dessen<br />

Möglichkeit) Achtung zu bezeugen, sich von dessen Eigensinn zu befreien<br />

und Raum für ein breiteres vielstimmiges Verständnis von Kultur und Tradition<br />

zu schaffen.<br />

L/B<br />

„Beautiful Steps“ oder: Im Turm des befestigten Ichs<br />

Irgendwo zwischen Installationskunst, Plastik und erweiterter Malerei, und<br />

an der Schwelle zwischen Architektur, bildender Kunst und Design angesiedelt,<br />

lässt das höchst verführerische und spielerische Werk des Schweizer<br />

Kollektivs L/B (Sabina Lang, Daniel Baumann) die Grenzen der Wahrnehmung<br />

verschwimmen und entzieht sich jeder eindeutigen Zuordnung.<br />

Es handelt sich um ein wahrhaft traumartiges Schaffen voller Nostalgie,<br />

es verweist ganz offensichtlich auf das Unterbewusste des Betrachters,<br />

während es gleichzeitig tief ins Alltägliche, Profane und Banale eintaucht.<br />

Die architektonischen und quasi designten Interventionen von L/B sind


20 — 21<br />

Adam Budak<br />

L/B<br />

Beautiful Corner #1,<br />

1999<br />

migros museum für<br />

gegenwartskunst, Zürich<br />

Beautiful Lounge #1,<br />

2003<br />

Joburg Bar in Long<br />

Street, Cape Town<br />

26<br />

Christoph Doswald: Simply<br />

Beautiful, in diesem Band.<br />

bisweilen sanftere und dann wieder gewaltsamere Versuche des Zusammenlebens,<br />

mal in Freundschaft, mal in Feindschaft, parasitär und willkommen<br />

geheißen, doch fast immer angenehm, sympathisch und idyllisch:<br />

schön, „einfach schön“. 26 Quasi nomadisch lassen sie an Mobilität denken,<br />

sind eher Tagträume mit einem futuristischen Flair, Anti-Utopien vielleicht,<br />

doch performative Schauplätze potenzieller Erzählungen. L/B sind Meister<br />

des visuellen Raumes, meisterhafte Errichter von paradiesischen Welten.<br />

Ihre verzauberten (planen) Landschaften und die ephemeren Architekturen<br />

ihrer aufgeblasenen Röhren sind Einladungen zu einer halluzinogenen<br />

Reise durch die verwunschenen Länder der Fantasie mit einer Explosion aus<br />

leuchtenden Farben, psychedelischen Mustern und komplexen Geometrien.<br />

Ihre Lounges, Bars und Diskussionsplattformen sind verblüffende Beispiele<br />

für sinnliche haptische Räume von überraschender Vieldimensionalität.<br />

Industrial Design, Mode, Lifestyle, Tourismus sowie die ästhetischen<br />

Ansprüche einer nomadischen Freizeitgesellschaft leisten ihren Beitrag<br />

zur ganz besonderen Poetik des Raumes von L/B, einer Union von Neo-Pop<br />

Art, Op Art und möglicherweise Post-Minimal und Post-Land Art. Darüber<br />

hinaus wird die Funktion des architektonischen Elements hinterfragt und<br />

letztendlich annulliert; als Zeugen der Herstellung sind wir in dieser Tour<br />

de Force der Perfektion und erhabenen Schönheit mit der Simulation von<br />

handwerklicher Tätigkeit konfrontiert. Obwohl sie die plane Oberfläche in<br />

starkem Maße fetischisieren, erweisen sich die Tableaus von L/B als ein<br />

Ringen zwischen Ebene und räumlicher Tiefe, ein Wettkampf zwischen Perspektive<br />

und zweiter Ebene. Doch sind sie eher der Schauplatz der ersten<br />

Ebene, eines Bildes im klaren Rahmen einer subvertierten Wirklichkeit,<br />

einer lebenden Installation, einer bewohnbaren Umgebung mit partizipatorischem<br />

Charakter.<br />

Die im Rahmen der Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des<br />

Eigensinns präsentierten Projekte von L/B stellen weitere Schritte im<br />

ihrem Prozess der Meisterung (kritischer) Schönheit dar: Beautiful Steps<br />

#3 und Beautiful Steps #5. Die (räumlichen) Prinzipien des Eigensinns als<br />

natürliche Eigenschaft einer konservativen Weltsicht sind wie es scheint<br />

ein gerader, schmaler und strikt horizontaler Pfad, ästhetische Strenge der<br />

Architektur und eine schmerzhafte Logik der Dinge. Installiert im prächtigen<br />

und glanzvollen Marmorsaal des Schlosses Trautenfels provoziert<br />

die riesige, überlebensgroße Skulptur Beautiful Steps mit ihrer vielleicht<br />

zu offensichtlichen metaphorischen Aufladung. Plötzlich und offenbar<br />

ohne unser Zutun finden wir uns im Reich der Allegorie wieder. Über dem<br />

Boden schwebend schlängelt sich eine geschwungene weiße Stiege durch<br />

dieses großzügige und monumentale Interieur, umgarnt es wie ein Band,<br />

das man um ein kostbares Geschenk gewickelt hat, und erreicht den Himmel<br />

– die von Carpoforo Tencalla im 17. Jahrhundert mit beeindruckenden<br />

Fresken - meisterlichen Variationen auf mythologische Heldenmotive<br />

- geschmückte Decke des Marmorsaals. Solcherart in die Höhe gehoben<br />

L/B<br />

Beautiful Steps #3,<br />

2009<br />

Beautiful Steps #5,<br />

2010 (Rendering)<br />

27<br />

Julia Kristeva: Hannah<br />

Arendt, S. 156.<br />

ist ihre luftige Gegenwart erhaben und magisch. Eine moderne asketische<br />

Struktur korrespondiert mit dem Barock und reicher Aristokratie. Doch<br />

diese auf den ersten Blick höchst unpassende Mischung erweist sich sehr<br />

bald als durchaus kompatibel und sinnvoll. Die Beautiful Steps #3 necken<br />

mit ihrer formalen Reinheit und der Illusion ihrer Benützbarkeit, fordern<br />

die Wahrnehmungsfähigkeiten des Betrachters heraus und versetzen ihn<br />

in eine recht surreale räumliche Umgebung. L/B steht für Phantasmagorien<br />

des Alltäglichen, Schwebezustände der Wahrnehmung und Überarbeitungen<br />

jeder konventionellen Semantik des Raumes. Wir befinden uns<br />

an der Schwelle zum Absurden; wir erleben die Sensation, das, was sich<br />

Logik und Menschenverstand entzogen hat; hier befinden wir uns an der<br />

Schwelle zwischen Realität und Fiktion, an der Pforte zur Fantasie. Mit<br />

Beautiful Steps #5 setzen L/B ihre Untersuchung von Grenzbereichen fort.<br />

In diesem Fall fungiert auch die Architektur des Schlosses als ein Hauptdarsteller<br />

in der unheimlichen Vision der Künstler: Zwei schmale Stiegen<br />

führen auf rätselhafte Art und Weise auf die diagonalen Schlossfenster<br />

zu, überqueren die Fenstersimse und schleichen sich ins Freie davon, setzen<br />

ihre Bahn fort und umschließen letztendlich den Turm des Schlosses<br />

mit einer bescheidenen ringförmigen Plattform. Eine solche ortsspezifische<br />

Intervention gehört dem Genre der psychologischen Architektur an.<br />

Teils wie ein Fluchtplan aussehend, teils wie Raumakrobatik à la Alice im<br />

Wunderland fungiert sie als Medium einer Vorstellungskraft ohne Grenzen.<br />

Ihre elegante neutrale Struktur belebt die eher eintönige Fassade,<br />

indem sie eine mögliche zweite Haut enthüllt, in einem für den Historiker<br />

interessanten Sinne Spannung erzeugt und einen Verfremdungseffekt, der<br />

eine kritische Haltung evoziert. Beautiful Steps #5 lässt sich vielleicht als<br />

gebrochene endlosschleifenartige Gedankenlinie wahrnehmen, oder als<br />

unmögliche Brücke ohne Zugang als Metapher für Eigensinn in einem als<br />

Symbol für das bewehrte Ich zu sehenden Schloss. L/B durchdringen das<br />

Verhältnis zwischen dem Drinnen und dem Draußen, dem Öffentlichen und<br />

dem Privaten, dem Realen und dem Imaginären. Was entkommt dem Lauf<br />

der Geschichte? Wie können wir die Zeit bewahren, die im Flug vergeht?<br />

Was ist persönliche und kollektive Erinnerung? Das Projekt von L/B verweist<br />

auf die Bedeutung der Oberfläche – der Oberfläche, die zählt, der<br />

Oberfläche der Bedeutung, einer Plattform des Sinns. Wir sind Erzeuger<br />

der Ansichten der Welt, der Vielzahl der Ansichten. Die Brücke als Umarmung<br />

agiert als ein Ausdruck von Arendts Glauben an „gemeinsame<br />

Interessen“ oder, wie Cicero gesagt hätte „gemeinsamen ‚Konsens‘“: esse<br />

kann zu inter-esse, oder Interesse, werden. Inter-esse ist ein „Zwischen-<br />

Menschen” und Grundlage und Ziel zugleich, sowie nicht nur Antithese<br />

aller totalitären Systeme, sondern aller Formen von solipsistischer Isolation<br />

und transzendentalem Utilitarismus“. 27 Doch, so wie das auch für<br />

Wolff-Plotteggs algorithmische Architektur gilt, sind die Stiegen von L/B<br />

nur Instrumente der Sinnlichkeit; sie sind nur ein Verlangen, ein Phantom<br />

eines notwendigen Architekturgegenstandes – eines fehlenden…


22 — 23<br />

Adam Budak<br />

Pawel Althamer<br />

Bródno, 2000, 2000<br />

Common Task, 2009<br />

28<br />

Sarah Cosulich Canarutto:<br />

Phenomenology of the<br />

Invisible. In: New! Experience<br />

Clear and Perfect<br />

Vision. Discover a New<br />

Reality. Non-addictive/Nondeforming.<br />

Pawel Althamer,<br />

19/10/02 – 03/12/02,<br />

Comotato Trieste Contemporanea<br />

2002, S. 13.<br />

29<br />

Pawel Althamer im Gespräch<br />

mit Maurizio Cattelan.<br />

In: Sarah Cosulich<br />

Canarutto: Phenomenology<br />

of the Invisible, S. 51.<br />

Pawel Althamer und seine Klasse für Objektbildhauerei der Akademie<br />

der Bildenden Künste, Wien<br />

„Things You Can Walk Into“ oder: Zwischen Herstellen und Handeln<br />

Die Bedingungen des Andersseins und Zustände der Fremdheit bilden den<br />

Kern von Pawel Althamers Realitätswahrnehmung und seiner Auffassung<br />

von der Kunst als therapeutische Aktivität. „Jeden Tag, wohin auch immer<br />

ich gehe, fühle ich mich wie ein Außerirdischer, der gerade auf der Erde<br />

gelandet ist. Sogar die Dinge, die ich wieder und wieder sehe, ziehen meine<br />

Aufmerksamkeit auf sich, weil sie mir jedes Mal neu erscheinen. Und wenn<br />

ich mein eigenes Schlafzimmer betrete, habe ich den Eindruck, dass ich es<br />

jedes Mal durch eine andere Türe betrete.“ 28 Seine Kunst ist insgesamt,<br />

ganz egal in welchem Medium, eine Art Kostümierung und nimmt die Form<br />

einer Übung des erweiterten Selbstporträts an und den reinen Ausdruck<br />

der Identität eines Außenseiters, der durch seine Verkörperung des archetypischen<br />

Schamanen einen privilegierten Zugang zur Realität innehat. Bei<br />

seiner Ausübung zeitgenössischer gesellschaftlicher und privater Alltagsrituale<br />

fetischisiert Althamer sich selbst und seine Rolle als Kommunikator<br />

mit dem „Außerhalb“ des normalen (Geistes-)Zustands und der herkömmlichen<br />

(soziopolitischen) Ordnung. Sein Werk – der Bau einer sozialen Skulptur<br />

– strahlt die gleichsam außerirdische Magie ritualistischer Überschreitung<br />

aus. „Ich bin ein Mitgefangener – das ist meine Rolle in der<br />

Gesellschaft“ 29 , bekennt der Künstler anlässlich einer seiner Interventionen.<br />

Außerhalb des Mythos, im Zwischenraum eines Rituals, werden die<br />

Wirklichkeit und die Welt im Allgemeinen als Spielfilm wahrgenommen und<br />

es ist die Rolle des Künstlers, die Bühne einzurichten und sanft einzugreifen,<br />

also Regieanweisungen zu geben und die Ereignisse und deren (lokale)<br />

Protagonisten aufzuzeichnen – doch ohne auch nur eine einzige Filmrolle<br />

zu verwenden. Dies ist die konzeptuelle Konstruktion der Mehrzahl der Projekte<br />

von Pawel Althamer, gemeinschaftsbasierten Projekten im öffentlichen<br />

Raum mit Protagonisten wie Obdachlosen, Häftlingen, Kindern, Passanten<br />

oder aber den Nachbarn des Künstlers wie im Falle der<br />

monumentalen Performance/Aktion/sozialen Skulptur Bródno, 2000, die<br />

zu einer eindrucksvollen Manifestation kommunalen Geistes wurde.<br />

Ursprünglich geplant zur Feier des neuen Jahrtausends war Bródno, 2000<br />

eine spektakuläre Lichtinstallation, die auf der Fassade eines Häuserblocks<br />

im Warschauer Bezirk Bródno, also dem Wohnviertel des Künstlers, „performt“<br />

wurde. Als Ergebnis der gelungenen, äußerst präzisen Zusammenarbeit<br />

der vielen, vielen Bewohner des Blocks ergaben die beleuchteten Fenster<br />

über die Länge des Blocks die Zahl 2000 in riesigen Ziffern. Als<br />

perfektes Beispiel für die Kreuzung des Unmöglichen mit vermeintlich utopischer<br />

Kollektivität war Althamers Projekt ein Fest des Engagements und<br />

ein Spektakel der Zugehörigkeit, das mithalf, viele Bedeutungen und<br />

Bedürfnisse weit über den reinen Kunstkontext hinaus zum Ausdruck zu<br />

bringen, indem soziale Anonymität aufgehoben und für gewöhnlich<br />

Pawel Althamer und seine<br />

Klasse für Objektbildhauerei<br />

der Akademie der<br />

Bildenden Künste, Wien<br />

Things You Can Walk Into,<br />

2010 (Detail)<br />

30<br />

Sarah Cosulich Canarutto:<br />

Phenomenology of the<br />

Invisible, S. 13-23.<br />

31<br />

Susanne Cotter: Common<br />

Task, Broschüre, Modern<br />

Art Oxford, England, December<br />

2009.<br />

einander entfremdete Gesellschaftsgruppen aktiviert wurden. Der Künstler<br />

verfolgt durch Assimilation und Eintauchen in die vorgegebenen Strukturen<br />

die Taktik der sozialen Camouflage als künstlerische Strategie im Umgang<br />

mit der Wirklichkeit und deren vorwiegend ökonomischer, politischer und<br />

sozialer Konstruktion. „Phänomenologie des Unsichtbaren“ – mit diesen<br />

Worten beschreibt Sarah Cosulich Canarutto Althamers quasi naiven und<br />

bisweilen recht ephemeren Gesten, die jedoch auf überraschend starken<br />

Widerhall stoßen und beinah kathartische Wirkungen zeitigen. 30 Die Grenzen<br />

des Körpers überschreitend und sich frei in Raum und Zeit bewegend,<br />

vermischt der Künstler auf beinah alchemistische Art und Weise Spirituelles<br />

mit Irrationalem, Reales mit Fiktivem und Materielles mit Immateriellem.<br />

Wir betreten eine metaphysische Erfahrungszone; wir sind im Begriff,<br />

an einem geistigen Flug in Parallelwelten von seltsamer Vertrautheit teilzunehmen.<br />

Immer befeuert durch Spontanität und einen Sinn für das<br />

Unvorhersehbare, verweist Althamers künstlerische Praxis auf Oskar Hansens<br />

„offene Form“, die dem Prozess den Vorzug gibt gegenüber dem singulären<br />

Objekt, einen Prozess, in dem der Betrachter durch aktive Teilnahme<br />

zum Ko-Autor des Kunstwerks wird. Wie Susanne Cotter anlässlich<br />

von Althamers jüngstem Projekt Common Task (2009) bemerkt hat, „wird<br />

das Leben um uns herum als Ort des erhöhten Bewusstseins und der Entdeckungen<br />

offenbart. In jeder Begegnung liegt Potenzial und die Möglichkeiten<br />

sind optimistisch gesprochen unendlich.“ 31 Pawel Althamers Beitrag<br />

zur Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns ist eine<br />

weitere Übung in der Kartierung eines solchen Felds der unendlichen Möglichkeiten.<br />

Realisiert in Zusammenarbeit mit Studierenden der Akademie<br />

der bildenden Künste Wien (den Studierenden des erst unlängst an die<br />

Akademie berufenen Professor Althamer) ist sein Projekt mit „offenem Konzept“<br />

und dem Titel Things You Can Walk Into (Dinge, in die man hineinlaufen<br />

kann) eine wahrlich auf echter Erfahrung beruhende partizipatorische<br />

Aktion/Performance/soziale Skulptur, ausgeführt in Form einer ziemlich<br />

altmodischen Aktivität en plein air (d.h. einer Tätigkeit unter freien Himmel),<br />

womit im Frankreich des 19. Jahrhunderts der Akt des Malens im<br />

Freien beschrieben wurde und heutzutage eine Form des kollaborativen<br />

Schaffens außerhalb jeden institutionellen Kontexts, ausgeführt in einem<br />

Eintauchen in das Leben einer Community. Das Campieren von Althamer<br />

und seinen Studierenden auf Schloss Trautenfels verwandelt diesen Ort in<br />

einen Schauplatz eines gemeinschaftlichen Rituals und das radikale und<br />

dauerhafte Eintauchen in die Örtlichkeit der Region ermöglicht die Kommunion<br />

mit der einheimischen Bevölkerung und die Konstruktion einer sozialen<br />

Skulptur aus dem pulsierenden Stoff einer lokalen Community.<br />

Althamer orchestriert soziale Situationen, manchmal offene, bisweilen<br />

intime, in denen die Grenzen zwischen öffentlich und privat verschwimmen,<br />

indem er sich selbst spielt und der reale Akt seiner eigenen Hochzeit in der<br />

hiesigen romanischen Johanneskappelle eines der grundlegenden Elemente<br />

der Dramaturgie des Projekts darstellt. Wir sind bereits Zeugen


24 — 25<br />

Adam Budak<br />

Christian Philipp Müller<br />

Green Border, 1993<br />

Performance anlässlich<br />

eines weiteren Films im Kopf unter der Regie von Pawel Althamer, oder wir<br />

berühren das authentische Gewebe des ganz gewöhnlichen Lebens, oder<br />

aber wir erleben beides gleichzeitig, da wir offenbar bereits IN DIE DINGE<br />

HINEINGELAUFEN SIND… In seiner Transzendierung der Grenzen des Vertrauten<br />

und Hinterfragung des Status des Aliens ist das Projekt Things You<br />

Can Walk Into eine weitere Kritik an der Mentalität des Eigensinnigen. Der<br />

Ruf nach Zusammengehörigkeit und ein Sinn für Zugehörigkeit und<br />

Gemeinschaft, der so typisch für Althamers Künstlerethos ist, ist der Weltsicht<br />

des Homo faber ähnlich und erlaubt die Wahrnehmung des Künstlers<br />

als reine Verkörperung der Vita activa: „Die Vita activa, menschliches<br />

Leben, sofern es sich auf Tätigsein eingelassen hat, bewegt sich in einer<br />

Menschen- und Dingwelt, aus der es sich niemals entfernt und die es nirgends<br />

transzendiert. (…) Es gibt kein menschliches Leben, auch nicht das<br />

Leben des Einsiedlers in der Wüste, das nicht, sofern es überhaupt etwas<br />

tut, in einer Welt lebt, die direkt oder indirekt von der Anwesenheit anderer<br />

Menschen zeugt. Alle menschlichen Tätigkeiten sind bedingt durch die Tatsache,<br />

dass Menschen zusammenleben, aber nur das Handeln ist nicht einmal<br />

vorstellbar außerhalb der Menschengesellschaft.” 32 Genau dort sollte<br />

man Althamers Praxis ansiedeln – im Zwischenbereich zwischen Herstellen<br />

und Handeln: „Dieser besondere Bezug, der das Handeln an das menschliche<br />

Zusammen bindet, scheint es vollkommen zu rechtfertigen, dass schon<br />

sehr früh (bei Seneca) die aristotelische Bestimmung des Menschen als<br />

eines zoon politikon, eines politischen Lebewesens, im Lateinischen durch<br />

das animal socialis wiedergegeben wird, bis schließlich Thomas [von Aquin]<br />

ausdrücklich sagt: ‚homo est naturaliter politicus, id est, socialis (Der<br />

Mensch ist von Natur politisch, das heißt gesellschaftlich)’”. 33 Das ist<br />

genau die Gesamtdimension Pawel Althamers künstlerischer Praxis: Politik<br />

und Gesellschaft.<br />

der Venedig Biennale Christian Philipp Müller<br />

32<br />

Hannah Arendt: Vita activa,<br />

S. 33.<br />

33<br />

Ebda., S. 34.<br />

34<br />

James Meyer, Christian<br />

Philipp Müller: Ein Gespräch.<br />

In: Philipp Kaiser<br />

(Hrsg.): Christian Philipp<br />

Müller. Basel: Kunstmuseum<br />

Basel, Museum für<br />

Gegenwartskunst 2007,<br />

S. 41.<br />

Christian Philipp Müller<br />

„Burning Love“ oder: Das performative Porträt eines Lokalmatadors<br />

Christian Philipp Müllers kritische Kunstpraxis beschäftigt sich mit der<br />

Kartierung der institutionellen und geopolitischen Parameter des Vernakulären.<br />

Sein Werk ist die Mise-en-scène verschiedenster Wissensdisziplinen,<br />

geschaffen von einem Künstler, der in die verschiedensten Rollen<br />

schlüpft – Archivar, Forscher, Kommunikator und Performer. Dabei bleiben<br />

die Themen nationale Identität und Konstruktion von Grenzen im Zentrum<br />

von Müllers Untersuchungen der Ökonomien des jeweiligen Ortes und der<br />

Politik der Zugehörigkeit. Für die Installation Grüne Grenze, die er 1993 für<br />

den österreichischen Pavillon im Rahmen der Biennale von Venedig realisiert<br />

hat, überquerte der Künstler im Wanderer-Outfit acht Mal illegal Staatsgrenzen.<br />

„In meiner Anleitung zur Grenzüberquerung machte ich Vorschläge<br />

für das beste Outfit, um mit der Landschaft zu verschmelzen. Heutzutage<br />

ist der Tourist die unauffälligste Gestalt“ 34 , bekennt der Künstler bei der<br />

Space Rendez-Vouz,<br />

2008<br />

Manifesta 7, Rovereto<br />

Strickmuster „Brennende<br />

Liebe“<br />

35<br />

Ebda., S. 56.<br />

36<br />

James Meyer: The Functional<br />

Site. In: Platzwechsel.<br />

Ursula Biemann, Tom Burr,<br />

Mark Dion, Christian Philipp<br />

Müller, Kunsthalle Zürich<br />

1995, S. 25-29.<br />

Beschreibung seines bahnbrechenden Projekts, das mittlerweile zu einem<br />

Symbol für den künstlerischen Diskurs zur Politik nach 1989 und Themen<br />

der nationalen Repräsentation geworden ist. Das gesamte Schaffen von<br />

Christian Philipp Müller scheint ein Statement gegen den Eigensinn zu<br />

sein. In einem Gespräch mit James Meyer räumt er ein: „Ich hasse starre<br />

Identitäten. Ich glaube an multiple Identitäten (…) Wir werden alle auf Klischees<br />

reduziert. Wir werden typisiert, weil unsere Gesellschaft mit multiplen<br />

Identitäten nichts anfangen kann. Wenn ich über diesen Bach springe,<br />

dann sehen Sie mich genau im Dazwischen, an der Grenze: Das ist es vor<br />

allem, worum es in meiner Arbeit geht. Sie ist eine Hybride. Sie haben ein<br />

Bild vor sich und eine Bildunterschrift, und sie versuchen dann im Kopf eine<br />

Verbindung zwischen dem, was Sie sehen und dem was Sie lesen herzustellen.<br />

Was ich dabei erreichen möchte, ist die richtige Abstimmung. Ich<br />

versuche das geeignete Medium, den Maßstab, den Raum und die Einbeziehung<br />

meines eigenen Körpers zu finden, um meine Botschaft rüberzubringen.<br />

Zum Beispiel zeigte ich in Venedig nicht das Werk von Christian Philipp<br />

Müller. Ich präsentiere mich nicht selbst als das Produkt. Ich präsentiere<br />

Umstände. Ich orientiere mich in der Arbeit an Themen, vorgegebenen und<br />

selbst gewählten.“ 35 Seine für die Manifesta 7 (2008) konzipierte Feldarbeit/Installation/Performance<br />

Space Rendez-Vous ist ein komplexes ortsspezifisches<br />

Gebäude aus Querverweisen, in dem der Futurist Fortunato<br />

Depero auf Weltraumeroberungsträume aus der Zeit des Kalten Krieges<br />

trifft, die globale Industrie und folkloristische Allegorien. Müllers Carro<br />

Largo-Parade, die bevölkert war mit in Trachten für Deperos festa dell’uva<br />

im Jahr 1936 gekleideten Menschen war ein ehrgeiziger Versuch, unter Verwendung<br />

des kritischen Vokabulars einer globalisierten Welt die Dogmen<br />

des Regionalismus neu zu schreiben. Christian Philipp Müllers Kunstpraxis<br />

(zusammen mit dem Werk von u.a. Fred Wilson, Mark Dion, Andrea Fraser)<br />

wurde von James Meyer als Erforschung des so genannten „funktionalen<br />

Ortes“ beschrieben, einem erweiterten Ortsbegriff, der im Gegensatz zu<br />

einem (physikalischen) festen Ort als „ein Prozess, ein sich zwischen Orten<br />

vollziehender Vorgang, eine Kartierung institutioneller und diskursiver Verzweigungen<br />

und der sich dazwischen bewegenden Körper (vor allem dem<br />

des Künstlers) verstanden wird. Es ist ein Ort der Informationen, Schauplatz<br />

des Ineinandergreifens von Texten, Fotografien und Videoaufzeichnungen,<br />

physikalischen Orten und Dingen: ein allegorischer Ort (…).“ 36 Nach<br />

dieser Definition ist das Werk eine Bewegung, eine Bedeutungskette; eine<br />

Funktion erscheint in der Passage zwischen Orten und Blickwinkeln. Meyer<br />

unterstreicht die Bedeutung des Zusammentreffens zwischen dem Produzenten<br />

und dem Ort, an dem die grundlegenden Identitäten des Künstlers<br />

und einer Gemeinde zusammenfallen oder ernsthaft herausgefordert<br />

werden. Eine solche Praxis weist Züge einer „diskursiven Performativität“<br />

auf, einer bestimmten Form der sozialen Maskerade, die tiefergehende<br />

Forschung, kritisches Engagement und Identifikation mit dem Thema bzw.<br />

dem untersuchtem Subjekt erleichtert.


26 — 27<br />

Adam Budak<br />

Christian Philipp Müller<br />

Burning Love<br />

(Lodenfüßler), 2010<br />

Müllers Burning Love (Lodenfüßler), das er für die Ausstellung Der schaffende<br />

Mensch. Welten des Eigensinns vorbereitet hat, ist eine vielschichtige,<br />

beinah monografische Erforschung der regionalen Identität durch die<br />

ganz besondere Fallstudie einer für das Ennstal typischen Tradition – der<br />

Herstellung von Loden, einem dicken Wollstoff, der von der Textilindustrie<br />

der Region zur Herstellung von einheimischer Mode verwendet wird.<br />

Der sinnliche Projekttitel ergab sich aus der Aneignung des Namens eines<br />

Musters – „Brennende Liebe“ – das von lokalen Sockenherstellern (Lodenfüßler)<br />

entwickelt wurde und dem der Künstler im Rahmen des Besuchs<br />

eines in Schloss Trautenfels stattfindenden Handarbeitstreffen erstmals<br />

begegnet ist. Müllers Burning Love (Lodenfüßler), das Einblicke in Herstellung<br />

und Gebrauch einer Tracht liefert, die für nationale Identität und<br />

ein Gefühl von Zugehörigkeit steht, spürt nicht nur den Mechanismen<br />

des Handwerksethos und der Konstruktion vom Nationalstolz und Emanzipation<br />

nach, sondern definiert auch Tradition als Synergie von Leben<br />

und Gemeinschaftsgeist und artikuliert ein Bedürfnis nach (historischer<br />

und ideologischer) Kontinuität und kultureller Vielfalt, wie es in einem im<br />

Katalog von Loden Steiner 2009/2010 gefundenen Slogan zum Ausdruck<br />

gebracht wird: „Zukunft braucht Herkunft, denn je globaler die Welt, desto<br />

wichtiger die Wurzeln”. Müllers Projekt umfasst eine ganz besondere Performance:<br />

eine Prozession über 42 Kilometer mit 25 Einheimischen, die eine<br />

Art kollektive Tracht aus einem 50 Meter langen Lodenstoff von Steiner als<br />

spektakuläre mobile Skulptur durch das Ennstal hinauf zum Landschaftsmuseum<br />

Schloss Trautenfels tragen. In seiner Reise zwischen den Kontexten,<br />

die immer zu engen Grenzen nur eines kulturellen Ausdrucks hinter<br />

sich lassend, bringt der Künstler hier eine Mise-en-scène auf die Bühne, die<br />

gleichermaßen bodenständig wie weltgewandt ist, da sie, unter anderem,<br />

an die Aktionen von James Lee Byars anklingt, der 1968 das größte Kleid<br />

der Welt hergestellt hat, mit dem 500 Menschen um die Häuserblocks von<br />

New York zogen, oder an die Arbeiten von Christo, Helio Oiticica oder Robert<br />

Morris. Müllers unheimliche Verschmelzung von Modeschau und Ritual ist<br />

ein einzigartiges und einmaliges performatives Porträt eines Lokalmatadors<br />

– die Feier einer Leidenschaft, die man oft „brennende Liebe“ nennt“…<br />

Kateřina Šedá<br />

„Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels“ oder:<br />

Die Möglichkeit von Katharsis<br />

Kateřina Šedás künstlerische Praxis ließe sich vielleicht als Chronik der<br />

kollektiven Erinnerung und Storyboard des sozialen wie individuellen<br />

Imaginären beschreiben. Präziser formuliert sind es die Überschneidungen<br />

zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich, die den Inhalt<br />

wie den Umfang des beeindruckenden Werkkorpus der tschechischen Künstlerin<br />

ausmachen. Ihre Grafiken, Videos und Installationen sind Musterbeispiele<br />

für einen neokonzeptuellen Ansatz, bei dem der dokumentarische<br />

Kateřina Šedá<br />

It Doesn‘t Matter,<br />

2005<br />

Over and Over,<br />

2008, Berlin Biennale<br />

Modus der persönlichen Erfahrung der Realität gefiltert durch die Linse<br />

künstlerischer Manipulation entspricht. Šedá manipuliert Wahrnehmung<br />

wie Imagination von kommunalen Strukturen, aber auch ihrer eigenen Familie,<br />

und erzielt dabei unerwartete, beinah magische Ergebnisse, irgendwo<br />

an der Schwelle zum Unbewussten. Weder interventionistisch noch aktivistisch<br />

birgt ihre Kunst mit ihrer Einfachheit und vorgeblichen Naivität eine<br />

therapeutische Kraft in sich, fähig zu beinah revolutionären Veränderungen.<br />

Die Künstlerin kombiniert in ihrer Untersuchung der Bedingungen von<br />

„Normalität“ und der Aufstellung ihres eigenen subjektiven moralischen<br />

Werteindex Vertrautes mit Verdrängtem, die große Erzählung mit der<br />

kleinen und gewöhnlichen. Auch das Gefühl für Wichtigkeit wird aus dem<br />

Gleichgewicht gebracht: Kateřina Šedás Interesse gilt Neubewertungen von<br />

Verhaltensmustern und Urteilssystemen. Für gewöhnlich ist die Alltagsroutine<br />

Ausgangspunkt ihrer gleichsam soziologisch motivierten und oft<br />

psychologisch intensiven Untersuchungen des Alltäglichen. It Doesn’t Matter<br />

(2005), eine Grafikenserie und ein Video, ist ein repräsentatives Beispiel<br />

für Kateřina Šedás Strategie: Hier erlegte die Künstlerin ihrer inzwischen<br />

verstorbenen Großmutter die Aufgabe auf, aus dem Gedächtnis so viele<br />

Produkte zu zeichnen, die sie in mehr als 30 Jahren im Haushaltswarenladen<br />

der Familie in ihrer Heimatstadt Brno verkauft hatte, und rettete die<br />

alte Frau somit aus der tiefen Depression, in die sie in ihren letzten Lebensjahren<br />

gefallen war. It Doesn’t Matter als auferlegte Nachstellung der Vergangenheit<br />

ist ein Tableau des Gedächtnisses und des Akts des Erinnerns,<br />

ein Leben in seiner aufrichtigsten und elementarsten Form. Berührend und<br />

höchst intim, sorgt dieses Werk für eine Neubelebung der Kunst als soziale<br />

Praxis und verringert ihre Losgelöstheit von der Banalität des Alltags. Šedá<br />

betrachtet die Kunst als Instrument der Kommunikation und des Handelns<br />

bzw. Agierens - oder vielmehr Reagierens - in Not- oder Konfliktsituationen.<br />

Ihr prozess- und gemeinschaftsbasiertes Projekt Over and Over (2008) ist<br />

ein Mikroporträt der heutigen Gesellschaft und die eingehendere Untersuchung<br />

der Künstlerin der Veränderungen der Mentalität der Menschen unter<br />

dem Einfluss der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich<br />

in Kateřina Šedás Heimatland, Tschechien, vollzogen haben. Ein architektonisches<br />

Element, das normalerweise kommunale Verbindungen trennt<br />

oder eindämmt, ist hier der Protagonist: der Zaun einer privaten Umgebung<br />

und das dazugehörige Gartentor. Šedás 40 Nachbarn aus einem Vorort von<br />

Brno wurden darum gebeten, die Zäune zwischen ihren Eigenheimen zu<br />

überqueren und wurden darauf nach Berlin eingeladen (da Over and Over<br />

ein Auftragswerk der Berliner Biennale war), um auch dort ihre Zäune aufzubauen<br />

und erneut ein offenbar kathartisches Ritual des Zusammenseins<br />

und der Trennung zur Aufführung zu bringen. Im Kern partizipatorisch, ist<br />

dieses Projekt eine recht ironische Fallstudie einer ganz gewöhnlichen Aufgabe<br />

und eine Untersuchung dahingehend, was denn eigentlich die Menschen<br />

wirklich verbindet. Projekte aus jüngster Zeit wie What Can I Do?<br />

und It Can’t Be Helped, die in kleinen Gemeinschaften in der Stadt bzw.


28 — 29<br />

Adam Budak<br />

Kateřina Šedá<br />

Es gibt kein Licht am<br />

Ende des Tunnels,<br />

2010<br />

auf dem Land durchgeführt wurden, wären noch weitere zwei Beispiele für<br />

Šedás Kritik an Gentrifizierung, Landbesitz und globalen Ökonomien, die<br />

die Ursache für Stadtsanierungen bilden und die Entscheidungen von multinationalen<br />

Konzernen beeinflussen. In beiden Fällen wird durch lächerliche<br />

Baumaßnahmen entweder die Landschaft vor Ort zerstört oder die<br />

Bewegungsfreiheit und der Komfort der Anwohner ernstlich getrübt. Das<br />

dunkle Metalltor eines neuen Eigentümers versperrt den Weg und nimmt<br />

dem Bereich jedes Sonnenlicht; eine neu errichtete Industriezone mit einer<br />

riesigen Autofabrik nimmt auch ihre Umgebung in Beschlag, indem sie sie<br />

etwa mit einer aggressiven Flut künstlichen Lichts blendet. Das Gefühl von<br />

Resignation und Hoffnungslosigkeit angesichts der Macht der politischen<br />

Autorität überwiegt in Kateřina Šedás emotional aufgeladenen Untersuchungen<br />

des Scheiterns und der Absurdität. Die Unmöglichkeit von Kommunikation<br />

(einschließlich des Scheiterns des Zusammengehörigkeitsgefühls),<br />

Ignoranz, Menschenrechtsverletzungen, Nichtachtung der Privatsphäre –<br />

das sind die wichtigsten Themen von Kateřina Šedás Projekten, die quasi<br />

als Lautsprecher fungieren, für vorwiegend marginale Gemeinschaften/<br />

Gemeinden, die von Global Playern unter Druck gesetzt wurden.<br />

Die Künstlerin beschreibt die Entstehungsgeschichte ihres neuen für die<br />

Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns in Auftrag<br />

gegebenen Projekts als in der Tat neue Erfahrung, die sich wirklich von<br />

ihren bisherigen Projekten, die vorwiegend mit Tschechien zu tun hatten,<br />

unterscheidet: Als sie die einheimische Bevölkerung des Ennstals darauf<br />

ansprach, erfuhr sie, dass in dieser (geografisch und politisch) offenbar<br />

idyllischen Landschaft keinerlei Wunsch oder Bedürfnis nach Veränderung<br />

besteht. Darüber hinaus wird das alles beherrschende Naturschauspiel, der<br />

Grimming, nicht als Barriere betrachtet, von der Landschaft und Menschen<br />

voneinander getrennt werden, sondern vielmehr als zentrale Schnittstelle,<br />

die alles auf den Punkt bringt: Von der Künstlerin aufgefordert, sich vorzustellen,<br />

was sich hinter dem Berg befindet und das, was sich genau hinter<br />

dem Berg befindet, zu zeichnen, lieferten die Einheimischen der Künstlerin<br />

ein perfektes Bild von hoher Präzision. Der Berg schien durchsichtig zu<br />

sein; der Sichtbarkeits- oder Wahrnehmungstest der Künstlerin scheiterte<br />

… oder war letztendlich ganz unerwartet erfolgreich! Jedenfalls brachten<br />

weitere Nachforschungen Kateřina Šedá auf den wahren Kern der entdeckten<br />

lokalen Kontroverse: der geplante Bau des größten Kreisverkehrs<br />

Österreichs, und zwar mitten in einem Ortszentrum, mit dem zwar der Transitverkehr<br />

erleichtert und das Problem mit dem Durchzugsverkehr gelöst<br />

sein, aber die bestehende Raumorganisation zerstört würde, das Dorf<br />

praktisch durchschnitten und somit das Leben der Bewohner schwieriger<br />

würde. Diese Entscheidung wurde nun schon seit beinahe drei Jahrzehnten<br />

heiß debattiert und konnte bislang von Interessensgruppen, Bürgerinitiativen<br />

wie LIEB, NETT und der Kampagne „Stop Transitschneise Ennstal“<br />

erfolgreich verhindert werden. Mit ihrem Projekt Es gibt kein Licht am<br />

Ende des Tunnels erweitert Kateřina Šedá ihr Interesse an Metaphern des<br />

Franz Kapfer<br />

Zentaur, 2004/05<br />

37<br />

Katerina Seda: Es gibt kein<br />

Licht am Ende des Tunnels,<br />

Projektbeschreibung.<br />

38<br />

Roger M. Buergel in: Franz<br />

Kapfer/Emil Varga, Katalog.<br />

Fotogalerie Wien, 2003.<br />

Lichts und der Blendung, der Sichtbarkeit und der Transparenz, als Instrumente<br />

einer aktiven Kritik an Modernisierung und Industrialisierung. „Der<br />

geplante Kreisverkehr, genauso wie die Autofabrik mit ihrem Licht, blendet<br />

die Anwohner und die Menschen können sich durch die Dunkelheit gar nicht<br />

sehen“, meint die Künstlerin und stellt sich die Aufgabe „eine Möglichkeit<br />

zu finden, wie die größtmögliche Personenanzahl durch das blendende<br />

Licht (den Kreisverkehr) verbunden werden und auf diese Art und Weise ihr<br />

Blick nur in eine Richtung gelenkt werden kann.“ 37 Šedá organisiert eine<br />

ganz besondere performative Zeichensession von kollektiver Urheberschaft,<br />

indem sie die Einheimischen dazu auffordert, den Kreisverkehr mit<br />

verbundenen Augen mit Buntstiften zu zeichnen. Diesem Konzept folgend,<br />

zusammengefügt und geschichtet, bieten die überlappenden Zeichnungen<br />

eine „einheitliche“ Sicht auf einen höchst problematischen Gegenstand –<br />

einen metaphorischen, beinah halluzinatorischen Knoten aus den verschiedensten<br />

Vorstellungen und Erwartungen. Hier in diesem kritischen Akt der<br />

Gruppentherapie betritt das Individuum die kommunale Ebene und erreicht<br />

auf auf diese Art und Weise möglicherweise die Neuverhandlung oder<br />

Erweiterung der Grenzen des Eigensinns.<br />

Franz Kapfer<br />

“Sieh-Dich-Für” oder: “My Home Is My Castle”, einmal umgekehrt<br />

Die Untersuchung von Klischeedarstellungen bildet die Grundlage für viele<br />

Projekte des in der Steiermark geborenen Künstlers Franz Kapfer. In seinen<br />

bildhauerischen Interventionen und auf Video, inszenierter Fotografie<br />

und Performance beruhenden Arbeiten werden in einem Akt der Herstellung<br />

der ganz persönlichen Privatmythologie des Künstlers – einem subjektiven<br />

Theater der männlichen Identität, da, in den Worten Roger M. Buergels,<br />

Kapfer „mit der dynamisierten Pose, der Maskerade oder der Dramatisierung<br />

seiner eigenen Erscheinung arbeitet“ 38 – antike und christliche Ikonografien<br />

einer Neubetrachtung unterzogen. Seine Kunstpraxis beruht auf einer Performativität,<br />

die auf die Tradition der Performancekunst und der Body Art<br />

der 1970er-Jahre verweist. Es finden sich auch Anklänge an die Poetik des<br />

mittelalterlichen Theaters und sie erinnert auch an die Figuren der Commedia<br />

dell‘ arte mit ihrer für das Bachtinsche Karnevaleske typischen Körperlichkeit,<br />

Groteskheit und ihrem so genannten „Realismus auf einer niedrigeren<br />

Ebene“. (Männliche) Körperpolitik und Sexualität stehen im Zentrum<br />

seiner kritischen Untersuchungen von Identitätsbildung (Gender-Diskurs),<br />

Gesellschaftsstrukturen (Faschismus, Familie) und Religion (Katholizismus),<br />

die er in Form einer Reihe von performativen Travestie-Tableaus zur<br />

Aufführung bringt. Indem er in Rollen aus der Mythologie oder der Weltgeschichte<br />

schlüpft, Rituale nachstellt und deren Symbolsprache hinterfragt,<br />

untersucht Kapfer die Darstellungsmuster, von denen unsere Vorstellung<br />

und Wahrnehmung der Welt geprägt ist. Mal als mythologischer Pan verkleidet,<br />

der seine Freundin verführen möchte, mal als Zentaur, der seiner


30 — 31<br />

Adam Budak<br />

Franz Kapfer<br />

Rom 2003, 2004<br />

Wunderwürdiges Kriegsund<br />

Siegs-Lager, 2008<br />

Tochter näher kommen möchte, aber immer wieder an ikonische Figuren aus<br />

der Welt der Mythen, Sagen und Legenden erinnernd, probt der Künstler<br />

auf offenbar selbstironische Art und Weise seine Vater- und Liebhaberrolle.<br />

Fruchtbarkeit, Sexualität, Liebe, Familie, Vaterschaft – dies sind die großen<br />

Themen aus Kapfers Repertoire, in dem Scheitern, Impotenz und Illusion<br />

quasi als Chor hinter der Bühne den Plot kommentieren. (Nicht nur) das<br />

mythologische Kostüm hilft dem Künstler, die falsche Seite der Wirklichkeit<br />

zu entlarven: indem er seiner Tochter im Video Zentaur (2004/5) „Höre, höre<br />

Tochter, alles ist Lüge“ ins Ohr flüstert; indem er die Binsenweisheit „Die<br />

Welt ist eine Bühne“ postuliert, während sein eigener Körper mit bildhauerischen<br />

Mittel neu gestaltet wird und in mimische Interaktion mit den Steinbildern<br />

des Brunnens auf dem Salzburger Kapitelplatz (1991) tritt, oder mit<br />

dem Denkmal von Kaiserin Elisabeth (1991) und dem St. Sebastian Friedhof<br />

(1991) in seiner Performance Festspiele; oder, indem er mit den Plastiken in<br />

Rom 2003 (2004) aus seinen skulpturalen Objekten ein trügerisches Idyll<br />

schafft, das - obwohl es auf Fruchtbarkeitssymbole der österreichischen Alpenwelt<br />

verweisen und italienische Glaskunst simulieren soll - zum Großteil<br />

aus weggeworfenen Plastikflaschen besteht, die er in Rom als Müll eingesammelt<br />

hat.<br />

Kapfers Theater ist ein Brecht’sches Theater. Gesellschaftskritik, Geschichte<br />

und Politik ergänzen das Themenspektrum, das auf der Bühne dieses<br />

Künstlers zur Aufführung gelangt. Seine Installation und Architekturintervention<br />

Wunderwürdiges Kriegs- und Siegs-Lager des Prinzen Eugen<br />

(2008/09), die er für das Obere Belvedere realisierte, vergrößert durch unterhalb<br />

aufgestellte große Spiegel einige der weniger gut sichtbaren Fragmente<br />

des Deckenfreskos im Marmorsaal, insbesondere jene, auf denen die<br />

von vier türkischen Sklaven erlebte Unterdrückung und deren Wehklagen<br />

dargestellt sind und welche neben den Allegorien der Tugenden des Prinzen<br />

die Zeit überdauert haben. Inmitten des herrlichen Interieurs errichtet,<br />

umreißt die scheinbar abstrakte minimale Struktur sowohl das Siegeslager<br />

des Prinzen als auch ein Türkenzelt. Kapfers Installation Trophäen (2010)<br />

ist eine Sammlung von skulpturalen Silhouetten von klischeehaften türkischen<br />

Motiven, wie sie in der österreichischen Architektur zu finden sind.<br />

Den Künstler interessieren die Überführungen von Ideen und die verborgenen<br />

Motive des Kulturapparates, wie sie etwa beim Status des Bildes in der<br />

heutigen Gesellschaft sowie bei der Konstruktion einer Symbolsprache der<br />

Repräsentation zum Ausdruck kommen.<br />

In der für die Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns<br />

realisierten Installation Sieh-Dich-Für untersucht Franz Kapfer die Eigenheiten<br />

der einheimischen Architektur des Ennstals. Auf Architektur wie<br />

Geschichte von Schloss Trautenfels verweisend, sowie auf einen seiner Besitzer,<br />

General Trauttmansdorff („Am liebsten experimentierte er, General<br />

Siegmund J. von Trauttmansdorff, ausgiebig in seinem militärischen ‚Labo-<br />

Franz Kapfer<br />

Trophäen , 2007<br />

Sieh-Dich-Für, 2010<br />

39<br />

Franz Kapfer: Sieh-Dich-Für,<br />

Projektbeschreibung.<br />

ratorium’, das er sich auf der Bastei hatte einrichten lassen. Durch seine<br />

spontanen Schießübungen und Probesprengungen erschreckte er die Bevölkerung,<br />

die zunächst mit einem anrückenden Feind rechnete, immer wieder”),<br />

und auch auf die so genannte Alpenfestung und deren historischen<br />

und ideologischen Hintergrund (am Toplitzsee experimentierte ab 1943<br />

das „Torpedolaboratorium” der Seemarine, gegen Ende des Krieges wurde<br />

das Ausseerland angesichts der unmittelbar bevorstehenden militärischen<br />

Niederlage als „Alpenfestung des Dritten Reiches“ propagiert 39 , führt der<br />

Künstler eine vergleichende Studie zu privaten wie öffentlichen Mustern der<br />

Raumorganisation durch und zeichnet Beziehungen nach zwischen auf der<br />

einen Seite militärischem Design (V2-Raketen, Minen, Bomben usw.) und<br />

Verteidigungsarchitektur (Burgbasteien und Befestigungen) und, auf der<br />

anderen, der Art und Weise wie die einheimische Bevölkerung ihre intimste<br />

und privateste Wohnumgebung gestaltet, inklusive Gartengestaltung<br />

und Landschaftsarchitektur der Umgebung. Die Wohnhäuser der Menschen<br />

mit ihren massiven hohen Zäunen, die aus dichter Vegetation herausragen,<br />

verwandeln sich hier in kleine Festungen und Tempel der Privatsphäre des<br />

in höchstem Maße beschützten Lebens; die gesamte häusliche Umgebung<br />

erinnert an eine Art „Gated Community“, eine gefängnisartige, eher aggressive<br />

und brutalistische, wenn auch sterile und elegante und von der<br />

sie umgebenden Welt abgekapselte Kleinbürgerwohnsiedlung. Kapfers<br />

theatralische Installation ist fürwahr eine Recherche der Bildung (einheimischer)<br />

Mentalität und Wahrnehmung, sowie des Wesens einer unterbewussten<br />

Referenz, von der die einheimische Wohnarchitektur beeinflusst<br />

ist. Seine Skulpturen von mauerartigen Zäunen und raketenartigen Thujen<br />

sind überzeugende Metaphern des Eigensinns – Monumente der Isolation,<br />

der Engstirnigkeit und des antikommunalen Geistes. Aufgestellt im Freien,<br />

auf einer der Terrassen des Schlosses, steht die monumentale Textskulptur<br />

Sieh-Dich-Für, die auf den eigentlichen Namen der Bastei verweist, für Franz<br />

Kapfers subjektive Definition von Eigensinn, und suggeriert die Unmöglichkeit<br />

von Kommunikation, Unzugänglichkeit und ein verzweifeltes Bedürfnis<br />

nach Unabhängigkeit und Emanzipation. Kapfer setzt sich hier ironisch mit<br />

„My home is my castle“ auseinander, einem an und für sich freundlichen,<br />

guten alten englischen Sprichwort, das hier aber doch pejorativ besetzt ist,<br />

als Sehnsucht nach Abtrennung und Entfremdung, nach Herstellung unsichtbarer<br />

abgeschlossener Welten, die weder Zugang noch Einblick bieten.<br />

Darüber hinaus liefert er noch einen kritischen Kommentar auf das noch<br />

immer präsente Erbe des Faschismus und dessen autoritären Denkmustern.<br />

Eindrucksvoll und triumphierend überblickt Kapfers Skulptur Sieh-Dich-Für<br />

die Landschaft und sieht der Bevölkerung ins Auge – als provokanter Ruf<br />

nach einem notwendigen Wandel.


34 — 35<br />

Simply Beautiful<br />

Über das Moment des Schönen<br />

im Werk von Lang/Baumann<br />

Christoph Doswald<br />

Im ästhetischen Diskurs der Jetztzeit herrscht ein merkwürdiges Misstrauen<br />

gegenüber dem Schönen, das sich im Wesentlichen auf die Paradigmen<br />

der Moderne zurückführen lässt. Verkürzt gesagt geht es um<br />

Fragen der Wirklichkeit, der Authentizität, der Wahrhaftigkeit und der<br />

Glaubwürdigkeit. Schönheit steht immer im Verdacht, diese normativen,<br />

aufklärungsmodernistischen Kriterien nicht zu erfüllen. Die schöne<br />

Oberfläche stellt zwar einen durchaus geschätzten gesellschaftlichen<br />

Wert dar, doch steht sie immer im Verdacht, die möglicherweise dahinter<br />

liegende wirkliche Wirklichkeit zu manipulieren, sie zu verfälschen und<br />

zu camouflieren. Bei der Beurteilung von Kunstwerken ist dieser Widerspruch<br />

noch ausgeprägter anzutreffen.<br />

1<br />

Lang/Baumann:<br />

Beautiful Book. Zürich:<br />

JRP | Ringier 2008.<br />

L/B<br />

Street Painting #1, 2003<br />

Môtier, Schweiz Marmorsaal um 1940<br />

Das aus der Schweiz stammende Künstlerpaar Sabina Lang (*1972) und<br />

Daniel Baumann (*1967), das unter dem Kürzel L/B firmiert, beschäftigt<br />

sich in seinem Werk häufig mit diesem Paradoxon des Schönen. Es gibt<br />

Beautiful Walls, Beautiful Windows, Beautiful Corners, Beautiful Entrances,<br />

den Beautiful Floor, die Beautiful Steps, das Beautiful Mezzanine,<br />

den Beautiful Carpet und die Beautiful Lounge – und schließlich auch ein<br />

Beautiful Book 1 , das diese seit 1991 andauernde Beschäftigung mit dem<br />

Schönen dokumentiert. Man könnte mittlerweile fast ein ganzes Gebäude<br />

mit den Versatzstücken dieser künstlerischen Tätigkeit errichten.<br />

In Marmorsaal von Schloss Trautenfels in der Nähe von Graz sollen nun<br />

weitere Kapitel dieses L/B-Schönheitsdiskurses geschrieben werden:<br />

Beautiful Steps #3, eine Skulptur in Form einer 12 Meter langen, leicht<br />

gekrümmten weißen Treppe, die horizontal über den Köpfen der Betrachter<br />

im Barocksaal schwebt. Und wie fast immer, wenn L/B das Thema<br />

Schönheit anpacken, geschieht dies mit einem architektonischen Echoraum<br />

- so auch bei den schönen Stufen, die sich im Milieu des feudalen<br />

Herrensitzes breit machen, ihre behauptete minimalistische Schönheit<br />

mit der herrschaftlichen Kulisse in Dialog bringen: ein Wort- und Formenwechsel<br />

zwischen barocken und modernistischen Ordnungssystemen.<br />

Allzu gerne möchte man sie beschreiten, diese formreinen Treppenstufen,<br />

die in den farbüberladenen, elysischen Himmel zu führen versprechen;<br />

man möchte den Boden der Realität verlassen: schwebend, träumend,<br />

lustwandelnd, sich der Verführungskraft hingebend, auf Augenhöhe mit<br />

Göttern und Engeln.


36 — 37<br />

L/B<br />

Stiegentür in Schloss<br />

Trautenfels, Manfred<br />

Wolff-Plottegg<br />

Dass bei solchen Verlockungen durch das Schöne immer irgendwo der<br />

Absturz lauert, ist ein kulturgeschichtlicher Topos, der sich in unser tiefstes<br />

Unterbewusstsein eingebrannt hat. Besonders deutlich wird das bei<br />

jener Skulptur, die L/B als Beautiful Steps #5 an die Außenwand eines<br />

rund laufenden Eckturms von Schloss Trautenfels applizieren. Im Obergeschoss<br />

des Turms erschließen zwei Treppen, die durch bestehende Außenfenster<br />

geführt werden, einen um die Außenfassade laufenden Steg.<br />

Die Treppenaufgänge sind begehbar, sodass für Besucher des Schlosses<br />

der Eindruck entstehen muss, auch der Steg könne benutzt werden. Ein<br />

Irrtum: Der umlaufende Steg hat kein Geländer und ist in Leichtbauweise<br />

gefertigt, sodass die Konstruktion höchstens eine symbolische Tragfähigkeit<br />

aufweist. Simply beautiful. Schön, aber nicht benutzbar.<br />

Eingangsbereich Schloss Trautenfels<br />

mit architektornischen Elementen<br />

von Manfred Wolff-Plottegg<br />

L/B<br />

Beautiful Steps #5, 2010<br />

(Rendering Innenansicht)


38 — 39<br />

L/B<br />

Doppelwendeltreppe in der Grazer Burg, um 1500


40 — 41<br />

L/B<br />

2<br />

Vgl. hierzu das Projekt<br />

Höhenrausch, das im<br />

Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms<br />

über den Dächern von<br />

Linz 2009 realisiert<br />

wurde.<br />

L/B<br />

Beautiful Steps #3, 2010<br />

(Fotomontage, Marmorsaal)<br />

Beautiful Steps #3, 2009<br />

Le Confort Moderne, Poitiers<br />

Mit Gegenwartskunst vertraute Betrachter mögen sich dieser Frage der<br />

Benutzbarkeit differenziert nähern. Denn es gab ja bereits komplette<br />

Ausstellungen, die sich mit der Rekontextualisierung von Museen oder<br />

Ausstellungsräumen beschäftigt haben, oder die mit einer Perspektiven-<br />

Verschiebung nach oben dem White Cube aus luftiger Höhe einen neuen<br />

Blickwinkel zu verleihen versuchten. 2 Beautiful Steps #5 ist jedoch keine<br />

begehbare Skulptur, die nach Benutzbarkeit verlangt, sondern eine<br />

Intervention, die auf subtile und vielfältige Weise mit unserer Vorstellungskraft<br />

spielt: Theaterkulisse, Architekturdiskurs, Design-Tourismus,<br />

Freizeitgesellschaft, Jugendkultur, Zukunftsgläubigkeit, Retrovision -<br />

um diese Ambivalenz der Wahrnehmungen, um diese Ausdifferenzierung<br />

im post-postmodernen Bewusstsein geht es bei den vordergründig so<br />

spektakulären archiskulpturalen Interventionen, die L/B unter dem Deckmantel<br />

des Schönen in unsere Welt bringen.


42 — 43<br />

L/B<br />

L/B<br />

Beautiful Steps #2, 2009<br />

11. Schweizerische Plastikausstellung,<br />

Stadt Biel-<br />

Bienne<br />

L/B<br />

Beautiful Steps #4, 2009<br />

Le Confort Moderne, Poitiers


44 — 45<br />

L/B<br />

L/B<br />

Comfort #3, 2005<br />

KBB, Barcelona<br />

L/B<br />

Comfort #6, 2008<br />

Madrid


46 — 47<br />

L/B<br />

Diving Platform, 2005; Marks Blond Project, Bern<br />

L/B<br />

Spielfeld #2, 2004; Zollkanal Speicherstadt, Hamburg


50 — 51<br />

Ein Glashügel und beleuchtete Kreuzungen<br />

Tomáš Pospiszyl<br />

I<br />

Einige von Kateřina Šedás Projekten verströmen ein besonders rustikales<br />

Flair: Sie behandeln nicht die aktuellsten globalen Themen, sondern<br />

beziehen sich auf Individuen und Gemeinschaften, die wahrscheinlich<br />

normal scheinen, alltäglich und marginal. Sie interagieren mit Orten, die<br />

die dramatischste Periode ihrer Existenz schon hinter sich haben: das<br />

kleine staubige Dorf Ponětovice, die nicht besonders beeindruckende<br />

Gegend von Líšeň oder das vergessene ostdeutsche Loch Uhyst, aus dem<br />

jeder, der etwas aus seinem Leben machen wollte, längst weggezogen<br />

ist. Wenn es etwas gibt, das diese Orte verbindet, ist es ihre besondere<br />

posttraumatische Situation. Es sind Orte, die jeweils in einer bestimmten<br />

Situation aufgebaut wurden, die sich in der Zwischenzeit substanziell<br />

verändert hat. Die politischen Regime haben sich dabei ebenso geändert<br />

wie die Art des Lebensunterhalts und des beidseitigen Kommunizierens;<br />

Zivilisationszyklen wurden ausgewechselt. Als Generatoren des europäischen<br />

Wohlstandes sind Dorf und Landwirtschaft seit Langem ersetzt<br />

worden. Nicht sosehr durch die Industrie, sondern durch eine abstrakte<br />

Dienstleistungsökonomie und die unklaren Regeln der Weltwirtschaft.<br />

Das sozialistische Wohnungsprojekt, das Dorf und die Kleinstadt müssen<br />

sich mit einer Zeit arrangieren, die sich von jener, in der sie geformt wurden,<br />

vollkommen unterscheidet.<br />

Die Situation, dass Menschen noch immer mit einem Fuß in der Vergangenheit<br />

leben, mag für das postkommunistische Europa typisch erscheinen.<br />

In dieser Hinsicht ist der österreichische Ort Trautenfels keine<br />

Ausnahme. In Osteuropa sind die neuen sozialen Konstellationen nach<br />

Jahrzehnten der Stagnation nur umso sichtbarer. Sogar in einem österreichischen<br />

Tal wird das Leben seit Langem von der Tourismusindustrie,<br />

und nicht von der Landwirtschaft diktiert.<br />

II<br />

Die Kunst ist ein Werkzeug, das die Veränderungen der Welt einfangen<br />

kann. Es macht – manchmal unabsichtlich oder als Nebenprodukt – die<br />

Beziehung zwischen Mensch und Natur und seiner Umgebung sichtbar.<br />

Die Kunstgeschichte hat aufgezeigt, auf welche Art Künstler wie z.B.<br />

Jean-François Millet, Gustave Courbet oder die Impressionisten des 19.<br />

Jahrhunderts den Wandel in der menschlichen Naturwahrnehmung bildlich<br />

darstellten. Durch die moderne Art zu leben spielte die Landschaft<br />

nicht nur für die Existenzgrundlage eine Rolle, sondern wurde auch zu<br />

einem Ort der Kontemplation, zu einem Hilfsmittel der menschlichen<br />

Subjektivität. Die zuvor genannten Künstler leisteten nicht mehr oder<br />

weniger, als in der Landschaft zum ersten Mal das zu sehen, was ihre<br />

Vorgänger immer noch nicht sehen konnten. Die Beziehung zur Natur<br />

ist nicht länger das dominierende Element der menschlichen Existenz.<br />

Wesentlich mehr Macht über sie hat etwas, das wir soziale Natur nennen<br />

können. Dennoch widerspiegeln die von Menschen besiedelten Landschaften<br />

ihre Zivilisation akkurat. Vorstadtbauten, Industrieanlagen oder<br />

sogar ein Blick auf Hochspannungsleitungen symbolisieren perfekt die<br />

Beziehungen und Werte einer Gesellschaft, die diese verwendet. Diese<br />

Gesellschaft ist von zentralisierten Energieressourcen und von Mobilität<br />

abhängig. Die Landschaft wird von einer Geometrie der Straßen durchdrungen,<br />

die – im Gegensatz zu jenen der Vorzeit – von völlig neuen Gesetzen<br />

regiert werden. Autobahnen, Überführungen oder Kreisverkehre<br />

haben klar definierte Transportfunktionen. Wir können sie aber als Metaphern<br />

der Funktionsweise der Gesellschaft wahrnehmen – als irrationale<br />

Symbole bisher unbekannter moderner Religionen.


52 — 53<br />

Kateřina Šedá<br />

III<br />

Kateřina Šedá gibt zu, dass sie die Organisatoren von Ausstellungen<br />

wohl manchmal zur Verzweiflung treibt. Man kann schwer abschätzen,<br />

wie lange sie an dem neuen Projekt gearbeitet hat. Sie weiß nicht, wann<br />

genau es ihr gelang, einen Weg zu finden, um auf diese neue Herausforderung<br />

zu reagieren. Dazu kommt, dass Trautenfels ein idyllischer Ort<br />

ist. Die Einwohner selbst tun sich schwer, etwas zu benennen, das sie<br />

gerne geändert hätten. Als ob das Ausmaß dessen, was in ihrem Leben<br />

veränderbar ist, bereits vom großen Grimming ausgefüllt wird, der für<br />

jeden Tag und jede Jahreszeit ein eigenes, besonders wandelbares Licht<br />

aufweist.<br />

Zuerst ließ Šedá die Einheimischen das zeichnen, was hinter dem Hügel<br />

liegt, auf dem Schloss Trautenfels steht. Aufgrund der Erfahrungen in<br />

ihrem Heimatland erwartete sie, dass der Hügel als ein Hindernis wahrgenommen<br />

würde und die Einheimischen nur eine dunkle Ahnung von der<br />

Welt hinter ihm haben. Es zeigte sich aber, dass der Hügel ein natürlicher<br />

Teil des Lebens der Einwohner von Trautenfels ist. Er repräsentiert<br />

keine physische Barriere, sondern einen Punkt, der Menschen aus den<br />

umliegenden Gegenden verbindet. Es ist, als könnten sie ganz bis zum<br />

Tal hinüber sehen. So als wäre der Hügel aus Glas. Aber was kann man<br />

als Malerin mit einer Landschaft anfangen, die transparent wie Glas ist?<br />

In ihr kann man nichts sehen.<br />

Der Kreisverkehr, der im Zuge der Vorbereitungen für die Ski-Weltmeisterschaft<br />

in Schladming geplant ist, hat die Atmosphäre im Dorf radikal<br />

verändert. Mit einer Breite von 60 Metern wird er die größte Konstruktion<br />

dieser Art in Österreich sein – und wird die Stadt förmlich in mehrere Segmente<br />

zerteilen. Der geplante Kreisverkehr machte plötzlich das ganze<br />

Dorf, seine Gemeinschaft und Lebensweise sichtbar.<br />

IV<br />

Kateřina Šedá strebt nicht nach seichtem politischem Aktivismus, der<br />

danach bewertet werden kann, wie sehr durch ihn die Welt korrigiert<br />

wurde. Das ist das Ziel der Politik, die Šedá von der Kunst zu unterscheiden<br />

weiß. Ihr Ziel ist scheinbar simpler und doch in seiner Schwierigkeit<br />

nahezu undurchführbar: Die Entstehung von Leben zu sehen und dann an<br />

andere weiterzureichen. Diese Herangehensweise lässt an das mittelalterliche<br />

Konzept der Illumination denken, dem Zustand der Erleuchtung,<br />

der Fähigkeit, plötzlich die Wahrheit zu erkennen. Die Offenbarung der<br />

Welt ist an ihr Verständnis geknüpft. Die Einzigartigkeit der Kunst, im<br />

Gegensatz zur Landläufigkeit der Politik, liegt in einer ähnlich kreativen<br />

Epistemologie, in der Fähigkeit, Phänomene wahrzunehmen, die vorher<br />

nicht sichtbar waren. Das ist die erste Voraussetzung, um die Welt bewerten<br />

und gegebenenfalls korrigieren zu können.<br />

Der Kreisverkehr, der ohne große Warnung mitten in Trautenfels auftauchte,<br />

hat etwas gemeinsam mit der Schicksalshaftigkeit von Seuchen<br />

oder Springfluten. Die moderne Zivilisation produziert hier so etwas wie<br />

einen Berg aus Beton und Asphalt, einen Punkt, nach dem die Einwohner<br />

von Trautenfels die Hand ausstrecken müssen. Ihre Zeichnungen des geplanten<br />

Kreisverkehrs lassen an die Berichte von Menschen erinnern, die<br />

versuchen, ihre Begegnungen mit außerirdischen Unbekannten weiterzugeben,<br />

mit einer höheren Ordnung, deren Kraft der Monumentalität jener<br />

der umliegenden Alpen ähnelt. Die Sammlung dieser Bilder ist nicht der<br />

Versuch einer Art von Kunst-Petition zum Stopp eines unsensiblen Bauprojekts,<br />

sondern ein vergeblicher Versuch, das Problem schon vorher so<br />

zu zeichnen, dass es gerade durch seine Darstellung gelöst wird.


1, Sonja Pichler 5, Gertrude Schwaiger<br />

12, Stefanie Harreiter 15, Reinhold Schirl<br />

21, Monika Kogler 22, Florian Kogler<br />

44, Christiane Tasch 55, Alois Brettschuh<br />

6, Sabine Geier 9, Selina Winterer<br />

17, Markus Maurer 18, Carmen Fladl-Schachner<br />

32, Johanna Leyendecker 33, Silvia Fercher<br />

58, Annika Hofer 63, Anna-Lena Kanzler


65, Julian Schmied 73, Karl Bindlechner<br />

89, Helene Kreutzer 93, Alois Perl<br />

110, David Wieser<br />

133, Silvia Kolb 139, Maria Kreisel<br />

82, Gerhard-Thomas Posch<br />

95, Manuela Zeiringer 100, Johann Karl<br />

123, Dominik Gastel 130, Gerald Habeler<br />

141, Thomas Klingler


148, Lena Gasteiner 152, Markus Mößlberger<br />

164, Helmut Krasa 172, Marigona Rexhaj<br />

181, Julia Ritt<br />

188, Stefanie Haigl 198, Patrick Schranz<br />

155, Melanie Resch 157, Roswitha Kals<br />

174, Patricia Kleewein 177, Daniela Auritsch<br />

185, Nada Huber 186, Michaela Ulz-Schirl<br />

200, Alexandra Danglmaier 203, Peter J. Gragabber


Bild aus der Überlappung der Zeichnungen Nummer 9, 44, 46, 49, 51, 54, 55, 62, 65, 73, 74, 76, 135


66 — 67<br />

Für immer Parken<br />

Jennifer Allen<br />

Was haben alle Reisenden gemeinsam? Sie müssen einen Schlafplatz<br />

finden, sei es für eine Nacht, eine Woche oder ein Monat. Der zeitgenössische<br />

Reisende sieht sich mit einem weiteren Dilemma konfrontiert, das<br />

durch das Finden eines Hotelzimmers nicht gelöst ist. Reisen ist heutzutage<br />

nicht nur häufiger, sondern auch standardisierter geworden. Dieser<br />

Standardisierungsprozess, der mit der Einführung der Zeitzonen im letzten<br />

Jahrhundert seinen Anfang nahm, wurde durch den internationalen<br />

Flughafen, der jede Flugerfahrung der anderen gleichen lässt, intensiviert.<br />

Anders als frühere Reisende, die unterwegs immer auf Abenteuer<br />

eingestellt waren, erwarten wir, dass die Abenteuer erst beginnen, wenn<br />

wir unsere Destination sicher erreicht haben. Am Besten sollte während<br />

einer Reise gar nichts passieren, das über die Bewegung hinausgeht. Die<br />

Taxis sollten pünktlich sein, der Flug ruhig, und das Gepäck sollte so wieder<br />

auftauchen, wie wir selbst es bei der Ankunft tun: von der Ortsveränderung<br />

unberührt. Doch wenn die Zeit zunimmt, die wir unterwegs und in<br />

der Luft verbringen, führt unser Wunsch nach ereignislosem Reisen dazu,<br />

Erfahrung und Erinnerung auszulöschen. Die Architektur und das Design<br />

von Massenmobilität – Wartehallen, Gepäckrollbänder, Taxistände, Parkplätze,<br />

Hotelzimmer – widerstehen den Spuren jener Menschen, die sie<br />

benutzt haben. Wir verbringen mehr Zeit im Übergangsstadium – das<br />

bewohnend, was Marc Augé „Nicht-Orte“ nannte – und produzieren mehr<br />

und mehr – sowohl kollektive als auch individuelle – „Nicht-Geschichte“.<br />

Was viele Reisende heute teilen, ist fortwährende Bewegung ohne Erinnerung.<br />

Für immer Parken<br />

Maria Papadimitriou befasst sich mit diesem Dilemma auf zwei Arten.<br />

Erstens zielen Papadimitrious Arbeiten auf den Reisenden ab, indem<br />

sie die Architektur und das Design der Massenmobilität reproduzieren.<br />

Maria Papadimitriou<br />

Hotel Grande, 2005<br />

Altstadt von Larissa, Griechenland<br />

Das Hotel, das Auto, der Bahnhof – allzeit benutzbar – können in ihrem<br />

interaktiven Oeuvre eine Rolle spielen. Zweitens fügt Papadimitriou<br />

jedem Schauplatz tragbare Formen des Gedächtnisses hinzu. Diese<br />

Formen des Gedächtnisses sind kein Touristenplunder, sondern eher<br />

„Memoria-Kram“, den jeder so leicht mit sich führen kann wie ein Lied.<br />

Songs, Träume, Geschichten und Bräuche werden als mnemotechnische<br />

Praktiken in ihre Interventionen integriert: Hilfsmittel, die es Reisenden<br />

ermöglichen, sich der Vergangenheit zu besinnen und die Gegenwart<br />

zu erinnern. Im Jahr 2003 lud Papadimitriou am Bahnhof von Modena,<br />

von dem aus Züge zum Arbeitervorort Sassuolo fahren, den Chor Coro<br />

popolare di San Lazzaro ein, im Wartesaal kommunistische Revolutionslieder<br />

und erotische Stücke zu singen – Musik, die sowohl vergangene<br />

als auch gegenwärtige Anstrengungen und Freuden der pendelnden<br />

Arbeiter harmonisierte. In einem Athener Migrantenviertel verwandelte<br />

Luv Car (Transbonanza Platform for Public Events) – ein mit Tanzboden<br />

und einer Soundanlage ausgerüsteter Pick-up – im Jahr 2003 internationale<br />

Passanten in tanzende Passagiere und ließ Popsongs aus aller<br />

Welt ertönen. Letztes Jahr errichtete die Künstlerin ein provisorisches<br />

Kino an einer Tankstelle am aus Larissa hinausführenden Highway und<br />

zeigte Alexis Damianos’ Filmklassiker über griechische Emigration, Until<br />

the Ship Sails (1966); ein Stop an der Tankstelle konnte hier plötzlich<br />

mit anderen kollektiven historischen Reisen verbunden werden. In einem<br />

tropischen Garten der Villa Olimpica in Puerto Rico schuf Papadimitriou<br />

2004 Hypothesis 2, The Soul Message Formula (Illumina tus sueños,<br />

Amphiareion 04), ein Heilungszentrum, das vom griechischen Halbgott<br />

Amphiaraos, der auch Orakel und Heiler war, inspiriert wurde. Menschen,


68 — 69<br />

Maria Papadimitriou<br />

Maria Papadimitriou<br />

Temporary Office, 2004<br />

Fondazione Adriano<br />

Olivetti, Rom<br />

T.A.M.A., 2005<br />

die auf den provisorischen Betten unter freiem Himmel schliefen, konnten<br />

ihre Träume erhellen und gleichzeitig mythologische Praktiken des<br />

alten Griechenlands wiederbeleben. In diesen Interventionen erschafft<br />

Papadimitriou nicht nur einen Übergangsort für Menschen in Bewegung,<br />

sie bietet ihnen auch die Gelegenheit, ihre Erfahrung des Ortes einer Erinnerung<br />

aus der Vergangenheit einzuschreiben. Der „Nicht-Ort“ – egal<br />

ob Bahnhof oder Tankstelle – markiert eine außergewöhnliche Begegnung<br />

mit der Geschichte.<br />

Homer als Architekt<br />

Papadimitrious Antwort auf das Dilemma eines Lebens in ständiger<br />

Bewegung – Strukturen für die Mobilität und die Erinnerung zu kreieren<br />

– beinhaltet das Schaffen eines neuen Gleichgewichts zwischen<br />

Architektur und Eigentum. Um sicherzugehen, dass ihre Arbeiten von<br />

allen benutzt werden können, bevorzugt Papadimitriou Schauplätze, die<br />

dem Besessenwerden von nur einer Person widerstehen – Orte, die so<br />

kollektiv bleiben wie Sinnsprüche, Legenden und Volkslieder. Tatsächlich<br />

behandelt die Künstlerin Gebäude so, als wären sie Oral History: kollektiv<br />

besessen, immer verfügbar, durch Zirkulation überdauernd. Diese<br />

Vorliebe, Architektur wie Mythologie funktionieren zu lassen, hat einen<br />

direkten Einfluss auf Papadimitrious architektonische Designs. Während<br />

Reisende ihre idealen Benutzer darstellen, heißen ihre Arbeiten nicht nur<br />

Touristen und Geschäftsleute willkommen, sondern auch Pendler, Passanten,<br />

Wanderarbeiter und sowohl legale als auch illegale Migranten.<br />

Ihr bisher ambitioniertestes Projekt T.A.M.A., das sie 1998 startete und<br />

das noch immer läuft, verwandelt ein Zigeunerlager am westlichen Rand<br />

Athens in ein Temporäres autonomes Museum für alle (Temporary Autonomous<br />

Museum for All), in dem rumänische Nomaden mit Nomaden<br />

aus der Kunstwelt zusammenarbeiten können. Um universale Zugänglichkeit<br />

zu garantieren, bevorzugt die Künstlerin die öffentliche Sphäre<br />

– nicht genutzte Parzellen im Verbund mit Parks, Straßen, Museen – ihre<br />

Strukturen hingegen sind meist temporär, mobil und parasitisch, um der<br />

Verwandlung in nicht exklusives privates Eigentum von Anfang an zu<br />

widerstehen. Hotel Grande (2005) – ein Hotel, das in einem verlassenen<br />

Geschäft installiert wurde und rund um die Uhr für Reisende, die in Larissa<br />

Halt machten, offen stand – ist ein gutes Beispiel. Ihre Baumaterialien<br />

– billig, gefunden, second-hand – sind Ready-mades, die nicht in<br />

Gefahr kommen, abtransportiert zu werden, egal ob von Dieben, Vandalen<br />

oder der Müllabfuhr. Mit dieser Materialwahl erforscht Papadimitriou<br />

die seltsame Kategorie des Mülls: Dinge, die in einer Spannungslage existieren,<br />

da sie nicht mehr wirklich benutzt werden, aber auch noch nicht<br />

weggeworfen wurden. 2004 sammelte Papadimitriou den Müll, der im<br />

Keller der Fondazione Adriano Olivetti in Rom herumstand – altes Bürozubehör,<br />

darunter Olivettis eigene altmodische, aber voll funktionsfähige<br />

Maria Papadimitriou<br />

Luv car (Transbonanza Platform for Public Events), 2003, Menidi, Athen


70 — 71<br />

Maria Papadimitriou<br />

Computermodelle, Schreibmaschinen, Faxgeräte – und schuf ein temporäres<br />

Büro im Ausstellungsraum der Fondazione. Papadimitriou belebte<br />

die erloschene Geschichte von Olivetti und machte diese Vergangenheit<br />

gleichzeitig zu einem öffentlichen Sekretariat, in dem Touristen auf ihrem<br />

Weg von der oder zur nahen Piazza Navona sich ausruhen, reorganisieren<br />

oder vielleicht eine Postkarte auf einer originalen Schreibmaschine<br />

schreiben konnten. Hier wird die Vergangenheit weder zu einem Objekt<br />

noch zu einem Spektakel; die Reisenden nehmen die Erfahrung mit, wie<br />

es denn ist, die Gegenwart mit den Mitteln der Vergangenheit zu schreiben.<br />

Ihnen gehört der architektonische Ort, nicht durch Verdienst oder<br />

Titel, sondern durch die Praxis der Benutzung der Geschichte des Orts.<br />

Bei What do we Really Remember? (2003) bestand der Müll aus einem<br />

aufgegebenen Brunnen im Hof eines ehemaligen Dominikaner-Klosters,<br />

das jetzt das Rathaus von Sternatia, Magna Graecia, ist. Menschen, die<br />

den Hof betraten, lösten Bewegungssensoren aus, die eine Aufnahme<br />

traditioneller griechischer Lieder – gesungen von einem örtlichen Jugendchor<br />

– einschaltete, die im ausgetrockneten Brunnen versteckt war.<br />

Wenn die Besucher dann in den Brunnen blickten, lösten sie weitere Sensoren<br />

aus, die die Musik leiser werden ließ. Der leere Brunnen füllte sich<br />

mit lokaler musikalischer Geschichte, die von den Körpern der Besucher<br />

ein- und ausgeschalten wurde. In Papadimitrious Arbeiten – wo Müll auf<br />

Mythos trifft – verschlechtert die öffentliche Benützung die Geschichte<br />

nicht, noch tilgt sie sie, vielmehr bringt sie Erneuerung und Dauerhaftigkeit.<br />

Zirkulierende Geschichten<br />

Für die Ausstellung Less (2006) im Padiglione d’Arte Contemporanea<br />

in Mailand schuf Papadimitriou ihre eigene Version eines mongolischen<br />

Ger-Zelts, um Mobilität und Gedächtnis als eine Strategie für alternatives<br />

Leben neu zu überdenken. Das runde Zelt mit einem Loch im Dach<br />

und einer Tür ist das tragbare Heim der mongolischen Hirten; dieselbe<br />

Struktur – bekannt als Jurte – wird von nomadischen Hirten in ganz Zentralasien<br />

verwendet. Seine Stärken liegen in seinen gebogenen Scherengitterwänden,<br />

die auf Hängen stehen und starken Winden widerstehen<br />

können. Seine Bedeutung wird in der Flagge Kirgistans demonstriert,<br />

die den Dachring des Zelts zeigt; die Geschichte einer Familie kann an<br />

den Rauchmalen, die sich rund um den Ring über die Jahre angesammelt<br />

haben, gemessen werden. Der Ger und die Jurte – leicht zu transportieren<br />

und schnell zu bauen – sind nicht nur ein Lebensstil, sondern für die Nomaden<br />

in Zentralasien auch eine Art gelebter Geschichte. Inspiriert von<br />

der Tradition dieser Zelte, erlebte Papadimitriou ein Ger nahe bei sich zu<br />

Hause in Athen während einer Reiki-Behandlung. Diese natürliche Heilmethode,<br />

bei der Energie mit den Händen des Heilers durch den Körper<br />

des Patienten gechannelt wird, ist uralt und wurde im späten 19. Jahr-<br />

Maria Papadimitriou<br />

Hotel Grande, 2005<br />

Maria Papadimitriou<br />

My Yurt, 2006, PAC, Mailand


Grimmingtor Grimming/Olymp<br />

Maria Papadimitriou<br />

Alpin Altar, 2010<br />

(Recherchematerial)<br />

Paula Grogger<br />

Das Grimmingtor, 1926<br />

hundert vom japanischen Minister Dr. Mikao Usui wiederentdeckt. Wie<br />

auch die nomadische Kultur, lebt Reiki durch orale Tradition; seine Geschichte<br />

wurde mündlich überliefert, und alle, die es praktizieren, müssen<br />

von Meistern ausgebildet werden, die ihrerseits von alten Meistern<br />

ausgebildet wurden. Papadimitrious eigene Heilungserfahrung ist Teil<br />

einer menschlichen Kette, die bis zu Dr. Usui zurückreicht. Wenn auch<br />

der Ger keine Rolle in dieser Geschichte spielt, wurde er doch Teil der<br />

Gegenwart des Reikis, da viele Heiler die runde Form des Zelts, das keine<br />

Ecken und keine Stützpfosten im Zentrum aufweist, schätzen. Um diese<br />

nomadischen Geschichten zu kombinieren – der Ger als Heim von Hirten<br />

und Reiki als Weg, die Körperenergie zu bewegen – hat Papadimitriou<br />

ihren Ger mit Polstern und Teppichen ausgestattet, sodass Reisende sich<br />

niederlegen, relaxen und Energie tanken können. Und um deren mündliche<br />

Erinnerungen zu erfrischen, hat die Künstlerin den Ger um Erzählungen<br />

sowie um Aufnahmen von traditionellen Geschichten auf Italienisch,<br />

Englisch und Türkisch ergänzt. Dort zu liegen und zuzuhören ist eine<br />

Einladung, mit Geschichte als eine Erfahrung zu leben, etwas, das weder<br />

angefasst, noch besessen werden kann, aber durch Zirkulation gedeiht.<br />

Alpiner Altar<br />

In der Steiermark stellt der Grimming mit seiner eigensinnigen Immobilität<br />

eine neue Herausforderung für sich bewegende Erinnerungen dar.<br />

Für die Ausstellung Der schaffende Mensch brachte Papadimitriou ihre<br />

Heimat Griechenland und ihr Gastland Österreich zusammen und baute<br />

aus Steinen vom Grimming einen traditionellen griechischen Altar. Weit<br />

von einer einfachen Mischung entfernt – ein antiker griechischer Brauch,<br />

der mit zeitgenössischer österreichischer Landschaft verschmolzen wird<br />

– legt Papadimitrious Geste eine tiefere Verbundenheit zwischen den<br />

beiden Ländern frei. Der Olymp – Heimstätte der zwölf olympischen Götter<br />

der Antike – ist der höchste Gipfel in Griechenland und der Grimming<br />

einer der höchsten in der Steiermark. Doch das sind nicht die einzigen<br />

Ähnlichkeiten zwischen Olymp und Grimming nicht. Jacob Grimm zeigt in<br />

seiner Studie Deutsche Mythologie (1835), dass der Name Grimming auf<br />

das slawische Wort germnik und das altslawische gr‘mnik zurückgeführt<br />

werden kann, was in modernem Deutsch soviel heißt wie „Donnerberg“.<br />

Natürlich war der Herrscher des Olymps kein Geringerer als Zeus, der<br />

Gott des Donners und des Wetters, des Gesetzes, der Ordnung und des<br />

Schicksals. Kurz gesagt: Der Grimming ist der Berg Zeus’.<br />

Wie Sir James Frazer in The Golden Bough (1890-1915) bemerkt, wurde<br />

Zeus am Olymp und anderswo unter dem Beinamen „Donnerkeil“ verehrt,<br />

während einige Statuen den Gott einen Blitzstrahl haltend zeigen. Quer<br />

durch die europäischen Mythologien – vom griechischen Zeus zum römischen<br />

Jupiter, vom nordischen Gott Thor zum litauischen Perkunas, vom


Maria Papadimitriou<br />

Alpine Altar, 2010<br />

(Recherchematerial)<br />

keltischen Drynemetum zum germanischen Donar bzw. Thunar – wurde<br />

der Gott des Donners immer mit der Eiche assoziiert. Tatsächlich war die<br />

heilige Eiche, die der heilige Bonifaz im 8. Jahrhundert in Fritzlar fällte,<br />

um Heiden zum Christentum zu bekehren, auf Latein als robur Jovis<br />

(Jupiters Eiche) und im Altgermanischen als Donares eih (Donars Eiche)<br />

bekannt gewesen. Während allerdings der heidnische Kult sein Ende<br />

fand, als der Donnergott den heiligen Bonifaz für das Fällen des heiligen<br />

Baumes nicht mit einem Blitz erschlug, lebt die Tradition der Verehrung<br />

des Gottes im Namen des Wochentages Donnerstag weiter. Der Name<br />

Grimming widerhallt schon durch das Fortschreiten der Zeit. Über diese<br />

philologischen und mythologischen Verbindungen zwischen Olymp und<br />

Grimming hinaus, belebt Papadimitrious Altar ritualistische Praktiken in<br />

Griechenland und Österreich wieder. Wie sich Sir Frazer erinnert, verehrten<br />

die alten Griechen Zeus nicht nur in Orakel-Eichen, sondern auch an<br />

Orten, an denen der Blitz eingeschlagen hatte, da man von Zeus wusste,<br />

dass er blitzartig von den Himmeln auf die Erde herabstieg. Diese Orte<br />

– von Hohepriestern abgeschlossen und geweiht – wurden mit Altären<br />

für Opfer ausgestattet, die dann womöglich Zeus’ Zornesausbrüche samt<br />

Donner und Blitz besänftigt und gleichzeitig die befruchtende Kraft des<br />

Regens angelockt haben. Der Grimming als einer der höchsten Gipfel der<br />

Steiermark wäre wiederum ein Ort, der bei einem Gewitter am leichtesten<br />

vom Blitz getroffen würde, genau wie sein Korrelat, der Olymp. Sir Frazer<br />

bemerkt, wie alte germanische Mythen dem Donnergott ähnliche Fruchbarkeitskräfte<br />

zuschrieben, aber es findet sich keine Erwähnung von<br />

Altären oder Opfern. Und doch taucht der Grimming in österreichischen<br />

Legenden als heiliger Berg auf, in dem ein Goldschatz und kostbare Juwelen<br />

versteckt sind: Symbole für Wohlstand. Solche Legenden könnten<br />

die narrativen Überreste von Oper- und Fruchtbarkeitsritualen aus vorchristlicher<br />

Zeit sein: als Praktiken tot, aber in Geschichten lebendig.


76 — 77<br />

Maria Papadimitriou<br />

Maria Papadimitrious Aufruf an die Bevölkerung<br />

anlässlich des Ennstaler Schafbauerntags in Öblarn, 19./20. März 2010<br />

Rituale sind mit Bewegung verbunden. Die alten Griechen konnten zu<br />

Altären reisen und Zeus ein Opfer darbringen, zum Beispiel ein Schaf<br />

töten, in der Hoffnung auf weniger heftige Stürme und mehr sanfte<br />

Regenschauer. Die Steirer haben die alte Verehrung ihres Donnergottes<br />

und seines Berges womöglich in ihre Wanderungen überführt. Gesundheitsfördernde<br />

Wanderungen sind vielleicht die lebende Erinnerung an<br />

alte Pilgerreisen zum Berg: zuerst des Opfers und dann der Schatzsuche<br />

wegen. Wie Papadimitriou beobachtet hat, gibt es viele Einheimische<br />

rund um den Grimming, die Miniatur-Puppenschafe vor ihren Häusern<br />

zur Schau stellen – vielleicht Mementos von lebendigen Opfertieren, die<br />

einst geschlachtet wurden, um den Gott des Donners gnädig zu stimmen.<br />

In vielen Legenden, die sich um den Grimming ranken, heißt es von vielen,<br />

die nie mehr von ihren Wanderungen zurückkehrten, sie hätten den<br />

magischen Eingang gefunden, wären aber nun im Berg gefangen, weil sie<br />

mehr Gold und Juwelen mitnehmen wollten, als sie tragen konnten. Bitte<br />

einen Gott nie um zu viele Gefallen. Im Lichte dieser Erinnerungen erscheint<br />

der Grimming als riesiger Altar zu Ehren des Donnergottes – ein<br />

Altar, der nicht nur von wandernden Pilgern besucht wird, sondern auch<br />

immer wieder einige von ihnen als menschliche Opfergaben verschluckt,<br />

die wiederum eine Spur an Legenden zurücklassen. Papadimitrious Altar,<br />

wie griechisch er auch immer sein mag, scheint die Steirer an das zu erinnern,<br />

was sie schon immer getan haben.<br />

Maria Papadimitriou<br />

Alpine Altar, 2010, (Recherchematerial)


79 — 9


82 — 83<br />

1<br />

Georges Didi-Huberman:<br />

Ninfa moderna. Berlin,<br />

Zürich: Diaphanes 2006,<br />

S. 15f.<br />

2<br />

Ebda., S. 23.<br />

3<br />

Ebda., S. 27, sowie<br />

Gilles Deleuze: Die Falte.<br />

Leibniz und der Barock.<br />

Frankfurt am Main:<br />

Suhrkamp 1995, S. 199.<br />

Der Stoff, aus dem die Kunst ist<br />

Christian Philipp Müllers Eigensinn<br />

André Rottmann<br />

In seinem Essay zum anachronistischen Nachleben des faltenwerfenden<br />

Gewands, das in der Antike einst die Nymphe trug, bevor es in den Allegorien<br />

der Liebe in der Renaissance als bloßes Tuch, aus dem die menschliche<br />

Form sich verflüchtigt hat, vom Körper der schönen Venus an den<br />

Rand des Bildes abfiel, aber „figurale Autonomie“ gewann, um Jahrhunderte<br />

später als Lumpen in den Straßen von Paris in den fotografischen<br />

Blick des Neuen Sehens zu geraten und schließlich Ende der 1960er-<br />

Jahre in den verschlungenen Filz-Skulpturen von Robert Morris wiederzukehren,<br />

hat der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges<br />

Didi-Huberman den Versuch unternommen, die Aktualität der „paradoxen,<br />

[...] unzerstörbaren Dinge“ zu denken, „die von sehr weit herkommen und<br />

unfähig sind, endgültig zu vergehen.“ 1<br />

Mit vergleichbarem Sinn für unerwartbare Konstellationen von auf den<br />

ersten Blick disparaten Kontexten und wiederkehrenden Motiven sowie<br />

einer in akribischen Recherchen gewonnenen Aufmerksamkeit für das<br />

widersprüchliche „Eigenleben“ 2 und die historischen Wechselfälle – und<br />

Faltenwürfe, zugleich verhüllend und umhüllend, stets an der Grenze zum<br />

Anthropomorphismus 3 – eines textilen Materials, das lange schon am<br />

Körper getragen wird, über Fragen der Funktionalität hinaus aber auch<br />

den metaphorischen und metonymischen Stoff des kulturellen Gedächtnisses<br />

und traditionsbehafteten aktuellen Alltags- und vergangenen Arbeitslebens<br />

einer Region bildet, hat Christian Philipp Müller sein Projekt<br />

Burning Love (Lodenfüßler) (2010) in der Umgebung und den Räumen des<br />

Schlosses Trautenfels in der Steiermark realisiert.<br />

Es ist der hier produzierte, verarbeitete, vermarktete, getragene und<br />

lokale Identität ebenso stiftende wie repräsentierende Stoff Loden, den<br />

Müller ins Zentrum seines jüngsten Werks stellt, das aus einem Ausstellungsdisplay<br />

(in Form eines an der Wand installierten Bildtableaus), einer<br />

Performance und einer raumgreifenden Skulptur besteht, die den Betrachter<br />

durch zwei Säle im Obergeschoss des Schlosses führt, das als Teil des<br />

4<br />

Siehe hierzu den grundlegenden,<br />

mit Blick auf<br />

die Arbeiten von Müller<br />

argumentierenden Text<br />

von James Meyer: Der<br />

funktionale Ort. In:<br />

Platzwechsel. Ursula<br />

Biemann, Tom Burr,<br />

Mark Dion, Christian<br />

Philipp Müller. Ausstellungskatalog<br />

Kunsthalle<br />

Zürich, Zürich1995, S.<br />

24-39, sowie in historischer<br />

Perspektive Miwon<br />

Kwon: One Place After<br />

Another. Site-Specific<br />

Art and Locational Identity.<br />

Cambridge/Mass.,<br />

London: MIT-Press<br />

2002.<br />

5<br />

Didi-Huberman, a.a.O.,<br />

S. 55.<br />

6<br />

Vgl. Miwon Kwon:<br />

Fluktuierende Werte. In:<br />

Philipp Kaiser (Hrsg.):<br />

Christian Philipp Müller.<br />

Ausstellungskatalog<br />

Museum für Gegenwartskunst<br />

Basel. Ostfildern:<br />

Hatje Cantz 2007,<br />

S. 15-27, S. 27.<br />

Universalmuseums Joanneum auch eine Schausammlung zur Natur- und<br />

Kulturgeschichte des benachbarten Ennstals und Ausseerlands beherbergt.<br />

Der in Berlin und New York lebende, immer aber in situ arbeitende<br />

Künstler etabliert indes keine Hierarchie zwischen der Geschichte der<br />

postminimalistischen Skulptur und der „Land Art“ sowie einem im Rekurs<br />

auf soziologische und historiografische Formen der Recherche erweiterten<br />

Verständnis von Ortsspezifik 4 verpflichteten künstlerischen Methode und<br />

jenen handwerklichen Artefakten und ethnografisch sowie zunehmend<br />

kommerziell konnotierten Bildern, die sich der am Ausstellungsort ansässigen<br />

Lodenfabrikation und den mit ihr verbundenen Kodierungen der in<br />

diesem Landstrich typischen, alpenländischen Trachtenmode verdanken<br />

– finden sich doch, wie auch Didi-Huberman in seinen Ausführungen zur<br />

„Mode und ihren Hüllen“ betont, die „Überbleibsel, die Formen des Nachlebens<br />

[...] überall: Sie schleichen sich in jeden Winkel der Geschichte<br />

ein – in den der Kunst zum Beispiel.“ 5 Dementsprechend ist Burning Love<br />

(Lodenfüßler) auch nicht der erste Fall, in dem in Christian Philipp Müllers<br />

Œuvre der letzten 25 Jahre der Zusammenhang zwischen Identität und<br />

Tradition im Gewand einheimischer Trachten in einem kontextreflexiven<br />

Projekt zum Thema wird, das die in der (nach)modernen Kunst angeblich<br />

inkompatiblen Register des Sozialen und Ästhetischen – oder vermeintlich<br />

unüberbrückbaren Antinomien zwischen Gehalt und Form – dialektisch<br />

aufeinander bezieht. Umso mehr aber gilt es, über diese Kohärenz<br />

innerhalb einer kritisch-reflexiven künstlerischen Praxis hinaus, für diese<br />

konkrete Arbeit zu klären, welche Aspekte und Formen des Nachlebens<br />

eines Materials und seiner Bedeutungsschichten Müller an diesem<br />

Schauplatz ins Werk setzt. Anlässlich seiner Retrospektive im Basler Museum<br />

für Gegenwartskunst hat der Künstler 2007 zu Protokoll gegeben,<br />

ortsspezifisch zu arbeiten bedeute für ihn, sich präzise außerhalb eines<br />

Kontextes zu positionieren. 6 Burning Love (Lodenfüßler) bildet keine<br />

Ausnahme von diesem zunächst paradox wirkenden, für Müllers Methode<br />

ebenso grundlegendem wie produktivem Prinzip, das sich insbesondere<br />

in diesem Projekt der programmatischen Verknüpfung von lokalem wie<br />

künstlerischem Eigensinn mit der Eigenlogik ästhetischer Produktion und<br />

Erfahrung verdankt.<br />

Wie seit mehr als 500 Jahren üblich, wird vor der Lodenwalke Steiner in<br />

Rössing bei Ramsau am Dachstein der nasse Loden (vom althochdeutschen<br />

lodo, grober Wollstoff) in circa 1,50 x 50 Meter messenden, bunt<br />

gefärbten oder wie am Ausgang von Müllers Burning Love (Lodenfüßler)<br />

im naturbelassenen Zustand wollweißen Bahnen an einem überdachten<br />

Holzgestell an der Bergluft getrocknet, bevor er zu „Wetterflecken“,<br />

„Schladmingern“, „Walkjankern“ oder anderen traditionsreichen Modellen<br />

der regionalen Trachtenmode weiterverarbeitet wird. Wie ein abstraktes<br />

Band scheint das Bild dieser monochromen Fläche sich durch die alpine<br />

Landschaft der Steiermark zu ziehen; verstärkt durch den Ausschnitt


84 — 85<br />

Christian Philipp Müller<br />

Christian Philipp Müller<br />

Burning Love<br />

(Lodenfüßler), 2010<br />

7<br />

Didi-Huberman, a.a.O.,<br />

S. 25<br />

einer Fotografie vom mit Loden behängten Trockenstand der Walke, die<br />

Müller in seine kulturhistorisch anmutende, aus eigenen Aufnahmen, Archivalien<br />

und im Umkreis des Schlosses vorgefundenen Ölbildern bestehenden<br />

„Ausstellung in der Ausstellung“ integriert hat, stellt sich für das<br />

kunsthistorisch geschulte Auge unwillkürlich eine formale Verbindung zu<br />

den skulpturalen Interventionen der „Land Art“ in angeblich unberührten,<br />

von den Zentren der Gegenwartskunst weit entfernten Naturszenerien<br />

her – etwa dem im Wind flatternden Stoff des nördlich von San Francisco<br />

errichteten Running Fence (1972-1976) von Christo und Jeanne-Claude.<br />

Zugleich ist damit von Müller aber nicht nur eine assoziative Engführung<br />

zwischen der regionalen Textilfabrikation und der kanonischen Kunst<br />

des Postminimalismus vorgenommen, sondern gleichermaßen wird auf<br />

die entscheidende Veränderung in der Wahrnehmung und Bestimmung<br />

dieser pittoresken Landschaft in der Nachkriegszeit angespielt, wie sie<br />

auch das unvergängliche Nachleben des Lodens als Material, stoffliche<br />

Form und kultureller Bedeutungsträger betrifft, dem er in diesem Werk<br />

gleichsam Schritt für Schritt folgt: vom Schauplatz handwerklicher und<br />

landwirtschaftlicher Arbeit zur Kulisse der Freizeit- und Tourismusindustrie.<br />

Entsprechend stellt Müllers Sammlung von Bildern und Dokumenten<br />

aus der lokalen Geschichte dieses traditionsbehafteten Stoffs, aus dem<br />

sein ortsspezifisches Projekt für die Ausstellung Der schaffende Mensch.<br />

Welten des Eigensinns in der Hauptsache gemacht ist, vor Augen, welche<br />

widersprüchlichen Kodierungen dieser im Laufe der Zeit durchlaufen hat.<br />

Heute gilt Loden- bzw. Trachtenmode, sobald sie ihren angestammten<br />

Platz im sozialen Gefüge einer regional verankerten Gemeinschaft und<br />

ihren Gebräuchen verlässt und in Städten wie Graz, München, Münster<br />

oder gar Hamburg in Fußgängerzonen auf den Plan tritt, als Ausweis<br />

wertkonservativer Gesinnung, ökonomischer Prosperität und bürgerlichen<br />

Selbstverständnisses. Hinter diesem vermeintlich einfach zu deutenden<br />

Gewand aus Schafwolle verbirgt sich indes, wie Müller zu betonen scheint,<br />

eine paradoxe Geschichte „dynamischer Umkehrungen“ 7 : Es war Erzherzog<br />

Johann, Namensgeber des steirischen Universalmuseums, zu dem das vorübergehend<br />

auch als Jugendherberge genutzte Schloss Trautenfels heute<br />

gehört, der die aus Loden gefertigte Tracht als Ausdruck lokaler Verbundenheit<br />

und Patriotismus im frühen 19. Jahrhundert buchstäblich hoffähig<br />

machte und eine Transformation des durch dieses Material signalisierten<br />

sozialen Status und Habitus einleitete. War Lodenbekleidung einst jenen<br />

vorbehalten, die sich bei der Arbeit in den Bergen effektiv gegen Wind und<br />

Wetter zu schützen hatten, so fuhren ab den 1860er-Jahren wohlhabende<br />

jüdische Familien aus Wien und später Intellektuelle wie Sigmund Freud<br />

und Stefan Zweig nach Bad Aussee in die Sommerfrische und trugen im<br />

Urlaub vor Ort selbstverständlich Tracht, deren Charakter als „Volksgut“<br />

schließlich Konrad Mautner in einer Sammlung zu bewahren suchte, auf<br />

der das dortige Kammerhofmuseum noch heute aufbaut. Neben Einheimischen<br />

sind es damals wie heute Touristen, die sich zwischen Überzeugung<br />

Christian Philipp Müller<br />

The Family of Austrians,<br />

1993 (Einladungskarte<br />

der Galerie Metropol,<br />

Wien)<br />

Having Fun in Slovakia,<br />

Ringier VOYAGE, 2000<br />

8<br />

Im traditionellen Prozess<br />

des Walkens wird ein<br />

Wolltuch in handwarmem<br />

Wasser (30-40°C)<br />

unter Zugabe von Kernseife<br />

durch Druck und<br />

Reibung verfilzt, sodass<br />

ein Stoff mit einer höheren<br />

Dichte und einem um<br />

etwa 40 % reduzierten<br />

Volumen entsteht.<br />

und Travestie schwankend vor Ort in Loden hüllen, aber auch der zum<br />

konservativen Politiker avancierte Schauspieler Arnold Schwarzenegger<br />

und der verstorbene rechtspopulistische Politikerdarsteller und Landeshauptmann<br />

Kärntens Jörg Haider wurden bereits öffentlichkeitswirksam<br />

in Loden abgelichtet; entgegen dem Ruf mangelnder Raffinesse und einer<br />

gewissen Robustheit, die diesem Stoff gemeinhin vorauseilt, zählt der andere<br />

Zweig der in der Region um Schloss Trautenfels Loden fabrizierenden<br />

Familie Steiner exklusive Modehäuser wie Yves Saint Laurent und Dolce<br />

& Gabbana zu seinen Kunden und setzt ganz im Sinne des Werbeslogans<br />

„Keine Zukunft ohne Herkunft“ auf eine gewinnträchtige Kombination<br />

von Heimatverbundenheit und stilbewusster Weltoffenheit. So spannt<br />

Müllers Tableau einen weiten Bogen von der gegenwärtigen, in ihrer Widersprüchlichkeit<br />

kaum auflösbaren Polysemie eines Stoffs zu seinen rein<br />

funktionalen Anfängen als gegen die Witterung schützender Wetterfleck,<br />

wie er heute in abgewandelter Form und grüner Färbung als ärmelloser<br />

Überwurf noch Jäger kleidet, aber, wie einige Aufnahmen zeigen, auch<br />

den Künstler auf Ortsterminen in der Region ziert.<br />

Dieses archaische Modell aus dem Sortiment steirischer Trachtenmode<br />

macht Christian Philipp Müller in Burning Love (Lodenfüßler) zur Grundlage<br />

seiner ortspezifischen Auseinandersetzung mit der historischem<br />

Wandel unterworfenen Repräsentation regionaler Identität und bezieht<br />

es auf die „figurale Autonomie“ der Faltenwürfe textiler Materialien in der<br />

postminimalistischen Kunst und ihre anthropomorphen wie performativen<br />

Implikationen: Müller verwandelt eine komplette, mehr als 50 Meter<br />

lange Bahn wollweißen Lodens aus der Steiner’schen Walke in Rössing in<br />

einen überdimensionierten Wetterfleck, der nicht weniger als 20 Personen<br />

Platz und Schutz bietet. Zu diesem Zwecke hat der Künstler eine entsprechende<br />

Anzahl von kreisrunden Aussparungen in den lose gewebten Stoff<br />

geschnitten, bevor dieser gewalkt wurde; durch das Walken 8 erhalten die<br />

Kopföffnungen dieses kollektiven Kleidungsstücks individuelle organische<br />

Konturen und weiche Kanten. Noch vor Eröffnung der Ausstellung<br />

schickt Müller seinen Loden zu Himmelfahrt am 13. Mai auf den ungefähr<br />

25 Kilometer langen Weg vom Ort seiner Produktion zu den Ausstellungsräumen<br />

im Schloss Trautenfels. Diese zwischen Performance, Parade und<br />

Prozession angesiedelte Wanderung durch die obersteirische Landschaft<br />

schafft einerseits das bewegte Bild einer monochromen abstrakten<br />

Fläche, die gänzlich unerwartet an Dynamik, wenn nicht Eigenleben,<br />

gewonnen hat und darin die anthropomorphe Dimension, die dem Stoff<br />

und dessen die Figur des menschlichen Körpers evozierenden Faltenwurf<br />

immer schon inhärent ist, realisiert, noch bevor der Loden durch Schnitte,<br />

Nähte, Einfärbung und Applikationen seiner Bestimmung zum alpenländischen<br />

Gewand zugeführt werden konnte. In diesem Sinne macht Müller,<br />

indem er diese noch nicht weiter verarbeitete Bahn Loden auf den Weg<br />

bringt, die in ihrer basalen Stofflichkeit noch fern aller Assoziationen mit


86 — 87<br />

Christian Philipp Müller<br />

9<br />

Ebda., S. 137.<br />

10<br />

Zu denken ist ebenso<br />

an Arbeiten von Franz<br />

Erhard Walther aus den<br />

Sechzigerjahren und die<br />

Parangolés von Hélio<br />

Oiticica; zu letzterem<br />

siehe Sabeth Bucchmann:<br />

Denken gegen das<br />

Denken. Produktion,<br />

Technologie, Subjektivität<br />

bei Sol LeWitt, Yvonne<br />

Rainer und Hélio Oiticica.<br />

Berlin: b_books 2007, S.<br />

228ff.<br />

11<br />

Siehe dazu George Baker,<br />

Christian Philipp Müller:<br />

A Balancing Act. In:<br />

October 82, Herbst 1997,<br />

S. 95-118, S. 110f, 115. In<br />

diesem Text reflektieren<br />

Baker und Müller anlässlich<br />

des gleichnamigen<br />

Projekts des Künstlers für<br />

die Documenta X in Kassel<br />

1997 die Geschichte<br />

der öffentlichen Skulptur<br />

auf dem Friedrichplatz in<br />

Kassel in der Spannung<br />

zwischen Formalismus<br />

(Walter de Maria, Vertical<br />

Earth Kilometer, 1977)<br />

und Engagement (Joseph<br />

Beuys, 7000 Eichen,<br />

1982). Burning Love (Lodenfüßler)<br />

kann in dieser<br />

Hinsicht als Fortführung<br />

dieser Auseinandersetzung<br />

mit den historischen<br />

Voraussetzungen ortsspezifischen<br />

Arbeitens<br />

gelten.<br />

12<br />

Vgl. Didi Huberman,<br />

a.a.O., S. 42.<br />

13<br />

Siehe dazu Christian<br />

Philipp Müller, a.a.O., S.<br />

72-79.<br />

Trachtenmode scheint und so offen für alternative Besetzungen ist, jenen<br />

„morphologische[n] und bedeutsame[n] Reichtum“ buchstäblich, „auf<br />

welchen ein einfaches Tuch“ in der ästhetischen Erfahrung „unsere Augen<br />

lenken kann“ 9 .<br />

Andererseits stiftet Müller anders als die Arbeiten der „Land Art“, die hier<br />

unter anderem 10 kunsthistorisch Pate standen, und jenseits der nominalistischen<br />

Behauptung, Alltagsmaterial in Kunst verwandeln zu können,<br />

unter diesem einfachen Deckmantel eine soziale Gemeinschaft im öffentlichen<br />

Raum, die durch die Stoffbahn aus Loden gleichermaßen konstituiert<br />

und zusammengehalten wird. So überbrückt er wie schon in früheren<br />

seiner Arbeiten zumindest auf Zeit die Kluft, die sich in der Geschichte<br />

und Theorie der (nach)modernen Kunst zwischen den Bereichen des Ästhetischen<br />

und Sozialen vermeintlich unüberwindlich aufgetan hat. 11 Das<br />

Rechteck aus Stoff, das als abstrakte Bodenplastik oder farbenfroher<br />

Bildersatz beispielsweise auch in Ausstellungen von Cosima von Bonin<br />

oder Falke Pisano anzutreffen ist, wird in Gebrauch genommen, am Körper<br />

getragen und durch Berg und Tal gesandt. Freiwillig vereint unter einem<br />

kollektiven Wetterfleck, der keiner mehr oder noch keiner ist, aber auch<br />

durch die Fäden des Stoffes auf der gemeinsam zu bewältigenden Strecke<br />

zwischen dem Handwerksbetrieb und dem Museum im Schloss sind die<br />

Teilnehmer der Performance temporär aneinander gebunden bzw. aufeinander<br />

angewiesen. So findet Müller ein bewegtes, dialektisches Bild für<br />

den Umstand, dass der schaffende Mensch dieser Region in seiner Identität<br />

– anders als es Tourismusmanager und Kulturfunktionäre nahezulegen<br />

suchen – nicht in einheimischen Trachten zu repräsentieren und fixieren<br />

ist. Der Faltenwurf des Lodens lässt diesen charakteristischen Stoff, in<br />

dem sich lokaler Eigensinn manifestieren soll, zwischen formlosem Haufen<br />

und drapierter, solider, dauerhafter Form 12 changieren.<br />

Müllers Burning Love (Lodenfüßler) wirft einen retrospektiven Blick auch<br />

auf eine Reihe thematisch verwandter Arbeiten des Künstlers zu Fragen<br />

von regionaler oder nationaler Identität und deren Repräsentation: Auf<br />

der Rückseite des Katalogs und dem Plakat zum Österreichischen Pavillon<br />

der Biennale von Venedig 1993, auf der Müller seine heute schon klassische<br />

Arbeit Grüne Grenze 13 präsentierte und als Schweizer neben der<br />

Amerikanerin Andrea Fraser und dem Österreicher Gerwald Rockenschaub<br />

auf Einladung des damaligen Kommissärs Peter Weibel – in den Augen<br />

einiger unstandesgemäß – die Alpenrepublik repräsentierte, sind alle drei<br />

Künstler in einem urigen Wirtshaus (österreichisch: „Beisl“) versammelt<br />

und in Trachtenmode gekleidet zu sehen, 14 wie um den auch damals<br />

längst schon obsoleten Anspruch der Großausstellung auf einen nationalstaatlichen<br />

Wettstreit in der globalisierten Gegenwartskunst vollends<br />

ad absurdum zu führen. Selbst- und Fremdverständnis traten in diesem<br />

Bild rigoros auseinander und der Mythos einer österreichischen Identität,<br />

die eine geschlossene Gesellschaft von angestammten Privilegien<br />

14<br />

Solche Porträtaufnahmen<br />

waren darüber<br />

hinaus Teil der Arbeit<br />

almost adjusted to the<br />

new background,1993,<br />

die in Colin de Lands<br />

New Yorker Galerie<br />

American Fine Arts,<br />

Co. im Rahmen der von<br />

James Meyer kuratierten<br />

Ausstellung Whatever<br />

Happened to Institutional<br />

Critique? zu sehen<br />

war.<br />

15<br />

Siehe dazu auch Alexander<br />

Alberro: Unraveling<br />

the Seamless Totality:<br />

Christian Philipp Müller<br />

and the Reevaluation of<br />

Established Equations.<br />

In: Grey Room 06, Winter<br />

2002, S. 5-25, S. 20.<br />

16<br />

Siehe dazu ausführlicher<br />

André Rottmann:<br />

Faksimile: Kalkül und<br />

Anschauung in Serie.<br />

Überlegungen zu den<br />

Ringier Jahresberichten<br />

1997 – 2008. In: Wladimir<br />

Velminski (Hrsg.):<br />

Bildwelten des Wissens.<br />

Kunsthistorisches Jahrbuch<br />

für Bildkritik, hrsg.<br />

von Horst Bredekamp,<br />

Matthias Bruhn, Gabriele<br />

Werner, Bd. 7.2. Berlin<br />

2009 [im Druck].<br />

17<br />

Siehe dazu Christian<br />

Philipp Müller, a.a.O., S.<br />

136-139, sowie Christian<br />

Meyer: Christian Philipp<br />

Müller und die Familie<br />

der Österreicher. In:<br />

Camera Austria, Heft 49,<br />

1994, S. 15-23.<br />

18<br />

Vgl. Didi-Huberman,<br />

a.a.O., S. 27.<br />

19<br />

Siehe zu der Bedeutung<br />

dieses Konzepts für<br />

die Arbeit Müllers Ein<br />

Gespräch zwischen<br />

James Meyer und Christian<br />

Philipp Müller. In:<br />

Christian Philipp Müller,<br />

a.a.O., S. 44-57, S. 57.<br />

signalisieren soll, wird als Teil plakativen Marketings lesbar. 15 Auch die<br />

Rückseite des Jahresberichtes, den Müller 1999 für Ringier realisierte und<br />

für den er alle ausländischen Niederlassungen des Schweizer Medienkonzerns<br />

bereiste, 16 ziert eine Christian Philipp Müller having fun in Slovakia<br />

betitelte Fotografie, die auf humorvolle Weise die Gleichzeitigkeit der<br />

realiter effektiven Globalisierung mit archaischen Selbstbildern ins Bild<br />

setzt: Der Künstler ist mit Baseball-Mütze und Jeans-Jacke bekleidet<br />

auf einer Bank neben drei farbenfrohe Trachten tragenden Frauen im<br />

Liptauer Heimatmuseum zu sehen. Die ambivalente kulturelle Kodierung<br />

von Trachtenkleidung war ebenfalls Gegenstand von Müllers Ausstellung<br />

im Herbst 1993 in der Wiener Galerie Metropol The Family of Austrians,<br />

in der er auf die Darstellung des österreichischen Landlebens in Edward<br />

Steichens berühmter ethnografischer Erfassung der Welt im fotografischen<br />

Atlas einer Family of Man rekurrierte. Auf der Einladungskarte war<br />

Müller in einem Bild aus dem Kontext von „Grüne Grenze“ als Wanderer zu<br />

sehen, der sich wie noch heute für seine Arbeit im Schloss Trautenfels der<br />

Frage österreichischer Selbstdarstellung gleichsam von außen nähert. In<br />

Vitrinen waren Bregenzerwälder Trachten ausgestellt, flankiert von Verkaufsbroschüren<br />

und didaktischen Filmen aus den Beständen des Wiener<br />

Instituts für Kostümkunde, die auf volkstümliche Authentizität als Ware<br />

zielten und in dieser folkloristischen Überformung nationaler Identität<br />

eine Entsprechung in Steichens als Bildpaneele in der Galerie verteilten,<br />

in der US-amerikanischen Perspektive der Nachkriegszeit geradezu exotische<br />

Rückständigkeit suggerierenden Darstellungen des Landlebens in<br />

Österreich anno 1955 fanden. 17 Demgegenüber betont Müllers neue Arbeit<br />

auch ihrem Titel nach die Konnotationen regionaler Trachten, die sich<br />

Kalkül und Kontrolle zu entziehen vermögen. Für die Männer der Region<br />

gehört es sich, zur landestypischen Lederhose kniehohe Socken, sogenannte<br />

Lodenfüßler, mit aufwendigem Strickmustern zu tragen: Eines,<br />

das unbedingt symmetrisch auf dem Schienbein platziert werden muss,<br />

heißt „Brennende Liebe“. Auch in diesem traditionellen, für manchen<br />

heute befremdlich konservativen Wollstoff und seiner Verarbeitung zur<br />

Tracht bleibt menschliches Begehren mithin als untilgbarer Rest in jeder<br />

Form gegenwärtig. 18<br />

In seiner Performance im Außenraum mobilisiert Müller die anthropomorphe<br />

und Gemeinschaft stiftende, ein multiples statt rigides Verständnis<br />

von Identität 19 erlaubende Dimension seiner Bahn wollweißen Lodens. Als<br />

eine Referenz für Burning Love (Lodenfüßler) dient ihm ein Happening,<br />

das James Lee Byars 1969 in der von Anny de Decker in Antwerpen betriebenen<br />

Galerie „Wide White Space“ veranstaltete. Unter dem Titel Pink Silk<br />

Airplane brachte Byars ein 30 x 30 Meter messendes Stück Stoff in den<br />

Ausstellungsraum mit 100 kreisrunden Öffnungen für 100 Personen, die<br />

auf dem Boden gemeinsam eine imaginäre Flugreise antreten konnten:<br />

„So sassen nach einer Weile alle auf dem Boden, eingehüllt in eine rosa


88 — 89<br />

Christian Philipp Müller<br />

20<br />

Johannes Gachnang<br />

(Hrsg.): James Lee Byars.<br />

Ausstellungskatalog<br />

Kunsthalle Bern. Bern<br />

1978, s.p.<br />

21<br />

Siehe unter anderem<br />

mit Bezug auf die<br />

kritischen Arbeiten<br />

Müllers dazu George<br />

Baker: Beziehungen und<br />

Gegenbeziehungen: Ein<br />

offener Brief an Nicolas<br />

Bourriaud. In: Yilmaz<br />

Dziewior (Hrsg.): Zusammenhänge<br />

herstellen.<br />

Ausstellungskatalog<br />

Kunstverein in Hamburg.<br />

Köln: DuMont 2003, S.<br />

126-133.<br />

22<br />

James Lee Byars, a.a.O,<br />

s.p.<br />

23<br />

Siehe zur Ausstellung A<br />

Sense of Friendliness,<br />

Mellowness, and Permanence,<br />

die Ende 1992<br />

in der Galerie American<br />

Fine Arts, Co. in New<br />

York stattfand: Baker,<br />

a.a.O., S. 127f., sowie<br />

Christian Philipp Müller,<br />

a.a.O., S. 132-135.<br />

24<br />

James Lee Byars, a.a.O.,<br />

s.p.<br />

25<br />

Didi-Huberman, a.a.O,<br />

S. 27.<br />

Seidenwolke und schwebten in einer Atmosphäre festlicher Verwunderung.<br />

Wer das Ganze lächerlich fand und sich nicht in eine derart verrückte<br />

Situation begeben wollte, sah zu, dass er fortkam. Wer jedoch mitspielte<br />

tauchte etwas verlegen in den rosa Traum und schaute verwundert nach<br />

den schmunzelnden oder versonnenen Gesichtern um sich herum, in<br />

denen er dann Freunde [...] erkannte.“ 20 Aber auch 1969 war Byars genau<br />

wie vier Jahrzehnte später Müller nicht daran gelegen, die Freude eines<br />

gemeinschaftlichen Erlebens zu ermöglichen, wie sie in der „relationalen<br />

Ästhetik“ der Neunzigerjahre fröhliche Urständ‘ feiern sollte; 21 vielmehr<br />

sind die damals wie heute durch ein Stück Stoff hergestellten Zusammenhänge<br />

mitunter von Momenten der ungewollten Zugehörigkeit geprägt.<br />

So wiederholte Byars Pink Silk Airplane einen Monat später anlässlich<br />

eines Besuchs bei Joseph Beuys an der Kunstakademie Düsseldorf, an<br />

der in den Achtzigerjahren auch Müller studieren sollte, zerschnitt aber,<br />

wie de Decker sich erinnert, „nachdem etwas hundert Leute [...] Platz genommen<br />

hatten, [...] den Stoff mit einer Schere und das Flugzeug zerfiel<br />

in luftige rosa Engel, wobei immer zwei oder drei miteinander verbunden<br />

waren, je nachdem wie sie Byars ausgeschnitten hatte.“ 22 Der Seidenstoff<br />

ist mithin genau wie Müllers Loden kein Garant für ein Gefühl von Freundlichkeit,<br />

Heiterkeit und Beständigkeit, um den Titel eines Projekts des<br />

Schweizer Künstlers aus dem Jahr 1992 zu zitieren. 23 Was als „formloses<br />

zusammengeknülltes Bündel“ 24 begann, ist bei Byars kein Nachleben als<br />

faltenwerfender Stoff vergönnt, aus dem die „menschliche Form [...] sich<br />

tatsächlich verflüchtigt [hat]“, aber als „Suspense“ 25 gegenwärtig bleibt.<br />

Müller schneidet die Bahn, die zwanzig Personen vorübergehend als<br />

Bekleidung auf einer realen Tagesreise per pedes gedient hat, hingegen<br />

nicht in Stücke, sondern überführt sie in eine Skulptur, die sich nach dem<br />

Auftakt seines Tableaus zur Geschichte und Gegenwart des Lodens durch<br />

zwei Säle des Schlosses Trautenfels zieht, um am Ende dieses Parcours<br />

auf einen Film zu treffen, das den langen, kollektiv zurückgelegten Weg<br />

dieser Stoffmasse von der Walke ins Museum festhält. In der Formlosigkeit<br />

einer der Ästhetik des Postminimalismus folgenden Plastik tritt<br />

der Loden den Betrachtern nun haptisch entgegen; wo ihm einst die<br />

Köpfe und Rümpfe von zwanzig Personen Halt und Form gaben, sorgen<br />

nun einfache Böcke – ungefähr so breit wie ein paar Schultern und wie<br />

die Bodendielen des Schlosses aus Lärchenholz gefertigt – dafür, dass<br />

er über dem Boden der Ausstellungsräume schwebt. Die Präsenz der<br />

menschlichen Figur bleibt bestehen: Müllers Minimalismus begnügt sich<br />

nicht, wie oft von dieser Formation in der nachmodernen Kunst behauptet<br />

wird, mit der Tautologie angeblich elementarer Formen und neutraler<br />

Materialien, die nur das zu sehen geben, was man tatsächlich sieht. Das<br />

dialektische Bild dieser Arbeit schlägt im Wissen um den nachhaltigen<br />

Anthropomorphismus der skulpturalen Form und eingedenk der von Müller<br />

ausgestellten Geschichte der dynamischen Umkehrungen des Stoffes,<br />

aus dem sie gemacht ist, vielmehr eine Brücke zwischen dem „Seh- und<br />

James Lee Byars<br />

Pink Silk Airplane, 1969<br />

Wide White Space,<br />

Antwerpen<br />

Christian Philipp Müller<br />

Rückseite des Kataloges<br />

der Venedig Biennale,<br />

österreichischer Pavillon,<br />

1993<br />

v.l.n.r.: Andrea Fraser,<br />

Gerwald Rockenschaub,<br />

Christian Philipp Müller<br />

26<br />

Georges Didi-Huberman:<br />

Was wir sehen blickt uns<br />

an. Zur Metapsychologie<br />

des Bildes. München:<br />

Fink 1999, S. 159.<br />

27<br />

Didi-Huberman, a.a.O.,<br />

S. 137.<br />

28<br />

Vgl. Juliane Rebentisch:<br />

Ästhetik der Installation.<br />

Frankfurt am Main:<br />

Suhrkamp 2003, S. 264.<br />

In diesem Sinne betont<br />

Rebentisch zurecht,<br />

dass die „Stärke ortsspezifischer<br />

Kunst noch<br />

nie in der Prätention<br />

[lag], den Produktionsbedingungen<br />

tatsächlich<br />

entkommen zu können,<br />

sondern darin, das<br />

Bewusstsein für diese<br />

und die mit ihnen verbundenen<br />

Konfliktlinien<br />

zu schärfen. Ebda., S.<br />

266.<br />

29<br />

Ebda., S. 263.<br />

30<br />

Ebda., S. 278.<br />

Tastsinn“ und den „semiotischen Sinne[n] oder Bedeutungen mit ihren<br />

Mehrdeutigkeiten.“ 26 So wie die allgemeine Kraft des Nachlebens sich in<br />

den späten Sechzigerjahren Didi-Huberman zufolge in den „Fällen“ aus<br />

Filz von Robert Morris äußerte, erscheint sie auch in dieser Skulptur Müllers<br />

als „ewige Gegenwart der Metamorphosen“ 27 , in diesem Falle jener<br />

des Lodens als Textil und Bedeutungsträger, aus dem spezifischen Kontext<br />

stammend, in dem wie so oft in den kritisch-reflexiven Werken des<br />

Schweizer Künstlers die Her- und Ausstellung von zeitgenössischer Kunst<br />

programmatisch in eins fallen.<br />

Wie Burning Love (Lodenfüßler) in der Konstellation eines idiosynkratisch<br />

anmutenden Bildtableaus mit der performativen Aktivierung eines überdimensionierten<br />

Wetterflecks in der Landschaft und einer das regional<br />

codierte Textil mit der Geschichte der Kunst nach dem Minimalismus<br />

verknüpfenden raumgreifenden Skulptur deutlich macht, wäre es indes<br />

ein Missverständnis, die Arbeitsmethode Müllers dahingehend zu deuten,<br />

dass ihr kritisches Potential daraus resultiere, sich mit einem Kontext gemein<br />

zu machen. Wie auch das eingangs angeführte, paradox wirkende<br />

Statement Müllers zu seinem Verständnis einer ortsspezifischen Praxis<br />

betont, geht es, wie die Philosophin und Kunstkritikerin Juliane Rebentisch<br />

herausgestellt hat, in solchen Werken immer darum, den „doppelten<br />

Ort der Kunst“, d.h. die etablierten Konventionen der Ausstellung und<br />

Produktion im Verhältnis zu ihrer gesellschaftlichen Funktion insgesamt<br />

zu reflektieren. 28 Dies hat zur Folge, dass eine Arbeit wie Müllers<br />

Projekt in der Steiermark „dem jeweilig lebensweltlich bestimmten Raum<br />

gewissermaßen einen virtuellen Raum [überschiebt], der durch das Spiel<br />

der Bedeutungen bestimmt ist, das durch das Werk in bezug auf seinen<br />

sichtbaren ebenso wie in Bezug auf seine unsichtbaren Kontexte in Gang<br />

gesetzt wird. 29 Soziale Relevanz entsteht deshalb auch im Falle von im<br />

Hinblick auf einen konkreten Ort entwickelten Werken wie Burning Love<br />

(Lodenfüßler) nicht dann, wenn Ästhetik nivelliert wird, sondern im Gegenteil<br />

dann, wenn die „Spannung zwischen Darstellung und Dargestelltem<br />

alle Gehalte reflexiv so unter Strom setzt, daß deren vermeintliche<br />

Selbstevidenz von der prozessualen Logik der ästhetisch erfahrenden<br />

Werke noch dort aufgezehrt wird, wo sie ihren Produzenten als Wesentliche<br />

erscheinen.“ 30 Die Beziehung zwischen einem Material und seiner<br />

Bedeutung steht in solchen Werken niemals still, sondern ist, wie Müller<br />

in seiner bewusst eingeschränkten Perspektive auf die wechselhafte<br />

Geschichte und widersprüchliche Aktualität des Lodens vor Augen führt,<br />

strukturell bedeutungsoffen, der Intention des Künstlers entzogen und<br />

an keinen Ort unauflöslich gebunden. Das Nachleben eines Stoffes und<br />

seiner ortsspezifischen Gehalte in dieser selbstreflexiven Eigenlogik der<br />

ästhetischen Erfahrung zu brechen, ohne das Soziale gegen eine Kunst<br />

auszuspielen, die sich ihrer konstitutiven Ortslosigkeit vollends bewusst<br />

ist, darin liegt Christian Philipp Müllers Eigensinn.


122 — 123<br />

1<br />

Wiederabdruck aus: Pierre<br />

Bourdieu: Ein Zeichen der<br />

Zeit. In: Pierre Bourdieu<br />

(u.a.): Der Einzige und sein<br />

Eigenheim. Erweiterte<br />

Neuausgabe der Schriften<br />

zu Politik & Kultur 3, hrsg.<br />

von Margareta Steinrücke.<br />

Hamburg: VSA 2002.<br />

Übersetzung des Textauszugs:<br />

Jürgen Bolder.<br />

2<br />

Der sich selbst Quälende,<br />

Titel eines Gedichtes<br />

von Baudelaire aus der<br />

Sammlung Die Blumen<br />

des Bösen, ursprünglich<br />

Titel einer Komödie des<br />

römischen Dichters Terentius<br />

Afer (195-159 v. Chr.);<br />

Anm. d. Hrsg.<br />

3<br />

Verträge, aus denen eine<br />

Partei allein allen Nutzen<br />

zieht; Anm. d. Hrsg.<br />

4<br />

Die v.a. von Linken vorgenommene<br />

Idealisierung<br />

des Volkes bzw. der<br />

Volksklassen als kollektiv<br />

orientiert und klassenbewusst;<br />

Anm. d. Hrsg.<br />

Ein Zeichen der Zeit 1<br />

Pierre Bourdieu<br />

Das, was im Verlauf dieser Arbeit immer wieder zur Sprache kommen wird,<br />

bildet eine der Hauptquellen des kleinbürgerlichen Elends oder genauer,<br />

all der kleinen Nöte, all dessen, was die Freiheit, die Hoffnungen und die<br />

Wünsche beeinträchtigt und dazu führt, dass das Dasein von Sorgen und<br />

Enttäuschungen, von Einschränkungen und Fehlschlägen und nahezu<br />

unvermeidlich von Melancholie und Ressentiment erfüllt ist. Freilich ruft<br />

dieses Elend, anders als die großen Härten der proletarischen oder subproletarischen<br />

Lebenssituation, nicht spontan Sympathie, Mitleid oder<br />

Empörung hervor. Und das wohl deshalb nicht, weil die Bestrebungen,<br />

die die Unzufriedenheit, die Desillusionierung und das Leiden des Kleinbürgers<br />

nach sich ziehen, stets auch etwas der Komplizenschaft desjenigen,<br />

der diese Bedrückungen erfährt, geschuldet zu sein scheinen,<br />

seinen irregeleiteten, entpressten, entfremdeten Wünschen, durch die<br />

er, diese moderne Inkarnation des Heautontimoroumenos, 2 untergründig<br />

an seinem eigenen Unglück mitwirkt. Dadurch, dass er sich häufig auf für<br />

ihn zu groß angelegte, weil eher auf seine Ansprüche als auf seine Möglichkeiten<br />

zugeschnittene Projekte einlässt, bringt er sich selbst in eine<br />

von übermächtigen Zwängen beherrschte Lage. In dieser bleibt ihm als<br />

Ausweg nur, sich um den Preis einer enormen Anspannung den Folgen<br />

seiner Entscheidung zu stellen und sich zugleich darum zu bemühen, sich<br />

mit dem, womit die Realität seine Erwartungen sanktioniert hat, zufriedenzugeben,<br />

wie man so sagt, indem er alle Anstrengungen macht, die<br />

Fehlkäufe, die erfolglosen Unternehmungen, die leoninischen 3 Verträge<br />

in seinen eigenen wie in den Augen seiner Angehörigen zu rechtfertigen.<br />

Dieses gleichermaßen kleinliche wie triumphierende „Volk“ hat nichts,<br />

woran die populistische Illusion 4 Gefallen fände. Zu nah und zu fern zugleich,<br />

zieht es die Missbilligung und die Sarkasmen der Intellektuellen<br />

auf sich. Sie beklagen seine „Verbürgerlichung“ und machen ihm seine<br />

irregeleiteten Bestrebungen wie seine Unfähigkeit zum Vorwurf, diesen<br />

eine andere als eine ebenso irregeleitete und lächerliche Befriedigung zu


124 — 125<br />

Franz Kapfer<br />

verschaffen; kurz, all das, worauf die gängige Denunzierung des Traums<br />

vom eigenen Heim sich bezieht. Und weil es sich dazu verleiten ließ, über<br />

seine Verhältnisse, auf Kredit zu leben, stößt es doch, über kurz oder<br />

lang, namentlich in Form der Sanktionen der Bank, von der es sich wahre<br />

Wunder erhofft hatte, fast ebenso schmerzlich auf die Härten der ökonomischen<br />

Notwendigkeit wie zu anderen Zeiten die Industriearbeiter.<br />

Dieser Umstand erklärt wohl, warum dieses „Volk“, das zum Teil auch<br />

Produkt einer auf seine Bindung an die bestehende Ordnung durch die<br />

Bande des Eigentums angelegten Politik des sozialen Liberalismus ist,<br />

in seinem Wahlverhalten gleichwohl den Parteien die Treue gehalten hat,<br />

die sich auf den Sozialismus berufen. Scheinbar der besondere Nutznießer<br />

des allgemeinen „Verbürgerlichungs“-Prozesses, ist es durch den<br />

Kredit an ein Haus gefesselt, das oft unverkäuflich geworden ist. Wenn<br />

es nicht gar außerstande ist, die vor allem mit dem Lebensstil zusammenhängenden<br />

Belastungen und Verpflichtungen auf sich zu nehmen,<br />

welche die oftmals ihm selbst nicht transparente Ausgangsentscheidung<br />

stillschweigend implizierte. „Nicht alles am Vertrag ist vertragsmäßig“,<br />

hat Durkheim gesagt. Nirgends trifft diese Formel so zu wie bei dem<br />

Kauf eines Hauses, in dem unausgesprochen ein ganzer Lebensplan und<br />

Lebensstil einbegriffen sind. Das ist es, was so viele Aussagen auf so<br />

bewegende Weise zum Ausdruck bringen.


132 — 133<br />

Codename Zement<br />

Martin Prinzhorn<br />

In seinem neuen Projekt Sieh-Dich-Für verbindet Franz Kapfer zwei vordergründig<br />

entgegengesetzte Stränge: Auf der einen Seite stehen Konzepte<br />

wie Befestigung, Autarkie, Abschottung nach Außen etc., auf der<br />

anderen Seite geht es um die V2, jene deutsche Wunderwaffe, die für<br />

die Aggression der Politik der Nazis steht, für Eroberung, Unterdrückung<br />

und Terror. Rückzug trifft hier gewissermaßen auf Eroberung. Historisch<br />

gesehen hat dieses Zusammentreffen von konzeptuellen Gegensätzen<br />

vor mehr als sechzig Jahren in der Umgegend des Veranstaltungsortes<br />

tatsächlich stattgefunden, als die den Krieg verlierenden Nazis – also<br />

Deutschland und das mit diesem fusionierte Österreich – unter dem<br />

Codenamen Zement das Konzept der „Alpenfestung“ als eine Art letzten<br />

Ausweg entwickelten, um das Terrorregime doch noch über den Krieg<br />

hinaus zu retten. Die Idee dabei war sozusagen, sich hinter beziehungsweise<br />

in die Berge zurückzuziehen und hoffnungsvoll abzuwarten, bis<br />

sich Westmächte und Sowjetunion über kurz oder lang bekriegen würden<br />

und man als Dritter diesen Konflikt mehr oder weniger unbeschadet<br />

durchstehen könnte. Vor allem die Kriegsindustrie sollte unterirdisch<br />

im Schutz der Alpen weiterbestehen, um militärische Macht hinüberzuretten.<br />

Die Produktion der Wunderwaffe V2 wurde von Peenemünde<br />

ins oberösterreichische Ebensee verlagert, ihr Treibstoff sollte statt<br />

Bier in den Kellern der Brauerei Zipf hergestellt werden. Inwieweit das<br />

Verstecken oder Versenken von Schätzen dem Sagenhaften zugeordnet<br />

werden muss, ist bis heute Gegenstand von Spekulationen. Aber da die<br />

ganze Aktion so viele unwirkliche oder fantastische Elemente enthält,<br />

eignete sie sich in den Jahrzehnten nach 1945 und in rechten Kreisen<br />

wohl bis heute vorzüglich als eine Art mythischer Nachlass des Dritten<br />

Reiches, der gerne anstelle von Zerstörung, Kriegsopfern und Millionen<br />

Ermordeter thematisiert wurde. Diese Phantasien, die dann auch reichlich<br />

Stoff für Agentengeschichten abgaben, lenken von der Katastrophe<br />

in ihrer Gesamtheit ab und führen von einer politischen Reflexion des


134 — 135<br />

Franz Kapfer<br />

Faschismus weg, hin zur Räuberpistole und zur Vorstellung, man sei<br />

irgendwie doch noch überlegen gewesen, obwohl es dann letztendlich<br />

nicht geklappt hat. Es sind also auch Phantasien, wie sie für Kleinbürger<br />

typisch sind, die so den tristen Gegebenheiten ihres alltäglichen Lebens<br />

entkommen wollen.<br />

Dies führt schon in die zentrale Thematik von Franz Kapfers Kunst. In<br />

seiner künstlerischen Praxis geht es immer um eine Analyse politischer<br />

Kultur, in der die Verhältnisse von den kleinen und sehr konkreten Strukturen<br />

her aufgerollt werden und deren Abbildbarkeit auf die großen<br />

Themen wie Autorität und Unterdrückung in politischen und religiösen<br />

Systemen überprüft wird. Es sind die Symptome im Mikrobereich, die den<br />

Künstler interessieren, von denen aus er zu einer Gesamtheit gelangen<br />

will. In früheren Arbeiten war es vor allem der Austrofaschismus und das<br />

mit diesem im Zusammenhang stehende verwaschene Verhältnis zwischen<br />

Kirche und Staat, das den Kapfer interessiert hat. Aber hier hat er<br />

eben keine Analyse von oben her versucht, sondern den alltagskulturellen<br />

Zeichen nachgespürt, mit denen Politik und Kultur hier repräsentiert<br />

wird, bzw. wie ihrer gedacht wird. Hier gelingt es dem Künstler, durch das<br />

Aufspüren formaler Details oder weitgehend unbekannter inhaltlicher<br />

Querverbindungen Netzwerke freizulegen, die politischen Ideen in ihrer<br />

Gesamtheit – und das heißt vor allem auf allen unterschiedlichen Ebenen<br />

– erfassbar zu machen. Ganz in diesem Sinne erinnern auf einer formalen<br />

Ebene Kapfers künstlerische Produktionen an Bühnenbilder: Im Raum<br />

der Kunst werden sozusagen die einzelnen Requisiten in einer großen<br />

Installation zusammengetragen, und so verweist dieser Raum wiederum<br />

auf Bühne und Inszenierung, genau jene beiden Begriffe, die Kapfer in<br />

seiner Analyse der politischen Verhältnisse als konstituierende Elemente<br />

begreift. Absolute Lächerlichkeit und bitterer Ernst können an keinem<br />

besseren Ort aufeinandertreffen als auf der Bühne.<br />

Ausgangspunkt für die hier gezeigte Arbeit ist wie gesagt die Alpenfestung<br />

mit all ihren historischen und ideologischen Hintergründen. Von<br />

diesem Punkt aus unternimmt Kapfer seine Recherche zum Thema Faschismus.<br />

Er bewegt sich allerdings nicht wie ein Historiker nur in der<br />

Zeit zurück, sondern versucht, Anknüpfungspunkte in der Kultur der<br />

Gegenwart zu finden und so wiederum eine Mikroebene in das Gesamtbild<br />

einzufügen. Dabei geht es ihm wohl auch darum, den Charakter zu<br />

erforschen, der ein autoritäres System überhaupt erst ermöglicht. Diesen<br />

Charakter haben schon früher Denker wie Fromm oder Adorno im Zusammenhang<br />

mit dem Kleinbürger und seinen Phantasien gesehen. Kapfer<br />

kommt hier zu einem ähnlichen Ergebnis, aber nicht aufgrund sozialpsychologischer<br />

Recherche, sondern aufgrund der ihm eigenen Methode einer<br />

formal-inhaltlichen Assoziation. Der Alpenfestung werden jene kleinen<br />

Festungen gegenübergestellt, die beim Bau von Eigenheimen entstehen:


136 — 137<br />

Franz Kapfer<br />

Um das Einfamilienhaus wird eine Gartenanlage befestigt, umzäunt von<br />

Betonwällen oder Pflanzenhecken, sozusagen die natürliche Befestigung<br />

durch die Berge nochmals duplizierend. Daraus nimmt sich Kapfer ein<br />

Detail, das schon zu einer Art Wahrzeichen für kleinbürgerliche Gartengestaltung<br />

geworden ist: Die Thuje, der „Lebensbaum“. In seiner Kunst<br />

wird sie in zweifacher Weise übersetzt. Einmal in ihrer einzelnen Form,<br />

in der sie auf die Form der V2-Rakete verweist, die wie ein riesenhafter<br />

Phallus für Eroberung und Aggression steht, und einmal in der Formation<br />

einer Hecke, die für Schutz und Rückzug steht. Damit wird das Bild der<br />

Alpenfestung auf jenen autoritären Charakter übertragen, der in seiner<br />

Spießigkeit zwischen Abschottung und Schutzbedürfnis einerseits und<br />

Allmachtsfantasien und Eroberung andererseits hin und her schwankt.<br />

Sehr souverän verbindet Franz Kapfer hier sowohl Geschichte und Gegenwart<br />

des Ausstellungsortes als auch die ideologische Formation in<br />

einer großen Perspektive mit ihren individuellen Voraussetzungen.


140 — 141<br />

Peripher idyllisch<br />

Schnappschüsse einer<br />

eigensinnigen Landschaft<br />

Günther Marchner<br />

Ausdrücke wie „handwerkliche Fertigkeiten“ oder „handwerkliche<br />

Orientierung“… verweisen auf ein dauerhaftes menschliches<br />

Grundbestreben: den Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut<br />

zu machen. Und sie beschränken sich keineswegs auf den Bereich<br />

qualifizierter manueller Tätigkeiten. Fertigkeiten und Orientierungen<br />

dieser Art finden sich auch bei Programmierern, Ärzten und Künstlern.<br />

Richard Sennett: Handwerk, Berlin 2008, S. 19<br />

Vor rund zehn Jahren noch konnte es geschehen, dass sich während<br />

eines Gespräches im Eisenbahnzug ein Bauer beklagte, seine Kinder<br />

seien zu intelligent. Was soll aus uns werden, fragte er, sie wollen<br />

studieren, und wenn sie studiert haben, greifen sie kein Werkzeug<br />

mehr an. Heute wissen auch die Bauern bereits, dass Intelligenz<br />

nützlich sein kann. Nicht nur für die Herrschaften in den fernen<br />

Städten, sondern an Orte und Stelle. Im Dorf.<br />

Herbert Zand: Einsame Freiheit oder Landleben und Zivilisation. In:<br />

Kerne des paradiesischen Apfels. Aufzeichnungen, Wien 1971, S. 42<br />

Die Freude an der Arbeit lässt das Werk trefflich geraten.<br />

Eröffnungsworte zum Öblarner Schafbauerntag am 19. März 2010<br />

1<br />

Richard Sennett:<br />

Handwerk. Berlin 2008,<br />

bzw. Richard Sennett:<br />

Der flexible Mensch. Die<br />

Kultur des neuen Kapitalismus.<br />

Berlin 1998.<br />

Skipioniere am Hochmühleck 1909<br />

(Quelle: Familie Loitzl, Foto: Sepp Kain)<br />

In der europäischen Kulturgeschichte wird der „schaffende Mensch“<br />

(Homo faber) als Hersteller von Dingen und Leistungen für die Gemeinschaft<br />

idealisiert. Ihm wird der Mensch als Last tragendes und<br />

von Routine geplagtes Arbeitstier (Animal laborans) gegenübergestellt.<br />

Diese Unterscheidung unterstellt eine Hierarchie zwischen<br />

Gestaltern und Entscheidungsträgern einerseits und den quasi untergebenen<br />

„Ausführenden“ andererseits. Sie erinnert an die Trennung<br />

zwischen Kopf und Hand, zwischen geistiger und manueller Tätigkeit<br />

– und irgendwie auch zwischen Städten als Orte von Macht und<br />

Geist und ländlichen Regionen als Zonen der untergebenen Zuarbeit.<br />

Inmitten der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitswelt und<br />

des Rationalisierungs- und Wettbewerbsdrucks auf die Realwirtschaft<br />

spricht Richard Sennett, ein bekannter Interpret des flexiblen Menschen,<br />

von „handwerklicher Orientierung“ als menschliches Grundbedürfnis,<br />

gute Arbeit um ihrer selbst Willen zu leisten. 1 Unsere Welt sei von handwerklich<br />

gut gemachten Dingen und Leistungen abhängig. Sennett meint<br />

damit nicht nur das vertraute Bild des klassischen Handwerkers in seiner<br />

Werkstatt, sondern viele Professionelle wie zum Beispiel Künstler,<br />

Wissenschafterinnen, Ärzte, Komponisten, Designerinnen, Köche oder<br />

Hebammen, die hochmotiviert und qualitätsorientiert Dinge herstellen<br />

oder Leistungen erbringen, für die sie Kopf und Hand (= Fertigkeit durch<br />

Übung) brauchen. Und er widerspricht der Unterscheidung zwischen Homo<br />

faber und Animal laborans. Denn bei allen arbeitenden Menschen – seien<br />

es Bäuerinnen, Handwerker, Köche, Facharbeiterinnen oder Frisöre – sind<br />

für eine gute Arbeit Motivation, Fertigkeit, Verantwortung und Qualitätsorientierung<br />

wesentlich, müssen Kopf und Hand „im Dialog“ stehen.


142 — 143<br />

Günther Marchner<br />

Sägewerk Loitzl in den 1920er-Jahren<br />

(Quelle: Familie Loitzl, Fotograph unbekannt)<br />

In wohl keinem Bereich wird das Wunschbild einer motivierenden, sinnerfüllenden<br />

und naturnahen Tätigkeit so „hinein idealisiert“ wie in die bäuerliche<br />

Landwirtschaft oder in das Handwerk in ländlichen Regionen. Auch<br />

wenn die vielen kleinen Landwirtschafts-, Handwerks- und Gewerbebetriebe<br />

auch in den Gegenden des Bezirks Liezen einem enormen Druck,<br />

oft bei abnehmenden Erträgen, entwerteter Arbeit und der lähmenden<br />

Erfahrung der Konkurrenz durch Massenprodukte und Großstrukturen<br />

ausgesetzt sind, verbunden mit Perspektivlosigkeit für Betriebsnachfolger/innen.<br />

Auch wenn in dieser agrarisch anmutenden, von Montan-<br />

Traditionen durchzogenen Region die meisten Menschen nicht in diesen<br />

Bereichen tätig sind. In einer Region, die nur in wenigen Fällen „Austragungsort“<br />

einer großen Dienstleistungsindustrie – Seilbahngesellschaften,<br />

touristische Leitbetriebe, Eventmacher – sowie einer Immobilien-<br />

und Finanzwirtschaft mit entsprechenden Erträgen ist. In einer Region, in<br />

der die klassische Trennung zwischen manueller und geistiger Tätigkeit<br />

spürbar wird: durch die Abwanderung von Menschen mit „höheren“ technischen<br />

und anderen Qualifikationen in die Ballungsgebiete. Oder durch<br />

die Minderwertschätzung von vorrangig manuell tätigen Lehrberufen<br />

und damit auch jenen Menschen, die in der Regel in der Region bleiben.<br />

Ob Pionier und Erneuerer, Gestalter und Zerstörer seiner Umwelt und<br />

Landschaft, bedauertes Arbeitstier oder romantisiertes Wesen in der<br />

alpinen Idylle: Der „schaffende Mensch“ kommt in den Gegenden des Bezirks<br />

Liezen – wie in einer Bildergalerie – in vielerlei Gestalten daher. Und<br />

das oft in eigensinniger Form.<br />

2<br />

Siehe dazu: Richard<br />

Lamer: Das Ausseer Land:<br />

Geschichte und Kultur<br />

einer Landschaft. Graz:<br />

Styria 1998, S. 63-66.<br />

3<br />

Siehe dazu: Siegfried<br />

Ellmauer: Ohne Holz kein<br />

Salz. Maximilian Edler von<br />

Wunderbaldinger. Wegbereiter<br />

der neuzeitlichen<br />

Forsteinrichtung. In:<br />

Thomas Hellmuth u.a.<br />

(Hg.): Visionäre bewegen<br />

die Welt. Ein Lesebuch<br />

durch das Salzkammergut.<br />

Salzburg: Pustet<br />

2005, S. 150-161.<br />

4<br />

Vgl. dazu: Gerhard Longin:<br />

Landwirtschaft aus dem<br />

Lehrbuch. Paul Adler und<br />

sein Leben für den bäuerlichen<br />

Fortschritt. In:<br />

Thomas Hellmuth u.a.<br />

(Hg.): Visionäre bewegen<br />

die Welt. Ein Lesebuch<br />

durch das Salzkammergut.<br />

Salzburg: Pustet 2005,<br />

S. 143-149; Hermann<br />

Baltl: Paul Adler – Ein<br />

Leben für den bäuerlichen<br />

Fortschritt. Graz: Leykam<br />

1984.<br />

5<br />

Siehe dazu: Landgenossenschaft<br />

Ennstal (Hg.):<br />

Ein Wal im Wandel der<br />

Zeit, Stainach 1983.<br />

Pioniere, Visionäre, Innovatoren<br />

Ein Vorurteil lautet, dass Neuerungen immer von den wirtschaftlichen und<br />

politischen Machtzentren ihrer jeweiligen Zeit ausgingen und dass der ländliche<br />

Raum in der Regel diese zu erleiden, zu erdulden oder nachzuahmen<br />

hatte. Aber die Geschichte von Regionen ist nicht allein eine Geschichte<br />

des passiven Erlebens äußerer Veränderungen, seien es Krisen, rasante<br />

Umwälzungen oder – positiv gewendet – die Umverteilung von Wohlstand<br />

und Wachstum. Die „schaffenden Menschen“ waren an Veränderungen in<br />

ihrer Region immer auch aktiv beteiligt. Und sie nutzten veränderte Rahmenbedingungen<br />

und Gelegenheiten für die Einführung von Neuerungen.<br />

So ist auch diese Region nie nur „Objekt“ der von außen angestoßenen<br />

Veränderungen gewesen, wie zum Beispiel der erzherzoglichen Organisation<br />

des Bergwerkswesens und damit verbundener Nebengewerbe über<br />

mehrere Jahrhunderte. Oder der Angliederung an die überregionale Industriegesellschaft<br />

durch den Eisenbahnbau Ende des 19. Jahrhunderts.<br />

Der Integration in überregionale Tourismus- oder landwirtschaftliche<br />

Absatzmärkte im 20. Jahrhundert. Oder der Etablierung staatlicher Industrien<br />

im Dritten Reich und in der Zweiten Republik auf der Grundlage<br />

vorhandener montaner Traditionen. Neuerungen waren zumeist mit<br />

Pionieren und innovativen Persönlichkeiten aus der Region verbunden.<br />

Sei es zum Beispiel Christoph von Praunfalk, der in der frühen Neuzeit<br />

die Grundlage für die Modernisierung der Ausseer Salinen und für eine<br />

ökonomische Nutzung der Waldbestände legte. 2 Oder ein Pionier der<br />

modernen Forstwirtschaft, wie der im Salzkammergut tätige Max von<br />

Wunderbaldinger. 3 Dazu zählen auch der Hinterberger Bauer Paul Adler,<br />

der sich als Freund der steirischen Leitfigur Erzherzog Johann für eine<br />

Verbesserung und Modernisierung der Landwirtschaft seiner Region einsetzte.<br />

4 Der Gröbminger Bauer Franz Haiger, der die Initiative zur Gründung<br />

der Käsereigenossenschaft Gröbming im Jahr 1900 ergriff und somit<br />

den Grundstein für die spätere Landgenossenschaft Ennstal und für die<br />

Schaffung gemeinschaftlicher Verarbeitungs- und Absatzmöglichkeiten<br />

legte. 5 Der ehemalige Ausseer Salzfuhrmann Johann Loitzl, der sein Kontaktnetz<br />

und sein kaufmännisches Talent nutzte, um als Hinterberger<br />

Sägewerksbesitzer auf das neue Eisenbahnnetz für den Holzexport zu<br />

setzen. Oder jene Skipioniere, die noch in der Zeit der k.k. Monarchie die<br />

Möglichkeiten ihrer Landschaft wie auf der Tauplitzalm, im Hinterbergertal<br />

oder anderen Gegenden der Region mit den Bedürfnissen städtischer<br />

Skiverrückter aus Wien, Graz und München verknüpften. Oder Bergsteigerpioniere<br />

wie die Steinerbrüder in der Ramsau, die mit ihrer Route durch<br />

die Dachsteinsüdwand Aufsehen erregten. Oder ein Schneider wie Robert<br />

Kanzler, der im Dialog mit dem Skisportler Leo Gasperl in den 1930er-<br />

Jahren die „Keilhose“ entwickelte, Jahrzehnte bevor der sicherlich dafür<br />

passende Ausdruck „Creative Industries“ überhaupt in Verwendung


144 — 145<br />

Günther Marchner<br />

6<br />

Vgl. dazu: Rudolf<br />

Raimund Gross: Bad<br />

Mitterndorf, Liezen 1972;<br />

Dokumentationsarchiv<br />

„Kultur in der Natur“<br />

zur Gemeinde Bad<br />

Mitterndorf (noch<br />

unveröffentlicht); Günter<br />

Cerwinka und Walter<br />

Stippberger (Hg.): Schladming.<br />

Geschichte und<br />

Gegenwart, Schladming<br />

1996; Herbert Thaller:<br />

Ramsau am Dachstein.<br />

„Land und Leut`“. Eine<br />

zeitgeschichtliche<br />

Photodokumentation,<br />

Schladming, o.J.; Günther<br />

Cerwinka: Bauern. Bibel.<br />

Berge. Ramsau am Dachstein,<br />

Ramsau 1999.<br />

7<br />

Vgl. dazu: Ernst Hanisch:<br />

Der lange Schatten des<br />

Staates. Österreichische<br />

Gesellschaftsgeschichte<br />

im 20. Jahrhundert. Wien<br />

1994.<br />

8<br />

Herbert Zand: Einsame<br />

Freiheit oder Landleben<br />

und Zivilisation. In:<br />

Kerne des paradiesischen<br />

Apfels. Aufzeichnungen.,<br />

Wien: Europaverlag, 1971,<br />

S. 42. Der aus Knoppen<br />

(Gemeinde Pichl-Kainisch)<br />

stammende Herbert<br />

Zand erhielt Anfang der<br />

1950er-Jahre den Österreichischen<br />

Staatspreis<br />

für Literatur.<br />

kam. Oder unternehmerische Persönlichkeiten wie der Bad Mitterndorfer<br />

Langzeitbürgermeister Siegfried Saf, der in den 1960er-Jahren die Rahmenbedingungen<br />

des deutschen Wirtschaftswunders für den Aufbau des<br />

Massentourismus ebenso nutzte wie die Schladminger und Ramsauer,<br />

deren Sprung zur Massentourismus in Seilbahnprojekten auf den Dachstein,<br />

in Sportstadien und spektakulären Wintersport-Events mündete. 6<br />

Stets war es die Schaffenskraft von regionalen Pionieren, Visionären und<br />

Innovatoren in dieser ländlich-patriarchalen Welt, die allgemeine Bedingungen<br />

und darin liegende Chancen erkannten und für Neuerungen nutzten,<br />

neue Existenz- und Erwerbsmöglichkeiten schufen, zur Bewältigung<br />

von Krisen beitrugen – gelegentlich aber auch zur Schaffung nachfolgender<br />

Krisen. Es war ihre Schaffenskraft, die mit der Einführung von Neuem<br />

in einer traditionsreichen Gegend damit immer auch „Gewachsenes“ wie<br />

„Gewohntes“ zerstörte.<br />

Animal laborans als Homo ludens<br />

Bis in das 20. Jahrhundert war der „schaffende Mensch“ in den<br />

vergleichsweise armen Alpentälern der k.k. Monarchie Teil einer<br />

bäuerlich-dörflichen Welt, geprägt von harter Arbeit und einem bescheidenen<br />

Leben, autarker Selbstversorgungswirtschaft, geringen<br />

Marktbeziehungen, eingeschränkten Konsummöglichkeiten, strenger<br />

sozialer Kontrolle und einem Aufeinanderangewiesensein in dörflichen<br />

Gemeinschaften 7 – in den Gegenden des Bezirks Liezen ergänzt durch<br />

Zuverdienstmöglichkeiten im Bergbau, in der Holzwirtschaft, im Fuhrwerk<br />

oder Handwerk, erst später gelegentlich durch den Tourismus.<br />

Der aus der Region stammende Schriftsteller Herbert Zand betonte in<br />

den 1960er-Jahren in seinem Essay Einsame Freiheit oder Landleben<br />

und Zivilisation die illusionslose und unromantische Seite des Arbeitens<br />

und Lebens auf den Höfen und in den Dörfern seiner Heimat – gegen eine<br />

falsche Idealisierung des Landlebens. 8 Für ihn war es eine Welt, wo die<br />

Menschen durch ihre Arbeit „der Natur“ ständig näher waren, als es städtische<br />

Naturliebhaber je sein konnten, eingebunden in einen gnadenlosen<br />

Jahreskreislauf und eine karge Basis, die kaum Freiheiten für anderes zuließ.<br />

Aber Zand nahm auch wahr, wie diese Welt auch ein gewisses Maß<br />

an Eigenständigkeit und Freiheiten von Menschen ermöglichte, vorausgesetzt<br />

sie waren in der Lage, mit diesen Bedingungen zurechtzukommen.<br />

Diese bäuerliche, mit Bergbau, Forstwirtschaft und Fuhrwesen vermischte<br />

Welt, wie sie diese Region prägte, war aber nicht nur eine Zone<br />

hart arbeitender Menschen außerhalb der Städte, die keinen Geist und<br />

Sinne für mehr hatten. Sondern sie war auch eine Welt voller Fertigkeiten,<br />

voller Stolz und voller Kreativität. Der in Spital am Phyrn aufgewachsene<br />

Siegfried Saf bei der<br />

Errichtung der Tauplitzalmstrasse<br />

Anfang der<br />

1960er Jahre<br />

(Quelle: Frau Saf,<br />

Fotograf: Sepp Kain)<br />

9<br />

Roland Girtler: Sommergetreide.<br />

Vom Untergang<br />

der bäuerlichen Kultur.<br />

Wien: Böhlau 1996.<br />

10<br />

Vgl. dazu: Nora Schönfellinger<br />

(Hg.): „Conrad<br />

Mautner, großes Talent“.<br />

Ein Wiener Volkskundler<br />

aus dem Ausseerland.<br />

Grundlsee: Kulturelle<br />

Arbeitsgemeinschaft<br />

Grundlsee 1999.<br />

11<br />

Vgl. dazu: Vom Leben auf<br />

der Alm. Ausstellungskatalog.<br />

Kleine Schriften<br />

des Landschaftsmuseum<br />

Schloß Trautenfels am<br />

steiermärkischen Landesmuseum<br />

Joanneum, Heft<br />

12. Trautenfels 2004.<br />

österreichische Soziologe Roland Girtler beschreibt diese Welt, die er als<br />

Jugendlicher nach dem Zweiten Weltkrieg noch erlebt hatte und welche<br />

in den 1950er- und 1960er-Jahren zu Ende ging: 9 Eine bäuerliche Kultur,<br />

die seit dem Mittelalter nach dem Prinzip der Selbstversorgung lebte<br />

und wo Menschen nebenher Einnahmequellen erschlossen, wie im Bereich<br />

des ländlichen Handwerks, im Bergbauwesen, als Holzknechte und<br />

Holzführer – oder ab dem späten 19. Jahrhundert im Ausseerland durch<br />

die Aufnahme und Versorgung von „Herrschaften“ aus den Städten über<br />

die Sommermonate. Diese Welt war voller Fertigkeiten und Erfahrungswissen:<br />

Nicht nur von Ennstaler Bauern, sondern auch von Handwerkern,<br />

wie jene entlang der Salzstrasse wie an einer Perlenschnur aufgefädelten<br />

Schmiede, Wagner oder Sattler. Oder die Schneider und Schuster,<br />

die „auf Stör“ von Hof zu Hof zogen, Kleider und Schuh richteten und<br />

herstellten. Oder die stolzen und gewiss privilegierten Salinenbergleute<br />

und Salzfuhrleute. Oder jene Holzknechte und Holzführer, die in der<br />

Lage waren, harte und gefährliche Handarbeit im Wald zu verrichten.<br />

Dabei war nicht nur der arbeitende Mensch am Werk, sondern vielfach<br />

auch der Homo ludens. Nicht zufällig „entdeckte“ das städtische Bürgertum<br />

bei seiner Flucht in die idyllische Sommerfrische, dass die Menschen<br />

auf dem Lande nicht nur eine „arbeitende Masse“, sondern auch<br />

kreative und originelle Kulturschöpfer waren. Die Begeisterung für diese<br />

Menschen, im Besonderen für ihre Volksmusik, drückte sich gerade im<br />

Ausseerland aus, wie zum Beispiel bei Konrad Mautner, der sich als<br />

Abkömmling einer Industriellenfamilie in einen begeisterten Gössler<br />

verwandelte. 10 Vielleicht klingt in der überdurchschnittlich hohe „Musikantendichte“<br />

der Region, die in keiner öffentlichen Statistik als bemerkenswerte<br />

Erscheinung vorkommt, diese Seite des Homo ludens noch nach.<br />

Zu dieser besonderen Welt gehörten auch Almen und Berge, jener<br />

„erste Stock“ der Region, den auch Herbert Zand in seiner biografischen<br />

Erinnerung als Achse der Freiheit und des mythischen Zaubers<br />

erlebte. Nicht zufällig wurde das „Almleben“, trotz harter und verantwortungsvoller<br />

Arbeit, jedoch verbunden mit geringerer sozialer<br />

Kontrolle und mit mehr Freiheit, zum besonderen „Labor“ volkskultureller<br />

Ausdrucksformen und Gegenstand späterer Idealisierung. 11<br />

Die Zeit der Modernisierung und des großen Wandels ländlicher Regionen<br />

vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg machte jedoch auch sichtbar, wie<br />

gerne Menschen aus dieser kargen bäuerlich geprägten Welt flüchteten,<br />

hinein in eine Welt der – in dieser Region oft staatlichen – Arbeitsplätze<br />

in Industrie und Dienstleistung, die mehr Rechte, weniger Schinderei und<br />

mehr Wohlstand bedeutete. Vielleicht war die rasante Modernisierung in<br />

den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die Ablehnung alles Ländlichen,<br />

Regionalen und Alten und die Zuwendung zur modernen materiellen Kultur<br />

seit den 1960er-Jahren auch ein Ausdruck dieser Flucht.


146 — 147<br />

Günther Marchner<br />

12<br />

Thomas Hellmuth u.a.:<br />

Visionäre bewegen die<br />

Welt, Ein Lesebuch durch<br />

das Salzkammergut.<br />

Salzburg: Pustet 2005.<br />

13<br />

Daten laut „Rauminformationssystemsystem<br />

Steiermark. Regionalprofil<br />

Liezen“ (ein Projekt der<br />

Initiative Regionext des<br />

Landes Steiermark): Im<br />

Jahr 2005 waren 7% der<br />

Erwerbstätigen in der<br />

Land- und Forstwirtschaft,<br />

30% in Industrie<br />

und Gewerbe, 63% im<br />

Bereich der Dienstleistungen<br />

beschäftigt.<br />

Die romantische Idealisierung ländlich-alpinen Schaffens<br />

Alpine Landschaften dienten seit der Industrialisierung und seit ihrer<br />

romantischen „Entdeckung“ als vielfältige Projektionsflächen: sowohl für<br />

bürgerliche Fluchtbewegungen als auch für wärmestiftende Heimatbilder<br />

im Gegensatz zur Unwirtlichkeit und Unbehaglichkeit der industriellen<br />

Moderne. Die Landschaften des Bezirks Liezen – vor allem das Ausseerland<br />

– zeugen davon mit reichhaltigem Material. 12 Die arbeitenden<br />

Menschen in ländlichen Regionen – vor allem Bauern, Handwerker, Jäger,<br />

Holzknechte oder Sennerinnen – schienen für Adel und Bürgertum einem<br />

„Leben mit der Natur“ näher zu stehen. Sie idealisierten das harmonisch<br />

erscheinende und bescheidene Leben eines stolzen und eigensinnigen<br />

„Menschenschlages“. So entstanden Mythen des einfachen Volkes in<br />

einer heilen ländlichen Welt, nachhaltig wie wirkungsvoll besungen etwa<br />

von Erzherzog Johann<br />

Im Hinblick auf Idealisierung bis hin zum politischen Missbrauch stand<br />

im Besonderen immer das Bild des „stolzen unabhängigen Bauern“ im<br />

Mittelpunkt: zum Beispiel als Repräsentant des „einfachen und fleißigen<br />

Volkes“, als Vertreter einer ständischen Gesellschaftsordnung,<br />

oder – wie in der NS-Zeit – als tragendes Element einer Blut-und Boden-<br />

Mythologie. Heute ist es das Bild des Bauern als spezialisierter selbständiger<br />

Unternehmer. Dieses Bild kollidiert aber auch in dieser Region<br />

mit einer Realität, in welcher die Mehrheit der immer weniger werdenden<br />

Landwirtschaftsbetriebe zu abhängigen Gliedern einer Agrarmaschine<br />

geworden ist, eingespannt in vor- und nachgelagerte Bereiche einer Bereitstellungs-<br />

und Verarbeitungsindustrie und eines dschungelartigen<br />

Vertretungs- und Förderwesens.<br />

Ländlich-alpine Regionen werden auch in aktuellen Vorurteilen und<br />

Wunschbildern vieler Menschen noch immer als vorrangig „agrarische“<br />

Welt verstanden, ergänzt mit Tourismus und Naturschutz. Andere Bereiche<br />

wie Dienstleistung und neue Industrien, Forschung, Wissenschaft<br />

oder „Kreativwirtschaft“ sind in diesen Vorstellungen des ländlichen<br />

Raumes gar nicht vorgesehen – auch wenn die meisten Menschen im<br />

Bezirk Liezen nicht mehr in der Landwirtschaft tätig sind und obwohl es<br />

in dieser Region immer auch schon andere Branchen und Berufe gegeben<br />

hat. 13<br />

Der schaffende Mensch als Gestalter und Zerstörer seiner Umwelt<br />

Der „schaffende Mensch“ als Gestalter – und auch als Zerstörer – seiner<br />

Landschaft und Umwelt, manifestierte sich in der Region vielfältig: zum<br />

Beispiel in der Bewirtschaftung der Wälder für die Ausseer Salinen, die<br />

die Landschaften seit dem Mittelalter mitformte. In der Regulierung der<br />

14<br />

Der Begriff wurde verwendet<br />

in: Stefan Karner: Geschichte<br />

der Steiermark<br />

im 20. Jahrhundert. Graz:<br />

Styria 2000.<br />

Enns und die Nutzbarmachung des Talbodens für Verkehr und Landwirtschaft<br />

im 19. Jahrhundert. In der rasanten Veränderung der Kulturlandschaft<br />

durch Meliorationen, Mechanisierung, Flurbereinigung, Produktivitätssteigerung<br />

und Spezialisierung auf Grünlandbewirtschaftung.<br />

Oder im Wandel von der ennstalerischen Heuhütten- in eine Heuballen-<br />

Landschaft, unterbrochen vom Zeitalter der Betonsilos der 1970er- und<br />

1980er-Jahre.<br />

Oder durch den Wandel der Verkehrswege in der Region, wie zum Beispiel<br />

mit dem markanten Beginn des Eisenbahnzeitalters in den 1870er-<br />

Jahren (was erst durch die Regulierung der Enns möglich geworden war).<br />

Historisch waren die Verkehrswege oft quer zum Talboden verlaufen, zum<br />

Beispiel vom Pass Stein ins Sölktal oder durch das Donnersbachtal über<br />

das Gladjoch Richtung Süden. Die uns heute bekannten Hauptstrecken<br />

durch die Talböden waren nicht immer die wichtigsten, da technisch genauso<br />

rasch (oder langsam) zu bewältigen, wie die Saumpfade über die<br />

Alpen. Der Bau des Eisenbahnnetzes veränderte durch die Einbindung<br />

der Region in ein überregionales Industriesystem die Bedingungen des<br />

Wirtschaftens in der Region ebenso radikal wie der spätere motorisierte<br />

Straßenverkehr. In den 1970er-Jahren wurde das Ennstal zur gefürchteten,<br />

da gewundenen, langsam zu befahrenden, vom Verkehr überrollten<br />

„Gastarbeiterroute“. Eine Entwicklung, die schließlich zur Planung der<br />

„Ennsnahen Trasse“ führte, die nicht nur als Verkehrsweg, sondern auch<br />

als Konfliktlinie von Befürwortern und Gegnern das Tal in zwei Hälften<br />

schneidet.<br />

Oder sei es der Tourismus, der in den Gesichtern mancher Gemeinden<br />

seine Spuren hinterließ, sogar bis hin zum „totalen Tourismus“ 14 , der<br />

als teilweise realisierte Vision in den 1970er-Jahren z.B. die Gemeinde<br />

Bad Mitterndorf prägte, bis der Bauboom aufgrund des zunehmend unbehaglichen<br />

Gefühls quer durch alle Gemeinderatsfraktionen in einem<br />

Baustopp mündete. Genauso wie in der Dachstein-Tauernregion, wo die<br />

Tourismusinfrastruktur den umliegenden Bergen einen nachhaltigen<br />

Stempel aufdrückt.<br />

Regionalität als Aufstand gegen Entwertung<br />

„Regionalität“, jenes Schlagwort, das im Schatten der Globalisierung zur<br />

Konjunktur gelangte, lebt nicht nur vom der Erfahrung des Verschwindens<br />

nahräumlicher Qualitäten, sondern vor allem vom „Aufstand“ gegen<br />

einen schleichenden Entwertungsprozess lokal gebundener Erwerbstätigkeit<br />

und Wertschöpfung. Dieser Wandel, der traditionelle wirtschaftliche<br />

Kleinstrukturen unter Druck setzt, hat seine Auswirkungen auch in<br />

einem Bezirk wie Liezen, wo Wertschöpfung, Kaufkraft und Humanressourcen<br />

in einem stetigen Prozess an Ballungsräume verloren gehen oder


148 — 149<br />

Günther Marchner<br />

15<br />

Siehe dazu: www.meisterstrasse.at<br />

16<br />

Vgl. dazu: Landschaft des<br />

Wissens (Hrsg.): Strategien<br />

des Handwerks.<br />

Sieben Portraits außergewöhnlicher<br />

Projekte in<br />

Europa. Stuttgart 2006.<br />

sich an wenigen verkehrsgünstigen Punkten und attraktiven Standorten<br />

in der Region konzentrieren.<br />

Bereits vor drei Jahrzehnten ist dagegen die Idee der „eigenständigen Regionalentwicklung“<br />

geboren worden – die auch in der Programmatik des<br />

europäischen Förderprogramms „Leader“ ihren Ausdruck findet. Statt auf<br />

Betriebsansiedlungen, Wachstumseffekte und den Segen von außen und<br />

von oben alleine zu hoffen, werden mit dieser Idee die vorhandenen Potenziale<br />

und Stärken der Menschen einer Region und das gemeinschaftliche<br />

innovative Handeln und Erneuern in den Mittelpunkt gestellt. Diese<br />

Idee erzählt im Grunde von nichts anderem als von „schaffenden“ und<br />

„eigensinnigen“ Menschen als Motoren für die Entwicklung in Regionen.<br />

Gerade in der Konzentration auf wertschöpfende Potenziale und identitätsschaffende<br />

Qualitätsprodukte einer Region wird die Wiederaufwertung<br />

von vorhandenen Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, um<br />

gute Arbeit zu machen und Qualität zu schaffen, zum Leitmotiv. Erzählt<br />

nicht gerade die Vermarktungsplattform der „Meisterstraße“, die die Renaissance<br />

österreichischer Handwerkskultur propagiert, und der inzwischen<br />

viele Betriebe im Salzkammergut und im Ennstal angehören, nicht<br />

vom Stolz auf die eigene Qualität, auf die Besonderheit originärer wie<br />

kreativer Leistungen und von ihrem Beitrag zu Wertschöpfung und Lebensqualität<br />

in der Region? 15 Sind nicht die Ennstaler Lodenwalkereien<br />

Beispiele für „neue Strategien des Handwerks“ 16 und für Betriebe, die es<br />

schaffen, traditionelle Verfahren und gewachsenes Wissen mit Spezialisierung<br />

und Nischen-Marketing zu kombinieren und sich in einer Wirtschaft<br />

zu behaupten, in welcher eine europäische Textilindustrie kaum<br />

noch eine Rolle spielt?<br />

Sind die Landschaften des Bezirks nicht voll brach liegendem und unsichtbar<br />

gewordenem Erfahrungswissen in Land- und Forstwirtschaft, in<br />

der Holzverarbeitung, in montanistischen Techniken oder im Tourismus,<br />

die in neuen Kombinationen und Modellen auch in der „Wissensgesellschaft“<br />

genutzt werden können?<br />

Vielleicht tritt der „schaffende Mensch“ in dieser Region zukünftig<br />

vermehrt als jugendlicher Neugründer, als kreative Bäuerin, als initiative<br />

Dienstleisterin oder als engagierter Migrant ebenso hervor wie als<br />

neuartige Kooperation zwischen Gewerbetrieben oder als kleingenossenschaftliche<br />

Initiative in der Landwirtschaft – wie es zum Beispiel die<br />

„Hinterberger Landpartie“ als Plattform von rund 15 Bauern tut.<br />

Auf der Suche nach dem regionalen Eigensinn<br />

Eigensinn wird den Landschaften des Bezirks Liezen zugeschrieben –- positiv<br />

wie negativ. Aber was ist damit gemeint? Ist es ein bäuerlicher Katholizismus<br />

oder eine sozialdemokratische Holzknechtkultur, die so manche<br />

gegen den Nationalsozialismus immunisierte oder der Eigensinn mancher<br />

Menschen aus dem Salzkammergut, der sie in den spanischen Bürgerkrieg,<br />

zur Desertion von Kriegseinsatz und zum Versteck ins Tote Gebirge geführt<br />

hat. Ist es der Eigensinn mancher Ortschaften, wo das geheimprotestantische<br />

Verstecken und Zusammenhalten gegenüber der katholisch-habsburgischen<br />

Obrigkeit noch heute seine kulturellen Spuren hinterlässt, obwohl<br />

in den meisten Fällen jegliche Überlieferung an reformatorisches Aufbegehren<br />

gelöscht worden ist? Oder ist es der Eigensinn des „Ausseers“, der in<br />

seinen Jahreskalender gleich mehrere heilige Faschings- und Bierzelttage<br />

einbaut, um gesellschaftliche Normen und Pflichten außer Kraft zu setzen<br />

und welcher im Wechselspiel zwischen Einheimischen und bewundernden<br />

„Zuagroasten“ zum überregionalen Markenartikel geworden ist? Oder der<br />

Eigensinn von Menschen, die – wie einst die Figur des murtalerischen Hödlmosers<br />

– gar nicht wissen, dass sie sich in einer peripheren Lage befinden<br />

und die eigene Welt immer als Mittelpunkt „rationalisieren“, um gar keine<br />

defizitären Gefühle aufkommen zu lassen, und eben Graz und andere „abgelegene“<br />

Gegenden zur unwichtigen Peripherie erklären? Oder jener Eigensinn,<br />

der scheinbar selbstbewusst, aber bildungsfeindlich daherkommt und<br />

der entsteht, wenn man sich ausgeschlossen fühlt, nicht mehr mitkommt<br />

und auf „eckig sein“ pocht, im Widerstand gegen eine Modernisierung, von<br />

der man sich ausgeschlossen fühlt. Oder ist es der Eigensinn von Personen,<br />

die sich in einer Region ohne bürgerlich-städtische Kultur erlauben,<br />

in der Öffentlichkeit „abweichende“ und kritische Meinungen zu äußern?<br />

Oder vielleicht der Eigensinn, der in der unnachahmlichen Querfeldinterpretation<br />

von Volksmusik und Jazz bei der Wörschacher „Lemmerer Musi“<br />

zum Ausdruck kommt?<br />

In einer Arbeitswelt, die den Menschen Anpassung und Funktionieren abverlangt,<br />

wird Querdenken und Kreativität zunehmend als Quelle für Innovation<br />

gesehen, sodass in der heutigen Wettbewerbsgesellschaft überall<br />

nach eigensinnigen Menschen mit neuen Ideen gesucht wird. Heute hängen<br />

auch die Möglichkeiten von ländlichen Regionen immer weniger von<br />

Grund und Boden, sondern vor allem von Wissenspotenzialen ihrer Menschen<br />

sowie von Motivation und Eigensinn ab. Und obwohl die „Statistik<br />

Austria“ und wahrscheinlich alle Raum- und Regionalexperten aufgrund<br />

vorhandener Daten und der topografisch-strukturellen Lage den Bezirk<br />

Liezen zur strukturschwachen und peripheren Region erklären, wird in<br />

Schladming oder vor allem auch im Ausseerland niemand daran zweifeln,<br />

sich trotzdem im Mittelpunkt der Welt zu befinden.


150 — 151<br />

Der Autor, seine realen und<br />

fiktiven Protagonisten<br />

Wegnotizen auf einem literarischen<br />

Weitwanderweg<br />

Text: Peter Gruber<br />

Bilder: Kurt Hörbst<br />

� � Im Sommer lebe ich im Dachsteingebirge. Auf einer Alm. In einer<br />

Textwerkstätte. In einer Denkhütte. Mit Blick auf den Dichterfelsen, von<br />

dessen höchstem Punkt einst mein literarischer Weg seinen Ausgang<br />

nahm. Ein Weg, der längst zum Weitwanderweg wurde. Ein Weg, der<br />

mich zunächst in die Notgasse führte, eine bizarre Felsenschlucht<br />

inmitten des Kemetgebirges, danach durch wildreiche Hochwälder in die<br />

düstere Tälchenfurche mit dem Schattenkreuz lenkte, von dort aus auf<br />

die Hirzberghöhen und weiter auf das Wind und Wetter ausgesetzte<br />

Karstplateau zum Tod Am Stein, und schließlich im gwändigen öden<br />

Gebürg in den Sommerschnee. Ein Weitwanderweg, der gewissermaßen<br />

mit meinen literarischen Werken Hand in Hand geht und einen chronologischen<br />

Bogen von fast 500 Jahren übers Dachsteingebirge spannt, vom<br />

Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Ein Weg, dessen Tritte in den<br />

Tälern, Stufen auf den Höhen, Fußstapfen im Schnee und Schritte im<br />

Nebel ich gerne erneut abschreite, jedenfalls gedanklich, auf der Suche<br />

nach besonderen Wegnotizen und nach Begegnungen mit jenen Menschen,<br />

die meinen Weitwanderweg kreuzten, und die seither wie Wegmarken<br />

in meinen Erinnerungen leben, ob realer oder fiktiver Natur. � �<br />

Etappe I: Die Blütezeit des Almlebens, die Anfänge der Reformation, der<br />

Bauernaufstand im Jahr 1525. Etappe II: Die Hoch-Zeit der verbotenen<br />

Jagd, die Wilderei, das Aufeinanderprallen von Wildschützen und Jägern,<br />

vor dem Hintergrund der Zwischenkriegszeit und der Wirren der Ersten<br />

Republik. Etappe III: Die Erschließung des Gebirges als internationale<br />

Fremdenverkehrsattraktion, das unvergessliche Unglück der Heilbronner<br />

Schüler und Lehrer. Etappe IV: Die gegenwärtige Situation der Dachstein-Almen,<br />

die kaum noch erhebliche wirtschaftliche Bedeutung<br />

haben, heutzutage auch als Rückzugsorte für Identität suchende Menschen<br />

dienen – so etwa für mich, den Hüterautor, wie mich der Alm-<br />

Kunst-Kurator zu benennen pflegt. � � Der 23. Oktober 1994 ist ein<br />

Bilderbuchtag. Auf den Almhöhen strahlen die Lärchen, bronzefarbene<br />

Nadeln tänzeln durch die Lüfte, entkleiden die knorrigen Uraltriesen,<br />

lassen dünnes Gezweige mehr und mehr nackt zurück, besäen die frosterstarrten<br />

Mulden und länger und länger werdenden spätherbstlichen<br />

Schatten. Auf einem meiner liebsten Aussichtshöcker im Gebirge lasse<br />

ich die Gedanken lustwandeln. Ich stelle mir vor, wie es gewesen sein<br />

mag, vor Jahrhunderten, als die Steige und Almen mindestens so sehr<br />

belebt waren wie die Dörfer und Märkte in den umliegenden Tälern. Ich<br />

stelle mir das rege Leben und Treiben recht fantasievoll vor. In den Almdörfern<br />

mit dutzenden von niedrigen Hütten, mit hunderten von Almtieren,<br />

mit unzähligen Menschen, Frauen und Männern, Kindern und Alten.<br />

Ich ahne, wie die Almschreie und Juchzer der Almleute und die Glocken<br />

und Schellen des Almviehs die Höhen zum Erklingen gebracht haben.<br />

Die Vorstellung, eine große Geschichte über die Almen im Dachsteingebirge<br />

zu schreiben, beseelt mich. Meine Idee vom Leben auf der Hirzbergalm<br />

nimmt ihren Anfang, ebenso die vom Sterben in der Notgasse. � �<br />

Ein umtriebiger Felsritzbildhüter gewährt mir Zugang und Einblick in<br />

ein reichhaltiges Archiv. Ich orte die Anfänge der Reformationszeit als<br />

die veränderungsstärkste Epoche aller Zeiten im und rund um das Dachsteingebirge,<br />

die Jahre von 1523 bis 1525. Mit dem vereinten Aufstand<br />

der Bergknappen und Bauern gegenüber Grundherrschaften. Mit einem<br />

Rebellenheer von 10.000 Mann, das sich gegen die Söldner des Landesfürsten<br />

stellt, im Ennstal und im Paltental, einen blutigen, unerbittlichen,<br />

zunächst durchaus erfolgreichen Kampf führt. Aber das Kriegsglück<br />

ist für die Aufständischen nur von kurzer Dauer. Die Notgasse<br />

gerät in den Mittelpunkt der Geschichte, als unheimlicher Ort, an dem<br />

dämonische Kräfte walten. Der gleichnamige Romantitel soll zugleich<br />

eine Metapher sein für Leid, Schuld und deren Überwindung. � �<br />

Aneignen eines sonderbaren Glossars: Aderlassen (den Kranken Blut<br />

entziehen, schröpfen), Bader (handwerksmäßig geschulte Helfer bei<br />

Krankheiten), Bergmiete (Zinsabgabe für Almbenützung), Drude (alptraumhafte<br />

Peinigerin aus der Teufel-Sippschaft), Fußbrand (offene Feuerstätte),<br />

Gewäg Haar (Maßeinheit für Flachs), Gorz (Maßeinheit, 12<br />

Gorz = 1 Mut), Harnisch (Brustpanzer für Soldaten), Hellebarde (Waffe,<br />

Spieß mit Axt), Kaskee (konisches Holzgefäß mit durchlöchertem<br />

Boden), Mut (Maßeinheit, ca. 270 Liter), Pfleger (Verwalter für eine<br />

Grundherrschaft), Schwardach (Flachdach mit Legschindeln und Steinbeschwerung),<br />

Sudpfanne (zum Aussieden von Salz), Terz (Türkensteuer,<br />

wurde vom Landesfürsten speziell zur Abwehr der Türken eingehoben).<br />

� � Die Felsritzbilder in der Notgasse, an überhängenden Felsen zu<br />

finden, sind zwar in ihren symbolischen Bedeutungen erklärbar, hinsichtlich<br />

ihrer Herkunft jedoch bleiben die meisten bis heute ein Rätsel,<br />

öffnen deshalb Tür und Tor für alle möglichen Interpretationen. Dass die<br />

Bilder den Lebenswelten von Almleuten, Jägern, Salzträgern, Holzarbeitern<br />

entspringen, gilt als am Wahrscheinlichsten. Wie eine seltene Blüte


152 — 153<br />

Peter Gruber<br />

der Erkenntnis erscheint es mir, dass die in die Verwitterungsrinde des<br />

Kalkgesteins geritzten Initialen und Jahreszahlen, vorwiegend das<br />

17./18. Jahrhundert betreffend, als Sterbedaten von geheimprotestantischen<br />

Bauern gedeutet werden, wie dies einem ORF-Radio-Wandersendung-Skript<br />

von 1982 zu entnehmen ist, wobei sich die Redakteure auf<br />

eine Gröbminger Quelle berufen. � � Manche Bergführer, die heutzutage<br />

Gäste durch die enge, verschlungene Notgasse führen, zeigen sich<br />

mehr vom realen Gegenwärtigen angetan als vom mystischen Vergangenen,<br />

wie etwa von einer Kleinflugzeugabsturzstelle, die an den tragischen<br />

Tod von vier Insassen erinnert, nach denen in den 1980er-Jahren<br />

wochenlang gesucht wurde. � � Notgasse ist der historische Roman<br />

der Heimat Peter Grubers, die er herzlich liebt und die ihn in ihren Armen<br />

hält, stellt der Geschichteprofessor fest, anlässlich der Roman-Erstpräsentation<br />

beim Grafenwirt in Aich. � � Der Autor dürfte für diesen<br />

Roman einen guten Lektor gehabt haben, äußerst sich die betagte<br />

Volksmusiklehrerin, selbst auch poetisch tätig, im höchsten Maße anerkennend<br />

nach etwa der ersten Hälfte der Lektüre, erfreut über die gute<br />

Recherche im Milieu der Bauern und was die Besiedelungshistorie des<br />

Ennstales betrifft. Der Autor müsse jedoch plötzlich von allen guten<br />

Geistern verlassen worden sein, meint sie vernichtend, ebenso im<br />

höchsten Maße, nach der zweiten Hälfte der Lektüre, und sie ortet diesen<br />

Teil als schrecklichen Unsinn. � � Wissenshüter, wie es insbesondere<br />

Wissenschaftler, Forscher, Historiker, Chronisten, Archivare, aber<br />

vor allem auch Hobby-Volkskundler sind, mögen es gar nicht gerne,<br />

wenn ihnen ein vermeintlich Gescheiterer in die Quere kommt. Dies ist<br />

eine Erkenntnis, die ich im Zuge meiner Recherchen mache, die mich<br />

zwar befremdet, den einen und anderen Zugang zu Wissenswertem deshalb<br />

auch erschwert, mich aber von meinem weiteren Tun nicht abbringen<br />

lässt. � � Im Frühjahr 1999 erfahre ich, dass vier Jäger aus dem<br />

Gröbminger Winkl das Höflechner-Kreuz wiederaufgestellt haben, das<br />

schwere Eisenkreuz, nachdem es nach fast sieben Jahrzehnten durch die<br />

winterliche Schneelast vom großen Kalksteinklotz gedrückt worden war,<br />

der seit 1931 an den erschossenen Jäger in der Tälchenfurche erinnert,<br />

an einem äußerst schwer aufzufindenden Ort im Kemetgebirge, zwischen<br />

dem kleinen Z’sammtreibboden und der Zeissenstallalm. In einer<br />

Nacht-und-Nebel-Aktion haben die Jäger den Schaden behoben, unter<br />

Ausschluss der Öffentlichkeit, wie es sich für diesen Berufsstand<br />

geziemt. Doch was vermag schon geheim zu bleiben, wenn anschließend<br />

Jäger und Nichtjäger im Dorfwirtshaus einander begegnen. � � Wenn<br />

man das erste Mal diese Tälchenfurche betritt, bei schlechtem Wetter,<br />

bei Nebel, Nieseln oder bei Nordwind, man plötzlich zwischen den zig<br />

quer liegenden Bäumen und inmitten der vielen glitschigen, stummen<br />

Tothölzer das schwarze Eisenkreuz mit seinen nach oben und seitlich<br />

ragenden scharfen Zargen erblickt, überkommt einen leicht ein Gefühl<br />

des Unbehagens, und man beginnt sogleich, sich vorzustellen, was sich<br />

hier an jenem Julimontagmorgen tatsächlich zugetragen haben könnte.<br />

� � Als ich meinen Vater – zugleich einer meiner wichtigsten<br />

Gesprächspartner, was Recherchen hinsichtlich der Dachsteinweitwanderweggeschichten<br />

anbelangt – darüber in Kenntnis setze, dass ich<br />

mich literarisch dem offensichtlich nie wirklich geklärten Fall Höflechner,<br />

insbesondere dem damit in Verbindung stehenden und damals<br />

wider Erwarten vom Gericht, noch dazu in einem aufsehenerregenden<br />

Prozess mit Lokalaugenschein am Tatort im Hochgebirge, in allen Anklagepunkten<br />

freigesprochenen Wilderer August Dormann widmen möchte,<br />

fragt er mich spontan: Traust du dich das? Ist das nicht zu gewagt?<br />

Schließlich geht selbst heute noch ein heftiger Ruck durch die Jägerkreise,<br />

wenn das Wort auf den Freispruch dieses verruchten Wilderers<br />

fällt. � � Die Steiner-Gretl, leidenschaftliche und legendäre Sängerin<br />

und Jodlerin, bevorzugt in Perlloden gekleidet, begleitet mich zu einem<br />

erfahrenen Jäger am Fuße der Dachstein-Südwände, zu einem älteren<br />

Mann, dem ein großer Wissensschatz nachgesagt wird. Ja, ich weiß von<br />

diesem Fall Höflechner, von der Geschichte mit dem Stock und den Haaren,<br />

vom unverzeihlichen Freispruch, vom Justizirrtum, vom Justizskandal,<br />

von der Aufgebrachtheit in der Jägerschaft. Ich vermute, dass Dormann<br />

falsche Aussagen gemacht hat, vielleicht doch Mithelfer hatte.<br />

Jedenfalls galt er als frech und selbstsicher. Hat die ganze Justiz in die<br />

Irre geführt. Das Gerücht, dass Ramsauer Wildschützen für seinen Verteidiger<br />

Geld gesammelt hätten, für einen Juden noch dazu, ist wahrlich<br />

nicht glaubhaft. Es war bestimmt kein Unfall, keine Notwehr, sondern<br />

kaltblütiger Mord. � � Der erfahrene Jäger bestätigt mir, dass es tatsächlich<br />

so was wie Schussfieber gibt. Vor allem bei jüngeren Schützen.<br />

Das ist die Aufregung, das Warten, bis ein Wild in richtiger Position für<br />

einen Breitschuss ist, um es ganz sicher zu treffen. Da werden die<br />

Hände zittrig, die Nerven flattern, die Ungeduld wächst. Im höheren<br />

Alter ist das nicht mehr so, kann man schon auch einmal auf einen<br />

Schuss verzichten. � � Dieser erfahrene Jäger erzählt mir auch davon,<br />

dass sie als Schüler den Heimwehr-Angehörigen nachriefen: Hahnenschwanz,<br />

Hahnenschwanz, bist ein armer Tropf. Was der Hahn am Hintern<br />

trägt, trägst du auf dem Kopf. Unerklärlich aber ist ihm, dass alle<br />

Angehörigen der Heimwehr Spielhahnfedern als Hüteschmuck trugen. So<br />

viele Spielhähne kann es doch gar nicht gegeben haben, erklärt mir der<br />

Mann, es müssten ja alle zum Abschuss freigegeben worden sein. Er<br />

vermutet vielmehr einen Import von einem verwandten Hahn in Skandinavien,<br />

den es in viel größerer Zahl gab. � � Bei einem etwas älteren<br />

Herren, ebenfalls einem Zeitzeugen der 30er-Jahre, den ich, so wie allgemein<br />

ältere Informanten mit Hilfe einer Vertrauensperson kontaktiere,<br />

erwarte ich mir mehr Details zum Fall Höflechner, erhalte stattdessen<br />

jedoch eine ausführliche Milieu-Studie, was die frühe nationalsozialistische<br />

Tätigkeit im oberen Ennstal betrifft. Ich lausche mit einer Mischung<br />

aus großem Interesse und Ernüchterung zugleich. Der ältere Herr


154 — 155<br />

Peter Gruber<br />

erzählt mir von einem Aufmarsch der Nazis mit Transparent und Gesang,<br />

cirka 20 junge Männer, alle mit weißen Hemden und weißen Stutzen<br />

bekleidet, anlässlich einer NS-Versammlung in den Jahren 1932/33 in<br />

Gröbming, die vom örtlichen Gendarmen wegen Aufmarschverbotes verhindert<br />

wurde, weshalb man später im Gasthofgarten weitergesungen<br />

hatte. Der ältere Herr weiß auch davon, dass Nazis damals zu Ehren der<br />

im Weltkrieg Gefallenen zu Allerheiligen das Kriegerdenkmal in Gröbming<br />

mit Kranz und Schleife versehen hatten. Das hat einen großen<br />

Konflikt mit dem damaligen Gröbminger Pfarrer zur Folge gehabt. Dieser<br />

ältere Herr erzählt mir auch, dass auf einem Felsen über dem Sattental<br />

ein Hakenkreuz prangte, weithin sichtbar. � � Ich ahne, dass die literarische<br />

Bearbeitung des Falles Höflechner vom zeitgeschichtlichen Hintergrund<br />

nicht loszusagen sein dürfte, vielmehr werde ich einen Nachhilfeunterricht<br />

nehmen müssen, denn mein erworbenes Schulwissen über<br />

die Zwischenkriegszeit wird kaum ausreichen, um möglichst real diese<br />

Zeit beschreiben zu können. � � Der älteste aller Zeitzeugen, ein über<br />

Neunzigjähriger, zugleich einer, der sogar noch persönlich beim Prozess<br />

vor Ort dabei war, damals bereits als Jungjäger, im Turnsaal der Volksschule<br />

Gröbming, den man kurzerhand zum Prozessraum umgewandelt<br />

hatte, und wo um zwei Uhr in der Früh der von allen Seiten vehement<br />

verteufelte Freispruch getroffen worden war. Dieser Neunzigjährige will<br />

mir in der Tat weismachen, dass die Ramsauer mit dem Angeklagten<br />

Dormann unter einer Decke steckten, weil sie selbst die ärgsten Wilderer<br />

im Kemetgebirge waren, und viel Geld für den Verteidiger aufgebracht<br />

haben. Der Mann zeigt mir einen Eintrag in seinem Tagebuch, in dem von<br />

20.000 Schilling die Rede ist. Hitlerverehrung und Judenhass in einem<br />

schlagen mir in diesem Recherchegespräch entgegen. Die Zeit sei extrem<br />

schlecht gewesen, versucht mir der Zeitzeuge verständlich zu<br />

machen. Die Bauern gingen Not abbeten, der Bauer trug dabei eine<br />

Pfanne mit Glut und Weihrauch bei sich und sprach: Koa Staberl steht,<br />

koa Bröckl Brot, und ein Bub ging hinten nach und sagte: Verdammte<br />

Not! Verfluchte Not! � � Mehrere Monate lang widme ich mich in der<br />

Folge ausschließlich dem nachträglichen Geschichteunterricht, begebe<br />

mich in Archive, sichte einschlägige Literatur, vergleiche meine Erkenntnisse<br />

und die Aufzeichnungen meiner Gespräche mit den Zeitzeugen mit<br />

historisch kompetenten Experten. Allmählich gedeiht mein Wildererroman.<br />

� � Ein Ramsauer, dessen Vater verdächtigt wurde, in den Fall<br />

Höflechner verstrickt gewesen zu sein, gewährt mir Einblick in die private<br />

Sammlung von seltenen Fotos und Postkarten. Mir fällt die gestochen<br />

schöne Handschrift von Dormann auf. In diesem Gespräch erfahre<br />

ich von einem obersten Gebot, dass sich Wildschützen immer wieder<br />

und wieder in Erinnerung riefen und regelrecht antrainierten: Sofort die<br />

Waffe wegwerfen, wenn du auf einen Jäger stoßt! Nur ja nicht in Versuchung<br />

kommen, die Waffe auf einen Jäger zu richten! � � Die Tochter<br />

eines Wildschützen zeigt sich stolz, weil sie schon im jungen


156 — 157<br />

Peter Gruber<br />

Mädchenalter vom Vater in den Wald mitgenommen wurde. Sie hat<br />

bereits als Kind einen Rehbock erlegen dürfen. Einmal haben sie beide,<br />

Vater und Tochter, frisches Gamsblut getrunken. Ihr Vater meinte, dass<br />

dies sehr gesund sei. Sie erinnert sich noch gut an die volle Doppelhandkehle<br />

mit dem Blut. Wildererleidenschaft ist nicht erklärbar, sagt<br />

sie. Das ist ein Gefühl. Nichts für den Verstand. Auch nicht die Tötungslust.<br />

Es ist das Verbotene, das Warten, die Chance, die Überlegenheit.<br />

� � Am Rande eines Vortrages des bekannten Wildererprofessors, vor<br />

voll gefülltem Saal in Gaishorn, versuche ich, den lokalen Wildschützen<br />

Dormann ins Gerede zu bringen, stelle jedoch bald fest, dass dies gar<br />

kein erwünschtes Gesprächsthema ist, trotz der längst vergangenen<br />

Geschehnisse. Mit ernsten Mienen hören die Gäste dem unterhaltsam<br />

vortragenden Professor zu und mit regungslosem Gesichtsausdruck folgen<br />

sie dem Gesangsquintett bei der Wildererhymne: An eines Sonntags<br />

Morgen. Trotz Einladung des Vortragenden findet kein einziger der<br />

Zuhörer auch nur einen Ton zum Mitsingen. � � Die Gerüchte, was<br />

unmittelbar nach dem Freispruch aus dem Wildschützen Dormann<br />

geworden ist, sind so vielfältig, wie es sich wohl oder übel für eine Figur<br />

dieser Art gehört. Man sagt, er habe sich umgebracht. Er sei in die Enns<br />

gegangen. Er habe sich erhängt. Er sei neuerlich der Leidenschaft des<br />

Wilderns nachgegangen. Er habe sich später jenseits der deutsch-österreichischen<br />

Grenze herumgetrieben. Er sei wieder auf frischer Tat<br />

ertappt und hinter Schloss und Riegel gebracht worden. Er habe geheiratet,<br />

und nachdem er seiner Gemahlin gestanden hat, dass er drei Menschenleben<br />

auf dem Gewissen habe, wurde ihm verwehrt, weiterhin im<br />

Haus zu schlafen, er habe fortan mit einer Hütte Vorlieb nehmen müssen.<br />

Wahrheiten? Gerüchte? Lügen? Legenden? Der Anfang eines<br />

Mythos? � � Im Dachsteingebirge, auf einer Alm, in einer Textwerkstätte,<br />

in einer Denkhütte, vertiefe ich mich in das Schattenkreuz-<br />

Manuskript. Einige Minuten zuvor war ich noch draußen unterwegs,<br />

habe beobachten können, wie der Bergnebel von den Hirzberghöhen tiefer<br />

und tiefer wölbte, grüne Gamsäsungen verhüllte, gleichfarben mit<br />

dem grauen Kalkkarst verschwamm, näher und näher rückte, kühle und<br />

feuchte Luft mitbringend. Bergnebel ist der Freund des Wilderers. Bergnebel<br />

ist auch mein Freund, der mich stets läutert, mir alles Wesentliche<br />

vom Unwesentlichen zu trennen vermag, und mich dazu inspiriert,<br />

unmittelbar Papier zu entrollen und Bleistifte zu spitzen, mich hinzusetzen<br />

und sofort festzuhalten, was mir gedanklich in den Sinn kommt, so<br />

wie an diesem Tag, mit der alles entscheidenden Erzählszene im Skript,<br />

der Wildererpirsch in der Tälchenfurche am Julimontagmorgen. Mittendrin<br />

in meinem Unterfangen kreuzt der Königreichalmhüter auf. Heute<br />

Nacht wird der Jäger dran glauben müssen, sage ich zum Almnachbarn.<br />

Lass ihn noch eine Nacht leben, fleht mich der Almnachbar an, nicht<br />

minder lapidar. � � Schreib doch einmal eine Geschichte mit einem<br />

guten Ausgang, wünscht sich sehnlich eine treue Leserin meiner Bücher.<br />

Wenn Schattenkreuz auch so eine grausame Geschichte ist wie Notgasse,<br />

werde ich das Buch nicht lesen, lässt mir eine andere Leserin<br />

ausrichten. � � Bei der gut besuchten Sonderausstellung Auf der Alm<br />

im Schloss Trautenfels in den Jahren 2004 und 2005 wird mir, dank<br />

eines Impulses vonseiten des AlmKunst-Kurators, die Möglichkeit zum<br />

Mitwirken beschert. Kunst 19 lässt die Besucher eine Textwerkstatt-Alm<br />

schauen, mit Werkzeug und Schwersteinen auf Materialbündeln, wo mit<br />

Roafmesser und Bleistiftspitzer gleichermaßen umgegangen wird, wo<br />

die Abfälle zum eigentlichen Werkplatz gehören wie die Scharten in die<br />

Tischlerei, oder es ist alles ganz anders, penibel geordnet und aufgeräumt.<br />

Anlässlich der Ausstellungseröffnung begegne ich dem vulgo<br />

Kalcher aus Ramsau am Dachstein, der mir schildert, wie er auf imaginäre<br />

Weise meiner Notgasse-Erzählung gefolgt ist, auf Schritt und Tritt,<br />

jeden im Buch beschriebenen Ort, ob realen oder fiktiven Ursprungs,<br />

gedanklich nachgegangen ist und jeden dieser Orte in seinen Vorstellungen<br />

auch gefunden hat. Ich bin tief bewegt von dieser Begegnung mit<br />

dem alten vulgo Kalcher, und ich denke mir, dass es sich für solch einen<br />

Leser allein lohnt, eine Geschichte zu erzählen. � � Einige Wochen<br />

nach der Veröffentlichung des Romans Schattenkreuz entdecke ich, bei<br />

einem Fitnesslauf entlang der Enns, nahe der Brücke in Aich, unmittelbar<br />

neben Altpapiercontainern einen Haufen mit alten Zeitungen und<br />

Zeitschriften. Im Zuge meiner Recherchen in Archiven und Sammlungen<br />

habe ich mir den Blick der Neugierde für altes, vergilbtes Papier angewöhnt,<br />

und ich kann nicht umhin, vor diesem Haufen jäh zu stoppen und<br />

darin zu stöbern. Nach nur wenigen Augenblicken halte ich eine Ausgabe<br />

der Neuen Illustrierten Wochenschau aus dem Jahr 1954 in Händen,<br />

eine damals im ländlichen Raum beliebte Wochenzeitung, und mir<br />

sticht sogleich die Titelseite ins Auge, mit einer Reportage vom Heilbronner<br />

Dachsteinunglück und, zu meiner völligen Verblüffung, einem<br />

Titelfoto, dass drei der im Schnee erfrorenen Opfer unmittelbar nach der<br />

Bergung in Großaufnahme zeigt. � � Magst dich schon äußern, welches<br />

Thema du als nächstes bearbeiten wirst, fragt mich der Grafenbergalmhüter<br />

in einem Café in Wien. Ja, weißt, da gibt es noch eine<br />

Geschichte, ein Dachstein-Ereignis, stottere ich wohl ein wenig unsicher,<br />

in Anbetracht des frühen Stadiums meiner Überlegungen, und ich meine,<br />

dass es vielleicht an der Zeit wäre, mir ernsthaft Gedanken zu machen.<br />

Noch gar nicht auf den Punkt meiner Äußerungen gekommen, nimmt mir<br />

der Grafenbergalmhüter das Wort vorweg: Du meinst die Dreizehn, die<br />

Kinder, die Lehrer, die an einem Karfreitag gestorben sind. � � Von der<br />

Tälchenfurche mit dem Schattenkreuz ist es ein weiter, mühsamer Weg<br />

bis zum Tod Am Stein. Die Geländeunwirtlichkeit lässt es kaum zu,<br />

geradlinig zu gehen, immer wieder muss breiten Latschenfeldern, Geröllhalden,<br />

Karen, Dolinen, Schlünden und Abgründen ausgewichen werden.<br />

Manchmal führt es einen um die rundlichen Kuppen der Hirzbergausläufer,<br />

manchmal durch die aussichtsarmen Muldensenken. Man erzählt,


158 — 159<br />

Peter Gruber<br />

dass an jenen dreizehn Orten im Kalkkarst, wo die einzelnen Opfer später<br />

gefunden wurden, jeweils ein rotes Kreuzlein auf den blanken Fels<br />

gemalt worden ist, zur Erinnerung an die weit voneinander verstreuten<br />

Dreizehn. Nur wenige Ortskundige wissen noch um die Orte dieser<br />

Kreuzlein. Ich widme mich ausgiebig der Recherche im Umfeld des Heilbronner<br />

Kreuzes – das übrigens an jener Stelle errichtet worden ist, wo<br />

seinerzeit ein Notbiwak der Vermissten entdeckt wurde – vermeide aber<br />

die Suche nach diesen kleinen Kreuzlein, aus Respekt und aus Gründen<br />

der Pietät. � � Wieder ist es mein Vater, zu dem ich mich als Erstes<br />

begebe, was meine genaueren Nachforschungen anbelangt, vor allem<br />

auch deshalb, weil ich mich entsinne, dass er schon zu meiner Kindheit<br />

über dieses Unglück erzählt hatte. Mein Vater gilt seit jeher als ausgezeichneter<br />

Kenner des Kemetgebirges. Am Freitag, dem 23. April 1954,<br />

ist er zusammen mit seinem Bruder und dem Pitzer-Friedl (ein Unikum<br />

unter den damaligen Almhütern) aufgebrochen, um sich vom Stoderzinken<br />

aus in Richtung Plankenalm auf die Suche nach den Vermissten zu<br />

begeben. In der Hoffnung, vielleicht in einer der eingeschneiten Almhütten<br />

Spuren zu entdecken. Die drei wollten nicht untätig bleiben. Es war<br />

eine innere Stimme, die sie zum Aufbruch rief. Auch sie wollten bei der<br />

groß angelegten Suchaktion ihren Anteil leisten. Ausgerüstet waren sie<br />

mit einfachen Skiern, damals noch ohne Metallkanten, sie verfügten<br />

nicht einmal über Steigfelle. In die Rucksäcke stopften sie Jause, sie<br />

rechneten mit Nächtigungen in einer der Almhütten. Es hat damals<br />

ungeheure Schneemengen und im April noch meterhohe Schneeverwehungen<br />

gegeben, erinnert sich mein Vater. Im Tumerach, kurz vor der<br />

Plankenalm, stießen die drei Männer auf Bergretter, die von Gröbming<br />

aus an der Suchaktion teilnahmen, und sie schlossen sich diesen unmittelbar<br />

an. � � Du bist dazu bestimmt, diese Geschichte zu schreiben,<br />

der Tragik der Dreizehn auf den Grund zu gehen, kommentiert die Steiner-Gretl<br />

meine Absicht, als ich sie und den Gebauer-Heli am Fastenberg<br />

auf der Tauernseite zum Gespräch treffe, hinsichtlich ihrer Erinnerungen<br />

an die Geschehnisse von Ostern 1954. Begleitet von einem<br />

seltsamen Ausdruck in ihren Augen beschwört sie, dabei regelrecht<br />

allem und jedem überlegen erscheinend: Die Buben werden dir begegnen,<br />

nachts, in den Träumen, dort oben, wenn du Wind und Wetter ausgesetzt<br />

sein wirst, auf deiner Alm! Vom Fastenberg aus erscheint es<br />

einem, als könne man das ganze Dachsteingebirge mit einem einzigen<br />

Blick erfassen, doch der Schein trügt, denn nichts ist von hier aus von<br />

der breiten, weiten Hochfläche zu erkennen, die sich hinter den Wänden<br />

und Graten ausdehnt. Spät, mit Einbruch der Dämmerung, als die letzten<br />

Sonnenstrahlen am Kalkgestein des Dachsteins rötlich aufflammen,<br />

jodeln mir die Gretl und der Heli zum Abschied den Dåchstoana nach, so<br />

klar und kräftig und perfekt, wie ich ihn niemals zuvor (auch niemals<br />

wieder danach) von den beiden vernommen habe. � � Es war die<br />

größte alpine Suchaktion in der Geschichte Österreichs.


160 — 161<br />

Peter Gruber<br />

Unzählige Männer waren in den Tagen nach Ostern 1954 unterwegs, um<br />

im Dachsteingebirge nach den dreizehn Vermissten zu suchen, Bergrettungsmänner<br />

und Alpingendarmen. Bis zu 500 waren im Einsatz,<br />

bemühten sich vergeblich, vermochten am Ende nur dreizehn Tote zu<br />

bergen. 500 Bergretter, das sind auch 500 Bergrettergeschichten. � �<br />

Von mehreren Seiten wird mir – durchwegs von einem ewig unverzeihlichen,<br />

vorwurfsvollen Unterton begleitet, zu meinem Erstaunen selbst<br />

noch 50 Jahre nach der Tragödie – ein Zitat des Klassenlehrers Hans<br />

Sailer (Anführer der Dreizehn, der letztlich selbst auch unter den Opfern<br />

war) zugetragen: Meine Jungen müssen sich richtig warm laufen! � �<br />

Im Mai 2006, in der süddeutschen Stadt Heilbronn, am Tag vor der Erstpräsentation<br />

meines Romans Tod Am Stein gegenüber der Heilbronner<br />

Öffentlichkeit, im besonders launischen Maienwetter, begebe ich mich<br />

auf den städtischen Friedhof, wo in einem Ehrengrab elf von den dreizehn<br />

Verunglückten ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Dort hocke<br />

ich mich auf eine Bank, lasse meine Blicke und Gedanken über die Grabsteine<br />

schweifen, auf denen in großen Lettern die Vor- und Nachnamen<br />

und Geburtsdaten geschrieben stehen. Irgendwo, in sehr weiter Ferne, in<br />

direkter Luftlinie über die Gräber hinweg, gegen Südosten zu, denke ich<br />

mir das Gebirge, das Dachsteinmassiv, das den jungen Heilbronnern zum<br />

Verhängnis geworden war. Während ich so manchen Wegnotizen nachsinne,<br />

die diese Etappe meines literarischen Weitwanderweges mit einer<br />

ganz besonderen Tiefe geprägt haben, beginnt sich der Himmel über mir<br />

wie rasend zu verfinstern, kommt plötzlich Wind auf, setzen fast zeitgleich<br />

Blitz und Donner und ein kräftiger Wolkenbruch ein, legt ein<br />

ziemlich heftiges Frühjahrsgewitter los. Als würde die Natur mehr als<br />

bloß ein Wörtchen mitreden wollen, auch an diesem Tag. � � Seit den<br />

Ereignissen von 1954 bin ich nie wieder in die Nähe des Dachsteins<br />

gekommen, verrät mir der ehemalige Sportlehrer der Damm-Realschule,<br />

und versichert mir aus voller Überzeugung, dass er auch in Zukunft nie<br />

und nimmer diesem Gebirge begegnen will. � � Ich dagegen setze meinen<br />

literarischen Weitwanderweg fort, bleibe dem Schnee im Hochgebirge<br />

auf gewisser Weise treu, wenn auch auf gänzlich andere Art,<br />

wende mich vom Tod Am Stein in den 50er-Jahren wieder ab und der<br />

Gegenwart zu und begebe mich in den Sommerschnee. � � Als ich<br />

erstmals den Fotografen mit den Hochalmen im Kemetgebirge vertraut<br />

mache, wir zusammen über die Almhöhen schreiten, ohne viele Worte,<br />

eher schweigsam, beide in Gedanken und Beobachtungen versunken,<br />

beim Überschreiten des Almsattels zur Neubergalm, mit den Blicken auf<br />

die abgewitterten Dächer der Almhütten, Viehunterstände, Sautrempel<br />

und Wasserbunker, äußert sich der Fotograf beeindruckt: Schön, dieses<br />

gleichfarbene Grau der abgewitterten Schindeldächer, der Kalksteine,<br />

der toten Baumstrünke! � � Das Dachsteingebirge ist seit jeher eine<br />

Art Panoptikum für Narren, stellt die Mittelschulprofessorin fest. Als<br />

Dachstein-Narren könne man sie alle auch bezeichnen,<br />

die Wissenschaftler und Forscher, die Wanderer und Bergsteiger, die<br />

Wilderer und Jäger, die Schafbauern und Almhüter, die Grenzgänger und<br />

Aussteiger, die Maler und Schriftsteller. � � Sind Sie ein Einzelgänger,<br />

fragt mich die Lebenswege-Moderatorin. Einen Augenblick halte ich<br />

inne, als müsse ich erst überlegen, obgleich das auf diese Frage hin gar<br />

nicht notwendig ist, aber ich halte wohl deshalb kurz inne, weil mir<br />

bewusst wird, dass ich die Antwort in einer Rundfunksendung und somit<br />

vielen Zuhörern gebe. Ja, antworte ich schließlich aus Überzeugung.<br />

Und in Selbsteinschätzung, denn die Quelle meines literarischen Wanderns<br />

nährt sich vom Einzelgängerischen. � � Ich möchte auch zukünftig<br />

im Sommer im Dachsteingebirge leben. Auf einer Alm. In einer Textwerkstätte.<br />

In einer Denkhütte. Mit Blick auf den Dichterfelsen, wie der<br />

Schröfl-Rudl, ein treuer Weggefährte in den frühesten Jahren meiner<br />

Erkundungen auf und um die Almen im Dachsteingebirge – lange vor den<br />

ersten Schritten auf dem literarischen Weitwanderweg – einen der<br />

unzähligen, auf erstem Blick hin eher unbedeutend erscheinenden Almhöcker<br />

benannt hatte, in der Ahnung, dass der Almhöcker einer meiner<br />

Lieblingsdenkplätze ist.


162 — 163<br />

Wenn Helene kommt<br />

Text: Christof Huemer<br />

Bilder: Stefan Emsenhuber<br />

1) Ich bin ein geschmeidiger Vogel. Ich tanze und kreise. Ich schwebe und<br />

gleite. Ich liebe es. Ich spiele im Aufwind, drehe Kreise um den runden<br />

Turm, lasse mich wieder fallen. Ein paar Mal kräftig mit den Flügeln<br />

schlagen, wenn die Abendsonne die Luft bewegt unten an der großen<br />

Mauer, und wieder gleite ich. Ich gleite, um zu fühlen, wie die klare Luft<br />

mein Gefieder streift. Ich gleite um zu spüren, wie schnell ich bin. Zu<br />

fühlen wie sich meine Krallen entspannen, mein Rumpf ganz glatt wird<br />

und wildes Knarren aus meinem Schnabel dringt.<br />

Wenn ich fliege, kann ich Dinge, die sonst nur Zauberer können und<br />

Hexen. Ich drehe mich mühelos, ich drifte entlang des Frieds, ich wirble<br />

um den Reif, der den Turm umarmt, und segle weiter. Ich segle, halte dann<br />

beinahe an und schaue in die Fenster. Ich sehe und erkenne und fliege<br />

weiter. Ich schmiege mich an die Strömung, spreize meine Schwingen,<br />

folge dem Balkon und lasse mich über den Weiher treiben. Ich bin ein<br />

Wachtelkönig und mein Name ist...<br />

2) Kleine, braun gefiederte Vögel, Hunderte davon, zogen ihre Kreise<br />

rund um den Flaggenturm des Schlosses, als Theresa Hegelmann, ein<br />

Waisenkind von fast 14 Jahren, das die Erzieherinnen in ihrem Münchner<br />

Internat gerne als vorlaut oder frühreif beschrieben, wenn sie Theresa<br />

dieser Eigenschaften nicht sogar bezichtigten, vor dem Bahnhof im Dorf<br />

der Haselnussmenschen stand und vergeblich versuchte, von dem sie<br />

abholenden Fahrer Hilfe zu bekommen. Wie Theresa schnell erkannt hatte,<br />

war er nicht jener Notar, Dr. Philipp Burger, dessen Brief sie im Filibuster-<br />

Heim der Karmeliterinnen St. Rhinus über den notwendigen Antritt einer<br />

Erbschaft informiert hatte, sondern eine im Schloss angestellte Hilfskraft.<br />

Ohne auszusteigen und, wie Theresa sich einbildete, widerwillig hob der<br />

bärtige Mann im Lodenjanker die Hand zu einem müden Gruß, den man<br />

auch als Geste deuten konnte, die so viel besagen sollte wie: Ich will<br />

mit dir und deinem Schicksal nichts zu tun haben. Theresa öffnete die<br />

Beifahrertür, kletterte in den vor sich hin brummenden Wagen und da der<br />

Chauffeur weiterhin keine Anstalten machte, ihr behilflich zu sein, stellte<br />

sie ihren Koffer einfach zwischen ihre Füße.<br />

Bald begann die Fahrt sie zu irritieren. So nahe hatte das Schloss vom<br />

Bahnhof aus noch gewirkt. Doch der durch Schlaglöcher versehrte Weg<br />

durch das Dorf der Haselnussmenschen, das nun so gar nicht wie eine<br />

Ortschaft aussah, eher wie eine Ansammlung von zu unterschiedlichen<br />

Zeiten vergessenen Häusern, nahm kein Ende. Viele Gebäude im Dorf<br />

waren verlassen oder verfallen, oder vielleicht schien es nur so, und<br />

die Züge hielten zwar am Bahnhof, doch stieg nie jemand zu oder aus.<br />

Theresa war die Einzige am Bahnsteig gewesen, die Einzige in der Halle,<br />

und der Mann, der sie ins Schloss brachte, blieb der einzige Mensch, den<br />

sie sah.<br />

„Ist es zu dieser Zeit immer so kalt?“, machte sie Konversation, griff sich<br />

an dem Mantelkragen, wie eine Dame im Film es getan hätte, und der<br />

Chauffeur aus dem Dorf der Haselnussmenschen starrte vor sich hin.<br />

Auch ihre Erkundigungen nach der Einwohnerzahl und dem Grund für<br />

seine langsame Fahrweise ließ er unquittiert. Er wollte oder durfte nicht<br />

sprechen. Theresa presste ihre Unterschenkel an ihren Koffer und eine<br />

Hand, die rechte, an ihre linke Brust, dorthin, wo sie das Tagebuch ihrer<br />

Mutter vermutete. Schweigend zuckelten sie durch die letzten Häuser<br />

des Dorfs der Haselnussmenschen und ihr Chauffeur begann, holprige,<br />

zischende Silben zu murmeln.<br />

Sie nahmen die unbefestigte Straße, die das Schloss mit dem Dorf der<br />

Haselnussmenschen verband. Der Chauffeur murmelte lauter. Noch<br />

immer kam das Schloss nicht in Sicht. Hinter dieser Biegung muss es<br />

liegen, dachte Theresa bei jeder Kurve aufs Neue. Hinter jener dort vorne.<br />

Der endlose Weg und das feindselige Murmeln – sie wollte am liebsten<br />

schreien, so genervt war sie. Und dann sah sie das Schloss. Sie sah den<br />

See, in dessen Mitte ein verlassenes Ruderboot trieb. Sie passierten ein<br />

Haus, das einer Fischerhütte glich und hinter dessen Fenstern sich viele<br />

neugierige und, wie sie fand, irre Kindergesichter drängten. Sie sah die<br />

felsige Anhöhe mit dem kastenförmigen Gebäude, das wie eine Klinik oder<br />

Heilanstalt wirkte, aber so gar nicht wie ein Schloss. Sie sah die Vögel,<br />

Hunderte aufgeregte Vögel, die im abendlichen Aufwind der Nordwand<br />

tollten und dabei ein schnarrendes Geschrei ausstießen, das Theresa bis<br />

unter die Haut ging. Und dann sah sie den Ring um den runden Flaggenturm<br />

des Schlosses, einen weißen, nach unten gesunkenen und auf rätselhafte<br />

Art leuchtenden Heiligenschein, von dem Theresa schwören könnte, dass<br />

er bis vor wenige Minuten noch nicht und weder als sie das Schloss vom<br />

Bahnhof noch von der Strecke aus betrachten konnte, da war.<br />

Ohne eine Antwort zu erwarten und mehr, um sich ihrer Wahrnehmung<br />

zu versichern, fragte sie: „Was ist das für ein Ring?“ Ihr Chauffeur lachte<br />

laut auf, klammerte sich wie ein Affe an das Lenkrad des Geländewagens,<br />

den er, jetzt noch langsamer, die schmale Straße um den Teich herum


kutschierte und rief, es sei das Reich, das wiederkehre, das Reich, das<br />

gottseidank immer und immer wieder- und wiederkehre, Nacht für<br />

Nacht, und auch wenn man es rundum verboten habe, auch wenn man<br />

sie gedemütigt und erniedrigt habe, sie, die Haselnussmenschen, seien<br />

glücklich zu preisen, das Reich, es kehre wieder.<br />

Der Weg führte nun bergauf, der Irre schaltete in einen niedrigeren Gang,<br />

glücklich zu preisen, schnarrte er und Speichel, sehr weißer Speichel<br />

sammelte sich in seinem Bart.<br />

Vor dem Schlossportal angekommen, wurde ihr die Wagentür von einem<br />

Mann in dreiteiligem Anzug geöffnet, der sich als Notar Dr. Philipp Burger<br />

vorstellte. Er erkundigte sich nach ihrer Reise, die, lang wie sie war,<br />

hoffentlich frei von Überraschungen und Beschwernissen vonstatten<br />

gegangen sei. Er half ihr vom Trittbrett und führte sie sofort ein paar<br />

Schritte weg von Schloss und Wagen. Dann eröffnete er Theresa, die<br />

er abwechselnd mit „Mein Kind“ und „Liebes Fräulein“ ansprach, dass<br />

dringende Termine ihn leider zur sofortigen Abreise zwängen, ja, es bliebe<br />

nicht einmal mehr die Zeit, gemeinsam Abend zu essen, bedauerlich sei<br />

das und dennoch nicht zu ändern, nach seiner Rückkehr aber... Während<br />

all dieser Worte, denen Theresa vor allem entnahm, dass es noch dauern<br />

würde, bis sie erfuhr, um welche Art Erbschaft es sich handle und was für<br />

ein Mensch ihre Mutter gewesen war, spürte sie rege Betriebsamkeit hinter<br />

ihrem Rücken. Während seiner Abwesenheit werde sich die langjährige<br />

Haushälterin und Herrin über das wenige Personal, fuhr der Notar fort und<br />

legte eine Hand auf Theresas Rücken, gut um sie kümmern. Auch würde<br />

seine Absenz nicht lange währen, wahrscheinlich kaum einen Monat.<br />

Der Notar schob sie zum Schloss, die drei Stufen hinauf, und durch das<br />

offene Portal. Theresa stand unversehens in einer steinernen Halle,<br />

ein Mädchen von 14 Jahren, in Baumwollkleid und Mantel, der Kragen<br />

hochgeschlagen, und wurde von einer Gruppe dunkel gekleideter<br />

Personen gemustert, neugierig und ohne sichtbare Wertschätzung. Wie<br />

jedes Kind, das ohne Eltern aufgewachsen war, fühlte sich Theresa in<br />

solch einer Situation unwohl und blickte ungeschickt in die Versammlung.<br />

Ganz hinten stand ihr irrer Chauffeur, rieb sich den Bart, presste seine<br />

Hände dann übertrieben kräftig an seine Hosennaht, und als wäre somit<br />

alles fertig, trat da die Gestalt vor ihm aus der Menge. Sie war in tiefstes<br />

Schwarz gekleidet, hager und groß, zwischen 50 und 70 Jahren alt, mit<br />

hervorstechenden Backenknochen, pergamentener Haut und erinnerte<br />

Theresa vage an einen Pinguin.<br />

„Das, mein Kind,“ erklärte der Notar, „ist Frau Thannver“. Theresa<br />

schauderte bei diesem Namen. Unsicher beugte sie ihre Knie, deutete<br />

einen Kicks an, und die Vorgestellte kam auf sie zu, streckte ihre<br />

Arme nach Theresa aus, voller Liebe und doch mit staubig gemessener<br />

Haltung, blieb genau einen Schritt vor ihr stehen und betrachtete sie<br />

gütig. Sie flüsterte etwas, das wie „Helene“, klang, ganz zärtlich, „meine


166 — 167<br />

Christof Huemer<br />

Helene“, und machte sich daran, Theresas schüchtern vorgestreckte<br />

Hand zu ergreifen. „Frau Thannver,“ vollendete der Notar das Ritual<br />

in sachlichem Ton, „dies ist Fräulein Theresa.“ Die Hand, die Theresas<br />

dann ergriff, war schwer, eiskalt und fühlte sich wie tot an. Und Frau<br />

Thannvers Gesicht, eben noch voller Zuneigung, verwandelte sich in<br />

Stein, in ein in Marmor gehauenes Mahnmahl zu allen von ihr selbst, dem<br />

Dorf der Haselnussmenschen oder gleich des ganzen Gaus erlittenen<br />

Schmähungen. Sie ließ ihre eiskalte Hand in der von Theresa und bohrte<br />

ihren Blick in ihre Stirn. Dann fügte sie sich wieder in die Gruppe ein,<br />

Margit werde sie auf ihr Zimmer führen, hörte Theresa Frau Thannver<br />

sagen. Ein leicht schielendes Mädchen in Theresas Alter löste sich aus<br />

dem Aufgebot, Theresas Koffer schon in der Hand. Sie ging ein paar<br />

Schritte und huschte, als sie sah, dass Theresa ihr folgte, die Stiegen<br />

hinauf. Theresa fühlte hundert Blicke in ihrem Hinterkopf. „Sie ist eine<br />

Hegelmann“, hörte sie den Notar noch sagen, „die Vorletzte.“ Und<br />

Thannver sagte, ausatmend: „Wir wollen es hoffen.“<br />

3) Das Zimmer, das man Theresa zuwies, war geräumig und trotz der<br />

Dämmerung hell. Margit schickte sich an, ihren Koffer auszupacken, was<br />

Theresa sie ersuchte, nicht zu tun, und selbst als die Vorhänge zugezogen,<br />

der Koffer im rechten Winkeln am Bett abgelegt und auch sonst nichts<br />

mehr zu tun war, kostete es Theresa einige Mühe, Margit aus dem Zimmer<br />

zu komplimentieren. „Was ist nur mit diesen Haselnussmenschen los?“,<br />

dachte sie unkompliziert, legte sich samt Mantel und Schuhen auf das<br />

Bett, rollte auf den Bauch und öffnete ihren Koffer.<br />

Als sie wieder erwachte, war es dunkel, ein Tablett mit einem Teller<br />

Suppe ruhte neben dem Bett auf einem Tisch, der zuvor noch nicht da<br />

gestanden hatte und ihr Koffer, eine Tatsache, die Theresa aber erst viel<br />

später auffiel, war verschwunden.<br />

Nachdem Theresa ein paar Löffel kalte Suppe gegessen hatte, zog sie<br />

das Tagebuch ihrer Mutter aus der Innentasche ihres Mantels. Dieses<br />

Buch, ein Heft von circa 120 Seiten, war die Gesamtheit dessen, was<br />

Theresa von ihrer Mutter kannte, die bei ihrer Geburt sehr jung ums Leben<br />

gekommen war, oder so hatten es ihr die Schwestern im Internat erzählt.<br />

Theresa sei Österreicherin, so wie ihre Mutter Gertrude eine gewesen sei,<br />

und auch das monatliche Geld an das Internat würde von Österreich aus<br />

überwiesen, ihr Vater sei wohl im Krieg gefallen, im Alter von vier Jahren<br />

sei sie zu den Karmeliterinnen gekommen, was früh sei, sehr früh, mehr<br />

wisse man oder wolle man auch beim besten Willen nicht wissen, noch<br />

habe es irgendeinen Sinn, in der Vergangenheit zu rühren, nun weine<br />

doch nicht, wer wird denn gleich sentimental werden. Vor zwei Wochen<br />

kam dann der Brief des Notars, ihrem Vormund, wie er sich auch nannte,<br />

mit der dringenden Bitte, ins Dorf der Haselnussmenschen zu reisen. Wie<br />

im Testament ihres Vaters vorgesehen, solle sie eine Erbschaft antreten,<br />

für Details bliebe vor Ort noch Zeit, eine Zugkarte fände sie anbei.<br />

Dem freundlich, aber vollkommen unpersönlich gehaltenen Brief<br />

lag jenes Tagebuch von Theresas Mutter bei, das den Zeitraum von<br />

März bis September 1941 umspannte, also in etwa zwei Monate vor<br />

Theresas Geburt abbrach. Schon nach ein paar Zeilen hatte Theresa<br />

erkannt, worum es sich handelte, das Heft wieder zärtlich geschlossen.<br />

Und seitdem jeden Tag darin und nie mehr als drei Seiten, es musste<br />

lange halten, gelesen. Wie ihre Mutter, womöglich bereits schwanger,<br />

im März 1941 ins Dorf der Haselnussmenschen kam, wo der Künstler<br />

Conrad Halder (ein bedeutender? Theresa hatte noch nie von ihm<br />

gehört) Gertrudes Zukünftiger und, so konnte man mutmaßen, Theresas<br />

Vater, von seinem engen Freund, Reichspostminister Ohnesorge zum<br />

Verwalter im Schloss bestellt worden war, eine Funktion, die dieser alles<br />

andere als wahrnahm. Wie eine Haushälterin namens Thannver ihrer<br />

Mutter jede Minute ihres dort verbrachten Lebens durch Gemütskälte<br />

erschwerte; wie die für Juni anberaumte Hochzeit wieder und wieder<br />

verschoben wurde, wie die Menschen des Haselnussdorfs sich über sie<br />

und ihren Zustand das Maul zerrissen, ein Umstand, den ihre Mutter<br />

tollkühnerweise konterte, indem sie im Gewand einer Schlossherrin ins<br />

Dorf ging; wo ihre Versicherungen, Conrad Halder werde sie heiraten,<br />

allerdings niemand ernst nahm, erst recht nicht, als sich ihre Besuche<br />

wöchentlich wiederholten und die Haselnussmenschen Gelegenheit<br />

hatten, Gertrudes Courage und Aufgeklärtheit zu begegnen (auch<br />

bei den anzüglichsten Bemerkungen ihren Körper oder ihr Gesicht<br />

betreffend wahrte sie Beherrschung und Contenance, worin die Mehrheit<br />

der darüber klatschenden Haselnussmenschen den Hinweis auf einen<br />

kühnen, freisinnigen Charakter sahen, was nur den Schluss zuließ:<br />

Hierher, und vor allem zu Halder, passte sie nicht), kurz, weder das Jahr<br />

1941 noch das Dorf der Haselnussmenschen eigneten sich besonders<br />

für fehlende Kleingeistigkeit. Wie ihre Mutter versuchte, angesichts<br />

ihrer fortschreitenden Schwangerschaft und des nahenden Herbstes<br />

Renovierungsarbeiten durchzusetzen; wie sie dabei scheiterte. Und,<br />

immer wieder, so als wäre es ein Refrain, wie ihre Mutter nach Einsetzen<br />

der Dunkelheit durch die Gänge des Schlosses wandelte, im Nachthemd,<br />

barfuss, vom Schlafzimmer in den Salon in den Marmorsaal, durch den<br />

Saal in das Speisezimmer und immer weiter. Und Theresa richtete sich<br />

auf.<br />

Konnte dieses Bett, auf dem sie lag, das Bett ihrer Mutter sein? Sie stand<br />

auf und betrachtet es kurz, ein einfaches Bett, alt, aber in gutem Zustand.<br />

Jetzt erst bemerkte Theresa, dass am Fußende des Bettes ein Nachthemd<br />

für sie lag. Nahe der Halsnaht waren die Initialen HH eingestickt. Wie<br />

lange konnte sie geschlafen haben?<br />

Und dann tat Theresa etwas, wozu eigentlich nur ihre Mutter mutig genug<br />

war. Theresa schlüpfte aus Schuhen, Mantel, Kleid und Unterwäsche,<br />

zog das Nachthemd über. Dann machte sie sich daran, das Schloss zu<br />

erkunden.


168 — 169<br />

Christof Huemer<br />

Barfuss, eine Kerze in der Hand, alles wie bei ihrer Mutter, schlich sie<br />

hinaus in den Salon, durch den das Hausmädchen sie geführt hatte<br />

und dessen Deckengemälde sie aufgrund geschlossener Fensterbalken<br />

abermals ignorierte, wandte sich dann aber nicht sofort nach rechts<br />

in Richtung des Stiegenhauses, sondern ging, als sie die zweite Tür zu<br />

ihrer Rechten ausmachte, ein paar Schritte weiter. Sie drückte lautlos die<br />

Klinke, nie hatte ihre Mutter Geräusche erwähnt, bis auf das Schnarren<br />

der Vögel, natürlich, das sie zu rufen schien, ein Werben, gegen das sich<br />

wehren musste, so schrieb sie, und Theresa trat ein in die vom Mondlicht<br />

annehmend beleuchtete Halle. Sie bemerkt sofort den Marmorboden,<br />

der die Sicheln ihrer Fußsolen abbildete, anders als die Parkett- und<br />

Schiffsböden in den restlichen Räumen. Sie setzte weiter Fuß vor Fuß,<br />

Schritt für Schritt. „Ich setze Schritt für Schritt, Fuß vor Fuß und summe<br />

ein Lied für mein Mädchen“, hatte Gertrude an einer Stelle geschrieben;<br />

obwohl sie nicht wissen konnte, dass ich ein Mädchen würde, dachte<br />

Theresa und ließ ihren Blick dem vom Mond hingeworfenen Umriss eines<br />

Fensters vom Fensterrahmen die Wand hinauf bis zur Decke folgen, wo<br />

der helle Umriss bei einer gemalten Szene anhielt: Eine dicke Frau, die in<br />

der rechten Hand ein Seepferdchen schwang, kniff einen noch dickeren<br />

Engel mit der linken Hand in die Schulter. Ihr gegenüber ein irgendwie<br />

von einem Einhorn aufgespießter Engel, der ihr einen Spiegel hinhielt;<br />

über ihm ein Band mit der Aufschrift „PRUDENTIA TE SERVABIT“, ein<br />

Spruch, den die Klosterschülerin Theresa unschwer als Teil der Sentenz<br />

„Consilium custodiet te, prudentia servabit te“ erkannte. De facto hatte<br />

sie ihn schon drei Mal hundert Mal in ein Heft geschrieben, samt der<br />

Übersetzung: Guter Rat wird dich bewahren, Verstand dich behüten. Doch<br />

was sollte das Fehlen des ersten Teils hier bedeuten? Und warum zwickte<br />

die dicke Frau den armen Engel?<br />

Theresa jedenfalls wärmte sich zuerst ihre rechte, dann ihre linke Fußsohle<br />

am jeweils anderen Oberschenkel und nahm dann die offen stehende Tür<br />

zu ihrer Rechten, die sie, wie Theresa erkannte, direkt ins Stiegenhaus<br />

führte. Es mochte genetisch vererbte Sorglosigkeit sein, Waghalsigkeit,<br />

Forschergeist – Theresa war der mysteriöse Ring eingefallen, der sich wie<br />

eine Halskrause um den Flaggenturm gezogen hatte. Zu ihm, zumindest<br />

zu einem Fenster im zweiten Stockwerk, von dem aus man ihn begutachten<br />

konnte, wollte sie nun vordringen.<br />

Theresa bewegte sich bereits auf die Stufen zu, als ihr Blick ein zweites<br />

Mal von einem Kunstwerk gefesselt wurde. Der Stein oder Marmor, das<br />

konnte sie nicht sagen, schien ihr, als sie ihn berührte, sonderbar kalt<br />

und sein Standort schien mit Stolz gewählt und entbehrte nicht einer<br />

gewissen Logik, denn das Stiegenhaus gab gewissermaßen den Herztrakt<br />

des Schlosses. Sie legt kurz ihre Wange an die kühle Tafel, als würde<br />

sie an der Wand lauschen, dann trat sie zwei Schritte zurück und besah<br />

das Ornament genauer. Wie auf einem Schachbrett, einem in die Länge<br />

gezogenen Schachbrett, um exakt zu sein, waren dort Buchstaben


170 — 171<br />

Christof Huemer<br />

angeordnet. Suchte man das Zentrum des Kunstwerks, was Theresa<br />

automatisch tat, fand man ein tänzelndes F, den einzigen Buchstaben,<br />

der nur einmal vorkam. Ausgehend von diesem Mittel-F strahlten all die<br />

restlichen Buchstaben in alle Richtungen, ergaben unzählige mögliche<br />

Wege und Straßen und Schneisen. Doch egal, welchen Pfad von der Mitte<br />

zu einer der Ecken man nahm, egal welchen Ausweg man suchte – die<br />

Buchstaben waren so angeordnet, dass sie immer den Namen „Franz<br />

Hillebrand“ ergaben, nie etwas anderes. Einen kurzen, bitteren Moment<br />

lang dachte Theresa, sie müsse das Orakel etwas fragen, aber ihr fiel keine<br />

Frage ein, warum hat meine Mutter darüber nie geschrieben, wunderte sie<br />

sich und ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, der es gelang, den<br />

restlichen Körper zu beruhigen. Dann setzte sie einen Fuß auf die erste<br />

Stufe und erstarrte, als sie plötzlich die Stimme von Frau Thannver direkt<br />

hinter sich vernahm.<br />

„Wohin, darf ich fragen, gedenken Sie zu gehen?“<br />

Theresa blies wie auf Befehl ihre Kerze aus.<br />

„Auf dem Weg zum Schloss ist mir ein, wie soll ich sagen, Steg, rund um<br />

den Flaggenturm aufgefallen“, sagte sie.<br />

„Ein Steg?“<br />

„Vielleicht mehr ein Ring, wie eine Beilagscheibe...“<br />

„Fräulein Theresa,“ aus ihrem Mund klang es wie der Name einer zur<br />

Recht Verurteilten, „ich gebe Ihnen einen guten Ratschlag: Sie werden<br />

keinen Fuß in den zweiten Stock dieses Hauses setzen.“<br />

„Aber wieso denn nicht?“<br />

„Der zweite Stock ist für Helene reserviert.“ Dann fügte die im blassen<br />

Mondlicht noch fahler und toter wirkende Thannver hinzu, dass es spät<br />

sei, das Fräulein jetzt wohl besser zu Bett gehe, man habe ihr eine Tasse<br />

Tee ans Bett gestellt, und als Theresa sich darauf hin nicht bewegte,<br />

vernahm sie ein gefauchtes „Verschwinde in Dein Zimmer!“<br />

Theresa brach in Tränen aus, lief zurück in ihr Zimmer, knallte die schwere<br />

Tür zu, warf sich sehr theatralisch dagegen, und es war, als hörte sie<br />

direkt davor jemanden zischen: „Bleib weg von meinem zweiten Stock!“<br />

5) Den nächsten Tag brachte Theresa damit zu, das Schloss mit Ausnahme<br />

des zweiten Stocks zu erkunden und ihr Erleben mit dem in Einklang zu<br />

bringen, was sie bisher aus dem Tagebuch ihrer Mutter kannte. Bei sich<br />

im Zimmer und gleich nachdem sie morgens die Augen geöffnet hatte,<br />

fing sie an. Sie öffnete, auch auf der Suche nach ihrem eigenen Koffer,<br />

sämtliche Schränke, drei an der Zahl, und fand sie voller weißer Wäsche.<br />

Es handelte sich jedoch nicht um Bettwäsche, wie sie die Stapel zunächst<br />

vermuten ließen. Im Kasten neben der Tür zum Stiegenaufgang fand sich<br />

im Mittelfach Babykleidung für, so schien es Theresa, Kinder von null bis<br />

24 Monaten, und sie hatte mit dieser Einschätzung recht. Allen Lätzchen,<br />

Strampelanzügen, Hemdchen etc., alle weiß, war in Hals- oder Bundnähe<br />

das Monogramm HH eingestickt. Im Fach darunter: Kinderhemden,<br />

-nachthemden, -leibchen, -röcke, -jäckchen, alle weiß, allen in Hals- oder<br />

Bundnähe das Monogramm HH eingestickt. Im Fach darüber: Blusen,<br />

Jacken, Röcke, Leibchen für Kinder im Schulalter, wie Theresa wieder<br />

richtig schätzte, alle weiß, allen in Hals- oder Bundnähe das Monogramm<br />

HH eingestickt. In den beiden anderen Schränken, und auch hier fehlte<br />

weder das Monogramm noch das Weiß, der Rest einer Garderobe eines<br />

ganzen noch einzukleidenden Frauenlebens, vom ersten Schrei bis zum<br />

– wer konnte schon sagen, wie es zu Ende ging, sagte sich Theresa mit<br />

der für Heranwachsende typischen Morbidezza – dem letzten. Bis zum<br />

letzten Schrei, letzten Ächzen oder Hauchen von HH, in deren Nachthemd<br />

sie steckte. Ha ha. Zweimal der achte Buchstabe. H wie Hillebrand, wie<br />

Hegelmann, wie Heil. Theresa beschloss jemand nach HH zu fragen,<br />

Margit, wenn sie sie sah, Thannver, wenn es sein musste, den Notar, wenn<br />

es nicht anders ging. Dann schlüpfte Theresa in Kleid und Wäsche des<br />

Vortages, vergaß erneut, sich um den Verbleib ihres Koffers zu sorgen<br />

und wiederholte, auch aufgrund des Tageslichts weniger zaghaft, ihren<br />

nächtlichen Rundgang, das Tagebuch in der Hand.<br />

Schritt für Schritt. Das Durchgangszimmer, von dem Theresa diesmal<br />

wahrnahm, dass es anders als ihres, eine üppig verzierte Zimmerdecke<br />

aufwies. Fuß vor Fuß. Geradeaus ins nächste Zimmer, ein leeres<br />

Schlafzimmer mit kleiner, einer Voliere nachempfundenen Badenische.<br />

Auf einem Schemel warteten dort (für Theresa?) zwei penibelst gefaltete<br />

Badetücher. Schritt für Schritt. Zurück und nach links in den Marmorsaal,<br />

guter Rat und Verstand, Fuß vor Fuß in den nächsten, unbekannten<br />

Raum, das Speisezimmer. Auf einem runden, unter dem verschlissenen<br />

Tischtuch massiven Tisch – einer der schweren Stühle war bereits für sie<br />

zurückgeschoben – ein Teller mit zwei länglichen Brotschnitten, beide<br />

mit Butter bestrichen. Kein Besteck. In einer Tasse schwarzer Tee oder<br />

sehr erbärmlicher Kaffee. Schritt für Schritt und noch immer barfuss hielt<br />

sie sich links, die Tür zum Eckzimmer, eine Bibliothek, stand offen. Bücher<br />

bis an die Decke, schwere Fauteuils, auch hier wohnte niemand, ruhte<br />

niemand, las niemand, auch hier kein Mensch, nicht einmal ein Vogel vor<br />

dem Fenster. Enttäuscht, erleichtert und einsam, vor allem einsam, lief<br />

Theresa zurück in ihr Zimmer, schlüpfte in ihre Schuhe. Lief zurück ins<br />

Speisezimmer und frühstückte.<br />

Schwäche und Übelkeit, die kurz nach dieser Mahlzeit einsetzten,<br />

fesselten Theresa den restlichen Tag ans Bett. Thannver kam und sah<br />

nach ihr, legte ihre Eishand auf Theresas Stirn, ließ einen heißen, in Tücher<br />

geschlagenen Ziegelstein bringen und Theresa fragte nicht nach Frau H<br />

und fragte auch nicht nach Medizin, sondern dämmerte in Sphären, in<br />

denen die Welten der Klosterschule und des Schlosses sich ineinander<br />

schoben, und kam erst wieder so richtig zu sich, als es dämmerte. Theresa<br />

stellte sich ans Fenster, betrachtete aufmerksam das Dach der Bäume,<br />

die einen kleinen Wald bildeten, der „ein dunkler Bauch war, durch den


172 — 173<br />

Christof Huemer<br />

lautlose Tiere huschten“, dachte sie, ihre Mutter zitierend, und hörte ein<br />

Schnarren und Kreischen und Klagen, das in der Luft flog wie ein langes<br />

weißes Band und langsam näher kam. Hinter mir, auf der anderen Seite,<br />

geht die Sonne unter, sagte sich Theresa. Ich muss Thannver finden und<br />

mit ihr sprechen. Dann sah sie die Vögel.<br />

Doch wie auch schon Gertrude Hegelmann in ihrem Tagebuch notiert hatte,<br />

konnte man<br />

„Thannver nicht finden; wenn, dann fand Thannver einen. Ich habe<br />

versucht, mit den anderen Angestellten über dieses Phänomen zu<br />

sprechen und viele haben mir bestätigt, man könnte fast sagen, es<br />

ist eine Tatsache, dass man Thannver sich nie durch das Schloss<br />

bewegen sieht. Bekommt man sie zu Gesicht, dann steht sie, so<br />

als stünde sie schon ewig und noch länger hier, die Hände vor<br />

der Scham verschränkt, ihr Rock reicht bis zum Boden und man<br />

sieht ihre Füße nicht. Wie sie dies schafft, wie sie zwischen den<br />

Stockwerken wechselt, wie sie in die einzelnen Räume gelangt,<br />

ohne je auf dem Weg dorthin gesehen zu werden, ist mir, und allen,<br />

mit denen ich sprach, ein Rätsel, dessen dunkelster Teil jener ist,<br />

dass Thannver die Angewohnheit hat, stets völlig überraschend<br />

hinter einem aufzutauchen. Da steht sie dann plötzlich, erschreckt<br />

einen zu Tode mit irgendeiner Form des Tadels und wieder fragt<br />

man sich, wie sie einem so lautlos so nahe kommen konnte.“<br />

In der Tat. Als Theresa in das Zimmer mit der Badenische kam, stand dort<br />

Thannver und obwohl das Zimmer hell beleuchtet war und nichts an dieser<br />

Begegnung, die sie ja herbeiführen wollte, überraschend war, fuhr Theresa<br />

zusammen. „Ihr Bad ist bereitet“, sagte Thannver knapp. Hatte sie auf<br />

Theresa gewartet? Hatte sie gewusst, dass sie kam?<br />

6) Folgendes Bild: Theresa in der Wanne, in warmem Wasser halb liegend,<br />

halb schwebend, eine Hand auf ihrem kindlichen Bauch, ein Unterarm über<br />

ihren weiblichen Brüsten. Neben der Nische, den Blick abgewandt, auf<br />

einem Sessel sitzend, Thannver. Der Raum allein erleuchtet durch eine<br />

kleine Tischlampe, von draußen die Laute der Vögel. Keine Nachricht von<br />

Notar Burger, das Abendessen stehe, erkaltet natürlich, immer noch im<br />

Speisezimmer, Theresa fragte nicht nach der Bedeutung des Monogramms,<br />

und Thannver sprach von Theresas Mutter. „Auch ihre Mutter litt vom<br />

ersten Tag an an Übelkeit“, sagte sie und wer könnte beurteilen, ob sie<br />

es abschätzig sagte oder bloß kalt. „Eine Frau von ruheloser Energie“, sei<br />

Gertrude Hegelmann gewesen, Conrad Halder eine Seele, ein Künstler, ein<br />

Poet. Das Fehlen jeglichen Blickkontaktes verleitete Thannver zu sprechen,<br />

könnte man annehmen; schwierige Jahre hätten sie hinter sich, doch werde<br />

es bald besser; wenn Helene kommt, alles werde besser, alles sei bereit für<br />

Helene.<br />

„Ihr Vater?“, fragte Theresa, die sich auch nicht nach Helene zu fragen<br />

traute. Meldete sich im Herbst 1941, einer Eingebung folgend, zu den<br />

Fahnen. Wurde zunächst zum 312. Infanterieregiment geschickt, diente<br />

dann später unter General von Bohle, einem von Wilhelms (gemeint ist<br />

der Theresa aus dem Tagebuch ihrer Mutter hinlänglich bekannte Wilhelm<br />

Ohnesorge, damaliger Reichspostminister und enge Freund des Führers,<br />

der so wie Thannver selbst aus Gräfenheinichen stammte, wie Thannver<br />

selbst 1920 der Partei beitrat und dem zu begegnen Thannver am<br />

Machnower See das Vergnügen und dann natürlich des öfteren in diesem<br />

Hause im Dorf der Haselnussmenschen hatte; von dem Theresa später<br />

im Tagebuch ihrer Mutter noch lernen sollte, dass die Parteinummer 42<br />

die seine war, die 69 jene von Thannver) wirklich engen Freunden, wo<br />

sie doch beide so für Philatelie schwärmten ... Halders Spur, der seinen<br />

Teil beigetragen hatte, Ehre wem Ehre gebührt, der sich der Vorsehung<br />

unterworfen habe, verlor sich im Winter 1942, Dezember, Rumänien,<br />

Schicksalsjahr, von Bohle, Leichtsinn, und irgendwo dazwischen,<br />

eingestreut oder Sinnestäuschung, der Name Helene. Thannver sprach,<br />

und Theresa hörte. Thannver deutete an, Theresa, das Tagebuch im<br />

Hinterkopf, nicht wissend, dass Thannver es natürlich kannte, glich ab.<br />

Die nächsten Tage verliefen exakt gleich. Theresa stand auf, frühstückte,<br />

Übelkeit und Schwäche fesselten sie ans Bett, einmal kam ein Arzt,<br />

verschrieb ein Mittel, Tropfen, die Thannver Theresa gab oder vorenthielt,<br />

am Abend endlich Besserung. Ein Bad, ein Gespräch, das keines ist im<br />

Halbdunkeln.<br />

Der Tag darauf. Verlief gleich.<br />

Der Tag darauf. Verlief gleich.<br />

Theresa, in ihrer Wanne, rund um sie die Geschöpfe des Paradiesgartens,<br />

von draußen das Locken der Vögel. Thannver auf ihrem Stuhl. Immer früher<br />

wird es finster. Zeit für die Fütterung. Nie mehr fiel der Name Helene. Und<br />

doch entkam Theresa nicht der Diktatur dieses Namens. Vielen kleine<br />

dunkle Andeutungen der Haushälterin – oder vielleicht war es nur der<br />

Tonfall, oder so etwas wie die Pausen zwischen den Wörtern – zwangen<br />

Theresa förmlich zur Mutmaßung, Thannver selbst bilde womöglich den<br />

Punkt, an dem all die Geheimnisse und auch die Antworten kurzweg<br />

zueinander finden mochten, und dieser Punkt trage diesen Namen. Oder:<br />

Vielleicht war Theresa, die Klosterschülerin, das Kind, auch allzu leicht zu<br />

beeindrucken. Vielleicht war sie müde aufgrund der Krankheit und dachte<br />

schwermütiger und ängstlicher, als es sonst der Fall war. Eventuell<br />

verrieten die Worte der Haushälterin und auch jene des Fahrers aus dem<br />

Dorf der Haselnussmenschen gar nichts über den Gemütszustand, den<br />

Charakter des Haselnussdorfs und seiner zitternden Empfänglichkeit für<br />

das Ewige und Reine.<br />

Folgendes Bild: Theresa, in einem Schuppen, der der Lagerung der<br />

Gartengeräte dient, und ein Erntehelfer – die Kartoffelstauden werden


174 — 175<br />

Christof Huemer<br />

ausgerissen, ihre Erde abgeschüttelt, die Früchte in Weidenkörbe<br />

geworfen – ein Erntehelfer aus dem nächstbesten bayrischen Dorf, den<br />

Theresa seit zwei Jahren als Ministranten kannte, ihn genau so lange<br />

stumm anstarrte, von ihm angestarrt wurde, schiebt seine Hand unter<br />

ihrem Rock hoch, seine gewaschene, von Erde vollkommen freie Hand.<br />

Nach 10 Minuten ist alles vorbei. Niemand hat etwas bemerkt.<br />

7) Schwäche und Übelkeit. Übelkeit und Schwäche. Nach gut einer<br />

Woche, Theresa musste sich eingestehen, dass sie jegliches Zeitgefühl<br />

verloren hatte, waren ihr beide so sehr vertraut, dass sie untertags, es<br />

war ein Sonntagvormittag und sie wähnte Thannver in der Kirche, den<br />

Versuch zu lesen unternahm. Sie holte das Tagebuch aus dem Schrank<br />

mit der Babywäsche, vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe ihres<br />

Zimmers war und begann zu lesen, und es war an diesem Tag, dass ihre<br />

Mutter in einem Eintrag zum ersten Mal den Ring erwähnte.<br />

„Wir nahmen das Abendmahl dann ohne Gezänke [dieser Stelle<br />

war ein Streit vorangegangen] im Speisezimmer, Conrad las wie<br />

für gewöhnlich seine Zeitung. Und nach dem Essen hatte wie<br />

immer Frau Thannver ihren Auftritt und unser gerade wieder<br />

aufgenommenes Gespräch geriet ins Stocken. Frau Thannver stellte<br />

sich an den Tisch, viel näher zu Conrad als zu mir – aber: besser so<br />

– und ließ dort ihre üblichen Fragen nach dieser Front oder jenem<br />

Buch ab; sie versuchte dabei wie eine preußische Intellektuelle zu<br />

klingen (was sehr lustig ist, schade, dass Conrad keinen Humor<br />

hat), während Conrad ein Messer mit Horngriff und kurzer Klinge<br />

aus der Tischschublade holte und einen Apfel schälte, einfach des<br />

Schälens wegen. Und, ich weiß nicht warum ich es tat und warum<br />

genau dort und dann, ich fragte Conrad: „Conrad, was hat es mit<br />

dem Ring um den Turm auf sich?“ Ich war wahrscheinlich bloß<br />

neugierig. Aber Frau Thannver und Conrad wechseln hektisch<br />

Blicke, ängstliche Blicke. „Ring...?“ fragt Conrad noch, da fällt ihm<br />

Thannver dazwischen und mich an: „Das ist allein Angelegenheit<br />

Helenes. Herr Halder, bitte sorgen sie dafür, dass die zukünftige<br />

Frau Halder sich von Helenes Räumlichkeiten fernhält.“<br />

Ach, dieser entsetzliche Krieg. Er macht die Menschen so<br />

sonderbar. Ich wollte Conrad nach Helene fragen, aber die einzige<br />

Zeit, zu der ich ihn sehe, ist das Abendessen, und da kommt<br />

immer sofort Frau Thannver und stört. Meine zwei Vermutungen<br />

bezüglich Helene: Thannver hat eine geheime Liebhaberin, die<br />

oben im Turm wohnt, nicht ernst gemeint, natürlich. Oder Helene<br />

ist der Name von irgendeinem Geheimprojekt, das Ohnesorge hier<br />

betreibt (für das er womöglich auch Conrad benötigt, wofür denn<br />

auch sonst) und der Ring gehört dazu. Das Wetter ist nach wie vor<br />

grässlich. Am liebsten würde ich heizen lassen.“<br />

Und Theresa las auch den Eintrag des nächsten Tages, geschrieben<br />

gleich in der Früh, man spürte, dass Gertrudes Eindruck noch frisch war.<br />

Ihre Mutter war in der Nacht aufgewacht, verstört und angsterfüllt. Sie<br />

hatte geträumt, schlecht geträumt, in schwarzweiß. Wie sie auf einem<br />

Schachbrett stand, das das Schloss war und Personen, die sie aus dem Dorf<br />

der Haselnussmenschen kannte oder ihr nahe standen, ihre Großmutter<br />

etwa, warteten neben ihr vor sich hin, jede für sich auf einem eigenen<br />

Feld. Dann wurde Gertrude von irgendwelchen Mächten verschoben und<br />

sie spürte, dass es ein schlechter Zug gewesen war, und sie wollte etwas<br />

sagen, es gelang ihr aber nicht; sie wollte schreien, doch sie konnte nicht;<br />

sie wollte sich wehren, aber nichts half, eine hochmütige Figur rückte<br />

neben sie und Gertrude hörte Stimmen rufen, die Königin werde fallen,<br />

die Königin werde fallen. Gertrude versuchte den Bann zu lüften, sich<br />

zu bewegen, zu schreien, leben zu können. Ein Zug wurde gemacht, eine<br />

schwarze, kalte Frauenfigur kam auf sie zu, kam immer näher, stieß aber<br />

schließlich nicht sie um, sondern Conrad Halder, den König, der, ohne<br />

dass sie ihn wahr genommen hatte, direkt neben ihr stand all diese Zeit,<br />

und Gertrude wachte auf, panisch, richtete sich auf, sie blickte atemlos<br />

neben sich. Da lag ihr zukünftiger Gemahl. Conrad Halder schlief tief und<br />

fest. Gertrude lachte erleichtert auf, fuhr mit einer Hand durch sein Haar,<br />

strich es aus der Stirn. Dann konnte sie einfach nicht anders. Sie weckte<br />

ihn, rüttelte ihn wach. „Was?“, fragte Halder. „Was ist los?“<br />

„Conrad, ich liebe Dich!“, sagte Gertrude und umarmte ihn, indem sie sich<br />

einfach auf ihn legte, auf ihn warf, ihn mit sich zudeckte. „Nichts ist los.<br />

Ich liebe Dich nur so sehr.“<br />

Halders Kopf drehte sich leicht zu ihrem hin. Sie sah es ihm sofort an.<br />

Sein unbewegtes Gesicht, an dem sich außer einem Halsmuskel nichts<br />

rührte oder zuckte, als Halder sich zu ihr drehte, nicht einmal besonders<br />

verschlafen oder durcheinander, wirkte zwar wie stets elegant und<br />

distanziert. Auch sagte Halder gar nichts, nicht einmal „Was ist bloß los<br />

mit dir?“ oder was er sonst zu sagen pflegte, wenn Gertrudes Benehmen<br />

ihm Anlass zu Ärger bot oder er sich wegen ihr schämte. Er blickte sie bloß<br />

an mit einem Blick, und dieser Blick sagte es. Als sei diese Umarmung das<br />

Ekelhafteste, Unglaublichste und Abartigste, das ihm je widerfahren sei<br />

und deshalb auch ohne Beispiel, wie man damit umgehen könnte, sagte<br />

dieser Blick: Du bist widerwärtig, dreckig und noch mehr und, und das<br />

traf Gertrude am allermeisten, dieser Blick konnte auch nicht verhehlen,<br />

wie peinlich Halder das Vorgefallene war. Jedoch nicht peinlich auf<br />

herkömmliche Faux-pas-Art, weil sich so etwas nicht schickte; auch nicht<br />

peinlich um ihretwillen. Nein, peinlich um seinetwillen und einer höheren<br />

Instanz wegen, als müsste Halder vor Scham vergehen, dass zwischen<br />

dem, wofür er stand, und ihr überhaupt je, wenn auch nur einmal, eine<br />

Verbindung bestanden hatte.<br />

Gertrude wurde also klar, dass er nie mehr mit ihr schlafen oder sie<br />

berühren würde. Nicht klar wurde ihr selbstverständlich, dass sie ihn


176 — 177<br />

Christof Huemer<br />

nie mehr sehen sollte. Halder, der aufstand, bevor sie wach war und<br />

den sie den ganzen Tag – augrund seiner Arbeit? – nie sah, nahm seine<br />

Abendessen, wie Thannver sie informierte, ab dieser Nacht im Dorf. Um<br />

sie nicht zu wecken, bezog er ein zweites Schlafzimmer, und als Gertrude<br />

endlich, zwei Wochen nach dieser Nacht, den Mut aufbrachte, seine<br />

Anwesenheit ein für allemal einzufordern, war er bereits an der Ostfront.<br />

Theresa, deren Bauch sich wölbte, nahm ab diesem Sonntag ihre<br />

nächtlichen Erkundigungen wieder auf. Jedoch traute sie sich nicht<br />

in den zweiten Stock, und da alle Türen zum Nordteil des ersten<br />

Geschosses versperrt waren – sie fand sowohl die Tür vom Speisezimmer<br />

in den nächsten Raum als auch die zweite Tür in ihrem Zimmer versperrt,<br />

beschränkten sich ihre nächtlichen Wandlungen auf die fünf ihr schon<br />

bekannten Zimmer. Bis sie eines Nachts, es war eine helle, winterliche<br />

Vollmondnacht und die Böden und Möbel ächzten beim leisesten Hauch,<br />

die Klinke an der Tür im Speisezimmer drückte und die massive Holztür<br />

ein Stück nachgab. Nach kurzem Zögern – bezüglich des ersten Stocks<br />

gab es von Thannver kein Verbot – schob Theresa die Türe einen Spalt auf,<br />

schlüpfte in den Raum und sah sofort die bizarren Möbel. Sessel, Fauteuils,<br />

Tische, Beistelltische, alle in penibelster Kleinarbeit aus den Geweihen<br />

toter Hirsche gefertigt, die Sitzgarnitur gewordene Spießrutenfantasie<br />

eines vor Jagdlüsternheit kranken Gehirns. Theresa wusste nicht, was<br />

sie angesichts dieser Obszönitäten fühlen sollte, wollte lachen, spürte<br />

gleichzeitig eine ganz andere Übelkeit in sich aufsteigen und erinnerte<br />

sich an eine Stelle im Tagebuch ihrer Mutter. Die Stelle fand sich relativ<br />

am Beginn der Aufzeichnungen, und da sie nichts mit ihrer Mutter zu tun<br />

hatte, sondern mit einer Frau, die Theresa nicht kannte, hatte sie diese<br />

offenbar mit weniger großem Interesse gelesen. So aber lief Theresa<br />

zurück, holte das Tagebuch aus dem Wäscheschrank und warf sich damit<br />

aufs Bett. Sie fand den Eintrag auf der fünften Seite.<br />

„... und setze meinen Fuß durch die Tür und in ein Zimmer, das mir<br />

das Grauen über den Rücken jagte. Gleichzeitig musste ich um ein<br />

Haar lachen, denn alle Möbel in diesem Raum waren aus Tierhorn,<br />

also Geweihen gefertigt: Eine komplette Zimmereinrichtung<br />

voller Enden und Zacken und Spieße. Ich wollte mich kurz auf<br />

der Armlehne eines Stuhls niederlassen, um die Szenerie auf<br />

mich wirken zu lassen, tat es dann aber nicht aus Angst, mein<br />

Nachthemd zu beschädigen. Und da erinnerte ich mich einer<br />

Geschichte, die man sich auf der Hakeburg erzählt hatte. Dass<br />

nämlich Hitler und seine Gefährtin Eva Braun in diesem Schloss<br />

bei Wilhelm Ohnesorge, Conrads Vorgesetztem, zu Gast war und<br />

dass nach der Abendgesellschaft, während derer man sicher<br />

angeregt über die Herrlichkeit der deutschen Landschaft und den<br />

kernigen Menschenschlag der Haselnussmenschen geschwätzt


178 — 179<br />

Christof Huemer<br />

hatte, alle ins Bett gegangen waren. Nur Eva Braun wollte noch<br />

länger am Feuer sitzen. Hitler, Ohnesorge, dessen Frau Gustie<br />

und noch andere gingen also auf ihre Schlafzimmer, Eva blieb<br />

noch. Und während unser Führer Carlyles Biografie Friedrichs<br />

des Großen studierte, setzte sich Eva Braun so folgenschwer und<br />

unglücklich und gleichzeitig fest und ruckartig in einen der Sessel<br />

(oder vielleicht war es ein Unfall und sie war von der Armlehne<br />

abgerutscht; auch mag sie gestolpert sein, man war sich darin<br />

damals nicht einig) dass ein Geweihspieß eine ihrer Schamlippen<br />

perforierte und tief in ihr Fleisch eindrang. Über die folgenden<br />

Einzelheiten wusste man natürlich noch weniger. Hitlers Leibarzt<br />

reiste bereits am nächsten Tag in das Dorf der Haselnussmenschen<br />

und nähte und korrigierte so gut es ging, was der in der Nacht<br />

gerufene örtliche Mediziner sich kaum anzurühren gewagt hatte.<br />

Geschlechtsverkehr zwischen Hitler und Eva Braun soll ab dieser<br />

Nacht jedenfalls nicht mehr stattgefunden haben; stattgefunden<br />

haben können, wie es häufiger hieß, wobei sich die Berichte, die<br />

es zu diesem Unfall gab, jeweils sowohl auf einen Vertrauten<br />

des Leibarztes als auch darauf stützten, dass Hitlers Politik<br />

in den darauf folgenden Wochen, etwa in der Judenfrage, eine<br />

entscheidende Wende nahm. [Das könnte in der Tat stimmen.<br />

Historiker gehen momentan davon aus, dass die endgültigen<br />

Entscheidungen, die zum Holocaust führten, im Herbst 1941<br />

gefallen sein müsse, was zeitlich gut hinkäme.] Eine Version all<br />

dieser Berichte, die natürlich dadurch interessanter wurden, dass<br />

sie zu erzählen lebensgefährlich war, erscheint mir, da ich die<br />

Möbel selbst gesehen habe, nun jedoch am Glaubwürdigsten, ich<br />

weiß nicht warum. Es ist jene, die niemand bis dato für besonders<br />

plausibel hielt. Dass Eva Braun es absichtlich getan hatte. Dass<br />

sie den Spieß, den Zacken, das Ende absichtlich durch ihre<br />

Schamlippe getrieben hatte, warum auch immer.<br />

Ich setzte meinen Versuch, zu diesem seltsamen Ring zu<br />

gelangen, der immer nur in den Stunden der Dämmerung,<br />

gemeinsam mit dem Lullen der Vögel zu existieren scheint, an<br />

diesem Abend nicht fort.“<br />

8) Nach Wochen, vielleicht Monaten im Schloss, zumindest war aus Herbst<br />

Winter geworden, hatte sich Theresas Zustand soweit gebessert, dass sie<br />

zwar tagsüber das Bett verlassen konnte. Sobald sie aber ein paar Schritte<br />

lief, die Stiegen zu schnell nahm oder aus anderen Gründen außer Atem<br />

geriet, bemächtigte sich ihrer eine bis dato ungekannte Erschöpfung, und<br />

ihr Bauch war so geschwollen, dass die von ihr mitgebrachte und kürzlich<br />

wieder aufgetauchte Kleidung nicht mehr passte. Da Thannver sich nicht<br />

daran störte, bediente sich Theresa also jener Blusen, Jacken etc., die sie<br />

im Schrank in ihrem Zimmer fand.<br />

Vom Notar hatte Theresa einen Brief erhalten, den Thannver ihr ungeöffnet<br />

übergab. Sein Inhalt lief vollumfänglich auf eine Entschuldigung heraus,<br />

die Gründe für die lange Absenz jedoch blieben vage, Geldgeschäfte.<br />

Beigelegt war eine Postkarte aus Buenos Aires. Theresa besah kurz<br />

die Briefmarke. Sie war ebenfalls in Buenos Aires abgestempelt, sie<br />

wollte sich nicht vorstellen, wie lange eine Schiffspassage, sagen wir<br />

von Marseille nach Argentinien, oder von Buenos Aires nach Rotterdam<br />

dauerte. Theresa bemerkte Thannver, die plötzlich oder immer noch hinter<br />

ihr stand und lief weinend und leicht watschelnd auf ihr Zimmer.<br />

In einer der nächsten Nächte ereignete sich Seltsames. Theresa fand,<br />

wieso auch nicht, alle Türen im ersten Geschoss offen. Sie konnte also,<br />

wie ihre Mutter es getan hatte, Schritt für Schritt, Fuß vor Fuß aus<br />

ihrem Zimmer in den Durchgangsraum, von dort in den Marmorsaal<br />

(„Verstand wird dich behüten“), von dort in das Speisezimmer, weiter in<br />

den bizarren Raum der Eva Braun wandeln. Und weiter in eine Folge von<br />

nordseitig gelegenen, feucht-muffigen Räumen, von denen der erste an<br />

den Flaggenturm anschloss. Wie in allen anderen Räumen der Nordseite,<br />

verhinderten auch in diesem, von den Schreien der Vögel erfüllten Raum<br />

geschlossene, oder wie es Theresa schien: vernagelte Fensterläden<br />

einen klärenden Blick nach draußen. Auf die Vögel und den Grund ihres<br />

Lärms. Auf den See, der zugefroren und trüb, unterhalb des Schlosses<br />

im Dauerschatten lag. Auf die Fassade des Flaggenturms, um die sich<br />

einen Stock höher ein Ring, ein Reif, ein Steg ziehen musste. (Nicht, dass<br />

Theresa noch nie versucht hatte, bei Anbruch der Nacht aus dem Schloss<br />

zu gelangen. Sobald es ihr Zustand zuließ, galt diesem Ziel beinahe all<br />

ihre Energie; die Mission ihrer Mutter, das Auffinden des Stegs, war zu<br />

ihrer Mission geworden. Allein das Schlossportal, der einzige Weg nach<br />

draußen, blieb mehrfach verschlossen, Theresa war also eine Gefangene.<br />

Nur, dass sie dies nicht so empfand, denn auch im Münchner Internat<br />

war es ihr noch nie anders ergangen.). Theresa ging weiter, öffnete Tür<br />

um Tür der Zimmer des Nordtraktes, vier Räume, in jedem derselbe<br />

kalte Schiffsboden, dieselbe Dunkelheit, die Fenster in jedem einzelnen<br />

verschlossen, vernagelt. Ich muss versuchen, eine Zange aufzutreiben,<br />

dachte Theresa, wusste gleichzeitig, dass ihr eine Zange nicht helfen<br />

würde, dass sie schon eher so etwas wie ein Brecheisen benötigte und<br />

ärgerte sich, dass sie zwar Latein beherrschte, nicht aber die Namen für<br />

die einfachsten Werkzeuge kannte. Sie öffnete enttäuscht und zugleich<br />

erleichtert, einen ersten Rundgang absolviert zu haben, ohne jemanden<br />

zu treffen, die diesmal nicht verschlossene zweite Tür zu ihrem Zimmer.<br />

Und bemerkte sogleich eine kleine Gestalt, die sich an ihrem Versteck<br />

zu schaffen machte. Ohne das leiseste Zögern rannte Theresa los, warf<br />

sich gegen den winzigen Dieb, der wuchtig gegen die Regalbretter des<br />

Wäschekastens prallte und dann zu Boden ging, wimmernd und klein.<br />

Die Kerze, die Theresa immer noch in der Hand hielt, war bei ihrer Attacke


180 — 181<br />

Christof Huemer<br />

ausgegangen. Theresa entzündete sie erneut und erblickte ein aus der<br />

Nase blutendes Mädchen mit zwei seitlich abstehenden Zöpfen, keine<br />

acht Jahre alt.<br />

„Wer hat dich geschickt? Was willst Du mit meinem Buch?“, herrschte<br />

Theresa den blutenden Zwerg vor ihr an, der zunächst gar nichts sagen<br />

wollte, sich aber nach mehreren immer drohender dargebrachten Fragen<br />

schließlich erklärte. Sie habe nichts stehlen wollen, bei ihrer kranken<br />

Großmutter nicht. Der Grund, warum sie halb im Schrank verschwunden<br />

wäre, sei ein einfacher. Sie hätte Schritte gehört, gedacht, es handle sich<br />

um Thannver und das nächstbeste Versteck aufgesucht.<br />

Was sie in ihrem Zimmer zu suchen hätte, fragte Theresa.<br />

Ihr Vater, sie wohne unten in der Fischerhütte, eines der irren Gesichter,<br />

sagte sich Theresa, ihr Vater habe sie geschickt, Theresa zu warnen.<br />

Ihr Vater?<br />

Der Fischer, Chauffeur, Handwerker, Hausbesorger in einer Person.<br />

Und wovor warnen?<br />

„Ich weiß, wie Deine Mutter gestorben ist.“<br />

Und Theresa ließ das blasse kleine Kind mit den zwei Zöpfen erzählen.<br />

Gertrude, ihre Mutter, sei abends aus der Badewanne gestiegen,<br />

hochschwanger und angelockt durch einen Laut, so wie ein Hund auf<br />

eine Pfeife, nein, wie eine Schlange auf eine Flöte reagiert. Sie hätte<br />

sich in ihr Handtuch gehüllt und sei der Melodie gefolgt, barfuss und<br />

alle Vorsicht in den Wind schlagend, sei in den zweiten Stock gelangt,<br />

in den zweiten Stock und in jenes sagenhaft weiße Eckzimmer, das an<br />

den Flaggenturm anschließt. Sie habe gesungen, als sie das Zimmer<br />

betreten habe, „Was hat sie gesungen?“, schnappt Theresa dazwischen.<br />

Gesungen, lässt sich das Mädchen nicht irritieren, sie sei die fünf, sechs<br />

Stufen hinaufgestiegen, wie eine Braut. Das Fenster stand offen. Sie sei<br />

hinausgeschritten. Auf den Steg, den Ring, Schritt für Schritt, als hätte<br />

sie es geübt, und eigentlich hätte sie immer nur weiter gehen müssen,<br />

immer weiter um das Rund des Turms herum, beim zweiten Fenster hinein<br />

in das Weiß, die Stufen hinunter. Das kleine Mädchen begann zu husten,<br />

ein bellendes, krankes Husten, und Theresa schüttelte es: „Erzähl!“<br />

Man habe sie nie gefunden. Sie sei am höchsten Punkt ... einfach<br />

verschwunden, hieße es. Nicht hinunter gestürzt, gefallen, gesprungen,<br />

zig Meter weit, nicht davon getragen. Verschwunden. Und auf der obersten<br />

Stufe, im Zimmer, fand man ein Neugeborenes.<br />

„Mich?“, fragte Theresa.<br />

„Mein Vater sagt, ja.“<br />

„Und was hat es mit dem Steg auf sich?“<br />

„Ich weiß nicht?“<br />

„Was hat es mit dem Steg auf sich?“<br />

„Ich weiß es nicht!“<br />

Theresa packte das blasse Mädchen, riss es hoch, warf es zu Boden und<br />

trat mit ihren Füßen gegen den kleinen Körper so fest es ging, gegen<br />

den Kopf, die Rippen und dorthin, woher die enervierenden Geräusche<br />

kamen, sie trat und trat, bis sie selbst erschöpft war, bis er ihr besser<br />

ging, weil einmal sie die Stärkere war, die Unbarmherzige, weil sie einmal<br />

nicht das Gefühl hatte, sich in Luft aufzulösen, ein Gefühl des kaum mehr<br />

Existierens, das sie hatte, seitdem sie hier war; bis sie Thannver hinter<br />

sich sagen hörte: „Hör sofort auf!“<br />

Ein sehr großer, sehr blonder Mann mittleren Alters, den Theresa vorher<br />

noch nie gesehen hatte, trug den übel zugerichteten Körper des Mädchens<br />

aus ihrem Zimmer, gleich nachdem Theresa von ihm abgelassen hatte,<br />

und sogleich erschien auch Margit mit Eimer und Tüchern und beseitigte<br />

die Blutflecken. Thannver blieb vor dem offenen Kasten stehen, bis alles<br />

verrichtet war, und keine Falte in ihrem Gesicht bewegte sich, ein Hinweis,<br />

dass ihr Zorn über diesen Vorfall schnell verrauchen würde.<br />

Der Arzt, der Theresa nach dem Frühstück des nächsten Tages aufsuchte,<br />

diagnostizierte einen Nervenzusammenbruch, verordnete Ruhe,<br />

körperliche und geistige, und gab ihr eine Spritze. Theresa erwachte am<br />

nächsten Morgen.<br />

9) Folgendes Bild: Theresa sitzt im Speisezimmer beim Frühstück und<br />

dreht sich um, weil Thannver den Raum betritt, mit einer Torte. 14 Kerzen.<br />

Hinter ihr der sehr große, sehr blonde Mann, der vor ein paar Tagen das<br />

halbtote Mädchen aus ihrem Zimmer getragen hatte. Beide singen sie<br />

„Zum Geburtstags viel Glück, zum Geburtstag viel Glück“, und anstatt der<br />

Zeile, in der es „liebe Theresa“ heißen müsste, singen sie ebenfalls „zum<br />

Geburtstag.“ Theresa rechnet nach. Ihrer raschen Kalkulation zufolge, die<br />

zur Hälfte auf ihrem Gefühl, zur Hälfte auf der Zahl der Vollmonde basiert,<br />

liegt ihr Geburtstag in etwa acht, neun Wochen zurück. Thannver stellt<br />

den Kuchen auf den Tisch und eine merkwürdige Situation entsteht, da<br />

sich im Raum kein Messer befindet, um ihn anzuschneiden. Auch nicht<br />

das kleine Messer mit dem Horngriff, mit dem Ihr Vater seinen Apfel<br />

schält. Theresa hat das längst überprüft.<br />

Ab diesem Tag sollte Theresa den sehr großen, sehr blonden Mann täglich<br />

sehen. Er kam, sobald sie ihr Frühstück beendet hatte, geleitete sie die<br />

paar Meter in die Bibliothek, nahm ein Buch aus einem der Regale und<br />

ging es mit ihr durch. Theresa las über Norwegen; über die Tugenden<br />

Keuschheit, Bußfertigkeit und Entsagung; sie hörte von Pflanzenarten des<br />

Toten Gebirges, von Brehms Tierleben; sie lernte die Kunst Michelangelos<br />

über jene Brunelleschis zu stellen. Sie grub sich durch das Tal der Könige.<br />

Sie verehrte den Medici Giovanni die Bicci, zumindest tat sie so. Sie las<br />

eine vereinfachte Form von Moby Dick auf Englisch, kurz: Unterricht, der<br />

die in ihren weißen Kleidern noch blasser wirkende Theresa so erschöpfte,<br />

aber genau das mag seine Aufgabe gewesen sein, dass sie das Angebots<br />

einer Mittagsruhe gerne annahm. Sie zog sich dann in ihr Zimmer zurück,<br />

sah lange aus den Fenstern auf die verschneite Landschaft und widmete


sich ernsthaft und immer noch heimlich ihrem strengen Regime von<br />

höchstens drei Tagebuchseiten pro Tag.<br />

Ihre Mutter, hochschwanger, widmete sich wiederum allein dem Rätsel<br />

um den Ring. Sonntag für Sonntag begab sich die Hochschwangere<br />

und an sich bedingt gläubige Gertrude auf den beschwerlichen Weg zur<br />

Johanneskapelle, um nach der Messe unter dem Vorwand der Stärkung und<br />

Ruhe eines der Gasthäuser aufzusuchen und Erkundigungen einzuholen.<br />

Theresa, die sich nicht erinnern konnte, das Schlossgelände je verlassen<br />

zu haben, versuchte sich vorzustellen, wie ihre Mutter die matschige<br />

Strasse hinunter zum See schlitterte, der bleifarben und wie ein<br />

monströser Pechtropfen im Schatten lag. Wie sie dann weiterstapfte,<br />

den unerträglichen Weg entlang, der nirgendwohin führte, ins Dorf der<br />

Haselnussmenschen, und der Theresa, wie zurzeit fast alles, das nicht<br />

Schloss war, auch nicht von dieser Welt zu sein schien. Sie malte sich aus,<br />

wie ihre Mutter eine ganze Messe lang ausharrte, um dann im Gasthof des<br />

Herrn Zettler Erkundigungen über den Ring einzuholen. Ihre Mutter, die<br />

trotz ihres Zustandes immer noch von einschüchternder Schönheit war,<br />

zumindest wollte Theresa sich so erklären, warum Thannver, die ihren<br />

Vater so verehrte, sie partout nicht leiden wollte, suchte dort dann die<br />

Nähe alter Zausel, knorriger Bauern oder Soldaten auf Heimaturlaub, die<br />

in ihrem Tagebuch zu schildern Gertrude eine Riesenfreude bereitete. Die<br />

übrigen Gespräche verstummten kurz, sobald diese Kontaktaufnahme<br />

erfolgreich war, und kreisten sodann allein darum, wie und in welcher<br />

Stellung jeder einzelne Gertrude gerne vögeln würde. Und Gertrude fragte<br />

ihre Opfer nach dem Ring, der sich, immer nur zur Zeit der Dämmerung,<br />

um den Flaggenturm des Schlosses zu schlingen schien.<br />

Zumeist gaben sich die Herren verschwörerisch. Ob sie schon einmal<br />

etwas von Feng Shui gehört habe, fragte sie etwa ein Volksschuldirektor<br />

im Ruhestand und schüttelte für sie den Kopf gleich mit. Wong Schweh,<br />

wie er es aussprach, sei die Lehre der Harmonisierung des Menschen mit<br />

seiner Umgebung, eine alte asiatische Kunst, die speziell hier im Dorf<br />

der Haselnussmenschen, denn die Haselnussmenschen seien Asiaten,<br />

Asiaten, die nicht aussähen wie Hühner und dir auch nicht die ganze Hand<br />

abkauten, wenn du ihnen einen kleinen Finger reichtest. Darin glichen sie<br />

den Bayern, aber, in Gottes Namen, man hüte sich vor den Bayern, den<br />

Salzburgern, mit denen spreche man am Besten gar nicht, es sei denn sie<br />

seien auf der Durchreise, dann seien sie wie junge Hunde. „Spielen Sie<br />

ruhig mit ihnen.“<br />

„Die Asiaten?“, fragte Gertrude.<br />

Haben eine leichte, vollkommen ausgewogene Küche, was zum Teil den<br />

Fels- und Kiessteinen ihrer Küsten geschuldet sei, da könnte Schweden<br />

nicht mit. Auch England nicht, Engländer seien dreckige Schweden mit<br />

Deckel drauf. „Und die Wong Schwe?“, fragte Gertrude. Oh ja, es heiße<br />

übrigens „Schweh, das W, als würden Sie ein Schwein küssen, Schweh!“,


184 — 185<br />

Christof Huemer<br />

dabei gehe es um eine Harmonisierung der Lebensräume mit dem Äther.<br />

Wong Schweh hieße ja „den Himmel und die Erde beobachten“. Man wolle<br />

sich also die Geister der Luft und des Wassers geneigt gemacht. So gebe<br />

es etwa in Asien viele Geister, die man sich, um das Böse, das man sich<br />

nicht so wie das Böse aus Polen vorstellen dürfe, die Polen und auch die<br />

Juden seien wesentlich penibler in ihrer Bösartigkeit, die Juden geradezu<br />

rechthaberisch, um das asiatische Böse ungestört dorthin fließen zu<br />

lassen, wo es aufgesogen werde, im großen gelben Meer etwa. In den<br />

Schluchten der mittleren Gebirge, das seien noch Schluchten, die diesen<br />

Namen verdienten. Das Böse könnte also, sagen wir, aus dem Berg, sagen<br />

wir, durch das Dorf, ohne Aufenthalt ins Meer, ins Tal, in die Schlucht<br />

fließen. Und die baulichen Maßnahmen im Dorf, die dies unterstützten, im<br />

Übrigen seien die Holländer nicht nur Sodomiten, sondern auch passable<br />

Architekten, besser als viele Deutsche, diese Maßnahmen folgten der<br />

Lehre der Beobachtung von Himmel und Erde, Luft und Wasser.<br />

Und der Ring um das Schloss?<br />

Der Gürtel um den Schlossturm, im Übrigen würde er gerne einmal beide<br />

ihrer geschwollenen Titten kneten, sei genau das. Im Schloss sitze<br />

das Böse, nur dass es nicht sitze, es lauere dort, nein, es brüte dort,<br />

im Portugiesischen (als Volk schwuchtliger als die Spanier, aber bessere<br />

Seemänner) gäbe es ein Wort dafür, eine Mischung aus „wachsen“, „lauern“,<br />

„zu Kräften kommen“ und dabei „etwas planen“; und wie eine dunkle<br />

Sonne, die von Zeit zur Zeit Eruptionen zeige, Protuberanzen, müsse<br />

dieses Böse im seinem momentanen Stadium hie und da ausbrechen. Und<br />

der Ring, er gehe davon aus, das Fräulein werde sich für diese Information<br />

erkenntlich zeigen, man sollte dies als alleinstehende Frau ja schon allein<br />

des Nährwerts des Spermas wegen, er sorge dafür, dass dieses Böse, all<br />

die dunkle Energie, die aus dem Schloss schieße zur Abendstunde, nicht<br />

das Dorf der Haselnussmenschen heimsuche; dass es nicht am Grimming<br />

vorbei und in Richtung Tauplitz flöge. Dass es nicht den Weg nach Westen<br />

gen Schladming finde. Und so weiter. Das Böse würde aus dem Schloss<br />

hinaus geschleudert, das meiste davon im Ring gefangen und zurück ins<br />

Schloss geleitet werden. Der Überschuss schaffe es nicht weiter als bis<br />

zum See und zur Fischerhütte, arme Brut, die sich dort zusammenrotte.<br />

Nie schrieb ihre Mutter, ob sie sich schlussendlich erkenntlich zeigte.<br />

10) Wieder glichen sich Theresas Tage. Nach dem Frühstück das<br />

Studium, nach dem Mittagessen die Müdigkeit, das Trampeln im ihren<br />

Bauch, die Lektüre des Tagebuchs, das Abendmahl, ein treuer, seltsamer<br />

Muttesanbeterinnen-Rundgang durch den ersten Stock. Schlaf.<br />

Ein anderer Sonntag hatte Gertrude in die Stube des Gasthauses<br />

Beichtbuchner geführt, und während die anderen Männer rauchten und<br />

sich darüber unterhielten, in welcher Stellung sie die schöne Schwangere<br />

gerne vögeln würden, erhielt Gertrude einmal nicht jene mal mehr, mal<br />

weniger einfallreich ausstaffierte Geschichte vom Bösen im Schloss. Ein<br />

junger, auf einem Auge erblindeter Invalider, dem sich die Haut in Fetzen<br />

vom Gesicht schälte und den Gertrude als jungfräulich, ungeschickt und<br />

zerstreut beschrieb, als „menschliche Taschenlampe“, lud sie auf einen<br />

warmen Wein ein. Und wusste, dass „der Krieg ohne die Atombombe<br />

bald verloren sei“, worauf ein Geraune durch die Gaststube ging, sich<br />

zwei andere Heimkehrer erboten, ihm das Maul zu stopfen, vom Wirt<br />

aber barsch aufgefordert wurden, an ihrem eigenen Zopf zu ziehen,<br />

was auch immer das bedeuten sollte. Die Taschenlampe fuhr fort: Karl<br />

Wilhelm Ohnesorge, der Schlossbesitzer, wie Gertrude ja sicher wisse<br />

(was Gertrude bewies, dass er sie und ihre Geschichte nicht kannte),<br />

und dazu ein persönlicher Freund des Führers, sei auch dessen erste<br />

Ansprechperson in Sachen Atom. Ohnesorge sei er bis zu seinem Unfall<br />

unterstellt gewesen, als dessen Mann im Institut von Manfred Baron von<br />

Ardenne in Berlin-Lichterfelde (deswegen der Dialekt, dachte Gertrude),<br />

wo er an der Entwicklung eines elektromagnetischen Massetrenners<br />

gearbeitet habe, mehr dürfe er wirklich nicht sagen. Beim Flaggenturm<br />

des Schlosses handle es sich demnach, er dürfe das wahrscheinlich nicht<br />

sagen, andererseits wisse er es ja nicht, er „wisse“ es nur, ob sie verstehe,<br />

um die äußere Scheibe eines Zyklotrons, welches wohl bald um eine<br />

Anlage zur Isotopentrennung erweitert würde.<br />

Conrad Halder?<br />

Ja, er habe diesen Namen gehört.<br />

Und die Vögel, die um den Ring kreisten?<br />

Vögel?<br />

Die Gaststube prustete.<br />

Warum der Ring nur bei Dämmerung erscheine und dann wieder<br />

verschwinde?<br />

Eine optische Täuschung. Worauf Gertrude beschloss, ihm nicht länger<br />

zuzuhören.<br />

Die Ausbeute anderer Sonntage:<br />

• Die Heilige Lanze sei im Schloss versteckt (und, aber das<br />

dürfe man niemandem sagen: Eva Braun habe sich daran die<br />

Schamlippen geritzt). Gesprächspartner: ein Messdiener.<br />

• Ganz ohne Zweifel verfeinere man im Turm und für den Endsieg<br />

den so sehnlichst im Einsatz erwarteten Nurflügler, weshalb<br />

der Ring zur Dämmerung auch in Richtung Neuschwabenland<br />

zeige. Gesprächspartner: ein für den Pfarrer aus dem Dorf der<br />

Haselnussmenschen einspringender Kaplan.<br />

• Die Vril-Gesellschaftz werden ihn umbringen, wenn er es<br />

verrate, aber, nun gut: Gemeinsam mit Wissenschaftern des<br />

Sternensystems Aldebaran (über 60 Lichtjahre entfernt),<br />

denen der Grimming als Einflugsschneise und das Schloss als<br />

Lande- und Arbeitsplatz diene, werde im Schloss aus simplen<br />

organischen Verbindungen Gold gewonnen. Nebenbei, Frau


186 — 187<br />

Christof Huemer<br />

Thannver sei natürlich niemand anderes als Maria Oršič. (Als<br />

wer? Mein Gott, Kind. Selig die Unwissenden.) Gesprächspartner:<br />

ein junger Rekrut, Überlebender eines Kopfschusses.<br />

• Es handle sich um einen Balkon, nein, Verzeihung, es sei natürlich<br />

die zynischerweise als Jungfernsturz bekannt gewordene<br />

Anhöhe, derer sich junge, in Not geratene Frauen bedienten, um<br />

die Ehre ihrer Familien nicht zu schädigen. Hü und Hüpf. Haha.<br />

Gesprächspartner: ein Arschloch, dem Gertrude ins Gesicht<br />

schlug.<br />

11) Für Theresa, in deren Leben Sexualität, bis auf einen einzigen Vollzug,<br />

keine Rolle gespielt hatte, öffnete sich mit den Schilderungen dieser<br />

sonntäglichen Nachforschungen und den auf sie folgenden, impliziten<br />

Übergriffen ein Panoptikum sexuellen Wissens. Der einzige Mensch,<br />

mit dem sie darüber sprechen konnte (abgesehen von ihrem großen,<br />

blonden Lehrer, der ihr immer leicht das Gefühl vermittelte, ihm grause<br />

vor ihr) blieb Thannver. Nicht nur, weil sie neben Margit die einzige<br />

weibliche Person im Schloss war. Auch weil sich zwischen Thannver<br />

und Theresa, durch die stets einseitig verlaufenden Unterhaltungen<br />

während des abendlichen Bades und trotz oder wegen aller Asymmetrie<br />

der Beziehung, trotz aller Feindseligkeit, die von beiden kaum verhohlen<br />

wurde, so etwas wie Vertrautheit entwickelt hatte.<br />

Und so beschloss Theresa, ihr Bauch eine Kugel und die Wanne der<br />

einzige Ort, an dem sich zu bewegen ihr noch schmerzlos möglich war,<br />

Thannver, die wie jeden Abend seit Monaten auf einem Stuhl im dunklen<br />

Zimmer saß, den Rücken Theresa zugewandt, einfach zu fragen.<br />

„Wie ist das,“ fragte sie, „wenn man es in sich fühlt, wenn man endlich<br />

möchte, dass es passiert, dass diese große Nähe, der Wunsch danach,<br />

endlich beisammen sein zu können, wenn man...“<br />

„Wenn man“, nahm Thannver ihren Gedanken auf, die Stimme weicher<br />

als sonst, „in der Erwartung lebt, dass es passiert. Wenn man horcht,<br />

immerzu, ob man es nicht hört, das Nahen eines Wunders, das sich eines<br />

Nachts dem Zimmer nähert, wo sie alle warten, und es dann endlich so<br />

weit ist, das Warten ein Ende hat und sie endlich kommt, wenn sie endlich<br />

kommt ...“ Thannver verstummte. Auch Theresa sagte nichts mehr, und<br />

in der eintretenden Stille, die vom Schnarren der Vögel nicht gemindert<br />

wurde, war ihr, als hörte sie Thannver schluchzen. Leise, schüchtern und<br />

erleichtert schluchzen.<br />

In der darauf folgenden Nacht badete Theresa zum ersten Mal allein.<br />

Margit legte die Handtücher zurecht, Thannver sei ins Dorf gegangen,<br />

sagte sie, ob Theresa wünsche, dass sie bei ihr bleibe und sie starrte<br />

Theresa, die aus ihren Kleidern stieg, dabei seltsam wissend an. Nein,<br />

sie brauche nichts, es sei schon gut, antwortete Theresa und stieg erst<br />

ins Wasser, als Margit die Zimmertür geschlossen hatte. „Gute Nacht“,<br />

sagte sie dann leise. Gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht. Sie blies die<br />

Kerze aus, ließ ihren Rumpf mit dem Ausatmen ins Wasser sinken, mit<br />

dem Einatmen aufsteigen und lauschte den Vögeln, der Symphonie ihres<br />

Knarrens, sie sah sie förmlich vor sich. Wie sie mühelos schwebten,<br />

sich fallen ließen, kurz nur mit den Flügeln schlugen, Höhe gewannen<br />

und wieder frei waren. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich ganz<br />

auf dieses tierische Raunen, und eine neue Note mischte sich unter<br />

die Schreie. Theresa war, als würde sie ihren Namen hören, als wäre<br />

es dringlich. Komm zu uns, schienen die Stimmen zu weinen, komm,<br />

säuselten die ihr so vertrauten Geschöpfe. Theresa wusste nicht, ob<br />

sie es hörte oder roch wie einen betörenden Duft. Komm, spürte sie sie<br />

rufen. Theresa drehte schnell ihre Haare im Nacken zu einem Zopf, wrang<br />

ihn aus und stieg aus der Wanne. Ein Badetuch verknotete sie oberhalb<br />

der Brüste, das zweite schlang sie um den Kopf wie einen gelüfteten<br />

Schleier. Dann folgte sie dem Rufen, folgte ihm und nichts tat ihr mehr<br />

weh. Leicht setzte sie Fuß vor Fuß auf dem Parkettboden, „Was ist los,<br />

bitte?“ fragt sie hallend in den Raum rund um sich, mehr um denjenigen,<br />

zu dem sie ging, wer auch immer das war, wissen zu lassen, dass sie<br />

kam. „Bitte?“<br />

Wie auf einem Band glitt sie vorwärts. Sie kam in den Marmorsaal, der ihr<br />

heller schien als je zuvor. In seiner Mitte schwebte, wartete eine weiße<br />

Treppe, wie aus Zähnen gefertigt, sie wand sich in einer großzügigen<br />

Pirouette nach oben durch den Raum. All das ist Theresa vertraut. Das<br />

ist der Traum meiner Mutter, sagt sie sich. Das Ende des Schachspiels.<br />

Die Obhut der Vernunft. Und: Wie kann es sein, dass diese Treppe, diese<br />

gleichzeitig so himmlische und entartete Treppe, nicht schon immer<br />

hier war? „Hier, wo sie hingehört.“ Theresa, die nicht mehr zu sagen<br />

vermochte, ob sie noch selber ging und ob die Stufen vom Himmel herab<br />

oder in ihn hinauf führten, sprach es laut aus. Sie begann zu singen.<br />

Der Raum drehte sich um sie, verlosch unter ihr, auf dem Singsang der<br />

Vögel kehrte sie ein in das zweite Geschoss des Schlosses. Ich komme,<br />

sang Theresa, der klar war, dass man sie nicht hörte. Zwei vollkommen<br />

unerhebliche Räume noch. Ich komme.<br />

Die Tür stand offen. Theresa verstummte. Noch nie hatte Theresa so ein<br />

Weiß gesehen. Ein vollkommen strahlender Raum, weiß wie die Hölle. An<br />

der Stirnseite ein offenes Fenster, fünf, sechs Stufen führten hinauf zum<br />

Ring um den Turm. Der Singsang der Vögel war ein Brausen. Der sanfte<br />

Nachtwind nahm sie bei der Hand. „Ich trage dich“, hörte Theresa ihn<br />

sagen. Gleich ist es vorbei. Eine Stufe noch, und Theresa, beide Hände<br />

auf ihrem Bauch, geht hinaus. Schritt für Schritt. Fuß vor Fuß. Dann kam<br />

der Schmerz und irgendwann hörte er auf.


188 — 189<br />

Christof Huemer<br />

13) Ich bin ein kluger Vogel. Ich kann Brot fressen, ich kann Aas fressen.<br />

Ich esse mit Genuss. Wenn ich nicht esse oder schlafe, fliege ich. Ich<br />

fliege und drehe mich, und segle und tolle. Ich fliege am Schloss vorbei.<br />

Ich wirble um den Reif, der den Turm umarmt. Ich fange den Wind, lasse<br />

mich nach oben tragen, spreize meine Schwingen und schaue in die<br />

leuchtenden Fenster. Diese Frau, die wie eine Krähe aussieht, läuft ins<br />

Zimmer, die Prozession hinter ihr hält Abstand. Ich sehe ihre Tränen. Ich<br />

stoße einen Schrei aus, fliege eine schnelle Schleife, komme wieder zu<br />

stehen vor diesem offenen Fenster, und das nackte Menschenjunge, das<br />

halb am Fenster lag, halb am Reif, liegt nun im Arm der Frau. Sie wischt<br />

sich eine Träne von der Wange, dreht sich dann um und präsentiert das<br />

Menschenjunge der fiebernden, strahlenden Gesandtschaft aus dem Dorf.<br />

Heil Helene, rufen sie. Heil Helene. Der Säugling wird herumgereicht. Sie<br />

heben ihn hoch, Heil, jeder hält ihn und vergießt seine Freudentränen auf<br />

ihm. Dann nehmen sie ihn, hüllen ihn in Loden und tragen ihn zum Altar.<br />

Ich fliege weiter. Ich gleite und sause. Ich bin ein Wachtelkönig und meine<br />

Name ist ...


190 — 191<br />

1<br />

Wiederabdruck aus: Hannah<br />

Arendt: Vita activa oder<br />

Vom tätigen Leben. (c) 1967<br />

Piper Verlag GmbH, München.<br />

2<br />

Das lateinische Wort faber,<br />

das vermutlich mit facere<br />

im Sinne des hervorbringenden<br />

Menschen zusammenhängt,<br />

bezeichnet den<br />

Künstler oder Handwerker,<br />

der hartes Material bearbeitet<br />

– Holz, Stein oder<br />

Metall. Ihm entspricht das<br />

griechische Wort τέχτων,<br />

für das faber auch als<br />

Übersetzung dient. Der<br />

Plural fabri ist häufig in<br />

fabri tignarii für Bauhandwerker<br />

und Zimmerleute.<br />

Es war mir unmöglich<br />

festzustellen, wann der<br />

Begriff des Homo faber<br />

zuerst auftaucht oder wer<br />

ihn geprägt hat. Sicher ist<br />

nur, daß er ganz modernen<br />

Ursprungs ist: Jean Leclercq<br />

(in Vers la Société basée<br />

sur le Travail, in Revue du<br />

Travail, Vol. LI, No. 3, März<br />

1950) meint, daß Bergson<br />

sein Urheber ist.<br />

Das Herstellen 1<br />

Hannah Arendt<br />

Die Dauerhaftigkeit der Welt<br />

Das Werk unserer Hände, und nicht die Arbeit unseres Körpers, Homo<br />

faber, der vorgegebenes Material bearbeitet zum Zwecke der Herstellung,<br />

und nicht das Animal laborans, das sich körperlich mit dem Material<br />

seiner Arbeit „vermischt“ und ihr Resultat sich einverleibt, verfertigt<br />

die schier endlose Vielfalt von Dingen, deren Gesamtsumme sich zu der<br />

von Menschen erbauten Welt zusammenfügt. 2 Die meisten dieser Dinge,<br />

aber nicht alle, sind Gebrauchsgegenstände, und als solche besitzen sie<br />

die Haltbarkeit, die Locke als Vorbedingung des Eigentums erkannte, die<br />

Adam Smith als Vorbedingung der „Werte“ benötigte, die auf dem Markt<br />

erscheinen und ausgetauscht werden, und in der Marx den Beweis für<br />

die der menschlichen Natur eigene Produktivität erblickte. Diese Gegenstände<br />

werden gebraucht und nicht verbraucht, das Brauchen braucht<br />

sie nicht auf; ihre Haltbarkeit verleiht der Welt als dem Gebilde von<br />

Menschenhand die Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, ohne die sich<br />

das sterblich-unbeständige Wesen der Menschen auf der Erde nicht einzurichten<br />

wüßte; sie sind die eigentlich menschliche Heimat des Menschen.<br />

Aber auch die Haltbarkeit der von Menschen geschaffenen Dingwelt<br />

ist nicht absolut. Der Gebrauch, den wir von den Dingen machen, nutzt<br />

sie ab, wiewohl er sie nicht verzehrt; der Lebensprozeß, der die Existenz<br />

des Menschen treibt und sie dringt, dringt auch in die Welt; und<br />

selbst wenn wir die Dinge nicht benutzten, würden sie doch schließlich<br />

verfallen, nämlich zurückkehren in den umgreifenden Kreislauf<br />

der Natur, dem sie entrissen und gegen den sie in ein eigenständiges<br />

Dasein gestellt wurden. Ausgestoßen aus der Welt der Menschen<br />

und sich selbst überlassen, wird auch der Stuhl wieder zu Holz werden,<br />

und das Holz wird verwittern und zu dem Boden zurückkehren,<br />

aus dem der Baum wuchs, bevor man ihn fällte, um ihn als Material<br />

3<br />

Das Wort „Gegenstand“ ist<br />

eine wörtliche Übersetzung<br />

von „Objekt“, das, von<br />

obicere „entgegenstellen“,<br />

ursprünglich das Entgegengestellte<br />

bezeichnete.<br />

für Herzustellendes zu benutzen. Dies scheint das Ende zu sein, das<br />

schließlich alle einzelnen Dinge der Welt erwartet, gleichsam als Zeichen<br />

dafür, daß sie Produkte sterblicher Menschen sind; aber für die<br />

Welt im Ganzen, in der alle einzelnen Dinge ständig ersetzt werden im<br />

Wechsel der Generationen, die in sie geboren werden, in ihr verweilen<br />

und aus ihr wieder verschwinden, gibt es ein solches Ende nicht.<br />

Außerdem nutzt das Gebrauchen die einzelnen Gegenstände zwar ab,<br />

aber dies Abgenutztwerden gehört nicht im gleichen Sinne zu ihrem<br />

Wesen, wie das Verzehrtwerden zum Wesen der Konsumgüter gehört.<br />

Was sich im Gebrauchtwerden abnutzt, ist Dauerhaftigkeit und Haltbarkeit.<br />

Diese Haltbarkeit nun verleiht den Dingen der Welt eine relative<br />

Unabhängigkeit von der Existenz der Menschen, die sie herstellten<br />

und in Gebrauch nehmen, die „objektive“ Gegenständlichkeit, die sie<br />

dazu befähigt, den unersättlichen Bedürfnissen und Notdürften ihrer<br />

Erzeuger „entgegenzustehen“ und sie wenigstens für eine Zeit zu<br />

überstehen. 3 So gesehen, haben die Weltdinge die Aufgabe, menschliches<br />

Leben zu stabilisieren, und ihre „Objektivität“ liegt darin, daß<br />

sie der reißenden Veränderung des natürlichen Lebens − daß, wie<br />

Heraklit sagt, niemals derselbe Mensch in denselben Fluß steigen<br />

kann − eine menschliche Selbigkeit darbieten, eine Identität, die sich<br />

daraus herleitet, daß der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden<br />

Tag veränderten Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit entgegenstehen.<br />

Mit anderen Worten, das, was der Subjektivität des Menschen<br />

entgegensteht, und woran sie sich mißt, ist die Objektivität, die<br />

Gegenständlichkeit der von ihm selbst hergestellten Welt, und nicht<br />

die erhabene Gleichgültigkeit einer von Menschenhand unberührten<br />

Natur, deren überwältigende Elementargewalt ihn im Gegenteil, vermöge<br />

des biologischen Lebensprozesses und seines Kreislaufs, in<br />

die umgreifend kreisende Bewegung zwingt und einfügt, in der alles<br />

Natürliche schwingt. Nur weil wir aus dem, was die Natur uns gibt,<br />

die objektive Gegenständlichkeit einer eigenen Welt errichtet, weil<br />

wir in den Umkreis der Natur eine nur uns eigene Umgebung gebaut<br />

haben, die uns vor der Natur schützt, sind wir imstande, nun auch die<br />

Natur als einen „Gegenstand“ objektiv zu betrachten und zu handhaben.<br />

Ohne eine solche Welt zwischen Mensch und Natur gäbe es ewige<br />

Bewegtheit, aber weder Gegenständlichkeit noch Objektivität.<br />

Wiewohl Gebrauchen und Verbrauchen so wenig dasselbe sind wie<br />

Herstellen und Arbeiten, kommen sie sich doch oft so nahe, gehen so<br />

fast unmerklich ineinander über, daß die öffentliche und gelehrte Meinung,<br />

die diese Sachen miteinander identifiziert, gerechtfertigt zu sein<br />

scheint. Alles Brauchen enthält in der Tat ein Element des Verbrauchens,<br />

insofern der Abnutzungsprozeß durch Kontakt des gebrauchten


192 — 193<br />

Hannah Arendt<br />

Gegenstandes mit einem lebend-verzehrenden Organismus zustande<br />

kommt, so daß die Identifizierung von Gebrauchen und Verbrauchen<br />

um so einleuchtender sein wird, je mehr der betreffende Gegenstand<br />

in den körperlichen Bereich des Benutzers rückt. Denkt man z. B. bei<br />

der Erörterung von Gebrauchsgegenständen an das, was wir für unsere<br />

Kleidung benötigen, so wird man zu der Überzeugung kommen, daß<br />

Gebrauchen sich von Verbrauchen nur durch eine Verlangsamung des<br />

Tempos unterscheidet. Hiergegen spricht, wie wir bereits erwähnten,<br />

daß Abgenutztwerden eine zwar unvermeidliche, aber sekundäre Folge<br />

des Gebrauchtwerdens ist, während das Verzehrtwerden eines Konsumgutes<br />

dasjenige ist, um dessentwillen es überhaupt erzeugt wurde. Die<br />

billigste Fabrikware unterscheidet sich von der erlesensten Delikatesse<br />

noch dadurch, daß sie nicht verdirbt, wenn sie nicht benutzt wird, daß<br />

sie eine bescheidene Eigenständigkeit hat, die sie befähigt, die wechselnden<br />

Launen ihres Besitzers für einen recht beträchtlichen Zeitraum<br />

zu überdauern. Wenn man ein Paar Schuhe nicht gerade mutwillig zerstört,<br />

werden sie, getragen oder ungetragen, für eine gewisse Zeit in<br />

der Welt verweilen.<br />

Aber es gibt ein berühmteres und auch viel plausibleres Beispiel, das<br />

man zugunsten der Gleichsetzung von Herstellen und Arbeiten anführen<br />

kann. Die notwendigste und elementarste Arbeit des Menschen besteht<br />

in der Bestellung des Bodens, und der Ackerbau stellt in der Tat eine<br />

Tätigkeit dar, in welcher sich das Arbeiten in seinem Vollzug in ein Herstellen<br />

verwandelt. Denn obwohl alle landwirtschaftlichen Arbeiten dem<br />

biologischen Lebensprozeß des Menschen notwendiger und dem Kreislauf<br />

der Natur inniger eingefügt sind als irgendeine andere Tätigkeit, hinterlassen<br />

sie doch ein Resultat, das die Tätigkeit selbst überdauert und<br />

zu einem greifbaren, bleibenden Teil der Welt wird: wo jahrein und jahraus,<br />

in endloser Wiederholung gepflügt, gesät und geerntet wird, fügt<br />

sich die Wildnis der Natur schließlich in ein von Menschen bestelltes<br />

Land. Das ist natürlich der Grund, warum zu allen Zeiten die Würde der<br />

Arbeit an der Landarbeit exemplifiziert worden ist, während die Haushaltsarbeiten<br />

stets ins Feld geführt wurden, wenn man die knechtische<br />

Natur der Arbeit kennzeichnen wollte. Zweifellos steht die Landarbeit,<br />

die die Produktion der Lebensmittel besorgt, dem Herstellen näher als<br />

die Hausarbeit, die für ihren Konsum erforderlich ist; zweifellos auch<br />

geht die uralte Hochschätzung des Landbaus darauf zurück, daß die<br />

Bodenbestellung eben nicht nur Lebensmittel erzeugt, sondern bestelltes<br />

Land, in welchem die Erde, zum Acker verwandelt, nun den Grund<br />

hergibt für die Erstellung der Welt. Dennoch springt selbst in diesem<br />

Fall der Unterschied zwischen Arbeiten und Herstellen als menschlichen<br />

Tätigkeiten in die Augen: auch Ackerland ist niemals wirklich ein<br />

Gebrauchsgegenstand, der seine Eigenständigkeit besitzt und für seine<br />

Beständigkeit nur einer gewissen Pflege bedarf; der bestellte Boden<br />

4<br />

Die Vorstellung, daß der<br />

Mensch in seinem Schaffen<br />

an Material gebunden ist,<br />

während Gott aus dem<br />

Nichts hervorbringt, ist<br />

mittelalterlich, während die<br />

Auffassung vom Menschen<br />

als unumschränkten Herrn<br />

der Erde und der irdischen<br />

Natur charakteristisch für<br />

die Neuzeit ist. Beide<br />

Auffassungen stehen in<br />

gewissem Widerspruch zu<br />

dem Geist der Bibel. Denn<br />

für das Alte Testament ist<br />

der Mensch der Herr aller<br />

lebenden Kreaturen, die zu<br />

seiner Hilfe geschaffen<br />

wurden; er bleibt ein Diener<br />

der Erde, und die Güter der<br />

Erde sind nicht Material für<br />

eine unabhängige, prometheischeSchöpfungskraft.<br />

So ist es bezeichnend,<br />

daß Luther auch in dieser<br />

Hinsicht die Versuche der<br />

Scholastik, die Lehren der<br />

Bibel mit Hilfe griechischer<br />

Philosophie zu interpretieren,<br />

zurückweist und<br />

seinerseits versucht, alle<br />

eigentlich produktiven<br />

Elemente im menschlichen<br />

Tun zu eliminieren. Alles,<br />

was der Mensch tut mit<br />

Bezug auf die Natur, ist,<br />

daß er die Schätze „findet“,<br />

die Gott in sie gelegt hat; er<br />

bleibt Diener der Erde wie<br />

im Alten Testament: „Sage<br />

an, wer legt das Silber und<br />

Gold in die Berge, daß man<br />

es findet? Wer legt in die<br />

Äcker solch großes Gut als<br />

herauswächst…? Tut das<br />

Menschen Arbeit? Ja wohl,<br />

Arbeit findet es wohl; aber<br />

Gott muß es dahin legen,<br />

soll es die Arbeit finden…So<br />

finden wir denn, daß alle<br />

unsere Arbeit nicht ist denn<br />

Gotte Güter finden und<br />

aufheben, nicht aber möge<br />

machen und erhalten“<br />

(Werke, Ausg. Walch, Bd. V,<br />

S. 1873).<br />

muß, wenn er Ackerland bleiben soll, immer wieder von neuem bearbeitet<br />

werden; er besitzt kein von menschlicher Mühe unabhängiges Dasein,<br />

er wird niemals zu einem Gegenstand. Selbst da, wo in jahrhundertelanger<br />

Mühe der bestellte Boden zur Landschaft geworden ist, hat er nicht<br />

die Gegenständlichkeit erreicht, die den hergestellten Dingen eigen ist,<br />

die ein für allemal in ihrer weltlichen Existenz gesichert sind; um Teil der<br />

Welt zu bleiben und nicht in die Wildnis der Natur zurückzufallen, muß<br />

er immer wieder von neuem erzeugt werden.<br />

Die Verdinglichung<br />

Die Werktätigkeit von Homo faber, der die Welt herstellt, vollzieht sich<br />

als Verdinglichung. Selbst den zerbrechlichsten Dingen verleiht er eine<br />

gewisse Konsistenz, die er dem Material entnimmt, aus dem er sie verfertigt.<br />

Dies Material wiederum ist ebenfalls bereits etwas Verfertigtes;<br />

es ist nicht einfach da und gegeben wie die Früchte von Baum und<br />

Strauch, die wir pflücken oder hängen lassen mögen, ohne damit in den<br />

Haushalt der Natur einzugreifen. Material muß erst einmal gewonnen<br />

werden, seiner natürlichen Umgebung entrissen, und mit der Gewinnung<br />

von Material greift der Mensch in den Haushalt der Natur ein,<br />

indem er entweder ein Lebendiges zerstört – einen Baum fällt, um Holz<br />

zu gewinnen – oder einen der langsameren Naturprozesse unterbricht,<br />

wenn er das Eisen, den Stein, den Marmor aus dem Schoß der Erde<br />

bricht. Alles Herstellen ist gewalttätig, und Homo faber, der Schöpfer<br />

der Welt, kann sein Geschäft nur verrichten, indem er Natur zerstört. Die<br />

Bibel hat Adam, den dem Acker verpflichteten, arbeitenden Menschen,<br />

zum Herrn über alle lebende Kreatur gesetzt, aber das Animal laborans,<br />

das die Kraft des eigenen Körpers durch die Kraft der ihm unterstellten<br />

und von ihm gezähmten Tiere vervielfachen kann, um dem Leben seine<br />

Nahrung zuzuführen, wird nie Herr der Erde und der Natur selbst. Nur<br />

weil er auch Homo faber ist, kann es dem Menschen gelingen, Herr und<br />

Meister der gesamten Erde zu werden. Und da menschliche Produktivität<br />

sich immer an einer göttlichen Schöpferkraft gemessen hat, die<br />

ex nihilo, aus dem Nichts schafft, während der Mensch eine Substanz<br />

braucht, die er gestaltet, hat sich das Bild der Rebellion des Prometheus<br />

der Vorstellung von Homo faber so innig vermählt, wie das Bild einer<br />

Gott ergebenen Frömmigkeit im Sinne der Bibel exemplarisch geworden<br />

ist für ein Leben, das gesegnet ist, wenn es Mühe und Arbeit gewesen.<br />

In jedem Herstellen liegt etwas Prometheisches, weil es eine Welt<br />

errichtet, die auf der gewalttätigen Vergewaltigung eines Teils der von<br />

Gott geschaffenen Natur sich gründet. 4 Kraft und Stärke des Menschen<br />

äußern sich am elementarsten in den Erfahrungen der Gewalttätigkeit,<br />

und sie stehen daher im äußersten Gegensatz zu der qualvoll-erschöpfenden<br />

Anstrengung, welche die Grunderfahrung des Arbeitens ist. Aus<br />

ihnen stammen Selbstgewißheit und Selbstgefühl, und sie können sogar


194 — 195<br />

Hannah Arendt<br />

5<br />

In Hendrik de Mans berühmtem<br />

Buch Der Kampf um<br />

die Arbeitsfreude (1927)<br />

wird z.B. ausschließlich die<br />

für alle Werktätigkeit<br />

charakteristische Befriedigung<br />

über die Fertigstellung<br />

eines Gegenstandes,<br />

die natürlich erst einsetzt,<br />

wenn das Werk vollendet<br />

ist, beschrieben.<br />

6<br />

Die Formulierung steht in<br />

Yves Simon: Trois Leçons<br />

sur le Travail (Paris, o. J.),<br />

aber sie ist typisch für die<br />

Idealisierungen der Arbeit<br />

bei liberalen katholischen<br />

Autoren. „Le travailleur<br />

travaille pour son œvre<br />

plutôt que pour lui-même:<br />

loi de générosité métaphysique,<br />

qui définit l’activité<br />

laborieuse“, meint z.B. der<br />

Dominikaner M. D. Chenu in<br />

Pour une Théologie du<br />

Travail in Esprit 1952 u.<br />

1955. Ganz ähnlich auch<br />

Jean Lacroix: La Nation du<br />

Travail, in der Zeitschrift La<br />

Vie Intellectuelle, Juni<br />

1952.<br />

Quelle lebenslänglicher Zufriedenheit werden, aber sie sind grundsätzlich<br />

verschieden von dem Segen, der auf einem Leben ruht, das in Mühe<br />

und Arbeit dahingegangen ist, und sie vermögen niemals die Intensität<br />

des Lustgefühls zu erreichen, das das Arbeiten zuweilen begleitet, vor<br />

allem dann, wenn die Anstrengung rhythmisch verläuft und der Körper<br />

die gleiche Lust empfindet, die jeder rhythmisch geordneten Bewegung<br />

eigen ist. Sofern die modernen Beschreibungen der „Arbeitsfreude“ mehr<br />

meinen als die Arbeitslust eines gesunden Körpers, sofern sie ferner<br />

nicht einfach auf einer Verwechslung des Stolzes auf eine Leistung mit<br />

der höchst fragwürdigen „Freude“ beruhen, die angeblich den Vorgang<br />

des Vollbringens selbst begleiten soll, 5 haben sie ihre echte Erfahrungsgrundlage<br />

in dem beinahe physischen Gefühl einer Genugtuung, die sich<br />

meldet, wenn immer der Mensch das ihm eigene Kraftpotential in seiner<br />

ganzen Gewalttätigkeit an der überwältigenden Macht der Elementargewalten<br />

mißt, denen er in dem Grad standzuhalten vermag, als es ihm<br />

gleichsam gelingt, sie zu überlisten, nämlich durch die Erfindung von<br />

Werkzeugen die eigene Kraft ungeheuer über ihr natürliches Maß hinaus<br />

zu vervielfältigen. Die dinghafte Substantialität, die den Gegenständen<br />

der Welt innewohnt und sie befähigt, Widerstand zu leisten, ist nicht das<br />

Resultat des Segens und der Mühe, der Lust und der Qual, mit denen wir<br />

im Schweiße unseres Angesichts unser Brot essen, sondern das Produkt<br />

dieser Stärke; und solche Produkte fallen dem Menschen nicht in den<br />

Schoß wie die Früchte der Erde, sie sind nicht freie Gabe der Natur, welche<br />

die Immerwährende ihren Kreaturen reicht; das zu ihrer Erstellung<br />

benötigte Material muß dem Schoß der Erde entrissen werden, Substanz<br />

und Substantialität sind bereits Dinge von Menschenhand.<br />

Die eigentliche Herstellung nun vollzieht sich stets unter Leitung eines<br />

Modells, dem gemäß das herzustellende Ding angefertigt wird. Ein solches<br />

Modell mag dem inneren Blick des Herstellenden nur vorschweben,<br />

oder es kann als Entwurf bereits versuchsweise vergegenständlicht<br />

sein. In jedem Fall befindet sich das Vorbild, das die Herstellung<br />

leitet, außerhalb des Herstellenden selbst; es geht dem Werkprozeß<br />

voraus und bedingt ihn auf eine ganz ähnliche Weise, wie die drängenden<br />

Antriebe des Lebensprozesses im Arbeiter der eigentlichen<br />

Arbeit vorangehen und sie bedingen. (Diese Beschreibung widerspricht<br />

natürlich den Lehren der modernen Psychologie, die meint, daß Vorstellungen<br />

sich ebenso greifbar im Kopfe lokalisieren ließen wie das<br />

Hungergefühl im Magen. Diese Subjektivierung der modernen Wissenschaft<br />

spiegelt nur die radikalere Subjektivierung der modernen<br />

Gesellschaft wider und läßt sich damit rechtfertigen, daß das moderne<br />

Herstellen in der Tat in der Weise des Arbeitens vonstatten geht, so<br />

daß der Werktätige, selbst wenn er es wirklich wollte, ganz außerstande<br />

ist, „mehr um der Sache als um seiner selbst willen“ zu arbeiten,<br />

6 da er von dieser „Sache“, nämlich davon, wie der Gegenstand, an<br />

7<br />

Georges Friedman<br />

(Problèmes humains du<br />

Machinisme industriel,<br />

1946, S. 211) berichtet<br />

ausführlich, wie häufig die<br />

Fabrikarbeiter noch nicht<br />

einmal den Namen oder den<br />

Zweck des von ihrer<br />

Maschine produzierten Teils<br />

kennen.<br />

dessen Herstellung er beteiligt ist, schließlich aussehen wird, zumeist<br />

nicht die leiseste Ahnung hat. 7 Aber diese rechtfertigenden Umstände,<br />

wiewohl sie historisch von großer Bedeutung sind, kommen in einer<br />

Beschreibung der grundsätzlichen Gliederung der Vita activa kaum in<br />

Betracht.) Ausschlaggebend ist hier, daß alle körperlichen Empfindungen,<br />

Lust und Unlust, das Verlangen und seine Stillung – die so „privater“<br />

Natur sind, daß sie noch nicht einmal angemessen mitgeteilt werden<br />

können, von einem dinglichen Erscheinen in der Außenwelt ganz<br />

zu schweigen – durch eine Kluft von der geistigen Vorstellungswelt<br />

geschieden sind, die sich so leicht und selbstverständlich der Verdinglichung<br />

fügt, daß wir weder ein Bett herstellen können, ohne uns vorher<br />

irgendwie ein Bett vorzustellen, d. h. ohne die „Idee“ eines Bettes<br />

vor Augen zu haben, noch uns ein Bett vorstellen können, ohne uns an<br />

ein bestimmtes Bett aus unserer sinnlichen Anschauungserinnerung<br />

zu halten.<br />

Für die Stellung, welche die Herstellung in der Hierarchie der Vita<br />

activa eingenommen hat, ist von großer Bedeutung, daß die Vorstellung<br />

oder das Modell, das den Herstellungsprozeß leitet, ihm nicht<br />

nur vorausgeht, sondern auch nach Fertigstellung des Gegenstandes<br />

nicht wieder verschwindet und sich so in einer Gegenwärtigkeit hält,<br />

welche die weitere Herstellung identischer Gegenstände ermöglicht.<br />

Aber diese der Herstellung inhärente, potentielle Vervielfältigung desselben<br />

unterscheidet sich prinzipiell von der Wiederholung, die das<br />

Kennzeichen der Arbeit war. Denn Wiederholung ist nur die Art und<br />

Weise, in welcher die Arbeit dem Kreislauf des biologischen Lebens<br />

nachkommt und ihm untertan bleibt; die Bedürfnisse und Begehren<br />

des menschlichen Körpers kommen und gehen in rhythmischer Folge,<br />

sie erscheinen und verschwinden, aber verweilen nicht. Vervielfältigung<br />

dagegen vervielfacht das, was bereits eine relativ stabile, relativ<br />

gesicherte Existenz in der Welt besitzt. Diese Eigenschaft des<br />

Beständigseins, die dem Modell und Vorbild zukommt – daß es vor<br />

dem Beginn der Herstellung schon war und noch als identisches da<br />

ist, wenn die Herstellung an ihr Ende gekommen ist, daß es also die<br />

Entstehung aller in seinem Bilde hergestellten Dinge überdauert und<br />

immer weiter unveränderlich und unerschöpflich zur Herstellung neuer<br />

Dinge dienen kann –, spielt eine sehr große Rolle in Platos Lehre von<br />

den immerwährenden Ideen. Sofern nämlich die Ideenlehre wirklich<br />

von dem Wort Idee – also von ίδέα und είδος, von Gestalt und Aussehen<br />

–, das Plato als erster in einem philosophischen Sinne verwandte,<br />

ausgeht, beruht sie offensichtlich auf Erfahrungen des Herstellens,<br />

der ποίησις, und wiewohl Plato die Ideen selbstverständlich dazu<br />

benutzt, um ganz andere, nämlich eigentlich philosophische Erfahrungen<br />

des „Sehens“ mitzuteilen, greift er doch immer, wenn er die<br />

Plausibilität seiner Lehren illustrieren will, auf Beispiele zurück, die


196 — 197<br />

Hannah Arendt<br />

8<br />

Daß Plato das Wort ίδέα als<br />

erster in philosophischer<br />

Bedeutung verwandte,<br />

wissen wir von Aristoteles<br />

(1. Buch der Metaphysik,<br />

987b8). Gerard F. Else: The<br />

Terminology of Ideas (in<br />

den Harvard Studies in<br />

Classical Philology, Bd.<br />

XLVII, 1936), unterrichtet<br />

ausgezeichnet über die<br />

vorphilosophische Bedeutung<br />

des Wortes. Else<br />

betont mit Recht, daß wir<br />

aus den Dialogen nicht<br />

erfahren, was die Ideenlehre<br />

in ihrer endgültigen Form<br />

lehrte. Wir wissen auch<br />

nichts Definitives über ihren<br />

Ursprung, aber hier mag der<br />

sicherste Hinweis noch in<br />

der Bedeutung des Wortes<br />

selbst liegen, das Plato so<br />

überraschend in die philosophische<br />

Begriffssprache<br />

eingeführt hat, obwohl es<br />

in der attischen Alltagssprache<br />

ungebräuchlich<br />

war. Die Worte είδος und<br />

ίδέα beziehen sich zweifellos<br />

auf sichtbare Formen<br />

und Gestalten, und zwar im<br />

speziellen von lebendigen<br />

Wesen; dies macht es<br />

eigentlich unwahrscheinlich,<br />

daß die Ideenlehre<br />

geometrisch-mathematischen<br />

Ursprungs ist. Cornford<br />

nimmt an, daß die<br />

Lehre einerseits Sokratischen<br />

Ursprungs ist, da ja<br />

Sokrates solchen Fragen<br />

wie dem Gerechten überhaupt,<br />

dem Guten an sich<br />

nachging und versuchte,<br />

Begriffe zu definieren, die<br />

aus der Welt des Handwerkers und des Herstellens stammen. 8 So wird<br />

schließlich einleuchtend, daß eine einzige, immerwährende Idee über<br />

der Vielheit vergänglicher Dinge thront, weil diese Beziehung zwischen<br />

dem ewig Einen und dem veränderlich Vielen in offenbarer Analogie zu<br />

der Beziehung gesehen ist, die zwischen der Beständigkeit und Einzigkeit<br />

des Modells und den vielen entstehenden und vergehenden Dingen<br />

obwaltet, die in seinem Bilde hergestellt werden können.<br />

Was nun den Herstellungsprozeß selbst anlangt, so ist er wesentlich<br />

von der Zweck-Mittel-Kategorie bestimmt. Das hergestellte Ding ist ein<br />

Endprodukt, weil der Herstellungsprozeß in ihm an ein Ende kommt („der<br />

Prozeß erlischt im Produkt“, wie Marx sagt), und es ist ein Zweck, zu<br />

dem der Herstellungsprozeß selbst nur das Mittel war. Zwar produziert<br />

die Arbeit zweifellos auch für den „Zweck“ des Konsums, aber da dieser<br />

Zweck, als Endprodukt gesehen, der weltlichen Beständigkeit eines<br />

Gegenstandes ermangelt, ist das Ende des Arbeitsprozesses nicht durch<br />

das Endprodukt determiniert, sondern durch die Erschöpfung der Arbeitskraft;<br />

die Arbeitsprodukte andererseits werden sofort wieder zu Mitteln,<br />

ihr Zweckcharakter ist eine ganz vorübergehende Eigenschaft, die sofort<br />

verschwindet, wenn die erzeugten Güter ihrer Bestimmung zugeführt<br />

werden, um als Lebensmittel für die Regeneration der Arbeitskraft verwendet<br />

zu werden. Über das Ende des Herstellungsprozesses kann dagegen<br />

gar kein Zweifel bestehen; er ist zu Ende, wenn ein ganz und gar<br />

neues Ding, das beständig und eigenständig genug ist, von nun an ohne<br />

alle Hilfe des Menschen in der Welt zu bleiben, dem Gebilde von Menschenhand<br />

hinzugefügt worden ist. Was dies Ding in seinem Fertigsein<br />

betrifft, so braucht der Prozeß, dem es sein Entstehen schuldet, nicht<br />

wiederholt zu werden. Daß der Handwerker ihn dann doch wiederholt<br />

und ein Ding nach dem anderen herstellt, hat lediglich damit zu tun, daß<br />

auch er sich seinen Lebensunterhalt verdienen muß, was nichts anderes<br />

heißt, als daß in gewissem Sinne Herstellen und Arbeiten zusammenfallen;<br />

oder es mag daher rühren, daß eine Nachfrage nach solchen Dingen<br />

besteht, die der Verfertiger aus Erwerbsgründen zu befriedigen wünscht,<br />

was nichts anderes besagt, als daß er, wie Plato gemeint haben würde,<br />

neben seiner Handwerkskunst noch die zusätzliche Kunst des Gelderwerbs<br />

gelernt hat und zu betreiben wünscht. Worauf es hier ankommt,<br />

ist, daß der Herstellungsprozeß in beiden Fällen aus Gründen wiederholt<br />

wird, die außerhalb seiner selbst liegen und mit ihm nichts zu tun haben;<br />

während eine endlose, sich im Kreise drehende Wiederholung allen<br />

Arbeitsprozessen inhärent ist: man muß essen, um zu arbeiten, und muß<br />

arbeiten, um zu essen.<br />

Es ist das eigentliche Merkmal des Herstellens, daß es einen definitiven<br />

Anfang und ein definitives, voraussagbares Ende hat; und hierdurch<br />

allein schon unterscheidet es sich von allen anderen menschlichen Tätigkeiten.<br />

Das Arbeiten, gefangen in den Kreislauf des Körpers, hat weder<br />

Anfang noch Ende. Und das Handeln hat zwar einen klar erkennbaren<br />

wir ständig gebrauchen und<br />

die uns in sinnlicher Erfahrung<br />

nicht gegeben sind;<br />

und daß sie andererseits<br />

unter pythagoreischem<br />

Einfluß entstanden ist, weil<br />

die Antwort der Ideenlehre<br />

auf die Sokratischen Fragen,<br />

nämlich die ewige und<br />

von allem Vergänglichen<br />

abgetrennte Existenz einer<br />

Idee des Gerechten oder<br />

des Guten, implizierte, daß<br />

es eine bewußte und der<br />

Erkenntnis fähige Seele<br />

gibt, die so abgesondert<br />

von Körper und Sinnen<br />

existiert wie die Idee von<br />

irdischen Dingen. Es ist<br />

also, als hätte Plato auf die<br />

sokratischen Fragen mit der<br />

pythagoreischen Seelenlehre<br />

geantwortet. Dies klingt<br />

wahrscheinlich (für Cornford,<br />

siehe vor allem seinen<br />

Plato und Parmenides).<br />

Aber meine Darstellung<br />

läßt alle diese Fragen in der<br />

Schwebe; sie bezieht sich<br />

einfach auf das 10. Buch<br />

des Staates, wo Plato<br />

selbst den Begriff der Idee<br />

mit dem alltäglichen Beispiel<br />

eines Handwerkers<br />

erklärt, der Betten und<br />

Stühle herstellt „entsprechend<br />

seiner Idee“, also<br />

einer im vorhinein gefaßten<br />

Vorstellung, wobei Plato<br />

noch ausdrücklich hinzufügt:<br />

dies meinen wir in<br />

diesen und ähnlichen<br />

Fällen. Für Plato hatte<br />

natürlich das Wort „Idee“<br />

eine ganz andere, konkret<br />

sprechende und bedeutende<br />

Qualität als für uns; und<br />

was er mit dem Wort selbst<br />

andeuten wollte, war<br />

einfach, daß ja auch der<br />

„Handwerker, der ein Bett<br />

oder einen Tisch herstellt,<br />

hierfür nicht auf ein anderes<br />

Bett oder einen anderen<br />

Tisch blickt, sonder auf die<br />

‚Idee‘ des Bettes“ (vgl. Kurt<br />

von Fritz: The Constitution<br />

of Athens, 1950, S. 34/5).<br />

Selbstverständlich rührt<br />

keine dieser Erklärungen an<br />

den Kern der Sache, d.h.<br />

weder an die spezifisch<br />

philosophische Erfahrung,<br />

die dem Ideenbegriff zugrunde<br />

liegt, noch an die<br />

entscheidende und gearde<br />

nur den Ideen zukommende<br />

Eigenschaft der Leuchtkraft,<br />

daß sie gleich der<br />

Sonne alles Erscheinende<br />

erhellen und zum Leuchten<br />

bringen.<br />

Anfang, ist aber dann, wenn es erst einmal begonnen ist, wie wir sehen<br />

werden, ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, endlos; auf keinen Fall<br />

hat es ein Ende, das man voraussagen, und einen Zweck, den man in<br />

Gewißheit verfolgen könnte. Diese große Verläßlichkeit, die dem Herstellen<br />

eignet, spiegelt sich in der Tatsache wider, daß es, im Unterschied<br />

zum Handeln, nicht unwiderruflich ist. Was von Menschenhand geschaffen<br />

wurde, kann von Menschenhand auch wieder zerstört werden, und<br />

kein Gebrauchsgegenstand wird so dringlich im Lebensprozeß benötigt,<br />

daß sein Verfertiger sich seine Vernichtung nicht leisten und sie überleben<br />

könnte. Homo faber ist in der Tat ein Herr und Meister, nicht nur, weil<br />

er Herr der Natur ist oder verstanden hat, sie sich untertan zu machen,<br />

sondern auch, weil er Herr seiner selbst, seines eigenen Tuns und Lassens<br />

ist – was man weder von dem Animal laborans, das der Notwendigkeit<br />

des eigenen Lebens unterworfen bleibt, noch von dem handelnden<br />

Menschen sagen kann, der sich immer in Abhängigkeit von seinen Mitmenschen<br />

befindet. Unabhängig von Allem und Allen, allein mit dem ihm<br />

vorschwebenden Bild des herzustellenden Dinges, steht es Homo faber<br />

frei, es wirklich hervorzubringen; und wiederum allein, konfrontiert mit<br />

dem Resultat seiner Tätigkeit, kann er entscheiden, ob das Werk seiner<br />

Hände der Vorstellung seines Geistes entspricht, und ist frei, wenn es<br />

ihm nicht gefällt, es zu zerstören.<br />

Die Rolle des Instrumentalen in der Arbeit<br />

Für Homo faber, der sich vollkommen auf seine Hände verläßt, diese<br />

ursprünglichsten aller Werkzeuge und Geräte, läßt sich der Mensch in der<br />

Tat, in den Worten Benjamin Franklins, als ein „toolmaking animal“, ein<br />

Werkzeug-fabrizierendes Lebewesen definieren. Die gleichen Geräte, die<br />

dem Animal laborans nur zur Erleichterung seiner Last und zur Mechanisierung<br />

der Arbeit dienen, hat Homo faber entworfen und erfunden für<br />

die Errichtung einer Dingwelt, und ihre Tauglichkeit und Präzision hat<br />

sich weit mehr nach den objektiv-gegenständlichen Zwecken gerichtet,<br />

für die er sie verwenden wollte und die seinem inneren Auge als Modelle<br />

jeweils vorschwebten, als daß sie unter dem Druck der Lebensnotdurft<br />

oder der subjektiven Bedürfnisse entstanden wären. Werkzeuge, Geräte<br />

und Instrumente sind so durch und durch weltliche Gegenstände, daß wir<br />

ganze geschichtliche Epochen und ihre Zivilisationen nach ihnen benennen<br />

und mit ihrer Hilfe klassifizieren. Nirgends aber kommt gerade ihr<br />

weltlicher Charakter so ausgesprochen zum Vorschein als in Arbeitsprozessen,<br />

wo sie in der Tat die einzigen Dinge sind, die sowohl den Arbeitsprozeß<br />

wie den Konsumprozeß überdauern. Dem Animal laborans, gerade<br />

weil es dem Lebensprozeß unterworfen und um seine Erhaltung dauernd<br />

besorgt sein muß, repräsentieren die Werkzeuge und Geräte, deren<br />

es sich bedient, daher die Welt in ihrer Dauerhaftigkeit und Haltbarkeit<br />

überhaupt und müssen in seiner „Weltanschauung“ eine erheblich


198 — 199<br />

Hannah Arendt<br />

9<br />

Seit Karl Büchers berühmter<br />

Sammlung von Arbeitsliedern<br />

ist eine umfangreiche<br />

wissenschaftliche Literatur<br />

der Verbindung von „Arbeit<br />

und Rhythmus“ weiter<br />

nachgegangen. In einer der<br />

besten dieser Untersuchungen<br />

wird von Joseph<br />

Schopp (Das deutsche<br />

Arbeiterlied, 1935) ausdrücklich<br />

darauf hingewiesen,<br />

daß es zwar Arbeitslieder,<br />

aber keine eigentlichen<br />

Werklieder gibt. Die<br />

Lieder der Handwerker<br />

werden nach der Arbeit<br />

beim geselligen Beisammensein<br />

gesungen. Dies<br />

hat natürlich damit zu tun,<br />

daß es bei der Werktätigkeit<br />

keinen „natürlichen“<br />

Rhythmus gibt. Abgesehen<br />

von den zahlreichen Klagen<br />

über den künstlichen<br />

Rhythmus, den die<br />

Maschinen dem Menschen<br />

auferlegen, wird gelegentlich<br />

auch bemerkt, daß<br />

dieser künstliche Rhythmus<br />

dem natürlichen Rhythmus<br />

des Arbeitens auffallend<br />

ähnelt. Es ist daher auch<br />

bezeichnend, daß die<br />

Arbeiter selbst sich verhältnismäßig<br />

selten über den<br />

Rhythmus der Maschinen<br />

beklagen und im Gegenteil<br />

offenbar die gleiche „Arbeitslust“<br />

empfinden, ob<br />

nun die Maschinenarbeit<br />

oder reine Körperarbeit den<br />

Rhythmus des Arbeitsvorganges<br />

bestimmen (hierfür<br />

s. Georges Friedmann: Où<br />

va le Travail humain?,<br />

1953, S. 233 und Hedrik de<br />

Man, op. cit., S. 213). Dies<br />

wird vor allem auch durch<br />

die Erhebungen bestätigt,<br />

die am Anfang des Jahrhunderts<br />

in den Fabriken von<br />

Ford gemacht wurden.<br />

Bücher, der meinte, rhythmische<br />

Arbeit sei bereits<br />

„vergeistigte Arbeit“, wies<br />

ebenfalls darauf hin, daß<br />

„nur solche einförmigen<br />

Arbeiten, die sich nicht<br />

rhythmisch gestalten<br />

lassen“, als aufreibend<br />

empfunden werden (op. cit.,<br />

S. 443). All dies beweist,<br />

daß die Arbeit an der<br />

Maschine, wenn auch ihr<br />

Tempo größer und ihre<br />

Verrichtungen einförmiger<br />

bedeutendere Rolle spielen, als bloßen Mitteln sonst zugestanden wird.<br />

Für das Arbeiten verlieren Werkzeuge und Maschinen ihren instrumentalen<br />

Charakter, und das Animal laborans bewegt sich unter ihnen so,<br />

wie Homo faber sich in der Welt der fertigen Dinge, in der Welt seiner<br />

Zwecke, bewegt.<br />

Die häufigen Klagen, die wir über die Verkehrung der Mittel in Zwecke<br />

und umgekehrt der Zwecke in Mittel in der modernen Gesellschaft<br />

hören: daß die Mittel sich als stärker als die Zwecke erweisen und daß<br />

der Mensch der Knecht der Maschinen wird, die er selbst erfunden hat,<br />

daß er sich ihren Erfordernissen anpaßt, anstatt sie als bloße Mittel für<br />

menschliche Zwecke und Bedürfnisse zu nutzen – haben ihre Wurzel in<br />

der tatsächlichen Situation des Arbeitens. Denn für das Arbeiten, das ja<br />

primär in einer Präparierung von Gütern für den Konsum besteht, ergibt<br />

die für die Herstellung so außerordentlich wesentliche Unterscheidung<br />

zwischen Zweck und Mitteln einfach keinen Sinn, weil in ihm Zweck und<br />

Mittel gar nicht getrennt genug auftreten, um überhaupt scharf auseinandergehalten<br />

und geschieden werden zu können. Daher verlieren die<br />

von Homo faber erfundenen Instrumente und Werkzeuge, mit denen er<br />

dem Animal laborans bei seiner Arbeit zu Hilfe gekommen ist, sofort ihren<br />

instrumentalen Charakter, wenn sie erst einmal wirklich in den Arbeitsprozeß<br />

eingegangen sind. So ist es auch müßig, an das Leben und den<br />

Lebensprozeß, von dem die Arbeit einen integrierenden Teil bildet und<br />

den sie als solchen niemals übersteigt, Fragen zu stellen, die die Zweck-<br />

Mittel-Kategorie voraussetzen, also z. B. zu fragen, ob der Mensch lebt<br />

und seine Bedürfnisse stillt, um die Kraft zur Arbeit zu haben, oder ob<br />

umgekehrt er nur arbeitet, um dann auch seine Bedürfnisse stillen zu<br />

können.<br />

Will man sich klarmachen, was es eigentlich für menschliches Verhalten<br />

besagt, in einer Situation zu sein, in der es unmöglich ist, klar zwischen<br />

Mitteln und Zwecken zu unterscheiden, so muß man sich die Situation<br />

eines arbeitenden Körpers vergegenwärtigen, für den an die Stelle der<br />

freien Disposition und des freien Gebrauchs von Werkzeugen für ein<br />

bestimmtes Endprodukt die rhythmische Vereinigung des Körpers mit<br />

seinem Gerät getreten ist, wobei die vereinigende Kraft von Körper und<br />

Gerät die arbeitende Bewegung selbst ist. Die Leistung des Arbeiters,<br />

aber nicht die des Herstellers, verlangt zur Erzielung bester Resultate<br />

eine rhythmisch geordnete Bewegung, bzw. bei dem Zusammenarbeiten<br />

mehrerer Arbeiter die rhythmische Koordinierung aller individuellen<br />

Bewegungen in der Gruppe. 9 In dieser Bewegtheit verlieren die Werkzeuge<br />

ihren instrumentalen Charakter, und es verwischt sich in ihr sowohl<br />

der Unterschied zwischen dem Menschen und dem Werkzeug, also seinem<br />

Mittel, wie der zwischen dem Menschen und dem, was er produziert,<br />

also seinem Zweck. Was den Arbeitsprozeß – und alle in der Weise des<br />

Arbeitens vollzogenen Herstellungsprozesse – beherrscht, ist weder der<br />

im vorhinein entworfene Zweck noch ein begehrtes Produkt, sondern die<br />

sind, dem nichtmaschinellen,<br />

spontanen Arbeiten<br />

sehr viel näher kommt als<br />

dem Herstellen; den Ausschlag<br />

gibt das Rhythmische<br />

als solches. So weist auch<br />

Hendrik de Man darauf hin,<br />

daß „diese von Bücher<br />

gepriesene Welt weniger<br />

die des…handwerksmäßig<br />

schöpferischen Gewerbes<br />

[ist] als die der einfachen,<br />

schieren…Arbeitsfron“ (op.<br />

cit., S. 244). Gerade diese<br />

Arbeitsfron aber erregt<br />

Lust, und zwar unabhängig<br />

von dem, was sie leistet;<br />

während die Werktätigkeit<br />

selbst überhaupt keine<br />

„Lust“ erregt, sie kann sich<br />

nur des hergestellten<br />

Gegenstandes erfreuen und<br />

stolz auf die Leistung sein.<br />

Wie fragwürdig aber alle<br />

diese Theorien von einer<br />

„Arbeitsfreude“ überhaupt<br />

sind, wird offenbar, sobald<br />

man die Arbeiter selbst<br />

fragt, warum sie z.B.<br />

eintönige Arbeit vorziehen.<br />

Ihr Grund ist, daß sie<br />

mechanisch ist und keine<br />

Aufmerksamkeit beansprucht,<br />

so daß sie ihnen<br />

erlaubt, an anderes zu<br />

denken – „geistig wegzutreten“,<br />

wie man in Berlin<br />

sagt (vgl. Thielicke u.<br />

Pentzlin: Mensch und<br />

Arbeit im technischen<br />

Zeitalter: Zum Problem der<br />

Rationalisierung, 1954, S.<br />

35ff.). Nach den Erhebungen<br />

des Max-Planck-Instituts<br />

für Arbeitspsychologie<br />

ziehen 90% aller Arbeiter<br />

mechanische, einförmige<br />

Arbeiten allen anderen vor.<br />

Daß diese Vorliebe für das<br />

mechanische Arbeiten<br />

keineswegs ein Zeichen von<br />

Dummheit oder Abgestumpftheit<br />

zu sein braucht,<br />

geht daraus hervor, daß es<br />

durchaus im Einklang mit<br />

sehr frühen christlichen<br />

Erfahrungen des körperlichen<br />

Arbeitens steht; daß<br />

es weniger Aufmerksamkeit<br />

beanspruche als alle anderen<br />

Tätigkeiten, galt als<br />

einer seiner wesentlichen<br />

Vorzüge, weil es einen<br />

Spielraum für „Kontemplation“<br />

läßt (siehe Etienne<br />

Delaruelle: Le Travail dans<br />

les Règles monastiques<br />

occidentales du 4e aus 9e<br />

siècle, im Journal des<br />

Psychologie Normale et<br />

Pathologique, Vol. XLI, No.<br />

1, 1948).<br />

Bewegung des Prozesses selbst und der Rhythmus, in den er den Arbeitenden<br />

hineinzwingt. In diesen Rhythmus werden die Arbeitsgeräte mithineingezogen,<br />

so daß Körper und Werkzeug in der gleichen, immer wiederholten<br />

Bewegung schwingen, bis schließlich die Maschinen, die sich<br />

wegen ihrer Bewegtheit am besten von allen Geräten für die Verrichtungen<br />

des Animal laborans eignen, dem Körper die Initiative für die Bewegung<br />

abnehmen und nicht mehr er dem Werkzeug den Takt angibt, sondern<br />

nach dem Takt der Maschine gewissermaßen tanzt. Nichts kommt<br />

der Mechanisierung leichter und selbstverständlicher entgegen als der<br />

Rhythmus des Arbeitsprozesses, und zwar weil er seinerseits bedingt ist<br />

von dem gleichfalls automatischen, in der Form der Wiederholung verlaufenden<br />

Rhythmus des Lebensprozesses und seines Stoffwechsels mit<br />

der Natur. Gerade weil das Animal laborans Werkzeuge und Instrumente<br />

nicht zum Zweck der Errichtung einer Welt benutzt, sondern um sich die<br />

Arbeit zu erleichtern, lebt es buchstäblich in einer Welt von Maschinen,<br />

seit die industrielle Revolution und die Befreiung der Arbeit nahezu alle<br />

Werkzeuge durch Maschinen ersetzte, und das heißt, die menschliche<br />

Arbeitskraft mit Hilfe der Naturgewalten ungeheuer vervielfachte.<br />

Den entscheidenden Unterschied zwischen Werkzeugen und Maschinen<br />

kann man sich vielleicht am besten vergegenwärtigen, wenn man an die<br />

nicht enden wollenden Diskussionen darüber denkt, ob nun der Mensch<br />

sich der Maschine anpassen solle oder ob umgekehrt es humaner sei,<br />

die Maschine der „Natur“ des Menschen anzupassen. Den Hauptgrund,<br />

warum eine solche Diskussion unfruchtbar bleiben muß, haben wir im<br />

ersten Kapitel erwähnt: da der Mensch ein bedingtes Wesen in dem Sinne<br />

ist, daß jegliches, ob er es vorfindet oder selbst macht, für ihn sofort<br />

eine Bedingung seiner Existenz wird, hat er sich natürlich der Umgebung<br />

der Maschinen in dem Augenblick auch angepaßt, sich von ihnen bedingen<br />

lassen, in dem er sie erfand. Die Maschinen sind heute für unsere<br />

Existenz eine nicht weniger unabdingbare Bedingung als Werkzeuge und<br />

Geräte für alle früheren Epochen. Das Interesse an dieser Diskussion liegt<br />

daher nicht so sehr in der Vexierfrage, um die sie sich dreht, wie darin,<br />

daß sie diese Fragen überhaupt anschneiden konnte. Denn kein Mensch<br />

hat sich je den Kopf darüber zerbrochen, ob der Mensch sich auch gehörig<br />

den Werkzeugen anpasse, die er benutzt, oder ob man umgekehrt das<br />

Werkzeug seiner Natur angleichen müsse, um es humaner zu gestalten.<br />

Das hätte sich genauso lächerlich angehört wie der Vorschlag, den Menschen<br />

und seine Hände in die gehörige Beziehung zueinander zu setzen.<br />

Der Fall der Maschinen liegt in der Tat ganz anders. Ungleich dem Werkzeug,<br />

das in jedem einzelnen Augenblick des Herstellungsprozesses der<br />

Hand untertan bleibt und ihr als Mittel dient, fordert die Maschine von<br />

dem Arbeiter, daß er sie bediene und den natürlichen Körperrhythmus<br />

der mechanischen Bewegung angleiche. Das heißt natürlich keineswegs,<br />

wie man oft annimmt, daß der Mensch als solcher mechanisiert werde<br />

oder sich zum Diener der Maschinen erniedrigen müsse; aber es heißt


200 — 201<br />

Hannah Arendt<br />

10<br />

Abgesehen von allen<br />

Erfahrungen, war die wesentlichste<br />

Vorbedingung<br />

der industriellen Revolution<br />

einfach die Verknappung<br />

des Holzes und die Entdeckung<br />

der Kohle als<br />

Brennstoff. In diesem<br />

Zusammenhang ist die<br />

Vermutung von R. H. Barrow<br />

bemerkenswert, daß<br />

die Lösung des „bekannten<br />

Rätsels der Wirtschaftsgeschichte<br />

des Altertums,<br />

dessen industrielle Entwicklung<br />

über einen gewissen<br />

Punkt nicht<br />

hinauskam“, nicht darin<br />

besteht, daß man keine<br />

Maschinen zu erfinden<br />

wußte, sondern daß es für<br />

solche Maschinen keinen<br />

Brennstoff, eben keine<br />

Kohle gegeben hätte<br />

(Slavery in the Roman<br />

Empire, 1928, S. 123).<br />

11<br />

„The greatest pitfall to<br />

avoid is the assumption<br />

that the design aim ist<br />

reproduction oft he hand<br />

movements oft he operator<br />

or laborer“, meint John<br />

Diebold: Automation: The<br />

Advent oft he Automatic<br />

Factory, 1952, S. 67.<br />

12<br />

Ebda., S. 69.<br />

13<br />

So Georges Friedmann in<br />

Problèmes humains du<br />

Machinisme industriel, S.<br />

168. Und zu diesem Schluß<br />

muß man allerdings kommen,<br />

wenn man Diebolds<br />

Buch mit einiger Aufmerksamkeit<br />

liest. Denn wenn<br />

das Fließband das Resultat<br />

einer Vorstellung ist, in der<br />

„die Fabrikation als ein<br />

kontinuierlicher Prozeß<br />

erscheint“, so ist die Automation<br />

ihrerseits die weitere<br />

Mechanisierung dieses<br />

Prozesses, bei der nun auch<br />

die am Fließband stehenden<br />

Arbeiter durch einen<br />

kontinuierlichen, von<br />

Maschinen getriebenen<br />

Prozeß ersetzt werden. Die<br />

Arbeiter am fließenden<br />

Band hatten die von der<br />

Maschine geleistete Arbeit<br />

wohl, daß, solange die Arbeit an der Maschine andauert, der mechanische<br />

Prozeß an die Stelle des Körperrhythmus getreten ist und daß der<br />

Mensch sich an diesen Rhythmus der Maschinen gewissermaßen schon<br />

gewöhnt haben mußte, als er ein solches Ding wie eine Maschine auch<br />

nur im Geist konzipierte. Noch das raffinierteste Werkzeug bleibt ein Diener<br />

seines Herrn, unfähig die Hand zu leiten oder sie zu ersetzen. Aber<br />

selbst die primitivste Maschine leitet die Arbeit des Körpers, bis sie sie<br />

schließlich ganz und gar ersetzt.<br />

Der Historiker weiß nur zu gut, daß der Sinn geschichtlicher Abläufe<br />

meist erst zum Vorschein kommt, wenn sie ihren Abschluß erreicht<br />

haben, niemals aber zu erkennen ist, bevor die Entwicklung auf ihren<br />

Höhepunkt gekommen ist. So ist es auch in diesem Fall, als zeigte sich<br />

die wirkliche Bedeutung der Technik, d. h. der Ersetzung von Werkzeugen<br />

und Geräten durch die Maschinen, erst in dem, was wir vorläufig als<br />

das unmittelbar bevorstehende Endstadium dieser Entwicklung antizipieren,<br />

nämlich in der Automation. Blicken wir von diesem antizipierten<br />

Endstadium auf die Entwicklung der neuzeitlichen Technik zurück, so<br />

entfaltet sie sich ungefähr in folgenden Stadien: Im ersten Stadium, das,<br />

von der Dampfmaschine beherrscht, unmittelbar in die industrielle Revolution<br />

führte, ahmte man mit Hilfe der Maschine Naturprozesse nach<br />

oder bediente sich zu diesem Zweck auch direkt der Naturkräfte; beides<br />

unterschied sich grundsätzlich kaum von den Wasser- und Windmühlen,<br />

in denen der Mensch seit unvordenklichen Zeiten bestimmte Naturkräfte<br />

eingefangen und in seinen Gebrauch gestellt hatte. Neu war nicht die<br />

Dampfmaschine, sondern vielmehr die Entdeckung und Ausbeutung der<br />

Kohlenlager der Erde, durch die man endlich den Brennstoff gewann, um<br />

das Prinzip der Dampfmaschine anzuwenden. 10 Die Maschinenwerkzeuge<br />

dieses Anfangsstadiums zeigen auf ihre Weise die gleiche Nachahmung<br />

des natürlich Gegebenen; auch sie imitieren und steigern die Kraft der<br />

menschlichen Hand. Dies gerade gilt heute als mangelndes Verständnis<br />

für das Wesen der Maschine, als eine Art Kurzschluß, den man auf jeden<br />

Fall vermeiden muß. Unter keinen Umständen darf das Entwerfen von<br />

Maschinen von dem Ziel geleitet sein, die Hand des Arbeiters zu ersetzen<br />

oder die Handbewegungen dessen nachzuahmen, der die Maschine<br />

bedient. 11<br />

Im nächsten Stadium tritt die Elektrizität und Elektrifizierung der Welt<br />

in den Vordergrund, und in diesem Stadium befinden wir uns auch heute<br />

noch, jedenfalls im Rahmen des Alltagslebens, das ja noch nicht von der<br />

Automation oder der Nutzung der Atomenergie bestimmt ist. In diesem<br />

Stadium kommt man mit den Vorstellungen einer technisch bedingten,<br />

gigantischen Steigerung der handwerklichen Möglichkeiten, also der<br />

Technisierung von Herstellungsprozessen, nicht mehr aus; auf diese<br />

bereits wirklich technisch bestimmte Welt sind die Kategorien von Homo<br />

faber, für den ein Werkzeug eben ein Mittel zur Erreichung eines vorgefaßten<br />

Zweckes ist, nicht mehr anwendbar. Denn hier handelt es sich<br />

zu ergänzen und zu kontrollieren,<br />

und die Automation<br />

besagt nichts anderes,<br />

als daß diese gleichsam<br />

noch von menschlicher<br />

„Gehirnkraft“ geleiteten<br />

Arbeiten der Kontrolle und<br />

Leitung nun ihrerseits<br />

genauso von Maschinen<br />

übernommen werden wie in<br />

den frühen Stadien der<br />

Industrialisierung die<br />

Leistungen der „Arbeitskräfte“<br />

(op. cit., S. 140).<br />

Was von den Maschinen<br />

geleistet wird, ist in den<br />

beiden Fällen Arbeit und<br />

nicht eigentlich Werk. Das<br />

Selbstbewußtsein des<br />

Werktätigen und der<br />

Handwerkerstolz, deren<br />

„menschliche und psychologische<br />

Werte“ (S. 146) fast<br />

alle Werke auf diesem<br />

Gebiet verzweifelt zu retten<br />

versuchen – was manchmal<br />

nicht ohne eine gewisse<br />

unfreiwillige Komik abgeht,<br />

wie wenn Diebold und<br />

andere im Ernst meinen,<br />

daß Reparaturarbeiten, die<br />

vielleicht niemals voll<br />

automatisiert werden<br />

können, das gleiche Selbstbewußtsein<br />

werden vermitteln<br />

können wie einst die<br />

Befriedigung, einen neuen<br />

Gegenstand hervorgebracht<br />

zu haben –, gehören schon<br />

darum nicht hierher, weil<br />

sie längst aus den Fabriken<br />

verschwunden waren, bevor<br />

auch nur irgend jemand das<br />

Wort Automation gehört<br />

hatte. Fabrikarbeiter sind<br />

immer Arbeiter, und nicht<br />

Werktätige, gewesen, und<br />

obwohl sie als Personen ein<br />

völlig intaktes Selbstbewußtsein<br />

entwickeln<br />

mögen, so kann dieses sich<br />

schwerlich gerade auf ihre<br />

Arbeit gründen. Man kann<br />

nur hoffen, daß sie sich von<br />

den gesellschaftlichen<br />

Surrogaten, die ihnen die<br />

Arbeitstheoretiker anbieten,<br />

nicht irremachen<br />

lassen und sich nicht<br />

einreden werden, daß<br />

Berufsinteresse und<br />

Handwerksstolz durch<br />

„human relations“ ersetzt<br />

werden können oder durch<br />

gegenseitige Hochachtung<br />

(S. 164). Die Automation<br />

sollte jedenfalls den Vorzug<br />

haben, die Absurdität des<br />

neumodischen „Humanismus<br />

der Arbeit“ handgreiflich<br />

zu demonstrieren; für<br />

den allerdings, der über-<br />

nicht mehr darum, der Natur, so wie sie ist, das zu entnehmen oder zu<br />

entreißen, was wir in der Form von Material brauchen und gebrauchen,<br />

wobei wir in die Natur nur eingriffen, indem wir ein Natürliches vernichteten,<br />

einen natürlichen Prozeß „künstlich“ unterbrachen oder auch ihn<br />

künstlich nachahmten. In all diesen Fällen haben wir für unsere eigenen<br />

weltlichen Zwecke Natürliches verändert oder auch die Natur künstlich<br />

denaturiert, so zwar, daß die von Menschen errichtete Welt und die<br />

Natur durchaus deutlich voneinander geschieden und unterschieden<br />

blieben. Wir haben begonnen, gewissermaßen Naturprozesse selbst<br />

zu „machen“, d.h. wir haben natürliche Vorgänge losgelassen, die niemals<br />

zustande gekommen wären ohne uns, und anstatt die menschliche<br />

Welt, wie alle historischen Epochen vor der unsrigen, vorsichtig gegen<br />

die Elementargewalten der Natur abzuschirmen, sie so weit wie möglich<br />

aus unserer Welt zu entfernen, haben wir im Gegenteil gerade diese<br />

Kräfte in ihrer Elementargewalt mitten in unsere Welt geleitet. Daß hier<br />

mehr im Spiele ist und mehr auf dem Spiele steht als die Entwicklung<br />

rein technischen Könnens, sieht man schon daran, daß sich die geänderte<br />

Relation von Welt und Natur am augenfälligsten in dem modernen<br />

Städtebau nachweisen ließe, für den ja weder das Hochhaus noch das<br />

Stadtbild von New York auf der Halbinsel Manhattan charakteristisch<br />

ist, sondern die neuerdings angestrebte und in Amerika im Ansatz auch<br />

bereits verwirklichte Auflösung des städtischen Elements in menschlichen<br />

Siedlungen, also eine Nicht-Stadt von der Art Los Angeles‘, bei der<br />

der „Ausgleich zwischen Stadt und Land“ nun in der Tat so weit gediehen<br />

ist, daß weder von Stadt noch von Land, wie wir es gemeinhin verstehen,<br />

auch nur das geringste übriggeblieben ist. In der Literatur über diese<br />

zweite technische Revolution wird hierauf nicht hingewiesen, wohl aber<br />

auf ein verwandtes Auflösungsphänomen im Herstellungsprozeß selbst;<br />

die Fabrikation, die sich bisher „aus einer Reihe voneinander getrennter<br />

Handgriffe“ ergab, ist zu „einem kontinuierlichen Prozeß“ geworden,<br />

dem fließenden Band, an dem produziert und montiert wird. 12<br />

Die letzte Phase in dieser Entwicklung ist die Automation, die nun tatsächlich<br />

„die gesamte Geschichte der Maschinisierung erhellt“ 13 . Sie wird<br />

den Gipfelpunkt dieser Entwicklung bilden, selbst wenn ein Atomzeitalter<br />

mit auf nuklearer Energie beruhender Technik sie rasch noch einmal<br />

ablösen sollte, weil nur die Automation, für die man keine Atomenergie,<br />

sondern nur Elektrizität benötigt, noch dem Gesetz folgt, nach dem wir<br />

seit der industriellen Revolution angetreten sind. Die verschiedenen<br />

Arten von Atombomben, welche gewissermaßen die ersten Geräte der<br />

Atomtechnik darstellen und bereits ein Vernichtungspotential besitzen,<br />

das ausreicht, das gesamte organische Leben auf der Erde zu zerstören,<br />

geben ein erstes Anzeichen davon, in was für einem Ausmaße eine<br />

Umstellung der Technik auf Atomenergie die uns bekannte Welt verändern<br />

würde. Denn in einer solchen von der Atomtechnik bestimmten Welt<br />

würde es sich nicht mehr um die Entfesselung von Elementargewalten


202 — 203<br />

Hannah Arendt<br />

haupt noch fähig ist, sich<br />

unter diesem abgegriffensten<br />

aller Worte etwas<br />

vorzustellen, dürfte ein<br />

„Humanismus der Arbeit“<br />

ohnehin nichts anderes<br />

bedeutet haben als eine<br />

contradictio in adiecto.<br />

Jedenfalls findet sich in der<br />

neueren Literatur zunehmend<br />

eine entschiedene<br />

Kritik an der Gestaltung der<br />

„human relations“, die in<br />

den Fabriken so sehr en<br />

vogue war. Siehe z.B. die<br />

ausgezeichneten Ausführungen<br />

von Daniel Bell in<br />

Work and ist Discontents,<br />

1956, 5. Kapitel und den<br />

Artikel von R. F. Genelli,<br />

Facteur humain ou Facteur<br />

social du Travail, in Revue<br />

Française du Travail, Vol.<br />

VII, Nos. 1-3, 1952, der sich<br />

auch sehr entschieden<br />

gegen die „schrecklichen<br />

Illusionen“ der „Arbeitsfreude“<br />

wendet.<br />

14<br />

In einigen interessanten<br />

Bemerkungen zur Atombombe<br />

in seiner Antiquiertheit<br />

des Menschen weist<br />

Günther Anders allerdings<br />

mit Recht darauf hin, daß<br />

man im Falle der Atomexplosion<br />

kaum noch von<br />

Experiment und Laboratorium<br />

sprechen könne, weil<br />

„die Effekte so ungeheuer<br />

sind, daß im Moment des<br />

Experiments das ‚Laboratorium‘<br />

ko-extensiv mit dem<br />

Globus wird“ (S. 260). Für<br />

Laboratoriumsversuche ist<br />

charakteristisch, daß der<br />

Raum, in dem sie stattfinden,<br />

gegen die Umgebung<br />

isoliert und von der Welt<br />

abgegrenzt ist.<br />

der Natur und auch nicht mehr um das Loslassen natürlicher Prozesse<br />

handeln, die im Haushalt der Natur nie vorgesehen waren, sondern<br />

darum, Energien und Kräfte auf der Erde und im täglichen menschlichen<br />

Leben zu handhaben, die sonst nur außerhalb des Irdischen, im Universum,<br />

vorkommen; in gewissem Sinne geschieht ähnliches bereits heute,<br />

aber doch nur in dem abgegrenzten und abgeschirmten Rahmen der<br />

Versuchslaboratorien der Atomphysik. 14 Wenn die gegenwärtige Technik<br />

darauf beruht, daß Naturkräfte in die von Menschen erstellte Welt<br />

geleitet werden, so könnte die Technik eines kommenden Atomzeitalters<br />

darin bestehen, die Universumskräfte des Weltalls, in dem wir rotierend<br />

schweben und von dem wir umgeben sind, in die irdische Natur zu leiten.<br />

Ob eine solche zukünftige Technik den Haushalt der Natur im gleichen,<br />

oder vielleicht noch größeren, Maße verändern wird, wie die gegenwärtige<br />

Technik die Weltlichkeit der Menschenwelt verändert hat, kann<br />

heute noch niemand wissen.<br />

Die Naturkräfte, welche die moderne Technik in die Welt selbst geleitet<br />

hat, haben vorerst einmal die spezifische Zweckhaftigkeit dieser Welt<br />

vernichtet, d. h. den heute veralteten Tatbestand, daß Werkzeuge und<br />

Geräte zum Zwecke der Herstellung von Gegenständen entworfen werden.<br />

Wir verstehen unter Naturprozessen Vorgänge, die ohne menschliche<br />

Hilfe entstehen, und wir verstehen unter Naturdingen all das, was<br />

nicht „gemacht“ ist, sondern aus sich heraus wächst und eine Gestalt<br />

annimmt. (Dem entspricht auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes<br />

„Natur“, ob wir es nun aus dem lateinischen nasci, geborenwerden,<br />

herleiten oder es weiter in seine griechische Wurzel verfolgen und von<br />

der „Physis“ sprechen, wörtlich dem Gewachsenen.) Im Unterschied<br />

zu dem, was die menschliche Hand mit oder ohne Zuhilfenahme eines<br />

Werkzeugs her- und aufstellt, was nur Schritt um Schritt bewerkstelligt<br />

werden kann, und wobei schließlich das Dasein des Produkts so weit von<br />

dem Vorgang seiner Herstellung geschieden ist, daß es überhaupt erst<br />

zu existieren anfängt, wenn dieser Vorgang zum Abschluß gekommen<br />

ist, ist die Existenz der Naturdinge von dem Wachstumsprozeß, in dem<br />

sie entstehen, nicht nur nicht zu trennen, sie ist mit ihm sogar auf eine<br />

geheimnisvolle Weise identisch: Das Samenkorn enthält nicht nur, sondern<br />

ist in gewissem Sinne bereits der Baum, und der Baum hört auf zu<br />

„sein“, er stirbt, sobald der Wachstumsprozeß, durch den er entstand,<br />

zum Stillstand kommt. Betrachten wir diese Prozesse aus dem Blickwinkel<br />

menschlicher Zweckhaftigkeit, wo ein vorgefaßter Zweck mit absoluter<br />

Präzision Anfang und Ende eines Vorganges von außen limitiert, so<br />

müssen sie als automatische Prozesse erscheinen. Automatisch nennen<br />

wir alle Bewegungsarten, die, sind sie erst einmal angelaufen, von selbst<br />

weiterlaufen, also nicht angewiesen sind auf willentliche und zweckbestimmte<br />

Eingriffe. In der Automation wird nun tatsächlich „automatisch“<br />

produziert, und darum gibt es strenggenommen in dem automatischen<br />

Fabrikationsprozeß keinen Unterschied mehr zwischen dem<br />

15<br />

So Diebold, op.cit., S.<br />

59-60.<br />

16<br />

Ebda, S. 67.<br />

Produktionsvorgang und dem Fabrikat. Daher sind auch Vorstellungen,<br />

wie die, daß der fabrizierte Gegenstand ein Primat vor dem Prozeß habe,<br />

durch den er entsteht, daß der Prozeß nur das Mittel für einen Zweck sei,<br />

sinnlos und veraltet. 15 Die „mechanistischen“ Kategorie- und Begriffssysteme<br />

von Homo faber versagen hier genau so, wie sie seit eh und je vor<br />

den Vorgängen einer organischen Natur und des natürlichen Universums<br />

versagt haben. Warum denn auch die Vertreter der Automation allgemein<br />

die mechanistische Naturbetrachtung ausdrücklich verwerfen und<br />

sich gegen den praktischen Utilitarismus des achtzehnten Jahrhunderts<br />

kehren, der so außerordentlich charakteristisch für die einseitig zielbewußte<br />

Werk-Mentalität von Homo faber war.<br />

Die Erörterungen des Problems der Technik, bzw. der Veränderungen<br />

des Lebens und der Welt durch die Einführung der Maschine, bewegen<br />

sich zumeist in einem merkwürdig unangemessenen Horizont, weil sie<br />

ausschließlich an der Frage ihres Nutzens für den Menschen orientiert<br />

bleiben. Sie unterstellen, daß alle Werkzeuge und Geräte dazu bestimmt<br />

seien, das menschliche Leben zu erleichtern und menschliche Arbeit von<br />

Mühe und Plage zu befreien. Ihre Zweckdienlichkeit wird ausschließlich<br />

anthropozentrisch verstanden. Aber der unmittelbar gegebene Zweck,<br />

für den ein Werkzeug oder ein Instrument als Mittel entworfen wird, ist<br />

nicht der Mensch, sondern ein Gegenstand, und der „humane Wert“ dieses<br />

Instrumentariums beschränkt sich auf den Gebrauch, den das Animal<br />

laborans, das von sich aus keine Werkzeuge fabriziert, dann von<br />

ihnen macht. Homo faber, mit anderen Worten, hat seine Werkzeuge und<br />

Geräte erfunden, um mit ihnen eine Welt zu errichten, aber nicht, oder<br />

doch nicht primär, um dem menschlichen Lebensprozeß zu Hilfe zu kommen.<br />

Daher ist die Frage, ob wir nun die Herren oder die Sklaven unserer<br />

Maschinen sind, falsch gestellt; die hier angemessene Fragestellung ist,<br />

ob die Maschine noch im Dienst der Welt und ihrer Dinghaftigkeit steht<br />

oder ob sie nicht vielleicht im Gegenteil angefangen hat, ihrerseits die<br />

Welt zu beherrschen, nämlich die von ihr produzierten Gegenstände in<br />

den eigenen automatischen Prozeß wieder zurückzuziehen und damit<br />

gerade ihre Dinglichkeit zu zerstören.<br />

Eines steht schon heute fest: der kontinuierlich automatische Fabrikationsprozeß<br />

hat nicht nur mit der „ungerechtfertigten Annahme“ aufgeräumt,<br />

daß „menschliche Hände, die von einem menschlichen Kopf<br />

gelenkt werden, die höchste Leistungsfähigkeit erzielten“, 16 sondern<br />

mit der ungleich wichtigeren „Annahme“, daß die Weltdinge, von denen<br />

wir umgeben sind, von Menschen entworfen werden und bestimmten<br />

menschlichen Maßstäben der Schönheit und Nützlichkeit genügen müssen.<br />

An die Stelle des Nutzens ist die Funktion getreten, und das Aussehen<br />

der fabrizierten Gegenstände wird vorwiegend von dem Gang der<br />

Maschine selbst bestimmt. Die „Grundfunktionen“, die das Maschinenfabrikat<br />

immer noch erfüllen muß, sind natürlich Funktionen im Lebensprozeß<br />

des Einzelnen und der Gesellschaft, da keine andere „Funktion“


204 — 205<br />

Hannah Arendt<br />

17<br />

Ebda, S. 38-45.<br />

18<br />

Ebda, S. 110 u. 157.<br />

grundsätzlich „notwendig“ ist, so daß das Fabrikat selbst nicht nur<br />

Variationen desselben, sondern auch „die Umstellung auf ein absolut<br />

neues Produkt“ –, bzw. die Frage, welche Gegenstände denn überhaupt<br />

produziert werden sollen, ausschließlich von den Möglichkeiten der<br />

Maschinen abhängig wird. 17<br />

Gegenstände so zu entwerfen, daß sie maschinell hergestellt werden<br />

können, anstatt Maschinen zu erfinden, die sich für die Fabrikation<br />

bestimmter Gegenstände eignen, würde nun allerdings die genaue Verkehrung<br />

des alten Zweck-Mittel-Verhältnisses bedeuten, wenn diese<br />

Kategorie überhaupt noch anwendbar wäre. Aber selbst ein so allgemeiner<br />

und vor kurzem noch allgemein anerkannter Zweck der Maschinen,<br />

wie die Entlastung menschlicher Arbeitskraft und die Steigerung der<br />

gesellschaftlichen Produktivität, gilt heute als überholt und zweitrangig,<br />

weil auch er noch den „verblüffenden Steigerungsmöglichkeiten des<br />

Leistungspotentials“ unangemessen ist, ja ihnen Grenzen setzen würde,<br />

nämlich die natürliche Begrenztheit der menschlichen Konsumfähigkeit.<br />

18 Wie die Dinge heute liegen, ist es ebenso sinnlos geworden, diese<br />

Maschinenwelt auf ihre Zweckdienlichkeit zu befragen, wie es stets<br />

sinnlos gewesen ist, die Natur daraufhin abzufragen, ob sie den Samen<br />

hervorbringe, um einen Baum zu erzeugen, oder umgekehrt den Baum<br />

hervorgebracht habe, damit er Frucht und Samen trage. Und weil Maschinenprozesse,<br />

je automatischer sie werden, desto mehr sich Naturprozessen<br />

angleichen, ja weil ihr kontinuierlicher Automatismus überhaupt nur<br />

dadurch ermöglicht wurde, daß wir die kreisenden, anfangs- und endlosen,<br />

zweckfreien Prozesse der Natur in eine von menschlichen Zwecken<br />

bestimmte Welt geleitet haben, ist es durchaus vorstellbar, daß ein voll<br />

automatisiertes Maschinenzeitalter, obzwar es vermutlich die Weltlichkeit<br />

der Welt als einem Gebilde von Menschenhand vernichten wird, sich<br />

als ein ebenso zuverlässiger und grenzenlos produktiver Versorger des<br />

Menschengeschlechts herausstellen wird, wie die Natur es war, bevor<br />

der Mensch sich ihr „entfremdete“ und eine Welt in ihr errichtete, die ihn<br />

behauste und damit eine Schranke bildete zwischen ihm und der Natur.<br />

In einer Arbeitsgesellschaft ersetzt die „Welt“ der Maschinen die wirkliche<br />

Welt, wenn auch diese Pseudowelt die größte Aufgabe der Welt nie<br />

erfüllen kann, nämlich sterblichen Menschen eine Behausung zu bieten,<br />

die beständiger und dauerhafter ist als sie selbst. In den ersten Stadien<br />

ihrer Entwicklung hatte die Welt der Apparaturen, in welche die Neuzeit<br />

den arbeitenden Teil der Menschheit hineingeworfen hat, noch einen<br />

eminent weltlichen Charakter, insofern das arbeitende Leben sich nun<br />

plötzlich in einer Umgebung abspielte, die wesentlich von dem eigenständigen,<br />

jede Tätigkeit überdauernden Dasein der Werkzeuge und<br />

Geräte bestimmt war; diesen weltlichen Charakter aber hat die moderne<br />

Fabrik, die durch den kontinuierlichen, tag- und nachtwährenden Lauf<br />

der Maschinen bestimmt ist, bereits verloren. Die Naturprozesse, von<br />

denen der Gang der Maschinen gespeist wird, machen ihn mehr und mehr<br />

19<br />

Werner Heisenberg: Das<br />

Naturbild der heutigen<br />

Physik, 1955, S. 14/5.<br />

zu einer Abart des Lebensprozesses selbst, und die Apparate, die wir<br />

einst frei handhabten, fangen in der Tat an, so zu unserm biologischen<br />

Leben zu gehören, daß es ist, als gehöre die menschliche Spezies eben<br />

nicht mehr zur Gattung der Säugetiere, sondern beginne sich in eine Art<br />

Schaltier zu verwandeln – es kann so aussehen, als ob die Apparate, von<br />

denen wir überall umgeben sind, „ebenso unvermeidlich zum Menschen<br />

gehören wie das Schneckenhaus zur Schnecke oder das Netz zur Spinne“.<br />

Von diesem die zur Automation drängende Entwicklung der modernen<br />

Technik antizipierenden Gesichtspunkt aus „erscheint dann die Technik<br />

fast nicht als das Produkt bewußter, menschlicher Bemühung um die<br />

Ausbreitung der materiellen Macht, sondern eher als ein biologischer<br />

Vorgang im Großen, bei dem die im menschlichen Organismus angelegten<br />

Strukturen in immer weiterem Maße auf die Umwelt des Menschen<br />

übertragen werden; ein biologischer Vorgang also, der eben als solcher<br />

der Kontrolle durch den Menschen entzogen ist.“ 19<br />

Die Rolle des Instrumentalen für das Herstellen<br />

Die Werkzeuge und Geräte, die Homo faber für sein Herstellen und Fabrizieren<br />

benötigt und entwirft, stecken das Feld ab, in welchem Zweckdienlichkeit<br />

und das rechte Verhältnis zwischen Mitteln und Zwecken<br />

ursprünglich erfahren werden. Hier stimmt wirklich, daß der Zweck die<br />

Mittel rechtfertigt; er tut sogar noch erheblich mehr für sie, er produziert<br />

sie nämlich überhaupt erst und organisiert sie. Der Zweck rechtfertigt<br />

die Gewalt, die der Natur angetan wird, wenn man Material aus ihr<br />

gewinnen will, wie das Holz das Fällen des Baumes rechtfertigt, wie der<br />

Tisch schließlich die nochmalige Zerstörung des Materials, das Zersägen<br />

des Holzes, rechtfertigt. Um des bezweckten Gegenstandes willen aber<br />

werden auch Werkzeuge nur entworfen, Geräte hergestellt, und der gleiche<br />

Endzweck organisiert noch den Herstellungsprozeß selbst, entscheidet<br />

darüber, welche Fachleute in ihm zusammenarbeiten sollen, wie viele<br />

Leute man zu den ungelernten Arbeiten braucht usw. Auch während des<br />

Herstellungsprozesses wird alles danach beurteilt und entschieden, ob<br />

es dem Endzweck angemessen und für ihn von Nutzen ist.<br />

Der gleiche Maßstab der Zweckdienlichkeit wird an das Produkt dieses<br />

Vorgangs, den hergestellten Gegenstand, angelegt. Zwar ist das Fertigfabrikat<br />

ein Zweck mit Bezug auf die Mittel, durch die es hergestellt<br />

wurde, und so der Endzweck des Herstellens selbst; dennoch wird es,<br />

wenn es fertig ist, kein „Zweck an sich“, jedenfalls nicht, solange es ein<br />

Gebrauchsgegenstand bleibt. Der Stuhl, der für die Tätigkeit des Tischlers<br />

ein Endzweck war – nämlich der Zweck, der, wenn er erreicht ist,<br />

seiner Tätigkeit ein Ende setzt –, ist in der Welt, in die er eintritt, wenn<br />

er die Tischlerwerkstatt verläßt, wieder eine Art Mittel; er muß benutzt<br />

werden und kann seinen Nutzen nur dadurch beweisen, daß er einem<br />

neuen Zweck dient, sei es dem, das Leben bequemer zu machen, oder,


206 — 207<br />

Hannah Arendt<br />

20<br />

Wille zur Macht, Aphorismus<br />

666.<br />

als Tauschmittel in der Warenzirkulation zu fungieren. Alles, was ist, an<br />

seinem Nutzen zu messen und in seiner Zweckdienlichkeit zu beurteilen,<br />

liegt im Wesen des Herstellens, aber die Schwierigkeit, mit den Urteilsmaßstäben<br />

dieser Tätigkeit in der Welt auszukommen, liegt darin, daß<br />

die Zweck-Mittel-Kategorie, auf der sie beruhen, unbegrenzt anwendbar<br />

ist und eine Kette ohne Ende erzeugt, in welcher sich jeder erreichte<br />

Zweck immer sofort wieder in ein Mittel in einem anderen Zusammenhang<br />

auflöst. Jede wirklich durch und durch, konsequent utilitaristisch<br />

organisierte Welt befindet sich, wie Nietzsche gelegentlich bemerkte, in<br />

einem „Zweckprogressus in infinitum“. 20<br />

Theoretisch kann man diese Aporie des konsequenten Utilitarismus, der<br />

die eigentliche Weltanschauung von Homo faber ist, als eine ihm inhärente<br />

Unfähigkeit diagnostizieren, den Unterschied zwischen dem Nutzen<br />

und dem Sinn einer Sache zu verstehen, den wir sprachlich ausdrücken,<br />

wenn wir dazwischen unterscheiden, ob wir etwas im Modus des „Umzu“<br />

oder des „Um-willen“ tun. So ist das Ideal des Nutzens selbst, das<br />

dem Tun in einer Handwerksgesellschaft vorschwebt – wie das Ideal der<br />

Bequemlichkeit in einer Arbeitsgesellschaft oder das Ideal des Erwerbs in<br />

einer kommerziellen Gesellschaftsordnung –, nicht mehr vom Nutzen her<br />

zu entscheiden; es ist nicht die Antwort auf eine Zweckfrage, sondern<br />

auf die Frage nach dem Sinn des Tuns. Um des Ideals der Nützlichkeit<br />

willen, das ihn in seinem Tun leitet, tut Homo faber alles, was er betreibt,<br />

in der Form des Um-zu, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Das<br />

Ideal des Nutzens selbst kann nicht mehr damit erklärt werden, daß es<br />

„nützlich“ sei; über seinen eigenen Nutzen und Zweck befragt, muß es<br />

die Auskunft verweigern. Denn es gibt keine Antwort innerhalb dieser<br />

Kategorien auf die Frage, die Lessing einmal den utilitaristischen Philosophien<br />

seiner Zeit stellte: „Und was ist der Nutzen des Nutzens?“ Die<br />

Aporie des Utilitarismus besteht darin, daß er in dem Zweckprogressus<br />

ad infinitum hoffnungslos gefangen ist, ohne je das Prinzip finden zu<br />

können, das die Zweck-Mittel-Kategorie rechtfertigen könnte, bzw. den<br />

Nutzen selbst. Innerhalb des Utilitarismus ist das Um-zu der eigentliche<br />

Inhalt des Um-willen geworden – was nur eine andere Art ist zu sagen,<br />

daß, wo der Nutzen sich als Sinn etabliert, Sinnlosigkeit erzeugt wird.<br />

Innerhalb der Zweck-Mittel-Kategorie und ihres Erfahrungsfeldes, in<br />

dem die gesamte Welt von Gebrauchsgegenständen und der Nützlichkeit<br />

überhaupt lokalisiert ist, gibt es keine Möglichkeit, den Zweckprogressus<br />

zu durchbrechen und zu verhindern, daß alle Zwecke schließlich<br />

wieder zu Mitteln für weitere Zwecke werden, es sei denn, man<br />

deklariere eines dieser Dinge zu einem „Zweck an sich“. In der Welt von<br />

Homo faber, wo alles seinen Nutzen beweisen muß und daher als ein<br />

Mittel gebraucht wird, um etwas anderes, als es selbst ist, zu erreichen,<br />

kann Sinn nur als ein Zweck verstanden werden, und zwar als ein Endzweck,<br />

bzw. ein „Zweck an sich“, also etwas, was entweder tautologisch<br />

allen Zwecken zukommt, nämlich wenn man sie vom Standpunkt<br />

des Herstellers ansieht, oder ein Widerspruch in sich selbst ist. Denn<br />

ein Zweck, der erreicht ist, hört ja damit auf, ein Zweck zu sein; er hat<br />

seine Fähigkeit verloren, die Auswahl bestimmter Mittel zu indizieren,<br />

sie zu rechtfertigen, sie zu organisieren und zu produzieren. Der hergestellte<br />

Gegenstand war ein Zweck nur, solange er noch nicht fertig war;<br />

als Fertigfabrikat ist er ein Gegenstand unter anderen Gegenständen,<br />

ein Objekt mehr in dem gewaltigen Arsenal des Vorliegenden, aus dem<br />

Homo faber sich frei seine Mittel wählt, um seine Zwecke zu erreichen.<br />

Ein Sinn muß dagegen beständig sein, und er darf von seinem Charakter<br />

nichts verlieren, wenn er sich erfüllt, oder besser, wenn er dem Menschen<br />

in seinem Tun aufgeht oder sich ihm versagt und ihm entgeht.<br />

Homo faber, d. h. der Mensch, sofern er ein herstellendes Wesen ist und<br />

keine anderen Kategorien kennt als die Zweck-Mittel-Kategorie, die sich<br />

unmittelbar aus seiner Werktätigkeit ergibt, ist genau so unfähig, Sinn<br />

zu verstehen, wie das Animal laborans, d. h. der Mensch, sofern er ein<br />

arbeitendes Lebewesen und nichts anderes ist, unfähig ist, Zweckhaftigkeit<br />

zu verstehen. Und so wie die Werkzeuge und Geräte, die Homo faber<br />

nur benutzt, um eine Welt zu errichten, für das Animal laborans stellvertretend<br />

für die Welt und Weltlichkeit überhaupt werden, so wird die<br />

Sinnhaftigkeit dieser Welt, die den Verstand von Homo faber übersteigt,<br />

für ihn das Paradox eines „Zwecks an sich“ oder eines Endzwecks.<br />

Was das utilitaristische Denken selbst anlangt, so gibt es für dieses keinen<br />

anderen Ausweg aus dem Dilemma der Sinnlosigkeit, als der objektiven<br />

Welt der Gebrauchsgegenstände den Rücken zu wenden und sich<br />

auf die Subjektivität des Brauchens selbst zurückzuziehen. Nur in einer<br />

absolut anthropozentrisch geordneten Welt, in der der Mensch selbst als<br />

Gebrauchender der Endzweck ist, der den endlosen Zweckprogressus zum<br />

Halten bringt kann der Nutzen als solcher zu einer Bedeutung kommen,<br />

die dem Sinn nahekommt. Aber wenn dies geschieht, setzt die Tragödie<br />

ein; sobald nämlich Homo faber eine seiner eigenen Tätigkeit immanente<br />

Sinnerfüllung gefunden hat, beginnt er auch bereits, die Dingwelt, den<br />

Zweck seines Sinnens und das Erzeugnis seiner Hände, zu degradieren;<br />

wenn der Mensch, insofern er Hergestelltes braucht und nutzt, das „Maß<br />

aller Dinge“ ist, dann ist nicht nur die Natur, die Homo faber ohnehin als<br />

bloßes Material für Herzustellendes betrachtet und behandelt, sondern<br />

sind die „wertvollen“ Dinge selbst zu Mitteln geworden und haben ihren<br />

eigenen immanenten „Wert“ verloren.<br />

In der Kantischen Formulierung, daß kein Mensch je Mittel zum Zweck<br />

sein darf, daß jeder Mensch vielmehr einen Endzweck, einen Zweck an sich<br />

darstelle, hat der anthropozentrische Utilitarismus von Homo faber seinen<br />

größten und großartigsten Ausdruck gefunden. Zwar finden wir bereits vor<br />

Kant eine gewisse Einsicht davon, zu welch furchtbaren Konsequenzen ein<br />

ungehindertes und kritikloses Denken im Begriff der Zweck-Mittel-Kategorie<br />

auf dem Gebiet des Politischen führen muß (so z. B. bei Locke, der<br />

immer wieder darauf hinweist, daß niemandem erlaubt werden dürfe, eines


208 — 209<br />

Hannah Arendt<br />

21<br />

Kritik der Urteilskraft, § 2.<br />

22<br />

Ebda., §§ 83 u. 84.<br />

23<br />

Dritter Band des Kapitals,<br />

Marx-Engels-Gesamtausgabe,<br />

S. 698.<br />

anderen Menschen Körper zu besitzen oder seine Körperkraft auszunutzen);<br />

aber erst in der Kantischen Philosophie haben diese frühen Einsichten<br />

einen begrifflich adäquaten Ausdruck gefunden und eine Tiefe erreicht,<br />

mit der sich das Niveau „mittelmäßiger Verständer“ nicht vergleichen läßt,<br />

das Nietzsche zu Unrecht den „braven Engelländern“ zuschreibt, weil es in<br />

Wahrheit überall da vorherrscht, wo Homo faber die Maßstäbe bestimmt.<br />

Der Unterschied zwischen Kant und seinen Vorläufern ist offenbar; Kant<br />

wollte ja keineswegs die Grundsätze des Utilitarismus formulieren und<br />

zum Begriff erheben, sondern im Gegenteil die Zweck-Mittel-Kategorie<br />

auf den ihr gehörigen Platz verweisen, um zu verhindern, daß sie im Feld<br />

politischen Handelns zur Anwendung komme. Dennoch können seine Formulierungen<br />

in der „Kritik der praktischen Vernunft“ ihren Ursprung aus<br />

utilitaristischem Denken genau so wenig verleugnen, wie die berühmte<br />

und ebenfalls paradoxe Formel, mit der er in der „Kritik der Urteilskraft“<br />

den Umgang mit den einzigen Dingen, die nicht Gebrauchsgegenstände<br />

sind, nämlich mit Kunstwerken, festlegt, an denen wir „ein Wohlgefallen<br />

ohne alles Interesse“ nehmen. 21 Denn der gleiche Gedanke, der den Menschen<br />

als einen Zweck an sich etabliert, macht ihn auch zum „betitelten<br />

Herrn der Natur“, der seinem Dasein, „soviel er vermag, die ganze Natur<br />

unterwerfen kann“, 22 nämlich jederzeit die Natur wie die Welt zu Mitteln<br />

seines Daseins machen und sie der ihnen zukommenden Eigenständigkeit<br />

für seine Zwecke berauben darf. Auch Kant konnte die Aporie des utilitaristischen<br />

Denkens nicht lösen und die Blindheit, mit der Homo faber<br />

dem Sinnproblem gegenübersteht, nicht heilen, ohne einen paradoxen<br />

Endzweck anzusetzen. Die Aporie hat ihren Grund darin, daß zwar nur das<br />

Herstellen und sein Zweck-Mittel-Denken fähig ist, eine Welt zu errichten,<br />

daß aber diese selbe Welt sofort so „wertlos“ wird wie das zu ihrer Errichtung<br />

verwendete Material, ein bloßes Mittel für nie abreißende Zwecke,<br />

sobald man versucht, die gleichen Maßstäbe in der fertigen Welt zur Geltung<br />

zu bringen, die unerläßlich alles Tun leiten, das Weltliches erst einmal<br />

entstehen läßt.<br />

Sofern der Mensch Homo faber ist, kennt er nichts als seine vorgefaßten<br />

Zwecke, zu deren Realisierung er alle Dinge zu Mitteln degradiert, so daß<br />

schließlich unter seiner Herrschaft nicht nur die hergestellten Dinge, sondern<br />

„die Erde überhaupt, wie alle Naturkraft, keinen Wert [haben], weil<br />

sie keine in [ihnen] vergegenständlichte Arbeit darstellen“. 23 Weil die Griechen<br />

das wußten, haben sie in ihrer klassischen Zeit das gesamte Gebiet<br />

der Herstellung, des Handwerks und der bildenden Künste, wo keine Tätigkeit<br />

um ihrer selbst willen vor sich geht und jeder Handgriff schon ein Mittel<br />

für einen Zweck darstellt, unter das Verdikt des Banausischen gestellt<br />

und der Verachtung preisgegeben. Die Konsequenz dieser Gesinnung, die<br />

offenbar nichts so fürchtete wie das Vulgäre und das Zielstrebige, muß<br />

uns immer wieder in Erstaunen setzen, wenn wir bedenken, wie groß die<br />

bildenden Künstler und Architekten waren, die unter dies Verdikt fielen.<br />

Worum es sich hier handelt, ist natürlich nicht die Zweckdienlichkeit als<br />

24<br />

Siehe Theatet 152 und<br />

Cratylus 385E. – Der Satz<br />

des Protagoras lautet fast<br />

übereinstimmend: πάντων<br />

χρημάτων μέτρον άνδρωπον<br />

είναι, των μεν όντων ως<br />

έστι, των δε μη όντων ως<br />

ουχ εοτιν. Das Wort<br />

χρήματα, von χράομαι,<br />

bezeichnet aber nicht so<br />

sehr „alle Dinge“ als „alles<br />

Brauchbare“ unter den<br />

Dingen; es bezieht sich auf<br />

den Menschen und seine<br />

Bedürfnisse. Hätte Protagoras<br />

sagen wollen: Aller<br />

Dinge Maß ist der Mensch,<br />

so hätte er dies auf<br />

griechisch eher durch ein<br />

άνζρωπος μτερον πάντων<br />

ausgedrückt, so wie auch<br />

Heraklit einfach sagt:<br />

πόλεμος πατήρ πάντών,<br />

„Streit (oder was immer<br />

πόλεμο hier heißt), ist der<br />

Vater aller Dinge“. Diels-<br />

Kranz: Vorsokratiker,<br />

Fragm. B1.<br />

solche, der Gebrauch von Mitteln für einen bestimmten Zweck, sondern<br />

vielmehr die Verallgemeinerung der für die Herstellung gültigen Erfahrungen,<br />

in welcher Nutzen und Nützlichkeit die eigentlichen Maßstäbe für<br />

das Leben und die Welt der Menschen werden. Auch diese Verallgemeinerung<br />

liegt noch im Wesen der herstellenden Tätigkeit, weil die Zweck-<br />

Mittel-Erfahrungen, die dem Herstellen inhärent sind, nicht einfach verschwinden,<br />

wenn der Zweck erreicht und der Gegenstand hergestellt ist,<br />

sondern diesen fertigen Gegenstand weiterhin begleiten, wenn er sein<br />

neues Dasein als ein Gebrauchsding antritt. Nicht der Herstellungsprozeß<br />

als solcher verursacht die Degradierung aller Welt- und Naturdinge<br />

zu bloßen Mitteln, die unaufhaltsame Entwertung alles Vorhandenen,<br />

das Anwachsen der Sinnlosigkeit, in dessen Prozeß alle Zwecke verschlungen<br />

werden, um wieder als Mittel zu dienen, und der auch den<br />

Menschen verschlingen würde, wenn man ihn nicht zu einem Endzweck<br />

deklariert hätte, der nun desto freier alles, was er selbst nicht ist, für<br />

seine Zwecke als Mittel verwenden und degradieren darf; denn vom<br />

Standpunkt des Herstellungsprozesses selbst ist das Endprodukt genau<br />

so ein Selbstzweck, ein unabhängig autonom Seiendes, wie der Mensch<br />

der Endzweck in Kants politischer Philosophie ist. Nur weil das Herstellen<br />

vorwiegend Gebrauchsgegenstände herstellt, kann das Endprodukt<br />

wieder zu einem Mittel, nämlich einem Gebrauchsmittel, werden, und nur<br />

insofern der Lebensprozeß sich der Gegenstände bemächtigt und sie für<br />

seine Zwecke benutzt, kann die produktive und limitierte Zweckhaftigkeit<br />

des Herstellers umschlagen in die unbegrenzte Zweckdienlichkeit,<br />

die sich aller Dinge, die nur überhaupt sind, als Mittel bemächtigt.<br />

Daß den Griechen diese Entwertung der Welt und der Natur mit dem<br />

ihr inhärenten Anthropozentrismus – der „absurden“ Meinung, daß der<br />

Mensch das höchste Seiende sei, dessen Dasein alles sonst Seiende<br />

untertan sein müsse (Aristoteles) – unheimlich war, liegt ebenso klar<br />

zutage, wie daß sie die einfache Vulgarität einer konsequent utilitaristischen<br />

Gesinnung verachteten. Wie sehr sie sich der Folgen einer<br />

Gesinnung bewußt waren, die in Homo faber die höchste Möglichkeit<br />

des Menschen ansetzt, läßt sich vielleicht am besten an Platos<br />

berühmtem Streit mit Protagoras exemplifizieren, der die anscheinend<br />

selbstverständliche Feststellung gemacht hatte, daß „der Mensch das<br />

Maß aller Gebrauchsdinge (χρήματα) ist, derer, die sind, und derer, die<br />

nicht sind“. 24 Denn Protagoras hat offenbar niemals gesagt, daß der<br />

Mensch das Maß aller Dinge schlechthin sei, wie die Überlieferung und<br />

die Standardübersetzungen es ihm unterschieben. Aber − und dies,<br />

scheint mir, ist der entscheidende Punkt − Plato hat, obwohl Protagoras<br />

nur von Gebrauchsdingen spricht, die sich ja selbstverständlich in<br />

ihrem Vorhanden- oder Nicht-Vorhandensein nach den sie brauchenden<br />

Menschen richten, sofort gesehen, daß dies auf Grund der Eigentümlichkeiten<br />

menschlicher Bedürfnisse dazu führen muß, daß nun der Mensch


210 — 211<br />

Hannah Arendt<br />

25<br />

In den Gesetzen, 716D,<br />

zitiert Plato noch einmal<br />

den Satz des Protagoras,<br />

nur daß hier an die Stelle<br />

des Wortes άνζρωπος der<br />

Gott ό ζεός tritt.<br />

in der Tat das Maß aller Dinge wird. Denn wenn man vom Menschen<br />

als dem Maß der Gebrauchsdinge spricht, so meint man ja den Menschen,<br />

der braucht, benutzt und als Mittel verwendet, und nicht den<br />

Menschen, insofern er spricht und handelt und denkt; macht man ihn<br />

zum Maß der Gebrauchsdinge, so wird er sich schwerlich davon abhalten<br />

lassen, alle Dinge für seinen Gebrauch zu reklamieren, das heißt,<br />

alles als ein Mittel für einen möglichen Zweck zu betrachten, in jedem<br />

Baum schon das Holz zu sehen, und sich so zum Maßstab nicht nur der<br />

Dinge zu machen, deren Sein oder Nichtsein in der Tat von ihm abhängen,<br />

sondern von allem Vorhandenen überhaupt.<br />

In der Platonischen Deutung klingt das, was Protagoras zu sagen hat,<br />

wie eine erste Vorwegnahme Kantischer Philosophie, denn wenn man<br />

den Menschen als das Maß aller Dinge ansetzt, so hat man ihn als dasjenige<br />

bestimmt, was selbst außerhalb des Zweckprogressus ad inifinitum,<br />

außerhalb der Kette verbleibt, in der notwendigerweise jeder Zweck<br />

wieder zu einem Mittel wird, eben als den Endzweck, der, selbst niemals<br />

Mittel, sich alles Bestehende für seine Zwecke untertan macht. Aber im<br />

Unterschied zu anderen Maßstäben, deren Wesen sich darin erschöpft,<br />

außerhalb des Meßbaren und zu Messenden als ein Selbiges zu verbleiben,<br />

ist der Mensch, der hier als Maßstab gilt, ein lebendiges und lebendig<br />

unbegrenzbares Wesen, dessen Produktionsmöglichkeiten so wenig<br />

ein für allemal festgelegt sind wie seine Wünsche und Geschicklichkeiten.<br />

Erlaubt man dem Menschen in seinem Brauchen und Gebrauchen<br />

der fertigen Welt sich der gleichen Maßstäbe zu bedienen, die unerläßlich<br />

waren für ihre Entstehung, sieht man, mit anderen Worten, in Homo<br />

faber nicht nur den Hersteller, sondern auch den Bewohner und Herrn<br />

der Welt, so wird er in der Tat alles in seinen Gebrauch nehmen und<br />

es entweder als ein Mittel für neue Zwecke oder als ein Mittel für sich<br />

selbst betrachten und verwerten. Dann wird es nichts mehr geben, was<br />

nicht ein Gebrauchsgegenstand, ein der Klasse der χρήματα angehöriges<br />

Ding ist, und − um Platos Beispiel zu folgen − der Wind wird nicht mehr<br />

als eine eigenständige Naturkraft die menschliche Welt durchwehen,<br />

sondern nur noch im Rahmen menschlicher Bedürfnisse als etwas, das<br />

erfrischt oder wärmt oder kältet, erfahren werden − was für Plato nichts<br />

anderes bedeutet, als daß der Mensch seine Fähigkeit, das Dasein des<br />

Windes als ein natürlich Vorhandenes zu erfahren, eingebüßt hat. An<br />

diese Konsequenzen rührt Platos Polemik gegen Protagoras, und es ist,<br />

um sie abzuwehren, daß er in den „Gesetzen“ schließlich die paradox<br />

klingende Gegenformulierung wagt: Nicht der Mensch − der vermöge<br />

seiner Wünsche und Geschicklichkeit alles brauchen und gebrauchen<br />

kann und daher dabei enden muß, alles Vorhandene nur als Mittel zu<br />

nutzen − sondern „ein Gott ist das Maß [selbst] aller Gebrauchsdinge“. 25<br />

Die Beständigkeit der Welt und das Kunstwerk<br />

Zu den Dingen, die der Welt, dem Gebilde von Menschenhand, die Stabilität<br />

verleihen, die sie geeignet macht, den unstabilsten Wesen, die<br />

wir kennen, sterblichen Menschen, eine irdische Behausung zu bieten,<br />

gehören auch eine Anzahl von Gegenständen, die überhaupt keinen Nutzen<br />

aufweisen und dazu noch so einmalig sind, daß sie prinzipiell unvertauschbar<br />

sind, also überhaupt keinen „Wert“ besitzen, den man in Geld<br />

ausdrücken oder sonst auf einen Generalnenner bringen könnte. Wenn<br />

sie auf dem Markt erscheinen, erzielen sie zwar auch Preise, aber diese<br />

Preise stehen überhaupt in keinerlei Verhältnis mehr zu ihrem „Wert“,<br />

sie sind ganz und gar willkürlich. Auch ist die angemessene Art des<br />

Umgangs mit den Dingen, die wir Kunstwerke nennen, sicher nicht das<br />

Brauchen und Gebrauchen; vor diesem müssen sie vielmehr sorgfältig<br />

bewahrt und daher aus dem Gesamtzusammenhang der gewöhnlichen<br />

Gebrauchsgegenstände entfernt werden, um den ihnen gemäßen Platz<br />

in der Welt einnehmen zu können. So müssen sie auch den täglichen<br />

Bedürfnissen und Notdürften des Lebens entrückt werden, mit denen sie<br />

weniger in Berührung kommen als irgendein anderes Ding. Ob nun diese<br />

Nutzlosigkeit von Kunstdingen immer bestanden hat oder ob in früher<br />

Zeit die Kunst den sogenannten religiösen Bedürfnissen des Menschen<br />

in der gleichen Weise gedient hat und auf sie in der gleichen Weise zugeschnitten<br />

war wie Gebrauchsgegenstände auf das alltägliche Brauchen,<br />

spielt hierfür keine Rolle. Denn selbst wenn es stimmen sollte, daß der<br />

geschichtliche Ursprung der Kunst ausschließlich religiöser oder mythischer<br />

Natur wäre, so bliebe doch immer noch die Tatsache bestehen, daß<br />

die Kunst die Ablösung von Zauber, Religion und Mythos auf das glorreichste<br />

überstanden hat.<br />

Kunstwerke sind die beständigsten und darum die weltlichsten aller<br />

Dinge. Der zersetzende Einfluß, den Naturprozesse auf alles Gegenständliche<br />

ausüben, bleibt nahezu ohne Wirkung auf sie, weil sie nicht<br />

dem Gebrauch lebendiger Wesen ausgesetzt sind, der sie in ihrer Eigentümlichkeit<br />

nur zerstören könnte, und nicht, wie im Falle von Gebrauchsgegenständen,<br />

eine ihnen inhärente Möglichkeit verwirklichen würden.<br />

In dem Sinne, in dem der Zweck eines Stuhles nur verwirklicht ist, wenn<br />

jemand auf ihm sitzt, gibt es überhaupt keinen Zweck, den ein Kunstwerk<br />

erfüllt. Daher unterscheidet sich seine Dauerhaftigkeit nicht nur<br />

quantitativ, sondern qualitativ von der Stabilität, deren alle Dinge für<br />

ihre Existenz bedürfen; seine Beständigkeit ist so ungemeiner Art, daß<br />

es unter Umständen durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch den<br />

sich ändernden Bestand der Welt zu begleiten vermag. „Über dem Wandel<br />

und Gang/ Höher und freier / Währt noch dein Lobgesang/ Gott mit<br />

der Leier“ (Rilke). Und in diesem Währen des Beständigen tritt die Weltlichkeit<br />

der Welt, die als solche niemals absolut sein kann, weil sie von<br />

Sterblichen bewohnt und benutzt wird, selbst in Erscheinung, ja in ein


212 — 213<br />

Hannah Arendt<br />

Leuchten, in dessen Glanz auch der Wandel und Gang aufleuchtet. Was<br />

hier aufleuchtet, ist die sonst in der Dingwelt, trotz ihrer relativen Dauerhaftigkeit,<br />

nie rein und klar erscheinende Beständigkeit der Welt, das<br />

Währen selbst, in dem sterbliche Menschen eine nicht-sterbliche Heimat<br />

finden. Es ist, als würde in dem Währen des Kunstwerks das weltlich<br />

Dauerhafte transparent, und als offenbare sich hinter ihm ein Wink<br />

möglichen Unsterblichseins − nicht etwa der Unsterblichkeit der Seele<br />

oder des Lebens, sondern dessen, was sterbliche Hände gemacht haben;<br />

und das Ergreifende dieses Tatbestands ist, daß er nicht eine sehnende<br />

Regung des Gemüts ist, sondern im Gegenteil greifbar und den Sinnen<br />

gegenwärtig vorliegt, leuchtend, um gesehen zu werden, tönend, um<br />

gehört zu werden, in die Welt noch hineinsprechend aus den Zeilen des<br />

gelesenen Buches.<br />

Wenn Gebrauchsgegenstände ihre Existenz der menschlichen Geschicklichkeit<br />

verdanken, Gegenständliches zu brauchen und zu nutzen, wenn<br />

Waren ihre Existenz der menschlichen „Neigung zum Tauschen und Einhandeln“<br />

(Smith) schulden, dann entstehen Kunstwerke aus der menschlichen<br />

Fähigkeit, zu denken und zu sinnen. Alles dies sind wirkliche<br />

Fähigkeiten des Menschen, und nicht bloß Attribute eines der Gattung<br />

Mensch angehörenden Lebewesens, wie Gefühle, Bedürfnisse und Triebe,<br />

auf die sie sich allerdings beziehen können und die oft ihren eigentlichen<br />

Inhalt bilden. Die dem menschlichen Lebewesen eigentümlichen<br />

Attribute haben so wenig zu tun mit der Welt, die sich der Mensch als<br />

seine Heimat auf der Erde errichtet, wie die entsprechenden Attribute<br />

anderer Lebewesen, und wollte man die weltliche Umgebung des Menschen<br />

auf sie zurückführen, so wäre diese Umgebung, wie die tierische,<br />

nicht eigentlich weltlich, d. h. sie wäre, wie das Netz der Spinne oder die<br />

Seide des Seidenwurms, nicht Kreation, sondern Emanation. Sofern das<br />

Denken sich auf Gefühle bezieht, verwandelt es bereits die verschlossene<br />

Stummheit schieren Fühlens, nicht anders als Tauschen die nackte<br />

Gier der Begehrlichkeit verwandelt und das Brauchen die getriebene<br />

Notdurft des Bedürfens transformiert − bis sie sich schließlich alle der<br />

Welt eignen, weil sie bereit sind, vorbereitet gleichsam, sich auf Gegenstände<br />

zu richten und im dinglichen Bestand der Welt ihre Erfüllung und<br />

Begrenzung zu erfahren. In jedem dieser Fälle transzendiert eine ihrem<br />

Wesen nach weltoffene und weltbezogene Fähigkeit die leidenschaftliche<br />

Intensität eines bloßen Gefühls oder Triebs oder Dranges und befreit<br />

sie dadurch aus dem Gefängnis des bloßen Bewußtseins, d. h. eines nur<br />

sich selbst fühlenden Selbsts, in die Weite der Welt.<br />

Alles Verdinglichen ist Verwandlung und Transformation, aber die vergegenständlichende<br />

Verdinglichung, die das Kunstwerk dem ihm zugrunde<br />

liegenden Inhalt zufügt, ist eine Transfiguration, eine Metamorphose so<br />

radikaler Art, daß es ist, als könne in ihm der natürliche Lauf der Dinge<br />

umgekehrt werden − als gäbe es Gebilde, die aus so „unbeschreiblicher<br />

Verwandlung stammen“, daß die Flammen des Herzens, in sie gerettet,<br />

26<br />

Der Text benutzt ein Gedicht<br />

von Rilke, das unter<br />

dem Titel „Magie“ diese<br />

Transfiguration der Kunst<br />

beschreibt. Es lautet: „Aus<br />

unbeschreiblicher Verwandlung<br />

stammen/solche<br />

Gebilde − : Fühl! und<br />

glaub!/ Wir leidens oft: zu<br />

Asche werden Flammen,/<br />

doch, in der Kunst: zu<br />

Flamme wird der Staub.<br />

Hier ist Magie. In das [sic!]<br />

Bereich des Zaubers/<br />

scheint das gemeine Wort<br />

hinaufgestuft…/ und ist<br />

doch wirklich wie der Ruf<br />

des Taubers,/ der nach der<br />

unsichtbaren Taube ruft.<br />

(Aus Taschen-Büchern und<br />

Merk-Blättern, 1950).<br />

nicht mehr zu Asche werden, ja daß noch der Staub der Vergänglichkeit<br />

in ein immerwährendes Feuer entflammt. 26 Das, was das leuchtende<br />

Feuer in das Kunstwerk bannt, ist das sinnende Denken, aber obwohl<br />

Kunstwerke Gedankendinge sind, sind sie doch wesentlich Dinge wie<br />

andere Dinge auch. Das sinnende Denken ist an sich nicht herstellend,<br />

und ein Gedankengang produziert so wenig greifbare Dinge − Bücher,<br />

Bilder, Statuen, Kompositionen −, wie das alltägliche Brauchen und<br />

Gebrauchen von sich aus Häuser oder Möbel herstellt und produziert.<br />

Die Verdinglichung, die statthat, wenn ein Gedanke niedergeschrieben,<br />

ein Bild gemalt, eine Melodie komponiert, eine Gestalt in Marmor<br />

geschlagen wird, steht natürlich mit dem Denken, das ihm vorausging,<br />

in ständiger Beziehung; aber das, was den Gedanken realisiert und das<br />

Gedankending herstellt, ist die gleiche Werktätigkeit, welche vermöge<br />

des Urwerkzeugs, das die menschliche Hand ist, auch alles andere dauerhaft<br />

Dingliche der Welt schafft und herstellt.<br />

Wir erwähnten bereits in einem anderen Zusammenhang (Kap. III, 12) den<br />

hohen Preis, den das Denken und Sinnen, wie das Sprechen und Handeln,<br />

dafür zahlen, daß sie durch das herstellende Vergegenständlichen<br />

als greifbar wirkliche Dinge in die Dingwelt eingehen; der Preis ist das<br />

Leben selbst, da immer nur ein „toter Buchstabe“ überdauern kann, was<br />

einen flüchtigen Augenblick lang lebendigster Geist war. Zwar kann auch<br />

der tote Buchstabe immer wieder zum Leben erweckt werden, nämlich<br />

sobald er wieder mit einem Lebendigen in Berührung kommt, das vermöge<br />

des eigenen Lebens den lebendigen Geist spürt, welchen der tote<br />

Buchstabe gleichsam verewigt hat; aber auch diese Auferstehung von<br />

den Toten teilt das Los aller lebendigen Dinge, aufs neue dem Tod zu<br />

verfallen. Es gibt keine Kunsterzeugnisse, die nicht in diesem Sinne unlebendig<br />

wären, und ihre Leblosigkeit zeigt den Abstand an, der zwischen<br />

der Quelle des Denkens und Sinnens im Herzen oder Hirn des Menschen<br />

besteht und der Welt, in die das Gedachte und Ersonnene schließlich<br />

entlassen wird. Aber diese Leblosigkeit ist nicht allen Künsten in gleichem<br />

Maße zu eigen; sie ist dort am schwächsten, wo die herstellende<br />

Verdinglichung am wenigsten an Material im eigentlichen Sinne gebunden<br />

ist, also in der Musik und der Dichtung, deren „Material“ Worte und<br />

Töne sind, mit denen umzugehen ein Minimum an Materialkenntnis und<br />

Werkerfahrung erfordert. Darum spielt in der Dichtung die Gestalt des<br />

Jünglings eine so große Rolle, und darum gibt es gerade in der Musik,<br />

aber weder in den bildenden Künsten noch in der Architektur, das Phänomen<br />

des Wunderkinds.<br />

Die gewissermaßen menschlichste und unweltlichste der Künste ist die<br />

Dichtkunst, deren Material die Sprache selbst ist und deren Produkt<br />

dem Denken, das es inspirierte, am nächsten bleibt. Die Dauerhaftigkeit<br />

des Gedichts entsteht gleichsam durch Verdichtung; es ist, als wäre<br />

ein in äußerster Dichte und Aufmerksamkeit gesprochenes Sprechen in<br />

sich bereits „dichterisch“. Das andenkende Erinnern − Mnemosyne, die


214 — 215<br />

Hannah Arendt<br />

27<br />

Wenn der Sprachgebrauch<br />

davon spricht, daß man ein<br />

Gedicht „macht“ – auch im<br />

Französischen sagt man<br />

vom Dichten fair des vers<br />

und im Englischen to make<br />

a poem –, so bezieht sich<br />

dies auf die im Dichten<br />

bereits stattfindende<br />

Verdinglichung. Aber auch<br />

das deutsche Dichten<br />

stammt aus dem lateinischen<br />

dictare und heißt<br />

„das ausgesonnene geistig<br />

Geschaffene niederschreiben<br />

oder zum Niederschreiben<br />

vorsagen“ (Grimms<br />

Wörterbuch). Kluge-Götz,<br />

Etymologisches Wörterbuch<br />

(1951), leitet das Wort<br />

dichten neuerdings von<br />

tichen, einem alten Wort für<br />

schaffen ab, was besagen<br />

würde, daß es mit dem<br />

lateinischen fingere vielleicht<br />

zusammenhängt.<br />

Auch in diesem Fall ist die<br />

eigentliche dichterische<br />

Tätigkeit, die das Gedicht<br />

herstellt, bevor es niedergeschrieben<br />

wird, als<br />

eine Art von Verdinglichung<br />

vorgestellt. Und in ganz<br />

dem gleichen Sinne pries<br />

bereits Demokrit den<br />

Dichter aller Dichter, Homer,<br />

daß er „einen wohlgeordneten<br />

Bau mannigfaltiger<br />

Verse gezimmert habe“<br />

(Diels-Kranz, B 21).<br />

Demokrit griff hier<br />

sprachlich nur die gängige<br />

griechische Bezeichnung<br />

für die Dichter auf, die<br />

„Zimmerer von Gesängen“,<br />

τέχτωνες υμνων.<br />

Mutter aller anderen Musen und Künste − vermag sprachlich so zu konzentrieren,<br />

daß das Gedachte sich in etwas verwandelt, was sich unmittelbar<br />

dem Gedächtnis einprägt; und auch Rhythmus und Reim, die<br />

technischen Mittel der Dichtkunst, stammen noch aus dieser äußersten<br />

Konzentration. Die ursprüngliche Nähe des Gedächtnisses zu dem lebendig<br />

andenkenden Erinnern ermöglicht es dem Gedicht, auch ohne die<br />

Niederschrift in der Welt zu überdauern, und wiewohl die Qualität eines<br />

Gedichts von einer Reihe ganz anders gearteter Maßstäbe bestimmt<br />

ist, wird doch gerade seine „Einprägsamkeit“ weitgehend darüber entscheiden,<br />

ob es sich endgültig im Gedächtnis der Menschheit festsetzen,<br />

ihm sich einprägen kann. So bleiben Gedichte, unter den Gedankendingen<br />

der Kunst, dem Denken als solchem am engsten verhaftet;<br />

sie sind gleichsam die wenigst dinglichen unter den Weltdingen. Aber<br />

wenn auch „Dichterworte/ Um des Paradieses Pforte/ Immer leise klopfend<br />

schweben/ Sich erbittend ewges Leben“, und wenn es auch wahr<br />

ist, daß „in des Ursprungs Tiefe“ sich ein Gedicht einzig bewährt, indem<br />

es als „gesprochen Wort“ aus dem Gedächtnis des Dichters oder derer,<br />

die ihm zuhören, dringt, als wäre es gerade erst entstanden, so kommt<br />

doch immer die Zeit, da auch dies undinglichste aller Dinge „gemacht“<br />

werden muß, niedergeschrieben und verwandelt in ein greifbares Ding<br />

unter Dingen, weil lebendige Erinnerung und die Fähigkeit des Gedächtnisses,<br />

aus denen alles Verlangen nach Unvergänglichkeit stammt, der<br />

Greifbarkeit des Dinglichen bedarf, um sich an ihm festzuhalten und<br />

nicht seinerseits dem Vergessen und der Vergänglichkeit zu verfallen. 27<br />

Denken und Erkennen sind nicht dasselbe. Denken, das für das Kunstschaffen<br />

die außerhalb seiner selbst liegende Quelle bildet, manifestiert<br />

sich direkt in aller großen Philosophie, während Erkennen, das Wissen<br />

vermittelt und Gewußtes ansammelt und ordnet, sich in den Wissenschaften<br />

niederschlägt. Das Erkennen verfolgt stets ein bestimmtes Ziel,<br />

das ihm sowohl praktische Erwägungen wie „müßige Neugier“ gesetzt<br />

haben mögen; ist dies Ziel erreicht, so ist der Erkenntnisprozeß an sein<br />

Ende gelangt. Denken hingegen hat weder ein Ziel noch einen Zweck<br />

außerhalb seiner selbst, und es zeitigt strenggenommen noch nicht einmal<br />

Resultate. Daß das Denken wirklich zu nichts nütze ist, haben ihm<br />

nicht nur die utilitaristischen Gesinnungen von Homo faber, sondern auch<br />

die Männer der Tat und der Wissenschaften oft genug bestätigt; es ist in<br />

der Tat so nutzlos wie das von ihm inspirierte Kunstwerk. Und nicht einmal<br />

auf diese nutzlosesten aller Dinge kann das Denken als auf von ihm<br />

erzeugte Resultate Anspruch erheben, denn man kann im Ernst von den<br />

Kunstwerken sowenig wie von den großen philosophischen Systemen<br />

behaupten, sie seien durch nichts als durch reines Denken entstanden;<br />

gerade den reinen Denkprozeß, den eigentlichen Gedankengang, muß<br />

der Künstler, aber auch der schreibende Philosoph, unterbrechen, wenn<br />

er das Gedachte so verwandeln will, daß es sich einer schriftlich-verdinglichenden<br />

Darstellung eignet. Denken als eine Tätigkeit ist endlos wie<br />

das Leben, das es begleitet, und die Frage, ob es einen Sinn hat zu denken,<br />

ist genau so unbeantwortbar wie die Frage, ob das Leben einen Sinn<br />

habe. Gedankengänge durchdringen das Gesamte menschlicher Existenz,<br />

jedes, auch das primitivste menschliche Leben, ist von ihnen gleichsam<br />

durchpflügt, und dies Denken hat weder Anfang noch Ende, es sei denn<br />

den Anfang, der mit der Geburt, und das Ende, das mit dem Tode gegeben<br />

ist. Zu denken ist daher keineswegs das spezifische Vorrecht von<br />

Homo faber, obwohl das Sinnen seine höchste weltliche Produktivität<br />

inspiriert; aber in diesem höchsten Schaffen, dessen er fähig ist, das sich<br />

von Brauchen und Gebrauchen so weit emanzipiert hat, daß es nutzlose<br />

Dinge herstellt, ist es auch, als wachse er gleichsam über sich selbst und<br />

alle nur auf den Menschen bezogenen Bedürfnisse hinaus, als könne er<br />

ohne den Stachel materieller oder intellektueller Antriebe auskommen,<br />

als bedürfe er, um der Welt zu dienen, weder des natürlichen Verlangens<br />

nach den Gütern der Welt noch des spezifisch menschlichen Durstes,<br />

über die Welt Bescheid zu wissen. Das Erkennen hingegen spielt in allen,<br />

und nicht nur in den geistigen oder künstlerischen, Herstellungsprozessen,<br />

eine ausgezeichnete Rolle. Es hat mit dem Herstellen gemein, daß<br />

es ein Prozeß ist mit Anfang und Ende, dessen Nutzen kontrollierbar ist<br />

und der, wenn er nicht zu dem gewünschten Resultat führt, eben seinen<br />

Zweck verfehlt hat, wie das Tischlern seinen Zweck verfehlt hat, wenn es<br />

einen zweibeinigen Tisch hervorbringt. Die Rolle, die das Erkennen in den<br />

Wissenschaften spielt, unterscheidet sich grundsätzlich nicht von seiner<br />

Funktion im Herstellen; und die wissenschaftlichen Resultate, die durch<br />

Erkennen gewonnen werden, können wie alle anderen Dingprodukte der<br />

menschlichen Welt hinzugefügt und in ihr untergebracht werden.<br />

Was die spezifisch intellektuellen Tätigkeiten anlangt, so muß die<br />

logische Verstandestätigkeit noch einmal vom Denken wie vom Erkennen<br />

geschieden werden, sofern sie nämlich weder, wie das Denken, der<br />

lebendigen Erfahrung noch, wie das Erkennen, eines vorgegebenen<br />

Gegenstandes bedarf, um sich zu entfalten. Sowohl das Deduzieren aus<br />

Axiomen wie das Subsumieren von Einzelnem unter allgemeinere Regeln<br />

wie schließlich die verschiedenen Techniken, durch die der Verstand<br />

Ketten in sich stimmiger Schlußfolgerungen gleichsam aus sich herausspinnen<br />

kann, sind Tätigkeiten, in denen das menschliche Gehirn eine<br />

Art „Kraft“ entfaltet, die der Arbeitskraft, die sich aus dem Stoffwechsel<br />

des Menschen mit der Natur ergibt, sehr ähnlich ist. Im Gegensatz zum<br />

Denken wie Erkennen ist die Intelligenz, die sich im Logischen bewährt,<br />

ein eigentlich physisches Kraft-Phänomen und daher mit Intelligenz-<br />

Tests genauso meßbar, wie Körperkraft mit Hilfe anderer Apparaturen<br />

meßbar ist. Die Gesetze, denen logische Prozesse unterworfen sind,<br />

sind natürliche Gesetze, die letztlich von nichts anderem abhängen als<br />

von der Struktur des menschlichen Gehirns, in dem sie verankert sind.<br />

Alles eigentlich Logische übt auf menschliches Denken einen Zwang aus,<br />

dem es sich nicht entziehen kann − jedenfalls nicht, solange ein Gehirn


216 — 217<br />

Hannah Arendt<br />

normal funktioniert. Aber dieser Zwang, mit dem der Verstand das Denken<br />

beherrscht, unterscheidet sich in nichts von dem Zwang, mit dem<br />

der Körper das menschliche Leben seiner Notdurft untertan macht. Wäre<br />

der Mensch wirklich ein Animal rationale, das sich von anderen Tieren nur<br />

durch eine überlegene Intelligenz unterscheidet, dann wären die neuen<br />

elektronischen Maschinen, die diese Intelligenz ins Ungeheure steigern,<br />

in der Tat jene Homunculi, für die ihre Erfinder sie manchmal zu halten<br />

versucht sind. In Wirklichkeit tun auch diese Maschinen nichts anderes,<br />

als was Maschinen immer tun: sie ersetzen, verstärken und verbessern<br />

die physische Kraftleistung des Menschen, seine Arbeitskraft, die Kraft<br />

seiner Muskeln oder die Kraft seines Gehirns. Und das Prinzip, nach dem<br />

sie funktionieren, ist das altbewährte Prinzip der Arbeitsteilung, das<br />

Aufbrechen komplizierterer Operationen in ihre einfachsten Bestandteile,<br />

also z. B. die Rückführung der Multiplikation auf die ihr inhärenten Operationen<br />

des Addierens. Das, was die Arbeitsteilung eigentlich attraktiv<br />

macht, nämlich daß die Arbeitsleistung durch Beschleunigung produktiver<br />

wird, ist auch hier der ausschlaggebende Faktor; nur daß in diesen<br />

Intelligenz-Maschinen die Geschwindigkeit, das Tempo, in welchem logische<br />

oder rechnerische Prozesse verlaufen, so ungeheuer gesteigert ist,<br />

daß auf die alten, gleichsam menschlichen Tricks der Beschleunigung,<br />

wie z. B. auf Multiplikation, die ja ihrerseits nur dazu diente, Additionsprozesse<br />

zu beschleunigen, verzichtet werden kann.<br />

Das einzige, was die Computer, diese ins Gigantische gewachsenen<br />

Rechenmaschinen, wirklich beweisen, ist, daß das siebzehnte Jahrhundert<br />

unrecht hatte, wenn es mit Hobbes meinte, daß der Verstand,<br />

nämlich die Fähigkeit des Schlußfolgerns − das „reckoning with consequences“<br />

−, die höchste und menschlichste aller menschlichen Fähigkeiten<br />

ist, und daß das neunzehnte Jahrhundert mit seiner Arbeits- und<br />

Lebensphilosophie − mit Marx, Bergson und Nietzsche − im Recht war,<br />

wenn es den Verstand für eine bloße Funktion des Lebensprozesses<br />

hielt und also das Leben selbst für etwas „Höheres“ als den Verstand.<br />

Der bis heute vielfach anhaltende, eigentliche Irrtum dieser neuzeitlichen<br />

Entwicklung war natürlich zu glauben, daß Denken und Erkennen<br />

ihren eigentlichen Ursprung in diesen animalischen Funktionen eines<br />

mit Intelligenz ausgestatteten Lebewesens haben. Offenbar ist, daß<br />

diese im Gehirn verankerten Intelligenzprozesse ebenso weltlos, d. h.<br />

ebenso außerstande sind, eine Welt zu errichten, wie die anderen physischen<br />

Prozesse, durch die das Leben den Menschen zwingt, die zwangsläufigen<br />

Prozesse der Arbeit und des Verzehrs.<br />

Der auffallendste innere Widerspruch der klassischen politischen Ökonomie,<br />

auf den oft aufmerksam gemacht worden ist, besteht darin, daß<br />

die gleichen Theoretiker, die so stolz auf ihre konsequent utilitaristische<br />

Weltanschauung waren, im Grunde eine ausgesprochene Verachtung für<br />

das bloß Nützliche hegten, die sich vor allem darin manifestierte, daß sie<br />

auf die Produktion der reinen Konsumgüter, also des Nützlichsten, was es<br />

gibt, immer als auf etwas Zweitrangiges herabsahen. Nicht Nützlichkeit,<br />

sondern Haltbarkeit und Dauerhaftigkeit waren die Maßstäbe, die sie in<br />

Wirklichkeit anlegten, um Produktivität zu bestimmen. Und dies heißt<br />

nichts anderes, als daß sie sich noch im Sinne von Homo faber an der<br />

Welt und ihrer Dinglichkeit orientierten, und nicht im Sinne des Animal<br />

laborans alle Tätigkeiten auf das Leben und das ihm Notwendige bezogen.<br />

Zwar ist die Haltbarkeit alltäglicher Gebrauchsgegenstände relativ<br />

und nur ein schwacher Abglanz jener Beständigkeit, welche die weltlichsten<br />

aller Dinge, die Kunstwerke, durch die Jahrhunderte hindurch<br />

währen läßt; aber auch diese relative Haltbarkeit ist noch eine Abart des<br />

währenden Überdauerns (das Plato für etwas Göttliches hielt, weil es<br />

sich der Unvergänglichkeit nähert), das jedem Ding qua Ding zukommt.<br />

Jedenfalls ist es diese Eigenschaft, die seine Gestalt, seine Erscheinungsform<br />

in der Welt bestimmt und damit die Voraussetzung dafür ist,<br />

daß es uns schön erscheinen kann oder häßlich. Dabei spielt natürlich die<br />

eigentliche Gestalt für alltägliche Gebrauchsgegenstände eine ungleich<br />

geringere Rolle als für die dem Gebrauch entrückten Kunstdinge, und<br />

der Versuch des modernen Kunstgewerbes, Gebrauchsgegenstände so<br />

herzustellen, als wären sie Kunstdinge, hat genug Geschmacklosigkeiten<br />

auf dem Gewissen. Aber der Wahrheitskern, der diesen Bemühungen<br />

innewohnt, liegt in dem unbestreitbaren Tatbestand, daß jegliches, das<br />

überhaupt lange genug währt, um als Form und Gestalt wahrgenommen<br />

zu werden, gar nicht anders kann, als sich einer Beurteilung auszusetzen,<br />

die nicht nur seine Funktion, sondern auch seine Erscheinung angeht;<br />

und solange wir uns nicht die Augen ausreißen, bzw. uns vorsätzlich<br />

der Maßstäbe berauben, die für Sichtbares gelten, können wir gar nicht<br />

anders, als alles Dingliche auch danach zu beurteilen, ob es schön ist<br />

oder häßlich oder irgend etwas dazwischen.<br />

Weil alles Seiende auch erscheint, und nicht erscheinen kann ohne eine<br />

ihm eigene Gestalt, gibt es in Wahrheit kein Ding, das nicht das bloße<br />

Gebrauchtwerden bereits übersteigt und eine Art von Existenz hat, die<br />

jenseits seiner Funktion liegt. Dies gilt nur nicht von den Konsumgütern,<br />

die aber in die eigentliche Dingwelt niemals eintreten, weil sie zum Verzehr<br />

bestimmt und für den Konsum präpariert sind. (Hier wird infolgedessen<br />

jedes Bemühen, sie „schön“ zu machen, unweigerlich zum Kitsch<br />

führen, wobei der Kitsch darin besteht, daß „Schönheit“ appetitanregend<br />

wirken soll, was dem Wesen des Schönen widerspricht, das gerade das<br />

Zugreifen abwehrt und, wo es voll in Erscheinung tritt, jeglichen Umgang<br />

mit dem betreffenden Gegenstand verwehrt.) Das jenseits des Funktionellen<br />

liegende Sosein eines Dinges ist seine Schönheit oder seine Häßlichkeit,<br />

und dies Sosein, im Unterschied zu der Funktion, ist an Erscheinen<br />

überhaupt gebunden und damit an Sichtbarkeit in einer öffentlichen<br />

Welt. Sofern ein Gegenstand überhaupt in die Welt der Dinge eingeht,<br />

transzendiert er bereits die Sphäre des nur Zweckdienlichen, durchbricht,


218 — 219<br />

Hannah Arendt<br />

gleichsam auf eigene Faust, den ihm vom menschlichen Gebrauchtwerden<br />

diktierten Zweckprogressus ad infinitum. In dieser Dingwelt kann der<br />

Maßstab seiner Trefflichkeit nicht mehr seine bloße Nützlichkeit sein, als<br />

erfülle ein häßlicher Tisch seinen Zweck genausogut wie ein „schöner“;<br />

hier entscheidet sein Aussehen über seine Vortrefflichkeit. Und dies Aussehen<br />

ist, platonisch gesprochen, nichts anderes als die mögliche Entsprechung<br />

oder Annäherung an das ειδος oder die ιδέα, an das vorgestellte<br />

Bild, das dem inneren Auge des Herstellers vorschwebte, als er<br />

den Gegenstand fabrizierte, und das als solches schon war, bevor der<br />

Herstellungsprozeß begann, andauert, wenn er zum Abschluß gekommen<br />

ist, und selbst das Verschwinden durch Verbrauchen oder Zerstörung<br />

des in seinem Ebenbilde hergestellten Gegenstandes überdauert.<br />

So entzieht sich alles Gestaltete und Geformte in seinem Sosein, auch<br />

wenn es dem Gebrauch dient, in gewisser Weise den nur »subjektiven«<br />

Bedürfnissen derer, für deren Zwecke es doch hervorgebracht ist, und<br />

geht ein in eine von „objektiven“ Maßstäben bestimmte Welt von Gegenständlichem,<br />

in der es nicht nur dem Gebrauch dient, sondern auch das<br />

Aussehen, die spezifische Qualität, der dinglichen Umwelt bestimmt, in<br />

der menschliches Leben sich bewegt.<br />

Die Umwelt des Menschen ist die Dingwelt, die Homo faber ihm errichtet,<br />

und ihre Aufgabe, sterblichen Wesen eine Heimat zu bieten, kann sie<br />

nur in dem Maße erfüllen, als ihre Beständigkeit der ewig-wechselnden<br />

Bewegtheit menschlicher Existenz standhält und sie jeweils überdauert,<br />

d. h. insofern sie nicht nur die reine Funktionalität der für den Konsum<br />

produzierten Güter, sondern auch die bloße Nützlichkeit von Gebrauchsgegenständen<br />

transzendiert. Wie der Stoffwechsel mit der Natur, also der<br />

biologische Lebensprozeß, den der Mensch mit allem Lebendigen gemein<br />

hat, sich in der Tätigkeit der Arbeit realisiert, so realisiert sich das spezifisch<br />

menschliche Leben, die Zeitspanne, die ihm zwischen Geburt und<br />

Tod zugemessen ist, in den Tätigkeiten des Handelns und Sprechens, die<br />

immerhin mit dem Leben so viel gemeinsam haben, daß auch sie in sich<br />

selbst flüchtig sind und vergänglich. Denn es mag einer noch so „beredt<br />

in Worten sein und rüstig in Taten“, weder Worte noch Taten hinterlassen<br />

irgendeine Spur in der Welt, nichts zeugt von ihnen, wenn der kurze<br />

Augenblick verflogen ist, während dessen sie wie eine Brise oder ein Wind<br />

oder ein Sturm durch die Welt strichen und die Herzen von Menschen<br />

erschütterten. Ohne die Geräte, die Homo faber entwirft, um die Arbeit<br />

zu erleichtern und die Arbeitszeit zu verkürzen, könnte auch menschliches<br />

Leben nichts sein als Mühe und Arbeit; ohne die Beständigkeit der<br />

Welt, die die den Sterblichen zugemessene Frist auf der Erde überdauert,<br />

wären die Geschlechter der Menschen wie Gras und alle Herrlichkeit der<br />

Erde wie des Grases Blüte; und ohne die gleichen herstellenden Künste<br />

von Homo faber, aber jetzt auf ihrem höchsten Niveau, in der vollen Glorie<br />

ihrer reinsten Entfaltung, ohne die Dichter und Geschichtsschreiber,<br />

ohne die Kunst des Bildens und die des Erzählens, könnte das Einzige,<br />

was redende und handelnde Menschen als Produkt hervorzubringen<br />

vermögen, nämlich die Geschichte, in der sie handelnd und sprechend<br />

auftraten, bis sie sich so weit gefügt hat, daß einer sie als Geschichte<br />

berichten kann, niemals sich so dem Gedächtnis der Menschheit einprägen,<br />

daß sie Teil der Welt wird, in der Menschen leben. Insofern aber Sprechen<br />

und Handeln die höchsten und menschlichsten Tätigkeiten der Vita<br />

activa sind, ist die Welt eine wirkliche Heimat für sterbliche Menschen<br />

nur in dem Maße, als sie diesen in sich flüchtigsten und vergeblichsten<br />

Tätigkeiten eine bleibende Stätte sichert, als sie sich dafür eignet, Tätigkeiten<br />

zu beherbergen, die nicht nur völlig nutzlos für den Lebensprozeß<br />

als solchen sind, sondern auch prinzipiell anderer Natur als die mannigfaltigen<br />

herstellenden Künste, durch die die Welt selbst und alle Dinge in<br />

ihr hervorgebracht sind. In dieser Hinsicht handelt es sich schwerlich um<br />

eine Wahl zwischen Plato und Protagoras oder darum zu entscheiden,<br />

ob nun der Mensch oder ein Gott das Maß aller Dinge sei; denn so viel<br />

ist sicher, das Maß für die Welt ist nicht die zwingende Lebensnotwendigkeit,<br />

die sich in der Arbeit kundgibt, und es kann nicht in dem Reich<br />

von Mitteln und Zwecken gefunden werden, das maßgebend ist für die<br />

Herstellung der Weltdinge und maßgeblich noch für den Gebrauch, den<br />

wir von ihnen machen.


222 — 223<br />

1<br />

Wiederabdruck aus: Richard<br />

Sennett: Handwerk. Berlin:<br />

BvT 2009. © Berlin Verlag,<br />

S. 201-239.<br />

2<br />

So sagt es jedenfalls<br />

Raymond Tallis: The Hand:<br />

A Philosophical Inquiry in<br />

Human Being. Edinburgh<br />

2003, S. 4.<br />

3<br />

Charles Bell: The Hand,<br />

Its Mechanisms and Vital<br />

Endowments, as Evincing<br />

Design. London 1833; dt.:<br />

Die menschliche Hand und<br />

ihre Eigenschaften, Stuttgart<br />

1836. Es handelt sich<br />

um den vierten Band einer<br />

Schriftenreihe mit dem Titel<br />

The Bridgewater Treatises<br />

on the power, wisdom<br />

and goodness of God as<br />

manifested in the creation;<br />

dt: Die Natur, ihre Wunder<br />

und Geheimnisse oder Die<br />

Bridgewater-Bücher.<br />

Die Hand 1<br />

Richard Sennett<br />

Technik hat einen schlechten Ruf. Sie kann seelenlos erscheinen. Menschen,<br />

die in ihren Händen ein hohes Maß an Übung erreichen, sehen<br />

das allerdings nicht so. Für sie ist Technik eng verbunden mit Ausdruck.<br />

In diesem Kapitel will ich einen ersten Schritt in der Erforschung dieser<br />

Verbindung unternehmen.<br />

Vor zwei Jahrhunderten bemerkte Kant einmal, die Hand sei das Fenster<br />

zum Geist. 2 Die moderne Wissenschaft hat diese Beobachtung vertieft.<br />

Von allen menschlichen Gliedern verfügt die Hand über das größte Repertoire<br />

unterschiedlicher und willentlich steuerbarer Bewegungen. Die<br />

Wissenschaft versucht zu klären, in welcher Weise diese Bewegungen<br />

in Verbindung mit dem Greifen und dem Tastsinn unser Denken beeinflussen.<br />

Der Verbindung zwischen Hand und Kopf werde ich am Beispiel<br />

dreier „Handwerker“ nachgehen, die ihre Hand in beträchtlichem Maße<br />

üben müssen: Musiker, Köche und Glasbläser. Eine Handfertigkeit dieser<br />

Art ist zwar etwas Besonderes, hat aber auch Implikationen für das normalere<br />

Erleben.<br />

Die intelligente Hand<br />

Wie die Hand menschlich wurde<br />

Greifen und Tasten<br />

Das Bild der „intelligenten Hand“ erschien in den Wissenschaften bereits<br />

1833, als Charles Bell eine Generation vor Darwin sein Buch The Hand<br />

(Die menschliche Hand) veröffentlichte. 3 Der fromme Christ Bell glaubte,<br />

die Hand sei vom Schöpfer als vollkommenes, seinen Zwecken bestens<br />

angepasstes Glied geschaffen worden, wie es für all seine Werke galt.<br />

Bell schrieb der Hand eine privilegierte Stellung in der Schöpfung zu<br />

und führte diverse Experimente durch, die beweisen sollten, dass unser<br />

Gehirn von der Hand vertrauenswürdigere Informationen erhält als von<br />

den Augen, die uns oft nur falsche oder irreführende Bilder lieferten.<br />

4<br />

Charles Darwin: The<br />

Descent of Man (1879),<br />

London 2004; dt.: Die Abstammung<br />

des Menschen.<br />

Stuttgart 1966, S. 60–63.<br />

5<br />

Frederick Wood Jones: The<br />

Principles of Anatomy as<br />

Seen in the Hand. Baltimore<br />

1942, S. 298–299.<br />

6<br />

Tallis: The Hand, S. 24.<br />

7<br />

Siehe John Napier: Hands,<br />

überarb. von Russell<br />

H. Tuttle: Princeton, N.<br />

J. 1993, S. 55 ff. Eine<br />

ausgezeichnete populärwissenschaftliche<br />

Zusammenfassung dieser<br />

veränderten Sichtweise<br />

findet sich bei Frank R.<br />

Wilson: The Hand: How<br />

Its Use Shapes the Brain,<br />

Language, and Human Culture.<br />

New York 1998; dt.:<br />

Die Hand – Geniestreich der<br />

Evolution: Stuttgart 2000,<br />

S. 129–160.<br />

Darwin entthronte Bells Überzeugung, wonach die Hand nach Form und<br />

Funktion zeitlos sei. In der Evolution, so nahm Darwin an, vergrößerte<br />

sich das Gehirn der Affen, als die Arme nicht mehr nur dazu dienten, den<br />

Körper in der Bewegung zu stabilisieren. 4 Mit wachsender Hirnkapazität<br />

lernten unsere menschlichen Vorfahren, mit den Händen Dinge zu halten,<br />

über die in den Händen gehaltenen Dinge nachzudenken und diese<br />

Dinge schließlich auch zu formen. Der Menschenaffe konnte Werkzeuge<br />

machen. Der Mensch macht Kultur.<br />

Bis vor kurzem glaubten Evolutionswissenschaftler, dass der Gebrauch<br />

der Hand und nicht deren Struktur sich mit der wachsenden Größe des<br />

Gehirns veränderte. So schrieb Frederick WoodJones vor einem halben<br />

Jahrhundert: „Nicht die Hand ist vollkommen, sondern der gesamte<br />

Nervenapparat, der die Bewegungen der Hand auslöst, koordiniert und<br />

kontrolliert.“ Und dies habe die Evolution des Homo sapiens ermöglicht. 5<br />

Heute wissen wir, dass auch die physische Struktur der Hand sich in der<br />

jüngeren Geschichte des Menschen entwickelt hat. Der moderne Philosoph<br />

und Arzt Raymond Tallis erklärt die Veränderung zum Teil durch die<br />

beim Menschen im Vergleich zum Schimpansen größere Bewegungsfreiheitim<br />

Gelenk zwischen Trapezbein und Metakarpalknochen. „Wie beim<br />

Schimpansen besteht das Gelenk aus ineinandergreifenden konkaven<br />

und konvexen Flächen, die einen Sattel bilden. Der Unterschied zwischen<br />

uns und den Schimpansen liegt darin, dass die Teile dieses Gelenks beim<br />

Schimpansen enger ineinandergreifen und so die Bewegung behindern,<br />

insbesondere die Opposition des Daumens zu den übrigen Fingern.“ 6 Die<br />

Forschung von John Napier und anderen hat gezeigt, dass die physische<br />

Gegenstellung des Daumens und der übrigen Finger in der Evolutionvon<br />

Homo sapiens immer ausgeprägter wurde und mit sehr feinen Veränderungen<br />

jener Knochen einherging, die den Zeigefingerstützen und stärken.<br />

7<br />

Diese strukturellen Veränderungen ermöglichten unserer Art die einzigartige<br />

körperliche Erfahrung des Greifens. Das Greifen ist eine willentliche<br />

Handlung, Ergebnis einer Entscheidung und keine unwillkürliche Bewegung<br />

wie der Lidschlag. Die Ethnologin Mary Marzke unterscheidet drei<br />

Grundformen des Greifens. Beider ersten fassen wir kleine Gegenstände,<br />

indem wir sie zwischen die Spitze des Daumens und die Innenseite des<br />

Zeigefingers nehmen. Bei der zweiten wiegen wir einen Gegenstand auf<br />

der Handfläche und bewegen ihn mit stoßenden und massierenden Bewegungen<br />

des Daumens und der übrigen Finger. (Zwar beherrschen auch<br />

fortgeschrittene Primaten diese beiden Griffe, aber sie können sie nicht<br />

so gut ausführen wie wir.) Die dritte Grundform ist der Korbgriff, etwa<br />

wenn man einen Ball oder andere größere Gegenstände mit dem Daumen<br />

und sämtlichen anderen Fingern in der hohlen Hand festhält, und diese<br />

Form ist beim Menschen sogar noch höher entwickelt. Der Korbgriff erlaubt<br />

es uns, einen Gegenstand fest in der Hand zu halten, während wir<br />

ihn mit der anderen Hand bearbeiten.


224 — 225<br />

Richard Sennett<br />

8<br />

Mary Marzke: Evolutionary<br />

Development of the<br />

Human Thumb, Hand<br />

Clinics 8, Nr. 1 (Februar<br />

1992), S. 1–8. Siehe auch<br />

Marzke: Precision Grips,<br />

Hand Morphology, and<br />

Tools, American Journal of<br />

Physical Anthropology 102<br />

(1997), S. 91–110.<br />

9<br />

Siehe K. Müller und<br />

V.Homberg, Development<br />

of Speed of Repetitive<br />

Movements in Children…,<br />

Neuroscience Letters 144<br />

(1992), S. 57–60.<br />

Beherrscht ein Tier wie wir erst einmal diese drei Grundformen des<br />

Greifens, übernimmt alles weitere die kulturelle Evolution. Für Marzke<br />

erschien Homo faber erstmals auf der Erde, als jemand die Fähigkeit erwarb,<br />

Dinge mit sicherem Griff zu halten, um sie zu bearbeiten. „Die meisten<br />

Besonderheiten der modernen menschlichen Hand, darunter auch<br />

der Daumen, lassen sich mit den Belastungen verbinden …, zu denen es<br />

durch den Einsatz dieser Griffformen beim Umgang mit Steinwerkzeugen<br />

gekommen sein dürfte.“ 8 Daraus ergibt sich dann das Nachdenken über<br />

die Dinge,die man solcherart im Griff hat. Man sagt von Problemen, dass<br />

man sie „im Griff hat“, und ganz allgemein von geistigen Zusammenhängen,<br />

dass man sie begreift. In beidem spiegelt sich der evolutionäre<br />

Dialog zwischen Hand und Gehirn.<br />

Es gibt indessen ein Problem mit dem Greifen, das besondere Bedeutung<br />

für Menschen besitzt, die ein hohes Maß an technischer Handfertigkeit<br />

entwickeln, die Frage nämlich, wie man loslässt. Wer etwa lernen will, ein<br />

Musikinstrument schnell und sauber zu spielen, muss lernen, wie er die<br />

Finger auch schnell wieder von der Klaviertaste, der Saite oder der Ventilklappe<br />

löst. In ähnlicher Weise müssen wir uns zumindest zeitweise von<br />

einem Problem lösen, um es aus der Distanz zu betrachten und uns dann<br />

erneut an seine Lösung zu machen. Neuropsychologen glauben heute,<br />

dass die physischen und kognitiven Fähigkeiten des Loslassensauch der<br />

Fähigkeit des Menschen zugrunde liegen, sich von Ängsten und Zwangshandlungen<br />

zu lösen. Das Loslassen besitzt auch zahlreiche ethische<br />

Implikationen, etwa wenn wir andere aus unserer Kontrolle – unserem<br />

Griff – entlassen.<br />

Zu den Mythen um hohe technische Fertigkeiten gehört die Vorstellung,<br />

wer technische Meisterschaft erwerbe, müsse einen besonderen Körper<br />

besitzen. Soweit es die Hand betrifft, ist diese Vorstellung nicht ganz<br />

richtig. Die Fähigkeit etwa, die Finger sehr schnell zu bewegen, liegt bei<br />

allen Menschen im Pyramidaltrakt des Gehirns begründet. Jede Hand<br />

lässt sich so trainieren, dass Daumen und Zeigefinger im rechten Winkel<br />

voneinander abgestreckt werden können. Und während kleine Hände für<br />

Cellisten eine wichtige Voraussetzung darstellen, sind sie für Pianisten<br />

ein Handicap, das sie allerdings durch entsprechende Techniken ausgleichen<br />

können. 9 Auch für andere körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten<br />

wie die des Chirurgen ist es nicht erforderlich, dass die Hand von Anfang<br />

an eine besondere Beschaffenheit besäße. Schon Darwin bemerkte vor<br />

langer Zeit, dass physische Begabung einen Ausgangspunkt für das Verhalten<br />

von Organismen darstellt und nicht das Ziel. Das gilt sicher auch<br />

für die technischen Fertigkeiten der Hand. Griffe entwickeln sich beim<br />

Einzelnen in derselben Weise, wie sie sich innerhalb unserer Art entwickelt<br />

haben.<br />

* * *<br />

10<br />

Siehe Charles Sherrington:<br />

The Integrative<br />

Action of the Nervous<br />

System. New York 1906.<br />

Der Tastsinn wirft andere Fragen hinsichtlich der intelligenten Hand auf.<br />

In der Geschichte der Medizin wie auch der Philosophie gibt es eine lange<br />

Debatte über die Frage, ob der Tastsinn dem Gehirn eine andere Art von<br />

Sinneseindrücken liefert als das Auge. Es scheint, dass der Tastsinn aufdringliche,<br />

„ungebundene“ Daten, das Auge dagegen Bilder liefert, die in<br />

einen Rahmen eingebunden sind. Wenn man einen heißen Ofen berührt,<br />

erfährt der gesamte Körper plötzlich einen Schock. Einen schmerzhaften<br />

Anblick kann man dagegen lindern, indem man die Augen schließt. Vor<br />

einem Jahrhundert gab der Biologe Charles Sherrington dieser Diskussion<br />

eine neue Richtung. Er erforschte das „aktive Tasten“, wie er es nannte,<br />

bei dem die Fingerspitzen bewusst über eine Oberfläche geführt werden.<br />

Er sah im Tastsinn einen ebenso aktiven wie reaktiven Sinn. 10<br />

Ein Jahrhundert nach Sherrington haben dessen Forschungen eine weitere<br />

Wende erfahren. Die Finger können einen Gegenstand auch ohne<br />

bewusste Absicht aktiv abtasten, etwa wenn sie nach einem bestimmten<br />

Punkt suchen, der das Gehirn anregt nachzudenken. Man spricht hier von<br />

„lokalisiertem“ Tasten. Einem Beispiel dafür sind wir bereits begegnet,<br />

denn genau so prüfte der mittelalterliche Goldschmied Metalle. Er rollte<br />

und drückte die metallene „Erde“ so lange zwischen den Fingerspitzen,<br />

bis er auf eine Stelle stieß, die ihm unrein erschien. Aus dieser lokalisierten<br />

Sinneswahrnehmung schloss der Goldschmied dann zurück auf die<br />

Natur des betreffenden Stoffes.<br />

Einen Spezialfall lokalisierten Tastens stellen die Schwielen an den Händen<br />

von Menschen dar, die von Berufs wegen manuelle Tätigkeiten verrichten.<br />

Im Prinzip sollten die verhornten Hautschichten den Tastsinn beeinträchtigen.<br />

In der Praxis stellt sich jedoch der umgekehrte Effekt ein.<br />

Da die Schwiele die Nervenenden in der Haut schützt, kann das Tasten<br />

zielstrebiger erfolgen. Obwohl wir die Physiologie dieses Vorgangs noch<br />

nicht ganz verstehen, gilt doch offenbar: Die Schwiele sensibilisiert die<br />

Hand für kleinste räumliche Bereiche und stimuliert das Empfindungsvermögen<br />

der Fingerspitzen. Man könnte sagen, die Schwiele leiste für<br />

die Hand etwas Ähnliches wie das Zoomobjektiv für die Kamera.<br />

Im Blick auf die tierischen Fähigkeiten der Hand glaubte Charles Bell,<br />

die verschiedenen Glieder oder Organe besäßen jeweils eigene Nervenbahnen<br />

zum Gehirn, so dass die Sinne sich voneinander trennen ließen.<br />

Die moderne Neurowissenschaft hat gezeigt, dass diese Vorstellung<br />

falsch ist. Ein neuronales Netz, das Auge, Gehirn und Hand verbindet,<br />

sorgt vielmehr für eine Integration des Tastens, Greifens und Sehens.<br />

So greift das Gehirn beim Betrachten der zweidimensionalen Fotografie<br />

eines Balls auf gespeicherte Informationen zurück, die aus der Erfahrung<br />

stammen, einen Ball in der Hand zu halten. Die Krümmung der Finger<br />

und das von der Hand empfundene Gewicht des Balls helfen dem Gehirn,<br />

in drei Dimensionen zu denken und das flache Objekt aufdem Papier als<br />

Kugel zu sehen.


226 — 227<br />

Richard Sennett<br />

11<br />

Wilson, Die Hand, S. 115.<br />

12<br />

A. P. Martinich: Hobbes:<br />

A Biography. Cambridge<br />

1999.<br />

Prehension<br />

Etwas erfassen<br />

Wenn wir sagen, dass wir „etwas erfassen“, so setzt dies physisch voraus,<br />

dass wir danach greifen. Wenn wir etwa nach einem Glas greifen,<br />

antizipiert die Hand, schon bevor sie die Oberfläche des Glases berührt,<br />

dass es sich um einen runden Gegenstand handelt, den sie in vertrauter<br />

Weise fassen kann. Der Körper ist zum Greifen bereit, bevor er weiß,<br />

ob das, wonach er greift, eiskalt oder kochend heiß ist. Der Fachbegriff<br />

für solche Bewegungen, in denender Körper im Vorgriff auf Sinnesdaten<br />

agiert und sie antizipiert, lautet „Prehension“.<br />

Geistig „erfassen“ wir etwas, wenn wir zum Beispiel eine Gleichung wie<br />

a/d= b+ c nicht nur ausführen, sondern auch verstehen. Geistiges Verstehen<br />

wie auch physisches Handeln erhalten durch Prehension eine besondere<br />

Prägung. Wir warten mit dem Denken nicht, bis alle Informationen<br />

beisammen sind, sondern antizipieren die Bedeutung. Prehension signalisiert<br />

Aufmerksamkeit, Engagement und Risikobereitschaft im Blick<br />

nach vorn. Sie ist das genaue Gegenteil eines vorsichtigen Buchhalters,<br />

der keinen einzigen Finger rührt, bis er nicht alle erforderlichen Zahlen<br />

beisammenhat.<br />

Neugeborene beginnen mit der Prehension schon in der zweiten Lebenswoche,<br />

wenn sie etwa nach Spielsachen greifen, die man ihnen vors Gesicht<br />

hält. Wegen des Zusammenspiels zwischen Auge und Hand nimmt<br />

die Prehension zu, wenn das Kind den Kopf heben kann, da es dann besser<br />

sieht, wonach es greift. In den ersten fünf Lebensmonaten entwickelt<br />

die Hand des Kindes die neuromuskuläre Fähigkeit, sich unabhängig in<br />

Richtung des gesehenen Gegenstands zu bewegen, und in den folgenden<br />

fünf Monaten die Fähigkeit, verschiedene Greifpositionen einzunehmen.<br />

Beide Fähigkeiten hängen mit der Entwicklung des Pyramidaltrakts zusammen,<br />

einer Verbindung zwischen dem primären motorischen Kortex<br />

und dem Rückenmark. Gegen Ende des ersten Lebensjahres, so schreibt<br />

Frank Wilson, „ist die Hand zur lebenslangen Erkundung bereit“. 11<br />

Die sprachlichen Ergebnisse der Prehension illustriert ein Experiment,<br />

das der Philosoph Thomas Hobbes mit den Kindern der Familie Cavendish<br />

durchführte. Hobbes schickte seine Schützlinge, deren Hauslehrer<br />

er war, in ein abgedunkeltes Zimmer, in dem er diverse Gegenstände deponiert<br />

hatte, mit denen die Kinder nicht vertraut waren. Nachdem sie<br />

die Gegenstände betastet hatten,rief er sie aus dem Zimmer und ließ sie<br />

beschreiben, was siemit ihren Händen „gesehen“ hatten. Er stellte fest,<br />

dass die Kinder präzisere Ausdrücke benutzten als bei der Beschreibung<br />

von Dingen, die sie bei Licht gesehen hatten. Hobbes erklärte dies unter<br />

anderem durch den Umstand, dass sie im Dunkeln „nach Bedeutung<br />

griffen“ – dieser Reiz half ihnen dann im Hellen, als die unmittelbaren<br />

Empfindungen bereits „zerfallen“ waren, treffende Worte zu finden. 12<br />

Ein Vorgreifen im Sinne der Prehension schafft Tatsachen, zum Beispiel<br />

13<br />

Beryl Markham: West<br />

with the Night. London<br />

1984; dt.: Westwärts<br />

mit der Nacht. München<br />

1987.<br />

14<br />

Siehe Tallis: The Hand,<br />

Elftes Kapitel, insb. S.<br />

329–331.<br />

15<br />

Siehe Shin’ichi Suzuki:<br />

Nurtured by Love: A<br />

New Approach to Talent<br />

Education. Miami, Fl.,<br />

1968; dt.: Erziehung<br />

ist Liebe: eine neue<br />

Erziehungsmethode.<<br />

Kassel 1994.<br />

wenn die Handzeichen des Dirigenten dem Ton um einen Augenblick<br />

vorausgehen. Gäbe er das Handzeichen für einen Taktschlag genau zum<br />

richtigen Zeitpunkt, führte er das Orchester gar nicht, denn der Ton wäre<br />

längst gespielt. Die Schläger beim Kricket erhalten gleichfalls den Rat,<br />

dem Schlag voraus zu sein. In Beryl Markhams bemerkenswerten Memoiren<br />

West with the Night (Westwärts mit der Nacht) findet sich noch<br />

ein weiteres Beispiel. Zu einer Zeit, als die Piloten bei ihren Flügen kaum<br />

auf Instrumente zurückgreifen konnten, stellte Markham sich bei ihren<br />

Flügen durch die afrikanische Nacht vor, sie hätten das geplante Flugmanöver<br />

wie einen Steigflug oder eine Kurve bereits hinter sich. 13 All diese<br />

technischen Meisterleistungen basieren auf dem, was jeder tut, wenn er<br />

nach einem Glas greift.<br />

Die bislang vollständigste Darstellung der Prehension hat Raymond Tallis<br />

gegeben. Er gliedert das Phänomen in vier Dimensionen: Antizipation, wie<br />

sie geschieht, wenn die nach einem Glas greifende Hand sich vorweg entsprechend<br />

formt; Berührung, wenn das Gehirn Sinnesdaten im Bereich des<br />

Tastsinns erhält; sprachliches Erkennen, wenn man den ergriffenen Gegenstand<br />

benennt; und schließlich Nachdenken über das, was man getan<br />

hat. 14 Tallis behauptet nicht, dass all dies bewusst geschehen müsste.<br />

Die Orientierung kann auf den Gegenstand fokussiert bleiben. Die Hand<br />

weiß genau das, was sie tut. Den vier von Tallis genannten Dimensionen<br />

möchte ich noch eine weitere hinzufügen: die Bedeutungen, die sich durch<br />

große technische Handfertigkeit entwickeln lassen.<br />

Tugenden der Hand<br />

An der Fingerspitze<br />

Wahrhaftigkeit<br />

Wenn ein Kind ein Streichinstrument zu spielen lernt, weiß es zunächst<br />

nicht, wohin es die Finger auf dem Griffbrett setzen soll, um einen bestimmten<br />

Ton präzise zu erzeugen. Die nach dem japanischen Musikpädagogen<br />

Suzuki Shin’ichi benannte Suzuki-Methode löst dieses Problem durch dünne<br />

farbige Plastikstreifen, die auf das Griffbrett geklebt werden. Die junge<br />

Geigenschülerin legt den Finger auf diesen farbigen Streifen, um einen bestimmten<br />

Ton zu erzielen. Die Methode legt das Schwergewicht von Anfang<br />

an auf die Schönheit des Tons oder, wie Suzuki dies nannte, die „Intonierung“,<br />

ohne sich um die komplizierten Details der Erzeugung eines schönen Tons zu<br />

kümmern. Die Bewegung der Hand wird durch das fest vorgegebene Ziel für<br />

die Fingerspitze bestimmt. 15<br />

Diese benutzerfreundliche Methode stärkt das individuelle Zutrauen. Schon<br />

nach der vierten Stunde kann das Kind ein Kinderlied wie „Twinkle, Twinkle,<br />

Little Star“ bestens spielen. Und sie stärkt das gemeinschaftliche Zutrauen,<br />

denn ein ganzes Streichorchester aus Siebenjährigen vermag das Kinderlied<br />

zu spielen, weil jeder genau weiß, was die Hand zu tun hat. Diese beglückende<br />

Zuversicht schwindet allerdings, sobald man die Streifen entfernt.


228 — 229<br />

Richard Sennett<br />

Eigentlich sollte man erwarten, dass die eingeschliffene Gewohnheitsich<br />

auch auf die Präzision erstreckt und die Finger auf dem nicht<br />

mehr markierten Griffbrett genau die Stelle träfen, an denen sich der<br />

Streifen befunden hatte. In Wirklichkeit jedoch versagt eine solcherart<br />

mechanische Gewohnheit, und das aus einem physischen Grund. Die<br />

Suzuki-Methode dehnt die kleinen Hände seitlich am Knöchelkamm,<br />

sie sensibilisiert jedoch nicht die Fingerspitze, die letztlich die Saite<br />

nach unten drückt. Da die Fingerspitze das Griffbrett nicht kennt,<br />

erklingen falsche Töne, sobald die Streifen entfernt werden. In der<br />

technischen Fingerfertigkeit ist es wie in der Liebe: Unschuldige Zuversicht<br />

führt nicht weit. Eine weitere Komplikation ergibt sich, wenn<br />

der Spielende auf das Griffbrett schaut, um zu sehen, wohin er die<br />

Fingerspitze setzen soll. Das Auge wird auf dieser glatten schwarzen<br />

Fläche keine Antwort finden. Deshalb klingt ein Kinderorchester wie<br />

ein jaulender Mob, wenn die Markierungsstreifen abgenommen werden.<br />

Das Problem liegt hier in der falschen Sicherheit. Die Schwierigkeiten<br />

des musizierenden Kindes erinnern an Victor Weisskopfs Warnung an<br />

erwachsene Wissenschaftler und Techniker, der Computer verstehe<br />

die Antwort, „aber ich glaube nicht, dass Sie die Antwort verstehen“.<br />

Eine weitere Analogie zu den farbigen Markierungen wäre das Rechtschreib-<br />

und Grammatikprogramm eines Computerschreibprogramms.<br />

Wer es benutzt, lernt nicht, weshalb eine grammatische Konstruktion<br />

der anderen vorzuziehen ist.<br />

Suzuki war sich des Problems der falschen Sicherheit durchaus bewusst.<br />

Er empfahl, die farbigen Streifen zu entfernen, sobald das Kind<br />

erlebt hat, welchen Spaß das Musizieren macht. Als musikalischer Autodidakt<br />

(sein Interesse an der Musik erwachte, als er Ende der 1940er<br />

Jahre eine Aufzeichnung des Ave Maria von Franz Schubert in einer<br />

Interpretation von Mischa Elman hörte) wusste Suzuki aus eigener Erfahrung,<br />

dass die Wahrhaftigkeit in den Fingerspitzen liegt: Der Tastsinn<br />

ist der Richter über den Ton. Auch hier findet sich eine Parallele<br />

zur Probe des Goldschmieds, der das Material mit den Fingerspitzen<br />

erforscht und so der falschen Sicherheit des ersten Blicks entgeht.<br />

Wir möchten wissen, welche Art Wahrheit solche falsche Sicherheit<br />

verhindert.<br />

In der Musik arbeiten Ohr und Fingerspitze gemeinsam an dieser<br />

Probe. Recht trocken ausgedrückt: Der Musiker berührt die Saite in unterschiedlicher<br />

Weise, er hört die verschiedenen Wirkungen und sucht<br />

dann nach einer Möglichkeit, den gewünschtenTon zu reproduzieren.<br />

In der Realität ist dies zuweilen ein schwieriger und schmerzhafter<br />

Kampf um die Frage: „Was habe ich da eigentlich gemacht? Wie kann<br />

ich es wiederholen?“ Die Fingerspitze ist hier kein bloßes Werkzeug.<br />

Bei dieser Art der Berührung sucht man den Rückweg von der Sinneswahrnehmung<br />

zum Vorgehen, von der Wirkung zur Ursache.<br />

16<br />

D.W. Winnicott: Playing<br />

and Reality. London 1971;<br />

dt.: Vom Spiel zur Kreativität.<br />

Stuttgart 1973; John<br />

Bowlby: A Secure Base:<br />

Parent-Child Attachment<br />

and Healthy Human Development,<br />

London 1988;<br />

dt.: Elternbindung und<br />

Persönlichkeitsentwicklung.<br />

Heidelberg 1995.<br />

Was folgt nun daraus für jemanden, der nach diesem Grundsatz handelt?<br />

Stellen wir uns einen Jungen vor, der ohne Hilfe farbiger Markierungen<br />

darum kämpft, die richtigen Töne zu treffen. Er scheint eine Note ganz<br />

genau zu treffen, aber dann sagt ihm das Ohr, dass die nächste mit dieser<br />

Fingerstellung gespielte Note schief klingt. Für dieses Problem gibt<br />

es einen physischen Grund. Bei allen Streichinstrumenten verkürzt sich<br />

die Saite, wenn man sie hinunterdrückt, und entsprechend muss auch<br />

der Abstand zwischenden Fingern verkürzt werden. Das Feedback des<br />

Ohrs schickt das Signal, dass es einer seitlichen Anpassung am Knöchelkamm<br />

bedarf (eine berühmte Übung in den Études von Jean-Pierre<br />

Duport erkundet das Wechselspiel zwischen der Verringerung der seitlichen<br />

Spannweite und der Aufrechterhaltung der Rundung in der Hand<br />

des Cellisten, während sie über alle Saiten und die gesamte Länge des<br />

Griffbretts wandert). Durch Versuch und Irrtum mag der Neuling auch<br />

ohne Markierungen lernen, wie er den Knöchelkamm zusammenziehen<br />

kann, doch eine Lösung ist auch dann nicht in Sicht. Er hält die Hand im<br />

rechten Winkel zum Griffbrett, und vielleicht sollte er nun versuchen,<br />

die Handfläche in Richtung der Wirbel leicht zu höhlen. Das hilft. Nun<br />

trifft er den richtigen Ton, weil die Neigung einen Ausgleich für die<br />

unterschiedliche Länge des Zeige- und des Mittelfingers schafft. (Außerdem<br />

strafft ein vollkommen rechtwinkliger Ansatz den längeren Mittelfinger.)<br />

Doch diese neue Stellung verdirbt die Lösung, die er für das<br />

Problem der seitlichen Knöchelstellung gefunden hatte. Und so geht es<br />

weiter. Jedes neue Problem beim Spielen korrekter Töne zwingt ihn, die<br />

bisherigen Lösungen zu überdenken.<br />

Was könnte ein Kind motivieren, einen so anspruchsvollen Weg zu<br />

gehen? Eine Psychologenschule behauptet, Motivation basiere auf einer<br />

für jegliche menschliche Entwicklung grundlegenden Erfahrung. Das<br />

Urereignis der Trennung könne jeden jungenMenschen lehren, neugierig<br />

zu sein. Diese Forschungen waren Mitte des 20. Jahrhunderts mit den<br />

Namen D.W. Winnicott und John Bowlby verknüpft, zwei Psychologen,<br />

die sich für die frühesten menschlichen Erfahrungen der Bindung und<br />

der Trennung interessierten, angefangen bei der Loslösung des Säuglings<br />

von der Mutterbrust. 16 Nach der Volkspsychologie führt der Verlust<br />

dieser Bindung zu Angst und Trauer. Die beiden britischen Psychologen<br />

wollten zeigen, dass es sich um einen weitaus komplexeren Vorgang<br />

handelt.<br />

Winnicott behauptete, wenn das Kleinkind nicht mehr eins mit dem Körper<br />

der Mutter sei, werde es auf neuartige Weise stimuliert und wende<br />

sich nach außen. Bowlby beobachtete in Kinderkrippen Kleinkinder, um<br />

herauszufinden, welchen Einfluss Trennung auf den Umgang der Kinder<br />

mit unbelebten Objekten hat. Mit größter Sorgfalt beobachtete er alltägliche<br />

Aktivitäten, denen man bis dahin kaum Einfluss beigemessen<br />

hatte. Für unsere Fragestellung ist ein Aspekt dieser Forschung besonders<br />

interessant.


230 — 231<br />

Richard Sennett<br />

Beide Psychologen betonten die Energie, die Kleinkinder in „Übergangsobjekte“<br />

investieren – ein Fachausdruck für die menschliche Fähigkeit,<br />

sich für Menschen oder materielle Objektezu interessieren, die sich<br />

ihrerseits verändern. Als Psychotherapeuten versuchten die Vertreter<br />

dieser psychologischen Schule erwachsenen, auf ein kindliches Sicherheitstrauma<br />

fixierten Patienten zuhelfen, mit veränderlichen zwischenmenschlichen<br />

Beziehungen besser zurechtzukommen. Doch die Idee<br />

des „Übergangsobjekts“ macht auch deutlich, was wirklich Neugier auszulösen<br />

vermag: eine ungewisse oder instabile Erfahrung. Ein Kind, das<br />

mit der Unsicherheit der Erzeugung von Tönen oder dem Erwerb jeder<br />

anspruchsvollen Handfertigkeit zu kämpfen hat, bildet jedoch einen Sonderfall,<br />

denn es scheint in einen endlosen, kaum strukturierten Prozess<br />

verwickelt zu sein, für den es allenfalls vorläufige Lösungen gibt, so dass<br />

dem Musiker das Gefühl zunehmender Kontrolle und die emotionale Erfahrung<br />

von Sicherheit versagt bleiben.<br />

Aber ganz so schlimm ist es denn auch wieder nicht, denn der Musiker<br />

muss einem objektiven Maßstab genügen: Er muss den Ton treffen. Wie<br />

bei den im ersten Kapitel beschriebenen politischen Vorgaben könnte<br />

man behaupten, nur mit festgelegten objektiven Wahrheitsmaßstäben<br />

lasse sich ein hohes Maß an technischen Fertigkeiten erwerben. In der<br />

Musik brauchte man nur daraufzu verweisen, dass der Glaube an Korrektheit<br />

die technische Verbesserung vorantreibt. Aus der Neugier für<br />

Übergangsobjekte wird eine Definition dessen, was sie sein sollten. Die<br />

Qualität des Klangs ist solch ein Maßstab für Korrektheit – selbst in Suzukis<br />

Augen. Deshalb beginnt er bei der Intonierung. Der Glaube an technische<br />

Korrektheit und das Streben danach sorgen dann fürden Ausdruck.<br />

In der Musik kommt es zu diesem Übergang, wenn die Maßstäbe sich von<br />

physischen Ereignissen wie dem Spielen eines guten Tons hin zu stärker<br />

ästhetischen Maßstäben wie einer wohlgeformten Phrase entwickeln.<br />

Natürlich sagen uns spontane Entdeckungen und glückliche Zufälle, wie<br />

ein Musikstück klingen sollte. Dennoch müssen Komponist und Musiker<br />

über Kriterien verfügen, mit denen sie glückliche Zufälle erkennen und<br />

mit denen sie bestimmen können, welche davon glücklicher sind als andere.<br />

Bei der Entwicklung der Technik verwandeln wir Übergangsobjekte<br />

in Definitionen, auf deren Grundlage wir dann Entscheidungen treffen.<br />

Von Komponisten und Musikern sagt man, sie hörten mit dem „inneren<br />

Ohr“, doch diese immaterielle Metapher führt in die Irre. Berühmte Beispiele<br />

dafür sind Komponisten wie Arnold Schönberg, die selbst schockiert<br />

waren, als sie die Musik hörten, die sie auf dem Blatt komponiert<br />

hatten. Gleiches gilt für Musiker. Auch für sie ist das Studium der Partitur<br />

eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Vorbereitung auf die<br />

tatsächliche Darbietung. Der Klang ist der eigentliche Augenblick der<br />

Wahrheit.<br />

Der Klang ist deshalb auch der Augenblick, in dem der Musiker Fehler<br />

erkennt. Als Musizierender spüre ich den Fehler in den Fingerspitzen–<br />

und versuche, ihn zu korrigieren. Ich verfüge über Maßstäbe, wie etwas<br />

klingen soll, doch meine Wahrhaftigkeit liegt in der schlichten Wahrnehmung,<br />

dass ich Fehler mache. In wissenschaftlichen Diskussionen wird<br />

diese Wahrnehmung oft auf das Klischee reduziert, wonach man „aus<br />

seinen Fehlern lernt“. Die musikalische Technik zeigt, dass die Dinge<br />

nicht so einfach sind. Ich muss bereit sein, Fehler zu machen und falsche<br />

Noten zu spielen, um sie am Ende richtig spielen zu können. Die Verpflichtung<br />

auf solche Wahrhaftigkeit geht der junge Musiker ein, wenn er<br />

die Suzuki-Streifen abnimmt.<br />

Beim Spielen eines Musikinstruments besitzt die Rückkopplung zwischen<br />

Fingerspitze und Handfläche eine merkwürdige Konsequenz: Sie<br />

bietet ein festes Fundament für die Entwicklung physischer Sicherheit.<br />

Ein Üben, das auf Fehler an der Fingerspitze sogleich reagiert, steigert<br />

das Selbstvertrauen. Vermag der Musiker etwas mehr als ein Mal korrekt<br />

zu tun, hat er keine Angst mehr vor Fehlern. Und zugleich besitzt<br />

er damit einen Gegenstand, über den er nachdenken und den er durch<br />

Variation im Blick auf Gleichheit oder Unterschiede erkunden kann. Das<br />

Üben wird so zu einer Geschichte statt zu bloßer Wiederholung. Die hart<br />

erarbeiteten Bewegungen prägen sich dem Körper immer tiefer ein, und<br />

der Spieler erwirbt Schritt für Schritt immer größere Fertigkeiten. Bei der<br />

Markierung durch die Streifen wird das Üben dagegen bald langweilig,<br />

weil hier ein und dasselbe ständig wiederholt wird. Da wundertes nicht,<br />

wenn die Handfertigkeit unter diesen Bedingungen eher abnimmt.<br />

Die Angst vor Fehlern zu verringern ist in unserer Kunst von größter Bedeutung,<br />

da der Musiker auf der Bühne nicht gelähmt einhalten kann,<br />

wenn er einen Fehler macht. Bei der Darbietung von Musik ist die Zuversicht,<br />

dass man sich von einem Fehler erholen wird, kein Persönlichkeitsmerkmal,<br />

sondern eine erlernte Fähigkeit.<br />

Die Entwicklung der musikalischen Technik erweist sich demnach als<br />

Wechselspiel zwischen korrektem Spiel und der Bereitschaft, zu experimentieren<br />

und dabei Fehler zu machen. Die beiden Seiten lassen sich<br />

nicht voneinander trennen. Wenn man einem jungen Musiker nur den<br />

korrekten Weg vorgibt, erwirbt er eine falsche Sicherheit. Wenn er nach<br />

Belieben seiner Neugier und dem Fluss des Übergangsobjekts folgt, wird<br />

er niemals besser werden.<br />

* * *<br />

Dieser Dialog verweist auf einen der Prüfsteine handwerklichen Könnens,<br />

den Einsatz „gebrauchsfertiger“ Verfahren oder Werkzeuge. Dabei versucht<br />

man, alle Verfahren zu eliminieren, die nicht dem vorbestimmten<br />

Zweck dienen. Dieser Gedanke stand schon hinter Diderots Tafeln zur Papierherstellung<br />

in L’Anglée, auf denen keinerlei Abfälle oder Papierreste<br />

zu sehen sind. Programmierer sprechen heute von Systemen ohne hiccups<br />

(Schluckauf). Die Suzuki-Streifen sind eine Vorrichtung, die solche


232 — 233<br />

Richard Sennett<br />

Gebrauchsfertigkeit herstellen soll. Wir sollten in Gebrauchsfertigkeit<br />

eher eine Leistung als einen Ausgangspunkt erblicken. Um dieses Ziel zu<br />

erreichen, muss der Arbeitsprozess dem ordnungsliebenden Geist etwas<br />

Unangenehmes antun – er muss ihm zumuten, sich zeitweilig auf chaotische<br />

Zustände einzulassen: auf falsche Wege, verpatzte Anfänge und<br />

Sackgassen. Aber in Wirklichkeit ist dieses Durcheinander für den experimentierenden<br />

Handwerker in der Technik wie in der Kunst weit mehr<br />

als bloßes Chaos. Er produziert es, um seine Arbeitsverfahren besser zu<br />

verstehen.<br />

Gebrauchsfertiges Handeln bildet den Rahmen für Prehension. Prehension<br />

scheint die Hand auf ihren zielgerichteten Gebrauch vorzubereiten,<br />

doch das ist nur ein Teil der Geschichte. Beim Musizieren bereiten wir<br />

uns zwar vor, aber wir können nicht zurück, wenn unsere Hand das angestrebte<br />

Ziel nicht erreicht. Wollen wir das korrigieren, müssen wir bereit<br />

sein und sogar wünschen, noch etwas länger bei einem Fehler zu verharren,<br />

um ganz zu verstehen, was an der ursprünglichen Vorbereitung<br />

falsch war. Das vollständige Szenario für eine die Fertigkeit verbessernde<br />

Übung besteht also aus folgenden drei Elementen: vorbereiten, Fehler<br />

erkunden, zur Form finden. In dieser Geschichte wird Gebrauchsfertigkeit<br />

nicht vorausgesetzt, sondern erst geschaffen.<br />

Die beiden Daumen<br />

Aus der Koordination entsteht Kooperation<br />

Ein bleibendes Merkmal des Handwerkers findet sich in der bildlichen<br />

Darstellung der Werkstatt. Diderot idealisierte auf den Tafeln zur Papierherstellung<br />

in L’Anglée die Kooperation. Die Menschen dort arbeiten<br />

harmonisch zusammen. Hat solche Zusammenarbeit eine körperliche<br />

Grundlage? In den Sozialwissenschaften ist man dieser Frage in jüngster<br />

Zeit meist im Zusammenhang mit Diskussionen um Altruismus nachgegangen.<br />

Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob altruistisches Verhalten<br />

beim Menschen genetisch verankert ist. Ich möchte in eine andere<br />

Richtung fragen: Was könnte die Erfahrung körperlicher Koordination für<br />

diesoziale Kooperation bedeuten? Konkretisieren lässt sich diese Frage,<br />

indem wir erkunden, wie die beiden Hände koordiniert werden und miteinander<br />

kooperieren.<br />

Die Finger der Hand besitzen nicht alle die gleiche Kraft und Biegsamkeit,<br />

was deren Koordination erschwert. Das gilt selbst für die beiden<br />

Daumen, deren Fähigkeiten davon abhängen, ob man Rechts- oder Linkshänder<br />

ist. Wer ein hohes Niveau der Handfertigkeit entwickelt, kann<br />

diese Ungleichheit kompensieren. Finger und Daumen verrichten dann<br />

eine Arbeit, die andere Finger von sich aus nicht zu leisten vermögen.<br />

In der Wendung „eine helfende Hand“ findet diese physische Erfahrung<br />

ihren Ausdruck. Die kompensatorische Leistung der Hände legt den Gedanken<br />

nahe, dass brüderliche Kooperation nicht davon abhängt, ob die<br />

17<br />

David Sudnow: Ways of the<br />

Hand: A Rewritten Account.<br />

2. Ausg. Cambridge, Mass.:<br />

2001.<br />

Beteiligten über dieselben Fertigkeiten verfügen. Als Beispiel werde ich<br />

auch hier die Musik heranziehen, um die Koordination und Kooperation<br />

zwischen Ungleichen zu erforschen, aber statt der Streichinstrumente<br />

will ich das Klavier betrachten.<br />

* * *<br />

Die wechselseitige Unabhängigkeit der Hände ist beim Klavierspielen ein<br />

zentrales Thema, ebenso die wechselseitige Unabhängigkeit der Finger.<br />

Einfache Klaviermusik weist die Melodie häufig dem vierten und fünften<br />

Finger der rechten, die Begleitung dem vierten und fünften Finger der<br />

linken Hand zu, das heißt den jeweils schwächsten Fingern. Diese Finger<br />

müssen stärker werden, während der Daumen, der stärkste Finger an<br />

beiden Händen, lernen muss, seine Kraft zurückzuhalten. Anfängern gibt<br />

man meist gnädig Stücke zu spielen, die der rechten Hand eine größere<br />

Rolle zuweisen als der linken. Zu Beginn hat also der Klavierspieler bei<br />

der Koordinierung der Hände mit Problemen der Ungleichheit zu kämpfen.<br />

Beim Jazzpiano ist die körperliche Herausforderung noch größer. Der moderne<br />

Klavierjazz verteilt Melodie und Harmonie nur noch selten auf die<br />

beiden Hände, wie es beim Barrelhouse-Blues der Fall war. Die Rhythmen<br />

werden heute vielfach mit der linken Hand statt wie früher mit der rechten<br />

gespielt. Als der Pianist und Philosoph David Sudnow Jazz zu spielen<br />

begann, entdeckte er, welche schwierigen Koordinationsprobleme sich<br />

dabei ergeben konnten. In seinem bemerkenswerten Buch Ways of the<br />

Hand berichtetder klassisch ausgebildete Sudnow, wie er sich in einen<br />

Jazzpianisten verwandelte. Anfangs schlug er einen Weg ein, der zwar<br />

logisch, aber dennoch falsch war. 17<br />

Wenn man auf dem Klavier Jazz spielt, muss die linke Hand häufiger zwischen<br />

einer weiten Spreizung der Finger und einer engen Fingerstellung<br />

abwechseln, um die für diese Kunst typischen Harmonien zu erzeugen.<br />

Sudnow begann ganz logisch, indem er den Wechsel zwischen weiter und<br />

enger Fingerstellung übte. Entsprechend übte er auch mit der rechten<br />

Hand die schnelle seitliche Bewegung über weite Bereiche der Tastatur,<br />

die hüpfende Bewegung, die im traditionellen Jazz als stride bezeichnet<br />

wird. Im moderneren Jazz hält man das rhythmische Pulsieren im Fluss,<br />

indem man rasch in die höheren Lagen springt.<br />

Diese technischen Probleme in ihre Bestandteile aufzulösen erwies sich<br />

als kontraproduktiv. Die Zerlegung half ihm kaum, wenn es darum ging,<br />

mit der linken Hand die enge Fingerstellung zu realisieren und gleichzeitig<br />

mit der rechten in stride-Manier zu hüpfen. Und schlimmer noch, er<br />

übertrieb die Vorbereitung durch getrenntes Üben, und das kann tödlich<br />

für das Improvisieren sein. Weil er mit beiden Händen getrennt arbeitete,<br />

bekam er Schwierigkeiten mit den Daumen. Die Daumen sind für den<br />

Jazzpianisten die wertvollsten Finger, seine Anker auf der Tastatur. Aber


234 — 235<br />

Richard Sennett<br />

18<br />

Ebda., S. 84.<br />

19<br />

Zu einer interessanten<br />

Diskussion dieses<br />

Phänomens siehe Julie<br />

Lyonn Lieberman: The<br />

Slide, Strad 116 (Juli<br />

2005), S. 69.<br />

20<br />

Siehe Michael C.<br />

Corballis: The Lopsided<br />

Ape: Evolution of the<br />

Generative Mind. New<br />

York 1991.<br />

21<br />

Yves Guiard: Asymmetric<br />

Division of Labor in<br />

Human Bimanual Action,<br />

Journal of Motor Behavior<br />

19, Nr. 4 (1987), S.<br />

488–502.<br />

nun, da sie der Verankerung von Schiffen unterschiedlicher Größe dienen<br />

sollten, die jeweils auch noch ihren eigenen Kurs steuerten, konnten die<br />

beiden Daumen nicht mehr zusammenarbeiten.<br />

Sudnow hatte ein Heureka-Erlebnis, als er entdeckte, dass „eine einzige<br />

Note vollkommen ausreichte“, um ihm Orientierung zu bieten. „Man<br />

konnte eine Note während der Dauer eines Akkords spielen und eine weitere<br />

gleich danach für die Dauer des nächsten Akkords, und so ließ sich<br />

die Melodie spielen.“ 18 Technisch heißt dies, dass alle Finger wie Daumen<br />

zu arbeiten und die beiden Daumen miteinander zu interagieren beginnen,<br />

wobei sie im Bedarfsfall die Rolle des jeweils anderen übernehmen.<br />

Nach diesem Heureka-Erlebnis veränderte Sudnow seine Übungspraxis.<br />

Er benutzte nun alle Finger als echte Partner. Wenn einer der Finger<br />

zu schwach oder zu stark war, bat er einen anderen, die Aufgabe<br />

zu übernehmen. Fotografien, die Sudnow beim Spielen zeigen, dürften<br />

konventionelle Klavierlehrer mit Entsetzen erfüllen. Er wirkt vollkommen<br />

verdreht. Doch wenn man ihn hört, spürt man die Leichtigkeit seines<br />

Spiels. Und diese Leichtigkeit erzielte er, weil er beim Üben zu einem bestimmten<br />

Zeitpunkt die Koordination zum Ziel der Übung machte.<br />

Es gibt einen biologischen Grund, weshalb die Koordination ungleicher<br />

Glieder funktioniert. Das Corpus callosum verbindet den motorischen<br />

Kortex der linken Hirnhälfte mit dem der rechten. Über diese Verbindung<br />

werden Informationen über die Steuerung der Körperbewegungen<br />

zwischen beiden Hirnhälften ausgetauscht. Das gesonderte Üben beider<br />

Hände führt zu einer Schwächung dieses Austauschs. 19<br />

Auch die Kompensation besitzt eine biologische Grundlage. Man hat<br />

Homo sapiens als den „asymmetrischen Affen“ bezeichnet. 20 Die physische<br />

Prehension ist asymmetrisch. Wir greifen eher mit einer bestimmten<br />

Hand nach Dingen – die meisten Menschenmit der rechten. Bei dem von<br />

Mary Marzke beschriebenen Korbgriff hält die schwächere Hand den<br />

Gegenstand, während die stärkere ihn bearbeitet. Der französische Psychologe<br />

Yves Guiardhat untersucht, wie man dieser Asymmetrie begegnen<br />

kann, und ist dabei zu überraschenden Ergebnissen gelangt. 21 Die<br />

Stärkung der schwächeren Hand gehört, wie zu erwarten, dazu, aber dies<br />

allein reicht nicht aus, um der schwächeren Hand größere Geschicklichkeitzu<br />

verleihen. Vielmehr muss die stärkere Hand ihre Stärke neu kalibrieren,<br />

damit die schwächere Hand größere Geschicklichkeit entwickeln<br />

kann. Dasselbe gilt für die Finger. Der Zeigefinger etwa muss lernen, wie<br />

der Ringfinger zu denken, um „aushelfen“ zu können. Ebenso die beiden<br />

Daumen. Wir hören, dass Sudnows beide Daumen zusammenarbeiten,<br />

doch physiologisch hält der stärkere Daumen seine Spannkraft zurück.<br />

Das ist noch wichtiger, wenn der Daumen dem schwachen Ringfinger beispringt.<br />

Dann muss er sich wie ein Ringfinger verhalten. Ein Arpeggio zu<br />

spielen, bei dem der starke linke Daumen dem schwächeren kleinen Finger<br />

der rechten Hand zu Hilfe kommt, ist wohl die physisch anspruchsvollste<br />

Aufgabe bei der kooperativen Koordination.<br />

22<br />

Zu dieser Geschichte<br />

siehe Michael Symons:<br />

A History of Cooks and<br />

Cooking. London 2001,<br />

S. 144.<br />

23<br />

Norbert Elias: Über den<br />

Prozeß der Zivilisation, 2<br />

Bde. Frankfurt am Main<br />

1976, Bd. 1, S. 164.<br />

Die Koordination der Hände macht deutlich, wie falsch die Vorstellung<br />

ist, wonach man technische Beherrschung erlangt, indem man von den<br />

Teilen zum Ganzen fortschreitet. Zuerst perfektioniert man jede Teilfähigkeit<br />

gesondert und setzt die Teile anschließend zusammen – als<br />

glichen technische Fertigkeiten der industriellen Fließbandproduktion.<br />

Die Koordinierung der Hände funktioniert nur schlecht, wenn man sie auf<br />

diese Weise organisiert und sie aus gesonderten individualisierten Tätigkeiten<br />

zusammenzusetzen versucht. Weit besser funktioniert sie, wenn<br />

beide Hände von Anfang an zusammenarbeiten.<br />

Das Arpeggio bietet uns auch Aufschluss über jene Brüderlichkeit, die<br />

Diderot wie nach ihm auch Saint-Simon, Fourier und Robert Owen idealisierte:<br />

die Brüderlichkeit von Menschen, die über dieselben Fähigkeiten<br />

verfügen. Deren Bindung wird erst dann wirklich auf die Probe gestellt,<br />

wenn sie erkennen, dass sie diese Fähigkeit in unterschiedlichem Maße<br />

besitzen. Die „brüderliche Hand“ steht für die Zurückhaltung der stärkeren<br />

Finger, in der Yves Guiard das entscheidende Moment bei der<br />

physischen Koordination erblickt. Findet auch dieser Umstand seine Widerspiegelung<br />

im sozialen Bereich? Der Hinweis lässt sich weiter klären,<br />

wenn wir die Rolle des minimalen Kraftaufwands bei der Entwicklung von<br />

Handfertigkeiten besser verstehen.<br />

Hand – Handgelenk – Unterarm<br />

Die Lehre des minimalen Kraftaufwands<br />

Zur Klärung des minimalen Kraftaufwands wollen wir einen Blick auf eine<br />

andere qualifizierte Handarbeit werfen, die des Kochs.<br />

Archäologen haben geschärfte, zum Schneiden bestimmte Steine gefunden,<br />

die 2,5 Millionen Jahre alt sind. Bronzemesser wurden schon vor<br />

mindestens 6000 Jahren, Messer aus Schmiedeeisen vor mindestens<br />

3500 Jahren hergestellt. 22 Eisen ließ sich besser gießen als Bronze,<br />

und die daraus hergestellten Messer ließen sich leichter schärfen. Die<br />

heutigen, aus gehärtetem Stahl hergestellten Messer erfüllen die Grundanforderung<br />

der Schärfe. Das Messer galt, wie der Soziologe Norbert<br />

Elias bemerkt, immer schon als „ein gefährliches Instrument“, als „eine<br />

Angriffswaffe“, die in Friedenszeiten in allen Kulturen mit einer „Unzahl<br />

von Verboten oder Tabus“ belegt wurde, vor allem wenn es im Haushalt<br />

Verwendungfand. 23 Wenn wir den Tisch decken, legen wir deshalb das<br />

Messer so, dass die Schneide zum Teller zeigt und nicht nach außen, wo<br />

sie eine Gefahr für unseren Tischnachbarn darstellen könnte.<br />

Wegen seiner potenziellen Gefährlichkeit wird das Messer und dessen<br />

Gebrauch seit langem schon symbolisch mit Selbstbeherrschung assoziiert.<br />

So rät C. Calviac in seinem Traktat Civilité von 1560, das Kind<br />

solle „sein Fleisch auf dem Schneidbrett in kleine Stücke schneiden“ und<br />

die Stücke dann „mit der rechten Hand …und nur mit drei Fingern“ zum<br />

Munde führen. Dieses Verhalten sollte an die Stelle der früheren Praxis


236 — 237<br />

Richard Sennett<br />

24<br />

Ebda., S. 119–121.<br />

25<br />

David Knechtges: A<br />

Literary Feast: Food in<br />

Early Chinese Literature,<br />

Journal of the American<br />

Oriental Society 106<br />

(1986), S. 49–63.<br />

treten, bei der man ein großes Stück Nahrung mit dem Messer aufspießte<br />

und zum Mundführte, so dass man ein Stück davon abbeißen konnte.<br />

Calviac kritisiert diese Essweise nicht nur, weil dabei Saft über das Kinntropfen<br />

konnte und weil man Gefahr lief, Ausflüsse der Nase mitzuessen,<br />

sondern auch, weil sie keinerlei Anzeichen von Selbstbeherrschung darstelle.<br />

24<br />

Am chinesischen Esstisch ersetzen die Stäbchen als Symbol der Friedfertigkeit<br />

schon seit Jahrtausenden das Messer. Damit kann man kleine<br />

mundgerechte Stücke Nahrung auf jene hygienische und disziplinierte<br />

Weise aufnehmen, die Calviac vor 500 Jahren empfahl. Der chinesische<br />

Koch stand vor dem Problem, wie er die Nahrung zubereiten konnte, so<br />

dass sie sich mit den friedfertigen Stäbchen statt mit dem barbarischen<br />

Messer verzehren ließ. Die Lösung liegt zum Teil in der Tatsache, dass es<br />

beim Messer als Tötungsinstrument vor allem auf die geschärfte Spitze<br />

ankommt, beim Messer als Werkzeug des Kochs dagegen auf die scharfe<br />

Schneide. Als China während der Tschou-Dynastie in das Zeitalter des<br />

Schmiedeeisens eintrat, entstanden Spezialmesser, die ausschließlich<br />

für das Kochen bestimmt waren, darunter vor allem das Hackmesser mit<br />

seiner rasiermesserscharfen Schneide und der rechteckig abgeschnittenen<br />

Spitze.<br />

Seit der Tschou-Dynastie und bis in unsere Zeit sind chinesische<br />

Küchenchefs stolz darauf, das Hackmesser als Allzweckwerkzeug einzusetzen<br />

und Fleisch in Stücke (hsiao) oder Scheiben (tsu) zu zerlegen oder<br />

zu Hackfleisch (hui) zu verarbeiten, während weniger geschickte Köche<br />

dazu verschiedene Messer verwenden. Das Tschuang-tzu, ein früher<br />

taoistischer Text, preist den Koch Ting, der mit dem Hack messer „die<br />

Lücken in den Gelenken“ zu finden und ein Tier daher so fein zu zerlegen<br />

vermochte, dass der Mensch alle essbaren Teile verzehren konnte. 25 Der<br />

mit dem Hackmesser arbeitende Koch zerlegte Fisch und Gemüse mit<br />

größter Präzision und sorgte so für die größtmögliche Verwertung der<br />

Nahrung. Er schnitt Fleisch und Gemüse in gleich große Teile, so dass<br />

man sie im selben Topf garen konnte. Das Geheimnis dieser Kunst liegt<br />

in der Berechnung des minimalen Kraftaufwands durch die Technik des<br />

Fallenlassens und der Entlastung.<br />

Die alte Hackmessertechnik basierte auf derselben Wahl, die heute ein<br />

Zimmermann treffen muss, wenn er einen Nagel in Holz einschlägt. Eine<br />

Möglichkeit besteht darin, den Daumen an die Seite des Hammerstiels<br />

zu legen und das Werkzeug auf diese Weise zu führen. Die Kraft für den<br />

Schlag kommt dann allein aus dem Handgelenk. Oder er legt den Daumen<br />

um den Stiel. Dann liefert der ganze Unterarm die Kraft. Entscheidet<br />

ein Heimwerker sich für die zweite Möglichkeit, erhöht er die rohe Kraft<br />

des Schlages, läuft aber auch Gefahr, nicht mehr so präzise zielen zu<br />

können. Der Koch im alten China wählte beim Gebrauch des Hackmessers<br />

die zweite Möglichkeit, doch um die Nahrung sehr fein zu schneiden,<br />

entwickelte er eine andere Art, Unterarm, Hand und Hackmesser einzu-<br />

setzen. Statt das Hackmesser wie einen Hammer zu benutzen, führte er<br />

die zu einer Einheit verschmolzene Verbindung aus Unterarm, Hand und<br />

Hackmesser vom Ellbogen her und ließ das Messer auf die zu zerteilende<br />

Nahrung fallen. Sobald die Schneide die Nahrung berührte, spannte er<br />

die Unterarmmuskeln an, um das Schneidgut vom Druck des Körpers zu<br />

entlasten.<br />

Der Küchenchef hat also den Daumen um den Griff des Hackmessers<br />

gelegt. Der Unterarm dient als Verlängerung des Griffs, der Ellbogen als<br />

Drehpunkt. Im Minimum liefert das Gewicht des fallenden Hackmessers<br />

die einzige Kraft und damit das Maß, das ausreicht, um weiche Nahrungsmittel<br />

zu schneiden, ohne sie zu zerquetschen – vergleichbar einem Klavierspieler,<br />

der pianissimo spielt. Rohe Nahrungsmittel können aber auch<br />

fester sein, so dass der Koch, um im Bild zu bleiben, lauter spielen, das<br />

heißt mehr Druck vom Ellbogen her ausüben muss, um ein kulinarisches<br />

forte hervorzubringen. Beim Schneiden von Nahrungsmitteln wie beim<br />

Anschlag eines Akkords liegt die Grundlinie der physischen Kontrolle, also<br />

deren Ausgangspunkt, in Berechnung und Einsatz der geringstmöglichen<br />

Kraft. Der Koch beginnt mit dem geringsten Krafteinsatz und verstärkt<br />

ihn bei Bedarf. Das hat er gelernt, weil er sich bemüht, das Schneidgut<br />

nicht zu beschädigen. Zerquetschtes Gemüse lässt sich nicht retten, doch<br />

wenn ein Stück Fleisch nicht beim ersten Schlag zerschnitten ist, kann<br />

man einenzweiten, kräftigeren Schlag ansetzen.<br />

Der Gedanke des minimalen Krafteinsatzes als Grundlinie der Selbstbeherrschung<br />

findet sich auch in dem apokryphen, aber vollkommen logischen<br />

Rat der alten chinesischen Kochkunst, wonach der Koch erst einmal<br />

lernen müsse, ein gekochtes Reiskorn mit dem Hackmesser zu zerlegen.<br />

Bevor wir den Implikationen dieser handwerklichen Regel nachgehen,<br />

müssen wir zunächst ein physisches Korrelat zur minimalen Kraftanwendung<br />

besser verstehen, und zwar die Entlastung. Wenn der Koch das<br />

Hackmesser nach dem Schlag unten hält wie der Zimmermann den Hammer,<br />

verhindert er das Zurückprallen des Werkzeugs. Dabei treten über<br />

die gesamte Länge des Unterarms Belastungen auf. Aus physiologischen<br />

Gründen, die wir noch nicht vollständig verstehen, erhöht die Fähigkeit,<br />

den Krafteinsatz innerhalb einer Millisekunde nach deren Anwendung abzubrechen,<br />

auch die Präzision der ausgeführten Geste. Sie verbessert die<br />

Zielsicherheit. Beim Klavierspielen etwa, wo das Niederdrücken und Loslassen<br />

der Taste eine einzige Bewegung darstellt, muss der Fingerdruck in<br />

dem Augenblick abbrechen, da die Fingerspitze die Taste berührt, damit<br />

die Finger leicht und geschmeidig zur nächsten Taste gleiten können. Bei<br />

Saiteninstrumenten vermag die Hand beim Übergang zu einer neuen Note<br />

nur dann einen sauberen Ton hervorzubringen, wenn sie die gedrückte<br />

Saite eine Mikrosekunde vorher loslässt. Für die musizierende Hand sind<br />

klare, leise Töne daher schwieriger hervorzubringen als laute, kräftige.<br />

Das Schlagen beim Kricket oder Baseball erfordert ein ähnliches Geschick<br />

bei der Druckentlastung.


238 — 239<br />

Richard Sennett<br />

26<br />

John Stevens: Zen Bow,<br />

Zen Arrow: The Life and<br />

Teachings of Awa Kenzo.<br />

London 2007.<br />

27<br />

Elias: Der Prozeß der Zivilisation,<br />

Bd. 1, S. 166.<br />

In der Bewegung der Einheit aus Hand, Handgelenk und Unterarm<br />

spielt die Prehension bei der Druckentlastung eine entscheidende<br />

Rolle. Sie erfordert dieselbe Antizipation wie beim Greifen nach einer<br />

Tasse, nur in umgekehrter Reihenfolge. Schon wenn der Schlag unmittelbar<br />

bevorsteht, bereitet das Ensemble aus Hand und Unterarm sich<br />

auf den nächsten Schritt vor, die Druckentlastung in der Millisekunde<br />

unmittelbar vor dem Kontakt. Zu der von Raymond Tallis beschriebenen<br />

Berücksichtigung des Objekts kommt es genau in diesem Schritt,<br />

wenn das Arm-Ensemble die Griffspannung zurücknimmt, so dass der<br />

Hammer oder das Hackmesser nicht mehr so fest gehalten wird.<br />

Der Rat, ein gekochtes Reiskorn mit dem Hackmesser zu zerlegen,<br />

steht also für zwei eng miteinander verbundene körperbezogene Regeln:<br />

Schaffe eine Grundlinie des geringsten nötigen Krafteinsatzes!<br />

Und lerne loszulassen! In technischer Hinsicht geht es hier um die Kontrolle<br />

von Bewegungen, doch der Vorgang hat eine Vielzahl menschlicher<br />

Implikationen – mit denen die antiken Autoren der chinesischen<br />

Kochkunst vertraut waren. Das Tschuangtzu rät, sich in der Küche<br />

nicht wie ein Krieger aufzuführen, und der Taoismus knüpft daran<br />

eine ganze Ethik für Homo faber: Ein aggressiver, auf das Brechen von<br />

Widerständen ausgerichteter Umgang mit natürlichen Materialien ist<br />

kontraproduktiv. Der japanische Zen-Buddhismus nutzte dieses Erbe<br />

später, um am Beispiel des Bogenschießens die Ethik des Loslassens<br />

zu erkunden. In physischer Hinsicht steht im Mittelpunkt dieses Sports<br />

dieS pannungsentlastung beim Loslassen der Bogensehne. Zen-<br />

Autoren betonen das Fehlen jeglicher physischen Aggression und die<br />

gelassene Ruhe, die diesen Augenblick kennzeichnen müssen. Dieser<br />

Gemütszustand sei notwendig, wenn der Bogenschütze dasZiel genau<br />

treffen wolle. 26<br />

Auch in westlichen Gesellschaften diente der Gebrauch des Messers als<br />

kulturelles Symbol für ein Minimum an Aggression. Norbert Elias fand<br />

heraus, dass die Europäer die Gefahren des Messers im Frühmittelalter<br />

recht pragmatisch einschätzten. Der von ihm so genannte „Prozeß der<br />

Zivilisation“ begann, als das Messer eine stärker symbolische Bedeutung<br />

erhielt, die dem kollektiven Denken sowohl das Übel spontaner<br />

Gewalt als auch die geeigneten Heilmittel dagegen vor Augen führte.<br />

„Die Gesellschaft, die in dieser Zeit mehr und mehr die reale Bedrohung<br />

der Menschen einzuschränken… beginnt, umgibt mehr und mehr auch<br />

die Symbole, die Gesten und Instrumente der Bedrohung mit einem<br />

Zaun“, schreibt Elias. „Die Einschränkungen, die Verbote um den Gebrauch<br />

des Messers, mit ihnen die Zwänge, die man dem Einzelnen<br />

auferlegt, wachsen.“ 27 Damit meint er zum Beispiel, dass man um 1400<br />

Messerstechereien bei Gastmählern als normal empfand, während<br />

man um 1600 die Stirn darüber runzelte. Oder auch, dass ein Mann um<br />

1600 nicht gleich die Hand an den Knauf seines Degens legte, wenn er<br />

nachts auf der Straße einem Fremden begegnete.<br />

28<br />

Ebda., Bd. 2, S. 398.<br />

Ein „wohlerzogener“ Mensch disziplinierte seinen Körper in den elementarsten<br />

biologischen Bedürfnissen – im Unterschied zu Flegeln, Tölpeln<br />

und Bauern, die angeblich ungeniert furzten oder sich die laufende Nase<br />

am Ärmel abwischten. Eine Folge solcher Selbstbeherrschung war die<br />

Entlastung der Menschen von aggressiver Spannung. Der Umgang des<br />

Kochs mit dem Hackmesser macht diese sonderbare Aussage verständlicher:<br />

Selbstbeherrschung geht mit Entlastung einher.<br />

Als Elias die Entstehung der höfischen Gesellschaft im 17. Jahrhundert<br />

untersuchte, stellte er erstaunt fest, dass diese Verknüpfung zum Definitionsmerkmal<br />

des gesitteten Aristokraten geworden war: entspannt im<br />

Umgang mit anderen und selbstbeherrscht. Richtig zu essen war eine der<br />

sozialen Fertigkeiten des Aristokraten. Dass die Tischmanieren zum Kennzeichen<br />

des Aristokraten wurden, war deshalb möglich, weil die Gefahr<br />

körperlicher Gewalt in der auf Höflichkeit bedachten Gesellschaft abnahm<br />

und die gefährlichen Fertigkeiten, die mit dem Messer assoziiert wurden,<br />

an Bedeutung verloren. Als sich im 18. Jahrhundert das bürgerliche Leben<br />

entwickelte, stieg der Kodex eine soziale Stufe hinab und veränderte<br />

nochmals seinen Charakter. Gelassene Zurückhaltung wurde nun zum<br />

Kennzeichen der von den Philosophen gefeierten „Natürlichkeit“. Der Tisch<br />

und die dort herrschenden Manieren taugten auch weiterhin als Mittel der<br />

gesellschaftlichen Abgrenzung. So beachtete man in der Mittelschicht die<br />

Regel, wonach man nur solche Speisen mit dem Messer schneiden soll,<br />

die sich nicht mit der stumpferen, aber feineren Kante der Gabel zerlegen<br />

lassen, und man schaute auf die niederen Stände herab, die das Messer<br />

wie einen Spieß benutzten.<br />

Elias ist ein bewundernswerter Historiker, aber ich fürchte, als Analytiker<br />

des sozialen Lebens, das er so lebendig beschreibt, irrt er. Er behandelt<br />

zivilisiertes Verhalten als ein dünnes Furnier, unter dem ein solideres und<br />

persönlicheres Erleben liege: die Scham, der wirkliche Katalysator der<br />

Selbstdisziplin. Seine Geschichten über das Rotzen, Furzen und Pinkeln<br />

in der Öffentlichkeit und die Entwicklung der Tischsitten haben ihren Ursprung<br />

sämtlich in der Scham hinsichtlich natürlicher Körperfunktionen<br />

und deren spontanem Ausdruck. Der „Prozeß der Zivilisation“ unterdrückt<br />

Spontaneität. Elias sieht in der Scham eine nach innen gerichtete Emotion.<br />

„Dem entspricht“, so schreibt er, „daß die Angst, die wir ›Scham‹<br />

nennen, für die Sicht der Anderen in hohem Maße abgedämpft ist; so stark<br />

sie sein mag, sie kommt nicht unmittelbar in lauten Gesten zum Ausdruck<br />

…; der Konflikt, der sich in ›Scham-Angst‹ äußert …, ist ein Konflikt seines<br />

eigenen Seelenhaushalts; er selbst erkennt sich als unterlegen an.“ 28<br />

Im Blick auf die Aristokraten klingt das ein wenig falsch, während es<br />

auf die Manieren der Mittelschicht schon eher zutreffen könnte. Das ist<br />

jedoch keine Erklärung, die sich auf die entspannte Leichtigkeit oder die<br />

Selbstbeherrschung anwenden ließe, nach denen der Handwerker strebt.<br />

Nicht Scham veranlasst ihn, den minimalen Krafteinsatz und die zeitgerechte<br />

Entlastung zu erlernen. Schon rein physisch kann er unmöglich


240 — 241<br />

Richard Sennett<br />

29<br />

Eine Darstellung des<br />

Konflikts zwischen Powells<br />

und Rumsfelds Strategien<br />

in dem von Amerika 2003<br />

im Irak begonnenen Krieg<br />

findet sich in Michael R.<br />

Gordon und Bernard E.<br />

Trainor: Cobra II. New York<br />

2006.<br />

davon getrieben sein. Es gibt in der Tat eine Physiologie der Scham, die<br />

sich durch die Anspannung der Muskeln in der Bauchdecke und an den<br />

Armen erkennen lässt. Scham, Angst und Muskelanspannung bilden im<br />

menschlichen Organismus eine unheilige Dreifaltigkeit. Die Physiologie<br />

der Scham stünde der Freiheit körperlicher Bewegung im Wege, die der<br />

Handwerker für seine Arbeit benötigt. Muskelanspannung ist tödlich für<br />

physische Selbstbeherrschung. Positiv ausgedrückt, wenn die Muskeln<br />

kräftiger und ihre Bewegungen feiner werden, fallen die zur Anspannung<br />

der Muskeln führenden Reflexe nicht mehr so stark aus. Die physische<br />

Aktivität wird geschmeidiger und weniger sprunghaft. Deshalb können<br />

körperlich starke Menschen den minimalen Krafteinsatz besser steuern<br />

als körperlich schwächere. Bei ihnen hat sich ein Gradient der Muskelkraft<br />

herausgebildet. Gut entwickelte Muskeln sind außerdem eher in der Lage,<br />

sich zu entspannen. Sie behalten ihre Form selbst dann, wenn sie loslassen.<br />

Auch der Handwerker des Wortes könnte diese mental gar nicht mehr<br />

erkunden und gut nutzen, wenn er voller Angst wäre.<br />

Um Elias Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sollten wir einräumen, dass<br />

Selbstbeherrschung zwei Dimensionen besitzt. Die eine ist eine soziale<br />

Oberfläche, unter der sich persönliche Not verbirgt; die andere eine Realität,<br />

die mit sich selbst physisch und mental im Reinen ist und der Entwicklung<br />

der handwerklichen Fertigkeiten dient. Diese zweite Dimension<br />

hat ihre eigenen sozialen Implikationen.<br />

Militärische und diplomatische Strategien müssen ständig über Grade<br />

roher Gewalt urteilen. Die Strategen, die 1945 die Atombombe einsetzten,<br />

gelangten zu der Einschätzung, dass nur der überwältigende Einsatz<br />

von Gewalt die Japaner zur Kapitulation bewegen konnte. In der aktuellen<br />

Militärstrategie der Vereinigten Staaten setzt die „Powell-Doktrin“ auf die<br />

Einschüchterung durch eine große Zahl von Soldaten, während die Doktrin<br />

des Shock and Awe Technologie an die Stelle der Soldaten setzt – einen<br />

massiven und überfallartigen Einsatz automatischer Raketen und lasergesteuerter<br />

Bomben. 29 Der Politikwissenschaftler und Diplomat Joseph<br />

Nye hat einen alternativen Ansatz vorgeschlagen, den er als „soft power“<br />

(weiche Macht) bezeichnet und der eher dem Vorgehen eines erfahrenen<br />

Handwerkers ähnelt. Bei der Koordination der Hände geht es um die Ungleichheit<br />

der Kraftentfaltung. Wenn Hände ungleicher Stärke zusammenarbeiten,<br />

korrigieren sie die Schwäche. Eine zurückhaltende Kraft nach<br />

Art des Handwerkers, gepaart mit Entspannung, bedeutet einen weiteren<br />

Schritt. Durch die Kombination beider Momente entwickelt der Handwerker<br />

physische Selbstbeherrschung und erzielt eine höhere Präzision in der<br />

Ausführung. Blinde, rohe Gewalt ist bei der Handarbeit kontraproduktiv.<br />

All diese Elemente – Kooperation mit dem Schwachen, zurückhaltende<br />

Kraft, Loslassen nach dem Angriff – sind im Konzept der soft power enthalten.<br />

Diese Doktrin versucht gleichfalls, kontraproduktive blinde Gewalt<br />

zu überwinden. Das handwerkliche Können ist hier Bestandteil des politischen<br />

Handwerks, der Staatskunst.<br />

30<br />

Siehe z. B. Neil Postman:<br />

Amusing Ourselves to<br />

Death: Public Discourse in<br />

the Age of Show Business.<br />

New York 1985; dt.: Wir<br />

amüsieren uns zu Tode.<br />

Frankfurt am Main 1985.<br />

31<br />

Daniel Levitin: This Is Your<br />

Brain on Music. New York<br />

2006, S. 193.<br />

Hand und Auge<br />

Der Rhythmus der Konzentration<br />

Das sogenannte Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom beunruhigt gegenwärtig<br />

zahlreiche Lehrer und Eltern. Dabei geht es um Kinder und Jugendliche,<br />

die ihre Aufmerksamkeit nur für kurze Zeit auf einen Gegenstand zu<br />

richten vermögen. Als Ursache gelten einerseits Störungen des Hormonhaushalts,<br />

andererseits kulturelle Faktoren. Zu den kulturellen Faktoren<br />

sichtete der Soziologe Neil Postman umfangreiche Forschungen über die<br />

negativen Auswirkungen des Fernsehens auf Kinder. 30 Qualifikationsforscher<br />

definieren die Aufmerksamkeitsspanne jedoch oft in einer Weise,<br />

die kaum adäquat auf solche Befürchtungen von Erwachsenen eingehen<br />

dürfte.<br />

Wie zu Beginn des Buches schon angemerkt, wird oft behauptet, man brauche<br />

10 000 Stunden, um ein Experte zu werden. In Studien über „Komponisten,<br />

Basketballspieler, Science-Fiction-Autoren, Eiskunstläufer … und<br />

Meisterdiebe“, so schreibt der Psychologe Daniel Levitin, „wird diese Zahl<br />

immer wieder genannt“. 31 Dieser lange Zeitraum ist nach Ansicht von Forschern<br />

erforderlich, damit komplexe Fertigkeiten sich dem Körper so tief<br />

einprägen, dass sie zu ständig abrufbarem implizitem Wissen werden. Aber<br />

so gewaltig ist die Zahl eigentlich gar nicht – wenn wir von den Meisterdieben<br />

einmal absehen. 10 000 Stunden, das sind drei Stunden Übung am<br />

Tag über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg, und das entspricht dem<br />

üblichen Trainingspensum junger Sportler. Bei der siebenjährigen Lehrzeit<br />

mittelalterlicher Goldschmiedeverteilt sich die Summe auf knapp fünf<br />

Stunden täglich an der Werkbank, und das entspricht dem, was wir aus<br />

mittelalterlichen Werkstätten wissen. Unter den strapaziösen Bedingungen<br />

der ärztlichen Ausbildung in Krankenhaus und Praxis lässt sich diese<br />

Stundenzahl auf drei Jahre oder noch weniger komprimieren.<br />

Die Besorgnis der Erwachsenen hinsichtlich des Aufmerksamkeitsmangels<br />

betrifft eine sehr viel kürzere Zeitspanne. Dort stellt sich das Problem,<br />

wie man ein Kind dazu bringen kann, sich auch nur eine Stunde lang zu<br />

konzentrieren. Pädagogen versuchen oft, Kinder geistig und emotional für<br />

bestimmte Dinge zu interessieren, um ihre Konzentrationsfähigkeit zu verbessern.<br />

Die Theorie, auf der solche Versuche basieren, besagt, dass ein<br />

inhaltliches Engagement zur Konzentration führt. Die langfristige Entwicklung<br />

manueller Fertigkeiten zeigt jedoch die Kehrseite dieser Theorie. Die<br />

Fähigkeit, sich über längere Zeit zu konzentrieren, stellt die Voraussetzung<br />

dar. Erst wenn jemand dies kann, wird er sich geistig oder emotional auf<br />

etwas einlassen. Die Fähigkeit der physischen Konzentration folgt eigenen<br />

Regeln, die darauf basieren, wie jemand lernt, eine Tätigkeit zu üben, sie<br />

ständig zu wiederholen und aus dieser Wiederholung zu lernen. Konzentration<br />

besitzt also eine innere Logik, und diese Logik lässt sich, wie ich<br />

glaube, auf das stetige Arbeiten anwenden, ob es sich dabei nun um eine<br />

Stunde oder um mehrere Jahre handelt.


242 — 243<br />

Richard Sennett<br />

32<br />

Erin O’Connor: Embodied<br />

Knowledge: The Experience<br />

of Meaning and the<br />

Struggle towards Proficiency<br />

in Glassblowing, Ethnography<br />

6, Nr. 2 (2005), S.<br />

183–204.<br />

Zur Klärung dieser Logik können wir das Verhältnis zwischen Hand und Auge<br />

weiter erkunden. Die Beziehungen zwischen diesen beiden Organen erlauben<br />

es, den Übungsprozess dauerhaft zu organisieren. Wir könnten keine bessere<br />

Anleitung finden als Erin O’Connors Analyse des Prozesses, in dem Hand<br />

und Auge gemeinsam lernen, sich zu konzentrieren. 32 Die philosophische<br />

Glasbläserin untersuchte die Entwicklung lang anhaltender Aufmerksamkeit<br />

an ihrem eigenen Kampf um die Formung eines bestimmten Weinglases. In<br />

einer nüchternen Fachzeitschrift berichtet sie, dass sie seit langem italienische<br />

Barolo-Weine geschätzt und daher nach einem Weinglas gesucht habe,<br />

das groß und rund genug war, die duftende „Nase“ des Weins zu fassen.<br />

Um dieses Ziel zu erreichen, musste sie ihre Konzentrationsfähigkeit in ihrer<br />

zeitlichen Dauer erweitern. Den Rahmen für diesen Lernprozess bildete der<br />

kritische Augenblick im Handwerk des Glasblasens, wenn das geschmolzene<br />

Glas als großer Tropfen am Ende des langen, schmalen Blasrohrs hängt. Das<br />

zähflüssige Glas muss ständig gedreht werden, damit es nicht in eine Richtung<br />

herunterhängt. Um eine regelmäßige Kugel zu erzeugen, müssen die<br />

Hände eine Bewegung ausführen,die dem schnellen Drehen eines Löffels in<br />

einem Glas Honig gleicht. Der ganze Körper ist an dieser Bewegung beteiligt.<br />

Damit es beim Drehen der Glasbläserpfeife nicht zu Verspannungen kommt,<br />

muss der Glasbläser den Rücken über der Hüfte und nicht im oberen Bereich<br />

beugen, ähnlich einem Ruderer, der sich vor dem Beginn des Zugs nach vorn<br />

beugt. Diese Haltung verleiht dem Handwerker auch einen sicheren Stand,<br />

wenn er das geschmolzene Glas aus dem Ofen zieht. Doch von entscheidender<br />

Bedeutung ist das Verhältnis zwischen Hand und Auge.<br />

Als O’Connor lernte, ein Barolo-Glas zu blasen, durchlief sie mehrere Stadien<br />

ähnlich jenen, die wir bei Musikern und Köchen beobachtet haben. Zunächst<br />

musste sie einige beim Blasen einfacherer Stücke erworbene Gewohnheiten<br />

rückgängig machen, damit sie erkennen konnte, weshalb sie scheiterte.<br />

So entdeckte sie, dass die Bewegungen ihr bisher deshalb so leichtgefallen<br />

waren, weil sie zu wenig geschmolzenes Glas mit der Spitze der Pfeife<br />

aufnahm. Sie musste ein besseres Bewusstsein für das Verhältnis zwischen<br />

ihrem Körper und der zähflüssigen Masse entwickeln, als bestünde zwischen<br />

Fleisch und Glas ein bruchloser Übergang. Das klingt poetisch, doch<br />

diese Poesie dürfte rasch verflogen sein, wenn ihr Mentor lautstark seine<br />

Kommentare dazwischenrief: „Mach langsam, Trampel, ganz gleichmäßig!“<br />

O’Connor ist eine zierliche, zurückhaltende Person, und so nahm sie lieber<br />

keinen Anstoß an solchen Einwürfen. Ihre Koordination verbesserte sich<br />

dadurch.<br />

Nun war sie eher in der Lage, die Triade der „intelligenten Hand“ zu nutzen<br />

– die Koordination von Hand, Auge und Gehirn. Ihr Lehrer drängte: „Lass<br />

das Glas nicht aus dem Blick! Es beginnt schon zu hängen.“ Das hatte zur<br />

Folge, dass sie den Griff um das Rohr lockerte. Wenn sie das Rohr lockerer<br />

hielt, etwa so wie der Koch das Hackmesser, gewann sie größere Kontrolle<br />

darüber. Doch sie musste immer noch lernen, ihre Konzentrationsspanne zu<br />

verlängern.<br />

33<br />

Ebda., S. 188–189.<br />

34<br />

Siehe Maurice Merleau-<br />

Ponty: Phénoménologie<br />

de la perception. Paris<br />

1945; dt.: Phänomenologie<br />

der Wahrnehmung.<br />

Berlin 1966, 2. Teil, §12.<br />

35<br />

Michael Polanyi:<br />

Personal Knowledge:<br />

Towards a Post-Critical<br />

Philosophy. Chicago<br />

1962, S. 55.<br />

Diese Verlängerung erfolgte in zwei Phasen. Zunächst verlor sie das<br />

ständige Bewusstsein für den Kontakt des Körpers mit dem heißen<br />

Glas und versenkte sich ganz in das Material als Ziel an sich. „Mein<br />

Bewusstsein für das Gewicht der Pfeife in meiner Hand nahm ab, und<br />

an dessen Stelle verstärkte sich die Empfindung für die Kante des<br />

Rings in der Mitte der Pfeife, für das Gewichtdes Glases, das sich an<br />

der Spitze der Pfeife sammelte, und schließlich für das sich formende<br />

Weinglas.“ 33 Der Philosoph Maurice Merleau-Ponty beschreibt die Erfahrung,<br />

„wie ein Ding zu sein“. 34 Der Philosoph Michael Polanyi bezeichnet<br />

dies als „fokales Bewusstsein“ und erläutert es am Beispiel<br />

des Einschlagens eines Nagels: „Wenn wir den Hammer niedergehen<br />

lassen, haben wir nicht das Gefühl, dass der Stiel unserer Handfläche<br />

einen Schlag versetzt, sondern der Hammerkopf dem Nagel … Ich habe<br />

ein Nebenbewusstsein für das Gefühl in meiner Handfläche, eingebunden<br />

in mein fokales Bewusstsein vom Einschlagen des Nagels.“ 35<br />

Anders ausgedrückt, wir sind ganz in etwas versunken und nicht mehr<br />

unserer selbst bewusst, auch nicht unseres körperlichen Selbst. Wir<br />

sind zu dem Ding geworden, an dem wir arbeiten.<br />

Diese vertiefte Konzentration musste nun zeitlich ausgedehnt werden.<br />

Das Problem, das O’Connor lösen musste, war das Ergebnis eines weiteren<br />

Scheiterns. Obwohl es ihrem durch eine gute Körperhaltung entspannten<br />

und in das Tun versenkten Selbst gelungen war, das Glas zu<br />

einer Kugel zu formen und in die gewünschte Barolo-freundliche Form<br />

zu bringen, wirkte es nach dem Abkühlen „schief und unförmig“, so<br />

dass ihr Lehrmeister statt von einem goblet (Pokal) von einem globlet<br />

(Kügelchen) sprach.<br />

Wie sie schließlich herausfand, lag das Problem in jener Phase des<br />

„Wie-ein-Ding-Seins“. Wollte sie besser werden, musste sie vorwegnehmen,<br />

wozu das Material in seiner nächsten, noch nicht existenten<br />

Entwicklungsphase werden sollte. Ihr Lehrer nannte das einfach „Dranbleiben“.<br />

In ihrer eher philosophischen Denkweise begriff sie, dass sie<br />

in einem Prozess „körperlicher Antizipation“ stand und dem Material<br />

– erst im schmelzflüssigen Zustand, dann als Kugel, dann als Kugel<br />

mit Stiel und schließlich mit Stiel und Fuß – stets einen Schritt voraus<br />

sein musste. Sie musste diese Prehension zu einem permanenten Geisteszustand<br />

machen, und sie lernte dies, erfolgreich oder scheiternd,<br />

indem sie immer wieder solch eine Kugel blies. Auch nach dem ersten,<br />

auf Zufall beruhenden Erfolg musste sie immer weiterüben, damit sie<br />

Sicherheit im Aufnehmen der Schmelze, im Blasen der Kugel und im<br />

Drehen des Rohrs entwickelte. Das ist Wiederholung um ihrer selbst<br />

willen. Wie bei den Zügen eines Schwimmers wird die bloße Wiederholung<br />

der Bewegung als solche zu einem Genuss.<br />

Wie Adam Smith in seiner Darstellung der Industriearbeit könnten wir<br />

nun meinen, Routine sei geisttötend und ein Mensch, der eine Tätigkeit<br />

ständig wiederholt, nehme psychisch Schaden. Wir könnten Routine mit


244 — 245<br />

Richard Sennett<br />

Langeweile gleichsetzen. Für Menschen, die komplizierte Handfertigkeiten<br />

entwickeln, ist sie nichts dergleichen. Etwas immer wieder zu tun ist<br />

anregend, sofern diese Tätigkeit im Blick nach vorn organisiert wird. Die<br />

Substanz der Routine mag sich verändern, wandeln oder verbessern, der<br />

emotionale Lohn aber ist die Erfahrung, es immer wieder zu tun. Diese<br />

Erfahrung ist keineswegs sonderbar. Wir alle kennen sie, und sie hat<br />

einen Namen: Rhythmus. Die Kontraktionen unseres Herzens gebenden<br />

Rhythmus vor, der Handwerker dehnt ihn auf Hand und Kopf aus.<br />

Der Rhythmus hat zwei Komponenten: Schlagen nach einem Takt und<br />

Tempo, also die Geschwindigkeit, mit der wir etwas tun. In der Musik<br />

steht der Tempowechsel innerhalb eines Stücks für Antizipation und<br />

den Blick nach vorn. Die Bezeichnungen ritardando und accelerando<br />

verpflichten den Musiker, sich auf einen Wechsel vorzubereiten. Diese<br />

großen Tempowechsel sorgen dafür, dass er in seiner Aufmerksamkeit<br />

nicht erlahmt. Dasselbe gilt für den Rhythmus im Kleinen. Wenn Sie<br />

einen Walzer streng nach dem Takt eines Metronoms spielen, wird es<br />

Ihnen immer schwerer fallen, sich darauf zu konzentrieren. Um einen<br />

regelmäßigen Takt zu schlagen, bedarf es winziger Verzögerungen und<br />

Beschleunigungen. Der regelmäßige Takt entspricht der im letzten Kapitel<br />

angesprochenen Typenform. Tempowechsel stehen dagegen für die<br />

verschiedenen Varianten, die aus solch einem Typus hervorgehen. Prehension<br />

hat ihren Fokus auf dem Tempo. Der Musiker konzentriert sich in<br />

produktiver Weise.<br />

Der Rhythmus, der O’Connors Aufmerksamkeit wachhielt, lag in ihrem<br />

Auge, das die Hand disziplinierte, sie ständig überwachte und beurteilte,<br />

ihre Bewegungen anpasste und damit das Tempo vorgab. Kompliziert<br />

wird die Sache dadurch, dass sie sich ihrer Hände nicht mehr bewusst<br />

war und dass sie nicht mehr darüber nachdachte, was die Hände taten.<br />

Ihr Bewusstsein war ganz darauf gerichtet, was sie sah. Die eingeschliffenen<br />

Handbewegungen waren Bestandteil des Vorausschauens geworden.<br />

Beim Orchester scheint der Dirigent dem Musiker nur ganz wenig voraus<br />

zu sein. Er zeigt den Ton an, und auch hier registriert der Ausführende<br />

das Signal eine Mikrosekunde, bevor er den Ton produziert.<br />

Ich fürchte, mein Darstellungsvermögen hat in der Beschreibung des<br />

Rhythmus und seiner Bedeutung für die Konzentration seine Grenzen<br />

erreicht, und ganz sicher klingt diese Erfahrung hier abstrakter, als sie in<br />

Wirklichkeit ist. Die Zeichen der Konzentration beim Üben einer Tätigkeit<br />

sind konkret genug. Wer es gelernt hat, sich ausreichend zu konzentrieren,<br />

zählt nicht, wie oft er eine Bewegung auf Befehl des Ohrs oder des<br />

Auges wiederholt. Wenn ich beim Cellospiel tief ins Üben versenkt bin,<br />

möchte ich eine Bewegung immer wieder ausführen, damit sie besser<br />

wird, aber auch damit ich sie immer wieder besser ausführen kann. Genauso<br />

ergeht es O’Connor. Sie zählt nicht, wie oft sie es tut, sie will nur<br />

die Glasbläserpfeife in Händen halten und sie drehen und hineinblasen.<br />

Doch das Tempo gibt ihr Auge vor. Wenn die beiden Elemente des Rhyth-<br />

mus sich beim Üben verbinden, kann der Übende seine Aufmerksamkeit<br />

über eine lange Zeitspanne aufrechterhalten und eine Verbesserung erreichen.<br />

Welche Bedeutung kommt hier dem Übungsstoff zu? Übt sich eine dreiteilige<br />

Invention von Johann Sebastian Bach besser als eine Etüde von<br />

Ignaz Moscheles, weil sie bessere Musik ist? Nach meiner Erfahrung<br />

lautet die Antwort nein. Der Rhythmus des Übens, der ein Gleichgewicht<br />

zwischen Wiederholen und Antizipieren herstellt, sorgt von sich aus für<br />

Engagement. Wer als Kind Latein oder Griechisch gelernt hat, dürfte eine<br />

ähnliche Erfahrunggemacht haben. Das Lernen war zu einem Großteil<br />

rein mechanisch und der Stoff sehr entlegen. Erst nach und nach half<br />

uns die Routine, die uns befähigte, Griechisch zu lernen, Interesse an<br />

einer seit langem verschwundenen Kultur zu entwickeln. Wie bei anderen<br />

Lernenden, die einen Stoff noch nicht inhaltlich erfasst haben, gilt es zunächst,<br />

sich konzentrieren zu lernen. Das Üben hat eine eigene Struktur<br />

und ein eigenes, darin angelegtes Interesse.<br />

Die praktische Bedeutung solcher fortgeschrittenen Handfertigkeit für<br />

Menschen, die mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom umzugehen<br />

haben, liegt darin, dass sie die Aufmerksamkeit auf die Organisation von<br />

Übungsstunden lenken. Mechanisches Lernen ist nicht an sich der Feind.<br />

Übungsstunden lassen sich interessant gestalten, wenn man darin für<br />

einen inneren Rhythmus sorgt, so kurz er auch sein mag. Die komplizierten<br />

Tätigkeiten des Glasbläsers oder des Cellisten lassen sich so vereinfachen,<br />

dass sie eine ähnliche zeitliche Strukturierung aufweisen. Wir<br />

erweisen Menschen, die unter mangelnder Aufmerksamkeit leiden, einen<br />

schlechten Dienst, wenn wir verlangen, dass sie eine Sache verstehen,<br />

bevor sie sich darauf einlassen.<br />

* * *<br />

Es mag der Eindruck entstehen, dass dieses Verständnis guten Übens<br />

der Verbindlichkeit zu geringe Bedeutung beimisst, doch ein verbindliches<br />

Engagement dieser Art hat zwei Seiten: die Entscheidung, dass eine<br />

Sache es wert sei, getan zu werden, oder dass eine bestimmte Person es<br />

wert sei, Zeit mit ihr zu verbringen; und die Pflicht, die wir gegenüber<br />

einer Sitte oder den Bedürfnissen eines Menschen empfinden. Der Rhythmus<br />

organisiert eine Verbindlichkeit im zweiten Sinne. Wir lernen, wie<br />

wir eine Pflicht immer wieder erfüllen. Theologen haben schon vor langer<br />

Zeit gezeigt, dass religiöse Rituale wiederholt werden müssen, wenn sie<br />

Überzeugungskraft erlangen sollen: Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr<br />

für Jahr. Die Wiederholung sorgt für Stabilität, doch in der religiösen<br />

Übung wird sie deshalb nicht schal. Der Zelebrierende antizipiert jedes<br />

Mal, dass etwas Bedeutendes geschehen wird.<br />

Ich spreche dieses weite Feld unter anderem deshalb an, weil das Üben<br />

beim Wiederholen einer musikalischen Phrase, beim Schneiden von


246 — 247<br />

Richard Sennett<br />

Fleisch oder beim Blasen eines Weinglases etwas von einem Ritual an<br />

sich hat. Wir haben unsere Hand durch das Wiederholen trainiert. Wir<br />

sind aufmerksam statt gelangweilt, weil wir die Fähigkeit der Antizipation<br />

entwickelt haben. Doch auch wer gelernt hat, einer Pflicht immer<br />

wieder nachzukommen, hat eine technische Fertigkeit erworben, das<br />

rhythmische Vermögen des Handwerkers, ganz gleich, an welchen Gott<br />

oder an welche Götter er glauben mag.<br />

* * *<br />

In diesem Kapitel bin ich ausführlich der Vorstellung einer Einheit von<br />

Kopf und Hand nachgegangen. Diese Einheit prägte die Ideale der Aufklärung<br />

im 18. Jahrhundert, und Ruskin gründete darauf im 19. Jahrhundert<br />

seine Verteidigung der Handarbeit. Dabei sind wir ihrem Weg allerdings<br />

nicht ganz gefolgt, denn wir haben Formen mentalen Verstehens<br />

skizziert, die aus der Entwicklung seltener und sehr spezieller manueller<br />

Fertigkeiten hervorgehen, wie sie erforderlich sind, um Töne genau zu<br />

treffen, ein Reiskorn mit dem Hackmesser zu zerlegen oder ein schwieriges<br />

Weinglas zu blasen. Doch auch solche virtuosen Fähigkeiten basieren<br />

auf grundlegenden Eigenschaften des menschlichen Körpers.<br />

Konzentration sorgt für die Vollendung bestimmter Linien in der Entwicklung<br />

manueller Fertigkeiten. Die Hand musste zunächst durch Berührung<br />

experimentieren, allerdings nach einem objektiven Maßstab. Sie lernte,<br />

Ungleiches zu koordinieren. Sie lernte minimalen Krafteinsatz und Entlastung.<br />

Dadurch erwirbt die Hand ein Repertoire erlernter Gesten. Diese<br />

Gesten lassen sich weiter verfeinern oder auch revidieren innerhalb des<br />

rhythmischen Prozesses, zu dem es beim Üben kommt und der das Üben<br />

unterstützt. Bei jedem dieser Schritte spielt Prehension eine wichtige-<br />

Rolle, und jeder Schritt hat zahlreiche ethische Implikationen.


250 — 251<br />

Think Global, Fabricate Local?<br />

Auf den Spuren des „schaffenden Menschen“<br />

in der Region Liezen<br />

Elke Murlasits<br />

Dreh- und Angelpunkt unseres Projektes war die Auseinandersetzung<br />

mit dem Menschen als Subjekt, als Gestalter/in und Akteur/in seines/<br />

ihres Lebens. Inspiration und Reverenz nahmen wir dafür beim Konzept<br />

der Vita activa, das Hannah Arendt in ihrem epochemachenden gleichnamigen<br />

Buch präzisiert. Drei „menschliche Grundtätigkeiten“ seien es, die<br />

die Vita activa ausmachen: das Arbeiten, Herstellen und Handeln.<br />

Wir haben uns speziell auf das Herstellen konzentriert, wobei die Grenzen<br />

der Idee des praktischen, des realen Schaffens erweitert wurden.<br />

Abseits tatsächlicher physischer Produkte rückte die das Leben an sich<br />

bestimmende Frage in den Vordergrund: Wozu etwas schaffen? Was ist<br />

der Sinn, der Nutzen, die Funktion des Herstellens? Welche zusätzliche<br />

Bedeutung wird dem Hergestellten, dem Geschaffenen zugewiesen? Was<br />

schafft sich der Mensch eigentlich? Was bedeutet das Geschaffene für<br />

andere bzw. wie nimmt es auf das Leben dieser anderen Einfluss?<br />

Sechs Künstler/innen-Formationen stellten sich diesen Fragen in einzelnen<br />

Kunstprojekten, die sie in engem Dialog gemeinsam mit und aus der<br />

Bevölkerung generierten. Dabei wurden sie von einem Team von Kulturwissenschafterinnen<br />

und -wissenschaftern begleitet, das die Gespräche<br />

mit den Menschen vor Ort intensivierte und erweiterte. Auf diese Art<br />

und Weise konnten auch vier zentrale Themenfelder in den Arbeiten der<br />

Künstler/innen festgemacht und in einem Ausstellungsteil präsentiert<br />

werden:<br />

a) Der schaffende Mensch als Gestalter/in seiner/ihrer Landschaft<br />

b) Der schaffende Mensch als Garant/in seiner/ihrer Sicherheit<br />

c) Der schaffende Mensch als Produzent/in seiner/ihrer zweiten Haut<br />

d) Der schaffende Mensch als Gestalter/in seiner/ihrer Lebensräume<br />

Der Mensch und die Landschaft<br />

Die Vorstellung der nicht von Menschenhand geformten Natur, der Landschaft<br />

als gewachsene physische Umwelt, als steingewordener Rahmen<br />

unseres Seins ist nicht erst seit der Einführung von Flussbettregulierungen<br />

und Autobahnen obsolet. Der Mensch hat mit seiner Kultur im weitesten<br />

Sinn immer schon in die Landschaft eingegriffen, sie geformt, sie<br />

nutzbar gemacht. Ob nun im Dienste der zu steigernden landwirtschaftlichen<br />

Produktion feuchte Wiesen trocken gelegt, Flüsse umgeleitet oder<br />

Wälder abgeholzt wurden. Gerade in der montanen und wenig urbanisierten<br />

Region Liezen, in der einerseits die Natur so definitionsmächtig,<br />

aber auch so schützenswert ist, ist der Kampf um die Gestaltungshoheit<br />

der Landschaft ein ganz zentraler. Wer darf wo eingreifen, was regulieren,<br />

zu welchem Zweck adaptieren? Darf Natur zur Schaffung von Privatheit<br />

ge-/miss-/braucht werden, wie es Franz Kapfer in seiner Arbeit<br />

beobachtet? Was bedeutet es, wenn sich Nutzung und Bedeutung eines<br />

Ortes innerhalb der Landschaft verändern, wenn dieser Ort z. B. zu einem<br />

Verkehrsknotenpunkt werden soll, an dem sich die Geister scheiden, so<br />

wie es Katařina Šedá für den geplanten Kreisverkehr vor dem Schloss<br />

Trautenfels erkannt hat?<br />

Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, hat unter anderem Gundi<br />

Jungmeier Aktivistinnen und Aktivisten sowie Funktionärinnen und<br />

Funktionäre rund um die Natura 2000 und die Ennsnahe Trasse interviewt<br />

und lässt diese in ihrem Ausstellungs- und Katalogbeitrag zu Wort<br />

kommen.<br />

Der Mensch und sein Überleben<br />

Der Mensch schafft sich nicht nur die Dinge seines täglichen Lebens, er<br />

schafft sich auch ein System der Ordnung und Sinnhaftigkeit, das ihm<br />

Orientierung und Sicherheit gewährleistet. Früher waren es die Kirche<br />

oder der unantastbare Erfahrungsschatz der Älteren, der Schicksalsschlägen<br />

eine Bedeutung zuwies und damit erträglich machte. Heute<br />

dreht sich das Leben vordergründig darum, solche Ereignisse präventiv<br />

zu vermeiden. Radfahrhelme und Sicherheitsgurte bewahren Menschen<br />

vor Verletzungen, Pestizide wehren Schädlinge ab und Impfungen schützen<br />

Mensch und Vieh vor Erkrankungen. Der Mensch hat eine Reihe praktischer<br />

Sicherheitsmechanismen geschaffen – sie sollen das abwenden,<br />

wogegen eigentlich doch im Vorfeld eine Versicherung abgeschlossen<br />

wurde. Doch was verschafft uns tatsächlich Sicherheit? Und was würden<br />

wir opfern, abseits der monatlichen Versicherungsbeiträge, damit<br />

wir (uns) „sicher“ sind? Maria Papadimitriou hat Teile der Liezener Bevölkerung<br />

dahingehend befragt, welche Systeme der Sicherheit sie sich<br />

geschaffen haben. Im Mittelpunkt standen dabei vordergründig Landwirtinnen<br />

und -wirte, die in ihrem Arbeitskreislauf auf die oft unberechen-


252 — 253<br />

Elke Murlasits<br />

bare und nicht immer beherrschbare Natur angewiesen sind. Gernot Rabl<br />

hat mit diesen Interviews gearbeitet und über Glaube und Aberglaube<br />

reflektiert.<br />

Des Menschen alte und neue Kleider<br />

Etwas scheinbar so banales wie unser „Gewand“, unsere Kleidung, muss<br />

mannigfaches leisten: vor Wind und Wetter ebenso wie vor Schmutz und<br />

Kälte schützen, Schweiß abführen und Feuchtigkeit abweisen. Nicht umsonst<br />

wird die Kleidung auch als „zweite Haut“ bezeichnet.<br />

Unsere Kleidung, und da nicht nur die sogenannte „Funktionswäsche“,<br />

muss auch inhaltlich mehrere Funktionen erfüllen: Sie muss unsere<br />

Scham bedecken, uns vor übergriffigen Blicken schützen, kommunizieren,<br />

wer wir sind, oft auch woher wir kommen, was wir wollen und wozu<br />

wir da sind.<br />

Gerade traditionelle Stoffe und Kleidung wie der Loden oder die Tracht<br />

sind sehr stark dieser bewussten Sinnstiftung und Sinnkommunikation,<br />

mit diesen zusätzlichen inhaltlichen Bedeutungszuschreibungen, unterworfen.<br />

An dieser per Definition für eine Region/Berufsgruppe/Zeit/etc.<br />

typischen Kleidung kann sehr viel über das Selbstbild eben dieser Zeiten,<br />

Gruppen und Individuen abgelesen werden. Was bedeutet es aber,<br />

wenn diese Kleidung auch noch in Handarbeit produziert wird? Wenn die<br />

Arbeit, der Aufwand, die Sorgfältigkeit nicht in ein unbekanntes Land<br />

zu Minimallöhnen vergeben, abgeschoben, sondern erfahrbar, sichtbar<br />

wird? Christian Philipp Müller hat für seine künstlerische Arbeit viele<br />

Gespräche mit Produzierenden und Trägerinnen und Trägern von Tracht<br />

und Loden geführt, Günther Marchner hat ihn dabei unterstützt und<br />

dabei die Abgründe und Hochebenen politischer Vereinnahmung bis zu<br />

emanzipierter Selbstdefinition ausgeleuchtet und in seinem Beitrag über<br />

die „Karriere des Lodens“ verarbeitet. Ebenso wurden die Mitglieder des<br />

Vereins Schloss Trautenfels um ihren ganz persönlichen Standpunkt zu<br />

Tracht und Loden befragt.<br />

Der Mensch und seine Architektur_en<br />

Architektur ist nun unbestreitbar ein vom Menschen geschaffenes Werk.<br />

Doch wie wir uns diese Architektur zu eigen machen, wie wir sie benutzen<br />

(dürfen), das wird durch deren und unsere Aufgabe definiert.<br />

Für öffentliche Gebäude wie die Schauräume eines Schlosses oder ein Museum<br />

gelten klar geregelte Verhaltensmuster, die – nicht nur, aber auch –<br />

durch künstlerische Interventionen wie die vom Künstler/innen-Paar Lang<br />

& Baumann (L/B) unterwandert werden können. Architekturen können<br />

„falsch“ verwendet, subversiv miss-/gebraucht werden oder ihre Funktion<br />

– zumindest temporär – umgewandelt werden. Da muss sich der Mensch<br />

aber schon auch aktiv neue Perspektiven und Interpretationen schaffen.<br />

Einfacher hingegen ist die Nutzung des Privatraums, der ja dazu geschaffen<br />

wurde, um ganz privat, um ganz sie/er selbst zu sein. Franz<br />

Kapfer hat sich in der Recherchephase für seine Arbeit mit Mustern in der<br />

vielleicht typischen regionalen Privatarchitektur auseinandergesetzt, die<br />

sich nach außen hin – gleich einer Wehranlage – dem Fremden gegenüber<br />

klar abgrenzt.<br />

Gundi Jungmeier hingegen hat die Fragestellung umgedreht und Fremde,<br />

die sich in der Region Liezen – also aus deren Sicht „in der Fremde“ –<br />

Privatraum geschaffen haben, befragt. Auszüge der Interviews sind im<br />

Katalog zu finden, die Filmdokumentation in der Ausstellung zu sehen.<br />

Die Schüler/innen der VS Unterburg haben mit Wolfgang Otte und ihrer<br />

Lehrerin Maria Mössner das Schloss Trautenfels von einer unbekannten<br />

Seite kennengelernt. Ihre Eindrücke haben sie für uns fotografisch festgehalten<br />

und in spannenden Aufsätzen dokumentiert. Gernot Rabl hat<br />

der Architektur des Schlosses in seinem Beitrag ebenfalls ein besonderes<br />

Augenmerk geschenkt.<br />

Hier ist es endlich Zeit, sich bei all jenen zu bedanken, die uns bei den<br />

vorhin genannten Projekten unterstützt haben und erst den Inhalt dieser<br />

überaus spannenden Arbeiten geliefert haben. Danke an all die Interviewpartner/innen,<br />

die uns Einblick in ihr Leben und ihre Arbeiten gewährt<br />

haben, uns ihre Zeit geschenkt und ihre Wohnungen geöffnet haben.<br />

Danke auch an alle, die Fotos und Informationen bereitgestellt haben<br />

und besonders an die Schüler/innen der VS Unterburg, die ihrer Fantasie<br />

freien Lauf gelassen und das Schloss für uns neu entdeckt haben.


254 — 255<br />

Kurzer historischer Aufriss zur<br />

Geschichte von Schloss Trautenfels<br />

in Verbindung mit klassischen<br />

Architektur- und Raumfragen<br />

Gernot Rabl<br />

Sabina Lang und Daniel Baumann (L/B) greifen mit ihren Installationen in<br />

ein bereits existierendes Gebäude sowie einen klar definierten Raum ein<br />

und lassen die sich daraus ergebenden Wechselbeziehungen zwischen<br />

Schloss, Raum und Objekt bewusst in Schwebe. Die vertraute Sichtweise<br />

des vor allem durch die erhöhte Lage weit über dem Ennstal erkennbaren<br />

Schlosses wird durchbrochen. Die durch L/B erfolgten Eingriffe sorgen für<br />

eine geänderte Wahrnehmung und lassen klassische Architekturfragen<br />

nach Konstruktion, Raum, Positionierung, Form und Funktion aufkommen,<br />

die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der repräsentativen<br />

Architektur und der Geschichte des Schlosses stehen.<br />

Bereits im Jahre 1261 wurde an dieser Stelle zum ersten Mal eine Burg<br />

Neuhaus urkundlich erwähnt. Die Burg – an einer strategisch wichtigen<br />

Stelle errichtet – stand rasch im Spannungsfeld zwischen dem Salzburger<br />

Bischofssitz, dem Herzogtum Steiermark und den Habsburgern, galt<br />

es doch, den Kreuzungspunkt der Salzstraße mit der Strecke durch das<br />

Ennstal, den Ennsübergang und die wenige Kilometer westlich gelegene<br />

steirische Landesgrenze abzusichern.<br />

Auf kriegerische Auseinandersetzungen folgte am Ende des 13. Jahrhunderts<br />

nach dem Erzbistum Salzburg die endgültige Übernahme durch<br />

das Landesfürstentum Steiermark. Im Zuge der immer wiederkehrenden<br />

Machtkämpfe wurde die Burg allerdings völlig zerstört und erlangte nach<br />

dem Wiederaufbau nicht mehr dieselbe strategische Bedeutung.<br />

Ende des 15. Jahrhunderts trat die Familie Hoffmann, eine der reichsten<br />

und mächtigsten Adelsfamilien der Steiermark, als neuer Besitzer auf.<br />

Sie waren bedeutende und einflussreiche Förderer des protestantischen<br />

Glaubens und ließen im 16. Jahrhundert unweit der Burg eine evangelische<br />

Kirche errichten, wodurch Neuhaus während der Reformation zu<br />

einem Zentrum des neuen Glaubens wurde. Mit der Zerstörung der Kirche<br />

(1599) verlor Neuhaus allerdings in der darauffolgenden Gegenreformation<br />

wieder an Bedeutung.<br />

Nach einigen Jahrzehnten unterschiedlicher Burgpfleger fiel die Anlage<br />

1664 in den Besitz der Familie Trauttmansdorff. Unter Siegmund Friedrich<br />

von Trauttmansdorff, dem damaligen steirischen Landeshauptmann,<br />

erfolgte der Umbau der Burg zu dem heutigen barocken Schloss und<br />

erhielt den Namen Trautenfels. Trauttmansdorff verpflichtete um 1670<br />

den Tessiner Maler Carpoforo Tencalla für die Gestaltung der Fresken<br />

des Marmorsaales, der Schlosskapelle sowie für zwei weitere Räume des<br />

Schlosses; für die Stuckaturen zeichnete Alessandro Sereni verantwortlich.<br />

Bis 1815 blieb das Schloss Eigentum der Familie Trauttmansdorff.<br />

Nach zahlreichen Besitzerwechseln war das Schloss schließlich im Besitz<br />

der Familie Lamberg, den letzten adeligen Eigentümern des Schlosses.<br />

Unter Graf Josef Lamberg (Besitzer von 1878 bis 1904) wurde Schloss<br />

Trautenfels umfassend renoviert, wohnlich ausgestattet und unter anderem<br />

mit einer Zentralheizung versehen. Durch die Mitgift seiner Frau<br />

Anna und sein eigenes Vermögen war ihm die dringende Restaurierung<br />

des damals stark vernachlässigten Gebäudes möglich geworden.<br />

Seine Gattin Anna führte den Besitz nach seinem Tod bis 1941 weiter,<br />

ehe sie aus finanziellen Gründen das Schloss an die Deutsche Reichspost<br />

verkaufen musste. Aufgrund der Kriegslage war das geplante Erholungs-<br />

bzw. Postkongressheim nicht realisierbar, weshalb die Republik<br />

Österreich als anschließender Eigentümer die Liegenschaft an das<br />

steirische Jugendherbergswerk verkaufte. Dieses zog nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg ein, konnte aber ebenfalls die Erhaltung nicht über längere<br />

Zeit finanzieren, sodass das Schloss 1983 in den Besitz der öffentlichen<br />

Hand gelangte.<br />

In den 1950er-Jahren erfolgte schließlich der Aufbau des Schlosses zu<br />

einem Regionalmuseum für das steirische Ennstal und das Salzkammergut,<br />

als eine Abteilung des Steiermärkischen Landesmuseums Joanneum,<br />

seit 2009 Universalmuseum Joanneum. Die Eröffnung fand am 9. August<br />

1959 statt, wobei bereits von Beginn an eine starke Bindung der Bevölkerung<br />

an „ihr“ Museum festzustellen war.<br />

Im Jahr 1983 erwarb die Gemeinde Pürgg-Trautenfels mit Unterstützung<br />

des Landes das Schloss, und im selben Jahr konstituierte sich auch der<br />

Verein Schloss Trautenfels, der die Sanierung der baufälligen Substanz in<br />

anfänglich kleinen Schritten vorantrieb. Als die Abteilung Schloss Trautenfels<br />

1989 die Landesausstellung für 1992 („Lust und Leid“) zugesprochen<br />

bekam, konnte die notwendige Generalsanierung beschleunigt und<br />

in nur zweieinhalb Jahren Bauzeit durchgeführt werden. Als ausführen-


256 — 257<br />

Gernot Rabl<br />

1<br />

Walter Brunner, Barbara<br />

Kaiser: Schloss Trautenfels<br />

(=Kleine Schriften der<br />

Abteilung Schloss Trautenfels<br />

am Steiermärkischen<br />

Landesmuseum Joanneum).<br />

Trautenfels 1992, zit. nach:<br />

http://www.museum-<br />

joanneum.at/de/trautenfels/das_schloss<br />

[Zugriff: 28.4.2010.]<br />

2<br />

Walter Chramosta:<br />

Grimmi(n)ge(r) Gegenkodierungen.<br />

Manfred Wolff-<br />

Plotteggs Eingriffe in Körper<br />

und Seele von Schloss<br />

Trautenfels (=Architektur<br />

& Bauforum, Nr. 152). Wien<br />

1992, 109 ff; Wolfgang<br />

Otte: Der Umbau des alten<br />

Schlosses. Überraschungen<br />

und neue Effekte. In: Da<br />

schau her, Folge 2, Trautenfels<br />

1992, 22 ff.<br />

3<br />

Marc Redepenning: Eine<br />

selbst erzeugte Überraschung:<br />

Zur Renaissance<br />

von Raum als Selbstbeschreibungsformel<br />

der Gesellschaft.<br />

In: Jörg Döring,<br />

Tristan Thielmann (Hg.):<br />

Spatial Turn. Das Raumparadigma<br />

in den Kultur- und<br />

Sozialwissenschaften.<br />

Bielefeld: transcript 2008,<br />

S. 317.<br />

den Architekten gewann man Manfred Wolff-Plottegg, welcher die alte<br />

Bausubstanz des Schlosses mit moderner Architektur verband. 1<br />

Bei einem Rundgang durch das Schloss lassen nun im Besonderen die<br />

Einbauten Wolff-Plotteggs einen Vergleich mit den künstlerischen Installationen<br />

von L/B zu. Auch der Architekt ging von einem fertigen Gebäude<br />

aus und sorgte in der Durchführung für bewusste Irritationen: So<br />

trennt beispielsweise im Zwischengeschoss eine Treppenkonstruktion, in<br />

Verwendung als Tür, den Seminar- vom Museumsbereich oder dienen im<br />

Museumsshop in die Wand führende Stufen als Präsentationsflächen. Weiters<br />

kann unter anderem an die zweite Hauptstiege, den Eingangs- und<br />

Kassabereich sowie die Überdachung der Lichthöfe erinnert werden. 2 Im<br />

Unterschied zu Manfred Wolff-Plotteggs Maßnahmen bleiben jedoch die<br />

Interventionen von L/B zeitlich begrenzt und sind vollständig reversibel,<br />

d. h. sie werden entfernt, bevor sie langfristig Teil der Geschichte des<br />

Schlosses werden.<br />

Das Künstler/innen-Paar erzwingt eine völlig neue Auseinandersetzung<br />

und stellt den ursprünglichen Architekturgedanken infrage. Sie vermeiden<br />

es dabei, den Besucherinnen und Besuchern vorzuschreiben, was sie zu<br />

sehen oder zu denken haben und machen deutlich, „dass es nicht um den<br />

Raum an sich geht, sondern um Raumkonzepte und Raumvorstellungen,<br />

wie man den Raum denken kann.“ 3 Nicht aufgezwungene Erklärungen über<br />

Benutzbarkeit, Funktion und Bedeutung schaffen ausreichend Platz für<br />

Fantasie, sodass ganz unterschiedliche Sichtweisen gepaart mit Geschichten<br />

entstehen können (vgl. unten). Die Besucher/innen werden durch die<br />

„erzwungene“ aktive Beschäftigung Teile des Kunstwerkes.<br />

Generell sei festgehalten, dass bei der klassischen Definition eines Raumes<br />

beziehungsweise eines Gebäudes auch der gesamte Kontext berücksichtigt<br />

werden muss: zum Beispiel das äußere Umfeld, die politischen Bedingungen,<br />

Funktionen aber natürlich auch ästhetische Belange. Auch ein als<br />

Museum adaptiertes Schloss wird anders zu behandeln sein als ein eigens<br />

geschaffener Museumsbau. Architektur zieht allgemein eine Grenze zwischen<br />

innen und außen und definiert den umliegenden Landschaftsraum<br />

beziehungsweise die vorgegebene Fläche. Dabei fügt sich ein Bauwerk<br />

entweder harmonisch in die Umgebung ein oder bildet einen bewussten<br />

Kontrast. Hat sich ein Gebäude hingegen etabliert und werden nachträgliche<br />

und/oder temporäre Eingriffe wie die den Innen- und Außenraum des<br />

Schlosses betreffenden Interventionen von L/B aufgenommen, ist eine<br />

gewohnte Sichtweise nicht mehr möglich. Ablehnung, Unverständnis und<br />

Irritation, aber auch Neugierde, Wissensdrang und Interesse entstehen, da<br />

die vermeintlich bekannte Lesbarkeit des Gebäudes, welche sich mitunter<br />

bereits an der Fassade ausdrückt, aufgehoben und infrage gestellt wird.<br />

Die uns umgebende Architektur, sei es im städtischen oder ländlichen<br />

4<br />

Vilém Flusser: Räume.<br />

In: Jörg Dünne, Stephan<br />

Günzel (Hg.): Raumtheorie.<br />

Grundlagentexte<br />

aus Philosophie und<br />

Kulturwissenschaften.<br />

Frankfurt am Main:<br />

Suhrkamp 2006, S. 279.<br />

5<br />

Ebda, S. 283 f<br />

Bereich, hat somit für jeden einzelnen Menschen eine konkrete Bedeutung.<br />

Sie ist Teil eines gewohnten Blickes, persönlicher Erfahrungen oder<br />

steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Erlebtem. So ergaben viele<br />

im Zuge der Vorbereitungen zur Sonderausstellung getätigte Umfragen,<br />

dass die um das Schloss wohnenden Personen sich dem Bauwerk stark<br />

verbunden fühlen und es nicht missen wollen: Ihre Reaktionen auf L/Bs<br />

Eingriffe werden am nachhaltigsten sein.<br />

Eine wichtige Funktion von Architektur, eines Raumes oder eines Gebäudes<br />

ist die klare Trennung von öffentlichen und privaten Lebensbereichen.<br />

„Es gibt [aber] immer wieder Einbrüche aus dem Privatraum in<br />

die Republik und aus der Politik in den Privatraum, und Raumgestalter<br />

sind dazu da, den Verkehr zwischen privat und öffentlich zu regeln. Zu<br />

diesem Zweck eben entwerfen sie Mauern, Fenster und Türen, und Straßen,<br />

Plätze und Tore. Privat und öffentlich sind die beiden großen Lebensraumkategorien,<br />

und alle übrigen Räume sind dort einzuräumen.“ 4<br />

Dieser Feststellung Vilém Flussers folgt seine auch auf L/Bs Installationen<br />

umlegbare Forderung an die Raumgestaltung, Räume zu öffnen und<br />

nicht mehr auf ein starres Achsenkreuz zu reduzieren. „Da wir bisher den<br />

Raum vom Boden her, also geometrisch, erlebt und verstanden haben,<br />

war bisher das Merkmal alles Räumlichen die Definition, die Grenze. Und<br />

jetzt, da wir den Raum von innen her, also topologisch, zu erleben und zu<br />

verstehen beginnen, wird das Merkmal alles Räumlichen das Überschneiden,<br />

das Überdecken, das Ineinandergreifen werden.“ 5<br />

Durch die Schaffung von Übergängen von innen nach außen und der<br />

damit verbundenen Auflösung des Raumes verliert folglich auch „Architektur“<br />

ihre unbewegliche Körperhaftigkeit und ein Gebäude, in unserem<br />

Fall das Schloss, verliert an Massivität. Die gezielt platzierten Eingriffe<br />

von Lang und Baumann lassen bewusst geschaffene neue Blickwinkel<br />

und Sichtweisen entstehen, welche von den Betrachterinnen und Betrachtern<br />

subjektiv wahrgenommen und interpretiert werden.<br />

Dabei wird ein unbefangener Blick nötig sein, um auf das in diesem Zusammenhang<br />

noch nie Gesehene reagieren zu können. Unter anderen<br />

Vorzeichen wurde bereits vor der Eröffnung der Sonderausstellung mit<br />

einer Volksschulklasse ähnliches erprobt. Im Rahmen einer gezielten<br />

Führung konnten die Schüler/innen Räumlichkeiten des Schlosses betreten,<br />

die im Normalfall nicht öffentlich zugänglich sind. Ihre Reaktionen<br />

auf Unbekanntes lösten unterschiedliche Fantasien und Geschichten<br />

aus und sorgten für neue Blickwinkel, die während der Führung mit Einwegkameras<br />

festgehalten wurden. Die verschiedenen Eindrücke wurden<br />

nachträglich in einer Unterrichtsstunde niedergeschrieben und sind am<br />

Ende dieses Beitrags nachzulesen.<br />

So wie bei den Schülerinnen und Schülern beim Anblick von Unbekanntem


258 — 259<br />

Gernot Rabl<br />

Fantasien frei wurden, sollen diese auch durch die Eingriffe von Sabina<br />

Lang und Daniel Baumann entstehen, sodass die von ihnen geschaffenen<br />

Installationen bald ihre eigene Geschichte erzählen, gemeinsam mit oder<br />

losgelöst von jener des Schlosses.<br />

Abenteuer auf Burg Neuhaus<br />

Vor langer Zeit lebte auf Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Adula.<br />

Adula war stark und gescheit. Eines Tages sah er, dass Feinde kommen<br />

und er rief: „Feinde! Feiiinde!“, und lief den Turm hinunter. Die Armee von<br />

Burg Neuhaus stand mit Ritter Adula bereit. Dann riefen sie: „Angriff!“,<br />

und sie rannten aus der Burg, und da kamen auch schon die Feinde und<br />

auf einmal krachte es. Die Schlacht begann. Adula kämpfte gegen einen<br />

anderen Ritter und verletzte den Ritter so viel, dass er nicht mehr kämpfen<br />

konnte. Die Ritter von Burg Neuhaus gewannen die Schlacht und<br />

gingen in die Burg zurück und feierten noch viel wegen der gewonnen<br />

Schlacht.<br />

Burg Neuhaus<br />

Es war früh am Morgen, und das Telefon klingelte. Mein Vater wachte auf<br />

und sagte: „Was ist passiert?“ Ich wachte auf und sagte: „Vater, bitte<br />

geht nicht schon wieder in den Kampf.“ Mein Vater legte den Hörer auf<br />

das Telefon und sagte zu mir: „Mein Schatz, ich verspreche dir, dass ich<br />

zurückkommen werde.“ Nun wachte auch meine Mutter auf und sagte:<br />

„Schatz, dein Vater muss kämpfen, sonst wird unsere Burg zerstört.“<br />

Dann sagte sie noch: „Warum bist du eigentlich in unserem Schlafgemach?“<br />

Dann sagte ich: „Mir war so kalt und ich hatte einen Albtraum,<br />

deswegen bin ich bei dir.“ Dann sagte unsere Hausmagd: „Prinzessin Lilli,<br />

hilfst du mir das Frühstück zubereiten?“ Ich sagte: „Natürlich Greta.“<br />

Nach dem Frühstück zog mein Vater in den Kampf und schrie laut: „Für<br />

Troja!“ Nach dem Mittagessen bekamen wir einen Anruf, der mein Leben<br />

veränderte. Meine Mutter sagte schluchzend: „Dein Vater ist im Kampf<br />

gefallen.“ Ich fing laut zu schreien an und schrie: „Ihr blöden Briten, ich<br />

nehme Rache!“ Dann fing ich zu weinen an und lief in mein Zimmer. Meine<br />

Mutter kam zu mir und tröstete mich. Dann sagte ich: „Oh Mutter, ich<br />

werde Rache nehmen.“ Und das tat ich auch. Sechs Jahre später war ich<br />

sechzehn, und mir passte die erste Ritterrüstung. Ich zog in den Kampf.<br />

Meine Mutter wollte mich aufhalten und sagte: „Bleib hier oder willst du<br />

auch ermordet werden?“ Aber ich sagte: „Mein Pferd und ich sind bereit,<br />

wir nehmen Rache.“ Dann zog ich los, und ich war fast am Ziel. Doch<br />

dann kamen feindliche Ritter und sagten: „Sieh mal Franz, da will ein<br />

kleines Mädchen gegen uns kämpfen.“ Ich sagte: „Ich bin kein kleines<br />

Mädchen, ihr habt mir etwas weggenommen, was mir sehr wichtig war.“<br />

Dann spuckte ich ihnen ins Gesicht. Ein Ritter sagte: „Komm Kleine, wir<br />

Katharina Jos, Schloss Trautenfels 2010<br />

bringen dich nach Hause.“ Aber ich schrie: „Hüa, Lissi!“ Mein Pferd ritt<br />

los, ich drehte mich um und schrie laut: „Ich lasse mich doch nicht von<br />

euch schmierigen Banausen herumkommandieren!“ Die Ritter lachten<br />

und ritten weiter. Ich stürmte die Burg und stach alles nieder, was mir in<br />

den Weg kam. Doch dann passierte es, ich wurde erstochen. Ich wachte<br />

auf und merkte, dass es nur ein Traum gewesen ist. Aber ich war wirklich<br />

im Mittelalter. Ich ging ganz langsam zum Schlafgemach von meinen Eltern,<br />

ich öffnete ganz langsam und leise die Türe. Mein Vater lebte noch,<br />

ich war heilfroh, dann kroch ich unter die Decke von meiner Mutter und<br />

träumte etwas ganz Schönes. So ist es passiert oder so ähnlich. Und das<br />

war die Geschichte von Burg Neuhaus. Dann merkte ich, dass ich eigentlich<br />

in der Schule bin. Mein Lehrer klatschte und sagte: „Bravo, bravo.<br />

Das war mit Abstand die beste Geschichte.“<br />

Abenteuer auf Burg Neuhaus<br />

Vor langer Zeit lebte auf Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Eisenstein.<br />

Er war mein Vater. Als ich früh am Morgen aufwachte, sah ich<br />

meinen Vater, er war schon in der Ritterrüstung. Er sagte: „Morgen, mein<br />

Prinzesschen!“ Ich fragte ganz verschlafen: „Was machst du denn schon<br />

wieder?“ Er sagte: „Ach Lala, das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle es<br />

dir später. Ich habe es eilig!“ Als ich noch etwas sagen wollte, war er auch<br />

schon weg. Meine Mutter wachte auch schon auf. Und fragte mich: „Wo<br />

ist Papa?“ Ich sagte traurig: „Er ist schon wieder in den Kampf gegangen!“<br />

Meine Mutter sagte zu mir: „Sei nicht traurig, Papa macht das nur<br />

für uns.“ Nach einer Weile kam Papa wieder in die Burg zurück. Ich fragte:


260 — 261<br />

Fotos links:<br />

Sara Egger, Schloss Trautenfels<br />

2010<br />

Fotos rechts (i.U.):<br />

Julian Schmied, Annika Hofer,<br />

Alois Brettschuh, Alexandra<br />

Schirl, Ramona Eingang,<br />

Schloss Trautenfels 2010


262 — 263<br />

Gernot Rabl<br />

„Bist du verletzt?“ Er sagte ganz traurig: „Nein, aber wir haben alles verloren!“<br />

Ich sagte ganz verweint: „Auch die Burg?“ Papa sagte: „Ja, auch<br />

die Burg!“ Ich sagte: „Aber wo sollen wir jetzt wohnen?“ Er hatte mich<br />

nicht mehr gehört, weil er schon in ein anderes Zimmer verschwunden<br />

war. Mir kam eine Idee. Ich wollte für die Burg kämpfen. Ich nahm den<br />

Telefonhörer und rief bei den Kämpfern an. Wir machten einen Termin<br />

aus. Er war heute um 4 Uhr. Es war schon 3:14 Uhr. Ich richtete mich<br />

zusammen. Ich nahm mein Pferd und ritt hinunter in die Kampfstube.<br />

Ich wurde immer nervöser. Es ging los! Ich setzte mich auf mein Pferd.<br />

Ein starker Mann kam mir entgegen. Ich stieß ihn vom Pferd hinunter. Ich<br />

hatte gewonnen!! Wir würden uns die Burg behalten. Wir feierten noch<br />

lange. In der Früh merkte ich, dass alles nur ein schrecklicher Traum war.<br />

Abenteuer auf Burg Neuhaus<br />

Vor langer Zeit lebte auf Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Peter<br />

Rosegger. Er war bei den Bauern beliebt. Peter Rosegger hatte drei<br />

Frauen, die ihn liebten. Peter Rosegger konnte aber nur eine Frau heiraten.<br />

Es griff eine Armee von Burg Lachtal Schloss Trautenfels an. Peter<br />

Rosegger rief: „Wachen auf den Schlossturm! Ritter vor das Burgtor und<br />

die anderen Leute in die Häuser! Die Ritter ohne Ritterrüstung an die<br />

Pechnasen über dem Burgtor.“ Peter Rosegger zog die Ritterrüstung an<br />

und schrie: „Auf zum Krieg gegen die Burg Lachtal!“ Aber die Lachtaler<br />

hatten den Geheimgang gefunden und stürzten in die Grube ab. Burg<br />

Trautenfels hatte nochmal Glück gehabt. Peters Mannen gewannen den<br />

Krieg gegen das Lachtal. Peter Rosegger heiratete eine Frau und die hieß<br />

Johanna Rosegger und sie bekamen ein Kind. Das Kind hieß Verena Rosegger.<br />

Abenteuer auf Burg Neuhaus<br />

Vor langer Zeit lebte auf Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Reinhold.<br />

Er hatte eine bezaubernde Frau namens Michaela und ein Kind, das<br />

hieß Alexandra. Alexandra hatte eine Freundin namens Verena. Sie hatten<br />

schon viele Abenteuer erlebt. Aber heute hatten sie einen Geheimgang<br />

gefunden. Sie untersuchten ihn und gingen hinein. Es war sehr staubig.<br />

Trotzdem wollten sie hinein. Am Ende des Ganges war eine Tür aus Eisen.<br />

Zum Glück war die Tür nicht verschlossen. Die Tür führte ins Dorf. Sie<br />

sahen sich um. Es waren viele Leute, Kinder, Erwachsene aber auch Tiere.<br />

Da kam ein schwarzer Ritter. Alle schrien vor Angst. Der schwarze Ritter<br />

klaute die Sachen von ihnen. Schnell rannten sie hinter eine Mauer und<br />

beobachteten ihn. Es kam Ritter Reinhold und kämpfte mit ihm. Vater<br />

gewann den Kampf. Der schwarze Ritter musste fort. Ende.<br />

6<br />

Auswahl an Schüler/innen-<br />

Arbeiten der VS Unterburg,<br />

4. Klasse: Johannes<br />

Berger, Alois Brettschuh,<br />

Max Brettschuh, Verena<br />

Brettschuh, Sara Egger,<br />

Ramona Eingang, Annika<br />

Hofer, Katharina Jos, Anna-<br />

Lena Kanzler, Nico Pichler,<br />

Alexandra Schirl, Julian<br />

Schmied, Birgit Steiner;<br />

Klassenlehrerin: Dipl. Päd.<br />

VD Maria Mössner.<br />

Burg Neuhaus<br />

Vor langer Zeit lebte auf der Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens<br />

Baldur. Eines Tages war ein Kampf mit dem König Paul. Er war der stärkste<br />

Ritter auf der Welt. Alle Ritter hatten Angst vor Paul. Eines Tages war<br />

Nina, die Frau von Baldur, sehr enttäuscht, weil er nie da war und immer<br />

was zu erledigen hatte. Und das war kämpfen und kämpfen. „Nie hat er<br />

Zeit für mich. Immer muss er kämpfen“, sagte Nina ganz traurig. Baldur<br />

hatte so etwas wie eine Kämpfkrankheit. Es war am Morgen. Nina schrie:<br />

„Aufstehen, Baldur! Es gibt Frühstück!“ Baldur sagte mit müder Stimme:<br />

„Was gibt es denn?“ „Maisbier, Eier, Erdbeeren, Bananen, Wurst, Bier,<br />

Kaffee, Nutellabrot und Äpfel.“ Baldur erschrak: „So viel?“, “Ja, so viel,<br />

und du musst alles aufessen!“ Da versprach Baldur, dass er wieder mehr<br />

Zeit für Nina hatte. Nina sagte: „Danke, mein Schatz!“ Ende.<br />

Der Ritter Kunibert<br />

Es war einmal vor langer Zeit ein Ritter, der hieß Kunibert. Er war ein tapferer<br />

Ritter. Eines Tages gab es auf der Burg Neuhaus ein großes Reitturnier.<br />

Dieses Turnier war sehr wichtig für ihn. Denn wenn er es gewinnen<br />

konnte, bekam er eine hohe Prämie. Es waren viele Leute gekommen, um<br />

sich das Turnier anzusehen. Da waren Knappen, Kinder, Frauen, Männer<br />

und viele Ritter. Diese Veranstaltung dauerte 1 Woche lang. Zu essen<br />

gab es Spanferkel und Kalbfleisch und Wasser, Bier und Wein zu trinken.<br />

Kunibert stieß bei einem Kampf den schwarzen Ritter mit seiner Lanze<br />

vom Pferd. Somit hatte er das Turnier gewonnen, und er bekam die Prämie.<br />

Endlich konnte er sein Haus fertig bauen. Er war sehr glücklich über<br />

sein fertiges Haus.“ 6


264 — 265<br />

1<br />

Richtlinie 92/43/EWG zur<br />

Erhaltung der natürlichen<br />

Lebensräume sowie der<br />

wildlebenden Tiere und<br />

Pflanzen, Fauna-Flora-<br />

Habitat-Richtlinie.<br />

In: http://www.umweltbundesamt.at/umweltschutz/naturschutz/<br />

naturrecht/eu_richtlinien/<br />

ffh_richtlinie/ [Zugriff:<br />

15.3.2010].<br />

2<br />

Richtlinie 79/409/EWG<br />

vom 2. April 1979 über die<br />

Erhaltung der wildlebenden<br />

Vogelarten, Fauna-Flora-<br />

Habitat-Richtlinie.<br />

In: http://www.umweltbundesamt.at/umweltschutz/naturschutz/<br />

naturrecht/eu_richtlinien/<br />

vogelschutz_rl/ [Zugriff:<br />

15.3.2010].<br />

3<br />

What is Natura 2000?<br />

Environment Directorate-<br />

General of the European<br />

Commission.<br />

In: http://ec.europa.eu/<br />

environment/nature/<br />

natura2000/ [Zugriff:<br />

15.3.2010].<br />

4<br />

Ernst Zanini: Natura 2000<br />

in der Steiermark. In:<br />

Bericht. 10. Österreichisches<br />

Botanikertreffen vom 30.<br />

Mai bis 1. Juni 2002 an der<br />

HBLA Raumberg. Irdning<br />

2002, S. 57.<br />

5<br />

Managementplan Kurzfassung.Europaschutzgebiete<br />

zwischen Pruggern<br />

und Selzthal, Amt der<br />

Steiermärkischen Landesregierung,<br />

Fachabteilung<br />

13C Naturschutz. Gleisdorf<br />

2009, S. 7.<br />

6<br />

Verordnung der SteiermärkischenLandesregierung<br />

vom 4. Dezember<br />

2006 über die Erklärung<br />

des Gebietes „Wörschacher<br />

Moos und ennsnahe Bereiche“<br />

(AT 2212000 zum<br />

Europaschutzgebiet Nr. 4,<br />

4.12.2004, 1. In: http://<br />

www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=LrSt<br />

Das schlechte Gewissen des Homo faber<br />

Standpunkte zur Ausweisung von Natura<br />

2000-Schutzgebieten im steirischen Ennstal<br />

Gundi Jungmeier<br />

Natura 2000 bezeichnet ein EU-weites Netzwerk von Naturschutzgebieten,<br />

das sich auf die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie 1 (FFH-RL) und die<br />

Vogelschutz-Richtline 2 (VS-RL) der EU stützt. Ziel ist nicht die Schaffung<br />

isolierter Naturschutzgebiete, aus denen jegliche menschliche Aktivitäten<br />

ausgeschlossen sind, sondern die Handhabung dieser Flächen im<br />

Sinne einer ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit. 3<br />

Mit dem Beitritt zur EU im Jahr 1995 hat sich Österreich verpflichtet,<br />

Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, um die Natura<br />

2000-Richtlinen umzusetzen. Da in Österreich Natur- und Umweltschutz<br />

in die Kompetenz der Bundesländer fallen, hat der Steiermärkische Landtag<br />

im Jahr 2000 eine Novelle zum Steiermärkischen Naturschutzgesetz<br />

erlassen, um den EU-Richtlinien zu entsprechen. 4<br />

Mittlerweile sind zwischen Pruggern und Selzthal Flächen entlang der<br />

Enns Flächen von knapp 3.000 ha als Natura 2000-Schutzgebiete nach<br />

der FFH-RL bzw. VS-RL ausgewiesen. 5<br />

Auf den betroffenen Grundstücken finden sich zahlreiche Pflanzenarten<br />

und Lebensraumtypen sowie Tierarten, wie z. B. Fischotter, Gelbbauchunken,<br />

Uhu, Eisvogel, Neuntöter u. v. m., die als schützenswert gelten. 6<br />

Der Crex crex, besser als Wachtelkönig bekannt, wurde schließlich zur<br />

„Galionsfigur“ des Naturschutzes in der Region, da die Population im<br />

steirischen Ennstal als eines der wichtigsten alpinen Vorkommen erachtet<br />

wird. 7<br />

Ziel der „Europaschutzgebiete“, wie die Natura 2000-Gebiete in der<br />

Steiermark genannt werden, ist die Bewahrung bzw. Wiederherstellung<br />

eines günstigen Erhaltungszustandes für die Schutzgüter. 8 Die Grundeigentümer/innen<br />

der – in erster Linie landwirtschaftlichen – Nutzflächen<br />

werden für die durch die Umsetzung der Maßnahmen des „Freiwilligen<br />

Vertragsnaturschutzes“ 9 entstehenden Einschränkungen bei der Bewirtschaftung<br />

finanziell entschädigt.<br />

mk&Dokumentnummer=L<br />

RST_5500_028&Tabbed-<br />

MenuSelection=Landesrech<br />

tTab&WxeFunctionToken=c<br />

bb31231-ed42-47ed-b649eeb988e4156b<br />

[Zugriff:<br />

15.3.2010].<br />

7<br />

Der Wachtelkönig (Crex<br />

crex) im Ennstal zwischen<br />

Pruggern und dem Gesäuse.<br />

Bestand, Bewertung, Habitate<br />

– mit Empfehlungen<br />

zur Abgrenzung und zum<br />

Management des SPA<br />

„Steirisches Ennstal“, Amt<br />

der Steiermärkisch-en<br />

Landesregierung, Fachabteilung<br />

13C Naturschutz, Planungsbüro<br />

für Landschafts-<br />

& Tierökologie–Wolf Lederer.<br />

In: http://www.verwaltung.<br />

steiermark.at/cms/beitrag/10084508/2407657/<br />

[Zugriff: 15.3.2010].<br />

8<br />

Erläuterungen zum Entwurf<br />

einer Verordnung über die<br />

Erklärung des Gebietes<br />

„Ennstal zwischen Liezen<br />

und Niederstuttern“ zum<br />

Europaschutzgebiet Nr. 41.<br />

In: http://www.verwaltung.<br />

steiermark.at/cms/beitrag/10084508/2407657/<br />

[Zugriff: 28.4.2010].<br />

9<br />

Mit der Gebietsbetreuung<br />

bzw. mit der Umsetzung<br />

der für die einzelnen<br />

Schutz-güter ausgearbeiteten<br />

Einzelmaßnahmen<br />

beauftragte die zuständige<br />

Fachabteilung 13 C der<br />

Steiermärkischen Landesregierung<br />

die Ziviltechnikkanzlei<br />

Dr. Hugo Kofler;<br />

Managementplan Kurzfassung.Europaschutzgebiete<br />

zwischen Pruggern<br />

und Selzthal. Amt der<br />

Steiermärkischen Landesregierung,<br />

Fachabteilung<br />

13C Naturschutz. Gleisdorf<br />

2009, S. 2.<br />

10<br />

Gerald Schlager: Entschädigungen<br />

der Forstwirtschaft<br />

in Natura 2000 Gebieten.<br />

In: Ernst Zanini, Barbara<br />

Reithmayr (Hg.): Natura<br />

2000 in Österreich. Wien:<br />

NWV 2004, S. 205.<br />

11<br />

Brigitta Hauser-Schäublin:<br />

Von der Natur in der Kultur<br />

und der Kultur in der Natur.<br />

Werden Grundflächen zur Erreichung eines Schutzzweckes in<br />

ihrer Nutzung eingeschränkt, so haben die Eigentümer sowie<br />

Inhaber sonstiger privater und öffentlicher Rechte grundsätzlich<br />

Anspruch auf die Abgeltung hierdurch entstehender Nachteile<br />

(Schadloshaltung). 10<br />

Was genau ist jedoch unter „Natur“ zu verstehen und woher rührt der<br />

Wunsch bzw. die Notwendigkeit, sich in ihr einzurichten und sie trotzdem<br />

zu schützen?<br />

Der Begriff „Natur“ ist mit einer Reihe von Werten belegt und umreißt<br />

unterschiedliche Felder, die von der „fundamentalen Kraft, die die Welt<br />

bewegt“ über die „physische Umwelt im Unterschied zur menschlichen<br />

Umwelt“ bzw. die „Ländlichkeit im Unterschied zur Stadt oder das Wesen<br />

bzw. den Charakter einer Person oder Sache“ reichen, um nur einige Beispiele<br />

zu nennen. 11<br />

Der deutsche Soziologe Hans Paul Bahrdt verortet die Ursache für den<br />

ambivalenten Umgang mit der Natur im rationalen Denken und Handeln,<br />

das beginnend mit dem Zeitalter der Aufklärung stark an Bedeutung<br />

gewann. Die daraus hervorgegangene systematische Beobachtung dieser<br />

führte zu einem Bild von Natur als „beherrschbare Struktur“ bzw. zu<br />

einer Vorstellung von Natur als Objekt, aus dem sich der beobachtende<br />

Mensch selbst ausnimmt. 12<br />

René Descartes betrachtet Körper und Geist als gegensätzlich bzw. voneinander<br />

trennbar, wobei der Körper die Natur darstellt, die dem Geist<br />

untergeordnet ist. Da er den Menschen als einziges Wesen betrachtet,<br />

das über die Fähigkeit zu Denken bzw. über eine Seele verfügt, ist er<br />

allen anderen Wesen übergeordnet. 13<br />

Diese distanzierte Betrachtung führte nach Hans Paul Bahrdt in weiterer<br />

Folge zu einem ambivalenten Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft<br />

zu den von ihr verübten Eingriffen in ihre Außenwelt [Natur], das er als<br />

„Enttäuschungen und Schuldgefühle des homo faber“ 14 bezeichnet. Der<br />

Mensch greift zwar rational in sein Umfeld ein, allerdings handelt es<br />

sich nicht um eine absolute, sondern um eine relative Zweckrationalität,<br />

da nicht alle Konsequenzen dieser Eingriffe kalkulierbar und absehbar<br />

sind. Durch den Einsatz technischer Mittel können Veränderungen bewirkt<br />

werden, deren vorausgesehener Effekt zwar einerseits eintritt, die<br />

jedoch andererseits Folgen haben, die schwer oder gar nicht kalkulierbar<br />

sind. Daraus wiederum konnte ein Gesellschaftsbild entstehen, in dem<br />

die menschliche Existenz als „schädlich“ betrachtet wird und Bildern der<br />

„heilenden Natur“ gegenüber steht. In dieser Wahrnehmung bedarf diese<br />

heilende Natur mitunter Schutz und Pflege. In diesem Konzept kommt<br />

der Natur eine ideologische Bedeutung zu. „Natürlich“ ist einerseits z. B.<br />

der Wald, andererseits aber auch die Bäuerin oder der Bauer, wenn diese/r<br />

konservative Agrarpolitik betreibt. „‚Natürlich‘ ist alles, was so alt ist,<br />

dass es den Anschein der Ursprünglichkeit hat […].“ 15 Als natürlich und


266 — 267<br />

Gundi Jungmeier<br />

Eine kritische Reflexion<br />

dieses Begriffspaars. In:<br />

Rolf Wilhelm Brednich, Annette<br />

Schneider, Ute Werner<br />

(Hg.): Natur – Kultur. Volkskundliche<br />

Perspektiven<br />

auf Mensch und Umwelt.<br />

Münster (u. a.): Waxmann<br />

2001, S. 11.<br />

12<br />

Hans Paul Bahrdt: „Natur“<br />

und Landschaft als kulturspezifischeDeutungsmuster<br />

für Teile unserer<br />

Außenwelt. In: Gert Gröning<br />

und Ulfert Herlyn (Hg.):<br />

Landschaftswahrnehmung<br />

und Landschaftserfahrung<br />

(=Arbeiten zur sozialwissenschaftlich<br />

orientierten<br />

Freiraumplanung, Bd. 10),<br />

Münster: Lit 1996, S. 168-<br />

169.<br />

13<br />

Brigitta Hauser-Schäublin,<br />

Von der Natur in der Kultur,<br />

S. 13.<br />

14<br />

Hans Paul Bahrdt: „Natur“<br />

und Landschaft als kulturspezifischeDeutungsmuster<br />

für Teile unserer Außenwelt,<br />

S. 174.<br />

15<br />

Ebda., S. 175.<br />

16<br />

Ebda, S. 176.<br />

17<br />

Ebda., S. 174-176.<br />

18<br />

Michael Huter: Die Idee der<br />

Landschaft. In: Wolfgang<br />

Kos: Die Eroberung der<br />

Landschaft. Semmering –<br />

Rax – Schneeberg. Wien:<br />

Falter 1992, S. 49–53.<br />

damit als berechtigt werden in diesem System auch Rangunterschiede<br />

der sozialen Schichten, Heterosexualität oder Statusunterschiede zwischen<br />

Mann und Frau usw. betrachtet. Hinter dem Begriff Natur verbirgt<br />

sich demzufolge eine ganze Reihe unterschiedlicher biologischer,<br />

psychologischer und sozialwissenschaftlicher Argumente, Meinungen,<br />

Überzeugungen usw.<br />

Obwohl die Natur in vielen Bereichen des Lebens rationalen Gesichtspunkten<br />

untergeordnet wird, erhält sie einen Platz in „unverbindlichen Bereichen“<br />

16 , z. B. in der Freizeit (Bewegung im Freien, Zeit an der frischen Luft<br />

verbringen) oder auch im Bereich des Wohnens (ein Haus im Grünen). Hier<br />

entsteht ein Wirkungsbereich für das „schlechte Gewissen der bürgerlichen<br />

Gesellschaft“ angesichts der Eingriffe, die aufgrund rationaler Herangehensweise<br />

verübt wurden. 17<br />

Die Vorstellung von Natur geht zudem oft einher mit der Vorstellung von<br />

Landschaft, jedoch unterscheiden sich diese beiden Begriffe stark voneinander.<br />

Landschaft ist vielmehr die subjektive ästhetische Erfahrung der<br />

Betrachterin/des Betrachters. Das bedeutet, dass Landschaft im individuellen<br />

Bewusstsein entsteht. Die Interpretation(en) des wahrgenommenen<br />

Außenraumes (des Naturraumes bzw. der menschlich geschaffenen räumlichen<br />

Veränderungen darin, z. B. Bauwerke, bewirtschaftete Flächen usw.)<br />

prägen die individuelle Wahrnehmung von Landschaft. 18<br />

Die Vermischung des Naturbegriffes mit dem Landschaftsbegriff und<br />

Bahrdts Feststellung, dass kulturelle Gegebenheiten durch das Verstreichen<br />

von Zeit als natürlich betrachtet werden, eröffnen eine ganze Reihe<br />

weiterer Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs Natur und bedingen unterschiedliche<br />

Vorstellungen darüber, wie mit ihr umgegangen werden soll.<br />

Auch im Falle der Natura 2000-Gebiete entlang der steirischen Enns<br />

handelt es sich nicht um unberührte Natur, sondern um Flächen, die für<br />

landwirtschaftliche Nutzung urbar gemacht wurden, also um sogenannte<br />

„Sekundär-Lebensräume“ für darin vorkommende Tier- und Pflanzenarten.<br />

19<br />

Ist die heimische Natur auch längst durch vielfältige nachhaltige Eingriffe<br />

in Flora und Fauna drastisch verändert worden, so sind Ängste vor Klimaveränderungen<br />

und vor der Störung des biologischen Gleichgewichtes<br />

– das vielerorts durch menschliches Zutun reguliert und stabilisiert wird<br />

bzw. werden muss – fester Bestandteil des heutigen gesellschaftlichen<br />

Bewusstseins. Diese Entwicklung geht in erster Linie auf die sogenannte<br />

„Ökologiebewegung“ zurück.<br />

Denn wenn Naturschutz auch keine Neuerfindung des 20. Jahrhunderts<br />

ist – bereits in vorangegangenen Jahrhunderten gab es Bestrebungen in<br />

diese Richtung, so entstand in den 1960er-Jahren als politisch aktives<br />

Kollektiv die „Ökologiebewegung“ 20 , deren Ursprung eng mit der Studierendenbewegung<br />

verknüpft ist und die stark im Bedürfnis bzw. in der<br />

Notwendigkeit des Schutzes und Erhaltens der Natur als menschliche<br />

Lebensgrundlage wurzelt. 21<br />

19<br />

Kundmachung zum Entwurf<br />

einer Verordnung über die<br />

Erklärung des Gebietes<br />

„Ennstal zwischen Liezen<br />

und Niederstuttern“ zum<br />

Europaschutzgebiet Nr. 41,<br />

Amt der Steiermärkischen<br />

Landesregierung, Fachabteilung<br />

13 C Naturschutz.<br />

In: http://www.verwaltung.<br />

steiermark.at/cms/beitrag/10084508/2407657/<br />

[Zugriff: 17.3.2010].<br />

20<br />

Thomas Stuhlfauth: Die<br />

Ökologiebewegung aus dem<br />

Blickwinkel der Umweltsoziologie.<br />

Norderstedt:<br />

Grin 2000, S. 5-10.<br />

21<br />

Franz-Josef Brüggemeier,<br />

Jens Ivo Engels: Den Kinderschuhen<br />

entwachsen:<br />

Einleitende Worte zur<br />

Umweltgeschichte der<br />

zweiten Hälfte des 20.<br />

Jahrhunderts. In: Franz-<br />

Josef Brüggemeier, Jens Ivo<br />

Engels (Hg.), Natur- und<br />

Umweltschutz nach 1945.<br />

Konzepte, Konflikte, Kompetenzen.<br />

Frankfurt am<br />

Main: Campus 2005, S. 11.<br />

22<br />

Michael Jungmeier,<br />

Christina Pichler-Koban:<br />

Natura 2000 und Regionalwirtschaft.<br />

In: Ernst Zanini,<br />

Barbara Reithmayr (Hg.):<br />

Natura 2000 in Österreich,<br />

S. 245–255.<br />

23<br />

Interview, Universalmuseum<br />

Joanneum, Multimediale<br />

Sammlungen/Büro der<br />

Erinnerungen (i. d. F.: UMJ),<br />

26.3.2010.<br />

24<br />

Aufruhr gegen „Natura<br />

2000“. Bezirkspolitiker kündigen<br />

Marsch nach Brüssel<br />

an. In: Der Ennstaler.<br />

Unabhängiges Wochenblatt<br />

für das gesamte Ennstal,<br />

16.9.2004, zit. nach: www.<br />

derennstaler.at/cms/berichte/detail.php?id=2355<br />

[Zugriff: 12.3.2010].<br />

Naturschutz im Sinne der Natura 2000 stellt eine Herangehensweise<br />

dar, die vorsieht, Lebensräume bestimmter Tier- und Pflanzenarten zu<br />

erhalten und gleichzeitig neue Möglichkeiten für die betreffende regionale<br />

Wirtschaft zu eröffnen. 22<br />

Diese bereits eingangs erwähnte Zielsetzung in der Handhabung der<br />

Natura 2000-Gebiete, nämlich ökologische und ökonomische Interessen<br />

miteinander zu verknüpfen bzw. dadurch neue wirtschaftliche Ressourcen<br />

zu erschließen, erweist sich in der Praxis – nicht zuletzt aufgrund<br />

unterschiedlicher Vorstellungen von Natur und divergierenden Anforderungen<br />

an diese – als nicht ganz unproblematisch.<br />

Auch im Fall der Schutzgebiete an der Enns trafen unterschiedliche<br />

Meinungen, Bedürfnisse und Interessen der Menschen in der Region<br />

aufeinander. Eine Reihe von Auseinandersetzungen und Konflikten rund<br />

um die Erweiterung der Verkehrsinfrastruktur war den Beschlüssen zur<br />

Natura 2000 zudem seit Jahrzehnten vorausgegangen.<br />

„Der Wachtelkönig war in der breiten Bevölkerung nicht im Bewusstsein.<br />

Das haben ein paar Spezialisten gewusst, eben „Die<br />

Vogelwarte“ [Verein „Die Vogelwarte“, Liezen], die sich eigentlich<br />

schon – glaube ich – seit den [19]80er-Jahren mit dem Vogel und<br />

auch mit der Verhinderung einer möglich mehrspurigen Straße<br />

– damals noch S8 – beschäftigt hat; und der Wachtelkönig ist<br />

nachher einfach zur Galionsfigur geworden. Und es sind im Laufe<br />

der Jahre natürlich bei Straßenbefürwortern so heftige Emotionen<br />

gegenüber diesem Vogel, den ganz wenige nur gesehen haben,<br />

entstanden, wo man sich denkt, das gibt es gar nicht, was kann<br />

der Vogel dafür? Und wenn man sich ein bisschen näher damit<br />

beschäftigt, weiß man ja, dass der Vogel nur die Spitze des Eisberges<br />

ist. Dass er halt der empfindlichste Teil ist, und [dass]<br />

viele andere Vogelarten und Tiere […] diese Bereiche oder diese<br />

naturräumlichen Voraussetzungen brauchen [..], und das weiß<br />

man, das ist auch nachgewiesen. Aber der Wachtelkönig ist halt<br />

die Leitfigur geworden.“ 23<br />

„Während die Bezirks-‚Grünen‘ jubeln, zeigen sich die Ortschefs<br />

und Wirtschaftstreibenden der davon betroffenen acht Gemeinden<br />

darüber entsetzt. Seitens der Wirtschaftskammer hagelt es<br />

ebenfalls Proteste. ‚Man könne doch eine wirtschaftlich ohnehin<br />

angeschlagene Region mit hoher Arbeitslosigkeit nicht so ohne<br />

weiteres‚ unter einen Glassturz stellen‘, lauten die Kommentare.“<br />

24<br />

„Ich sehe die Vorteile [darin], dass bestehende Landschaften<br />

erhalten werden können. Alles was mit der Natura 2000-Aus-


268 — 269<br />

Gundi Jungmeier<br />

25<br />

Interview, UMJ, 26.3.2010.<br />

26<br />

Interview, UMJ, 8.4.2010.<br />

27<br />

Interview, UMJ, 6.4.2010.<br />

28<br />

Interview, UMJ, 26.3.2010.<br />

29<br />

„Natura 2000“ sorgt<br />

weiter für Diskussionen.<br />

Bauernschaft im Ennstal<br />

trotz Information skeptisch.<br />

In: Der Ennstaler.<br />

Unabhängiges Wochenblatt<br />

für das gesamte Ennstal,<br />

27.9.2004, zit. nach: http://<br />

www.ennstal.com/derennstaler/ennstaler-archiv.htm<br />

[Zugriff: 15.3.2010].<br />

30<br />

Interview, UMJ, 26.3.2010.<br />

31<br />

Interview, UMJ, 6.4.2010.<br />

weisung zusammenhängt, ist für mich persönlich einfach gut.<br />

Ich möchte in dem Tal wohnen bleiben und nicht irgendwann<br />

einmal draufkommen, dass ich die Belastungen, die zum Beispiel<br />

vom Verkehr ausgehen, nicht mehr aushalte. Und darum tue ich<br />

persönlich etwas, damit das möglichst nicht passiert. Und da gehört<br />

es eben dazu, dass man sich engagiert, und dass man sich<br />

halt für die verschiedenen Sachen interessiert und hofft, dass<br />

irgendwann die hohe Politik auch einsieht, dass die Lobbygesellschaft<br />

nicht unbedingt das ist, wo man sich total engagieren<br />

soll, sondern [dass es] besser ist, naturräumliche Situationen zu<br />

erhalten, die positiv sind fürs Überleben der Menschheit. [… ] Ich<br />

war immer da, ich bin nie weg gewesen […]. Ich bin auch einer<br />

der […] schon viel auf den Bergen unterwegs ist, und es ist ein<br />

erhebendes Gefühl auf einem Gipfel zu stehen und in die Ferne zu<br />

schauen. Aber wenn man dann hinunter schaut ins Tal, dann ist<br />

einem auch bewusst, wie eng das Tal ist, und wie verdammt gut<br />

[..] man aufpassen muss, dass diese Naturschätze, die da unten<br />

vorherrschen, nicht verloren gehen. Und das ist einfach auch ein<br />

extremes Anliegen für mich. Weil ich, glaube ich halt, nicht nur<br />

für unsere Generation denken will, sondern auch für viele nachfolgende<br />

Generationen, und was unsere Generation momentan mit<br />

der Natur macht, das ist eigentlich fürchterlich. Das ist mir halt<br />

total wichtig.“ 25<br />

„Ich glaube, dass diese besonders schützenswerten Gebiete, wie<br />

es diese Natura 2000- Gebiete sind, dass die nur dadurch ausgewiesen<br />

werden konnten, weil die Landwirtschaft da in der Vergangenheit<br />

alles so gemacht hat, dass man heute noch so besonders<br />

schützenswerte Gebiete hat. Und ich glaube, das ist auch das<br />

Wichtige für die Zukunft, dass man auf die Bauern schaut, weil<br />

das sind diejenigen, die die Gebiete erhalten.“ 26<br />

„Die Sache ist aus unserer Sicht, also aus der Sicht der Wirtschaft<br />

sehr unglücklich gelaufen. Es hat einen Gebietsvorschlag gegeben,<br />

der für die Wirtschaft ein bissl problematisch gewesen ist,<br />

weil er letztendlich den gesamten Talboden mehr oder weniger<br />

in Anspruch genommen hat und wir im Talboden – nachdem wir<br />

sonst keine Ausdehnungsmöglichkeiten mehr haben – die einzige<br />

Chance gesehen haben oder noch immer sehen, dass wir uns wirtschaftlich<br />

weiterentwickeln können.“ 27<br />

„Im Endeffekt hat es [die Gebietsausweisung] unter sehr großem<br />

Zeitdruck passieren müssen. […] Und das ist wirklich im letzten<br />

möglichen Abdruck passiert […]. Das Land Steiermark ist schon<br />

verurteilt gewesen zu dieser Strafzahlung, weil es untätig war<br />

Protest gegen den Bau<br />

der Ennsnahen Trasse<br />

(ORF, 1993)<br />

[…]. Jetzt haben sie natürlich auch keine Möglichkeit mehr gehabt,<br />

mit den Grundbesitzern irgendwelche Sachen auszuverhandeln.<br />

Das war natürlich dann auch für den Dr. F. sehr mühsam.<br />

Da sind 20 Bauern dort gesessen, jeder hat geschimpft wie ein<br />

Rohrspatz über die Natura 2000-Ausweisung, und der liebe Dr. F.<br />

hat genau gewusst, er muss das jetzt machen. Er muss zu ihnen<br />

sagen: ‚Leitln, es ist so – und es kann jetzt gar nimmer anders<br />

geschehen.‘“ 28<br />

„Grundtenor aus den Reihen der Bauernschaft: Naturschutz ja,<br />

aber nicht um den Preis massiver Nachteile für den Menschen.<br />

Der Mensch, seine rechtlichen Ansprüche und wirtschaftlichen<br />

Bedürfnisse müssen im Vordergrund stehen.“ 29<br />

„Man kann in dem Sinn nicht eingreifen, dass man das unterstützt<br />

durch irgendwelche Zuchtmaßnahmen. Das Einzige, was man<br />

machen kann ist, dass man die Fläche zur Verfügung stellt, dass<br />

man seinen Lebensraum [den des Wachtelkönigs] erhält. Aber wie<br />

gesagt, Lebensraum nicht nur für den Wachtelkönig. Da gibt es<br />

das Braunkehlchen, den Kiebitz und, und, und. Also da gibt es<br />

Schmetterlinge, die nur da vorkommen und es gibt wirklich keine<br />

Sparte, von der man nicht sagen kann, die profitieren auch davon<br />

[von der Natura 2000].“ 30<br />

„Der politische Bezirk Liezen ist wahrscheinlich der bestuntersuchteste<br />

[Bezirk], den es in der ganzen Steiermark gibt. […]<br />

In etwa 70% der Gesamtfläche ist jetzt von irgendeiner Naturschutzmaßnahme<br />

betroffen. Und für uns war immer das Argument<br />

spannend: ‚Man muss die Natur schützen‘. So quasi die Wirtschaft<br />

betreibt sonst Raubbau. Das ist so mehr oder weniger ein bisserl<br />

rübergekommen. Das stimmt insofern nicht, weil wir sehr wohl<br />

wissen, dass wir von einer intakten Natur leben und unsere Schigebiete,<br />

speziell im Oberland, sind ja das beste Beispiel dafür,<br />

dass mit der Ressource Natur sehr vorsichtig agiert wird, weil das<br />

letztendlich unser Erwerbskapital ist.“ 31


270 — 271<br />

Maria Papdimitriou<br />

T.A.M.A., 2005<br />

1<br />

www.trans-formers.org/<br />

artists_1/301_papadi_d.htm<br />

[Zugriff: 28.4.2010].<br />

Glaube oder Aberglaube?<br />

Gernot Rabl<br />

Die griechische Künstlerin Maria Papadimitriou hat sich bereits in der<br />

Vergangenheit mit kollektiven Projekten beschäftigt, die neben der Fotografie<br />

einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden. In diesem Zusammenhang<br />

kann vor allem auf ihre unter dem Titel Temporary Autonomous Museum<br />

For All (T.A.M.A.) initiierte Arbeit verwiesen werden. 1<br />

Auch im Rahmen ihrer Arbeit für die regionale10 war für die Künstlerin<br />

von Beginn an die Einbindung der Bevölkerung ein primäres Anliegen.<br />

Dies entsprach im Übrigen dem Wunsch der regionale10-Verantwortlichen,<br />

die darin – wie in der Schnittstelle zwischen Kunst und Alltagskultur<br />

– einen zentralen Punkt des gesamten Festivals für zeitgenössische<br />

Kunst sahen.<br />

Schon Papadimitrious später verworfene Idee mit den das gesamte Landschaftsbild<br />

des Ennstals prägenden „Heustadeln“ sah die Einbringung<br />

persönlicher Objekte der hiesigen Menschen vor. Wurden auch die „Heustadeln“<br />

später aus ihrer Arbeit verbannt und durch einen Altar ersetzt,<br />

blieb der ursprüngliche Gedanke in leicht veränderter Weise aufrecht.<br />

Wie kam nun Maria Papadimitriou zu den Positionen, die zu ihrem künstlerischen<br />

Beitrag in Schloss Trautenfels führten, wie wurde die Bevölkerung<br />

eingebunden und welche in unserem Diskurs wesentlichen Überlegungen<br />

sind darin auszumachen?<br />

Die Räume des Landschaftsmuseums im ersten Stock von Schloss Trautenfels<br />

widmen sich in klar strukturierter Weise je eines übergeordneten<br />

Themas, wobei sich Papadimitriou speziell auf den Raum „Vom wahren<br />

Glauben“ konzentrierte. Dieser behandelt nicht nur das Thema Reformation<br />

und Gegenreformation – bestimmte Bereiche des Bezirkes Liezen<br />

stellten bis zur gewaltsamen Unterdrückung 1599 Hochburgen für den<br />

Maria Papadimitriou<br />

Alpine Altar, 2010<br />

(Detail)<br />

2<br />

Eva Kreissl: heilsam.<br />

Volksmedizin zwischen<br />

Erfahrung und Glauben.<br />

Katalog zur gleichnamigen<br />

Sonderausstellung des<br />

Volkskundemuseums am<br />

Landesmuseum Joanneum.<br />

Graz 2006, S. 13.<br />

3<br />

Klaus Beitl: Volksglaube.<br />

Zeugnisse religiöser<br />

Volkskunst. München:<br />

Hugendubel 1983, S. 5.<br />

4<br />

Vgl. Martin Urban: Wer<br />

leichter glaubt, wird<br />

schwerer klug. Wie man das<br />

Zweifeln lernen und den<br />

Glauben bewahren kann.<br />

Frankfurt a. M.: Eichborn<br />

2007.<br />

5<br />

Vgl. den Beitrag von Jennifer<br />

Allen in diesem Band.<br />

protestantischen Glauben dar – sondern zeigt unter anderem auch zahlreiche<br />

Votivgaben und Wachsvotive, in welche die Menschen ihre Hoffnungen<br />

und Wünsche legten. Eine beispielsweise aus Wachs hergestellte<br />

Kröte soll Fruchtbarkeit herbeiführen, ein Wickelkind dem Neugeborenen<br />

Schutz bescheren sowie Füße, Hände oder Zahnreihen eine Heilung der<br />

entsprechenden Körperteile erbitten oder Dank sagen. Votivgaben sind<br />

ganz allgemein Zeichen eines Gelübdes oder Gnadenerweises einer/<br />

eines angerufenen Heiligen – bei den Exponaten im Landschaftsmuseum<br />

vertrauten die Gläubigen häufig auf die Muttergottes. Während die genannten<br />

Objekte in einem klaren Bezug zum Glauben und Gebet stehen –<br />

Tausende von Votivgaben in Kirchen bezeugen übrigens, „dass Vertrauen<br />

und Kommunikation mit dem Höheren erfolgreich zur Heilung beigetragen<br />

haben“ 2 –, geht Maria Papadimitriou einen Schritt weiter, indem sie<br />

die Symbole und Objekte unserer Ängste zu ergründen sucht.<br />

In unserer Zeit stellt sich immer wieder die Frage, inwieweit wir gegenwärtig<br />

eigentlich noch „Bilder“ für unseren Glauben und/oder Aberglauben<br />

brauchen. „Es gab Zeiten, in denen religiöse Symbole, Bilder und religiöses<br />

Brauchtum eine Selbstverständlichkeit waren; Zeiten auch, die in<br />

einer Vielfalt von Zeichen, Bildern und Brauchtum geradezu geschwelgt<br />

haben, so daß man manchmal den Eindruck hat, die Fülle der äußeren<br />

Symbole verstelle fast den Blick auf die gemeinte religiöse Wirklichkeit,<br />

die sie doch zugänglich machen sollte. Wir sind nüchtern geworden.<br />

Viele Symbole und Bilder ebenso wie altvertraute Bräuche haben ihre<br />

Ausdruckskraft eingebüßt und sagen uns nur mehr sehr wenig. Wir orientieren<br />

uns nach dem, was wir zählen, wägen und messen können ….“ 3<br />

Ungeachtet dessen lässt sich der Mensch in seinem Wunsch nach Sicherheit<br />

immer wieder überlisten, denn neurologisch gesehen ist der Homo<br />

sapiens nach wie vor mit einem Gehirn ausgestattet, welches sich seit<br />

der Steinzeit nicht verändert hat und vor allem auf das Überleben hin<br />

ausgerichtet ist. So werden unvollständige Informationen, also Dinge,<br />

die wir nicht beeinflussen oder uns erklären können, ergänzt, indem<br />

das Unbekannte in bekannte Bilder oder Objekte eingeordnet wird. Aus<br />

diesem Grund bestimmt weniger das Wissen, als vielmehr der Wunsch<br />

nach Schutz und Überschaubarkeit der eigenen Welt das menschliche<br />

Handeln. Eine immer komplexer werdende Wirklichkeit erfordert neue<br />

Zugänge. 4<br />

Maria Papadimitriou 5 schuf für die Sonderausstellung einen Altar nach<br />

dem Vorbild altgriechischer Opferaltäre und forderte die Bewohner/innen<br />

des Bezirkes Liezen auf, persönliche Schutzobjekte (symbolhaft verdichten<br />

sich diese bei Papadimitriou zu kleinen „Wünsch-Dir-Was-Glücksschafen“),<br />

welche über die erwähnten Votivgaben, Amulette oder Talismane<br />

hinausgehen, am Altar darzubringen, um die wie immer gearteten Ängste


272 — 273<br />

Gernot Rabl<br />

6<br />

Der Ennstaler, Nr. 10, 105.<br />

Jg., 12. März 2010, S. 24.<br />

abzulegen. Vor allem die Gruppierung der unterschiedlichsten Objekte in<br />

und außerhalb der Einfamilienhäuser und den damit verbundenen Funktionen<br />

(zum Beispiel Unwetter abhaltende „Sonnwendbüscherln“), weckten<br />

bereits im Vorfeld Papadimitrious Interesse und trugen wesentlich zu<br />

ihrer späteren Arbeit bei. Durch die nun neue und aus dem Zusammenhang<br />

gerissene Form der Präsentation rückt folglich auch ein scheinbar<br />

materiell wertloses Objekt, jedoch mit klarem persönlichem Bezug, in<br />

den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Weiter gefasst kann auch an die<br />

mit Opfergaben verbundenen Rituale erinnert werden – Opfergaben als<br />

Darbringung an eine übergeordnete, übernatürliche Kraft.<br />

Aus dieser Motivation heraus ergab sich die Überlegung, die Bevölkerung<br />

„ihre“ Bräuche, Symbole oder Schutzobjekte selbst definieren zu lassen<br />

und zu ergründen, was sie bereit wären für die eigene Sicherheit zu „opfern“.<br />

Diesen und ähnlichen Fragen versuchte am zweitägigen 20. Schafbauerntag<br />

(vom 19. bis 20. März 2010) ein Team von Kulturwissenschaftlerinnen<br />

und -wissenschaftlern nachzugehen. Papadimitriou wählte,<br />

nachdem bei einem ihrer ersten Aufenthalte im Ennstal der Kontakt zu<br />

den Verantwortlichen hergestellt und ein Interesse geweckt worden war,<br />

bewusst diese Veranstaltung aus. Aufgrund der zu erwartenden breiten<br />

Streuung der Besucher/innen schienen auch begleitende Recherchen<br />

Sinn zu machen. Mit der Bitte um eine aktive Beteiligung der Besucher/<br />

innen erfolgte unter dem Titel „regionale10 und Schafbauerntag“ über<br />

die Presse folgender Aufruf: An beiden Tagen besteht die Möglichkeit,<br />

„sich in Interviewform den gezielten Fragen der regionale 10 Mitarbeiter<br />

zu stellen und somit selbst Teil der Sonderausstellung Der schaffende<br />

Mensch. Welten des Eigensinns im Schloss Trautenfels zu werden …. Auf<br />

rege Beteiligung und Schilderungen der unterschiedlichsten Art – von<br />

lustig über spannend bis berührend – freut sich das regionale10-Team.“ 6<br />

Ausgerüstet mit einfachen Aufnahmegeräten wurden sowohl Besucher/<br />

innen wie Teilnehmer/innen mit Fragen unter anderem zu den oben genannten<br />

Themen spontan interviewt.<br />

Erwartungsgemäß spielte in der Einschätzung über schutzbietende<br />

Objekte auch der Aberglaube eine zentrale Rolle (hierbei wurden häufig<br />

Silvesterglücksbringer genannt). Kennzeichnet der Begriff des „Aberglaubens“<br />

auch nichtchristliche Religionen, gilt er auch als Abweichung von der<br />

Vernunft über etwas nicht zu bestätigendes oder belegbares, ist auf der<br />

anderen Seite die Grenze zum „anerkannten“ Volksglauben sehr schmal.<br />

So kann dabei an die zahlreichen Bauernregeln erinnert werden, die auf<br />

langjährigen, oft über Generationen weitergegebenen Erfahrungen beruhen.<br />

Die dadurch ableitbaren Wettervorhersagen spielen, wenn man<br />

etwa der Profession einer Landwirtin bzw. eines Landwirtes nachgeht<br />

und in vielen Belangen von der Natur abhängig ist, eine wichtige Rolle.<br />

7<br />

Helmut Groschwitz: Anmerkungen<br />

zum Verhältnis<br />

populärer Esoterik und<br />

popularer Religiosität als<br />

Ausstellungsthema. In:<br />

Anja Schöne (Hg.): Dinge<br />

– Räume – Zeiten. Religion<br />

und Frömmigkeit als Ausstellungsthema.<br />

Münster:<br />

Waxmann 2009, S. 41.<br />

8<br />

Christoph Daxelmüller:<br />

Vorwort. In: Hanns<br />

Bächtold-Stäubli (Hg.):<br />

Handwörterbuch des deutschen<br />

Aberglaubens, Bd. 1.<br />

Berlin u.a.: De Gruyter 1987,<br />

S. XXIII ff.<br />

9<br />

Hannah Arendt: Vita activa<br />

oder Vom tätigen Leben.<br />

München: Piper 2010, S. 33.<br />

Vom Aberglauben selbst ist jedoch ein Großteil der Menschen – ob im<br />

ländlichen oder städtischen Raum – betroffen, wenn beispielsweise mit<br />

gewissen Gegenständen, der Verknüpfung bestimmter Handlungen oder<br />

mit täglichen kleinen Riten ein wie immer gearteter Erfolg verbunden<br />

wird. Einfache Symbole werden zu Glücksbringern und halten imaginäres<br />

Unheil von uns fern. In der psychologischen Funktion verschaffen sowohl<br />

Glaube als auch Aberglaube den Menschen Sicherheit. Berufsgruppen<br />

mit zeitweilig riskanten Tätigkeiten, wie zum Beispiel Seeleute, Bergknappen<br />

oder auch Bäuerinnen und Bauern, waren und sind aus diesem<br />

Grund abergläubischen Riten wesentlich stärker zugetan.<br />

Jene Rituale und Gegenstände, die nun im Diskurs von „Aberglaube“ oder<br />

„Volksglaube“ betrachtet werden, befinden sich aber in einem Grenzbereich<br />

populärer Religiosität. So weiß man von zahlreichen Objekten,<br />

„deren Materialien über den religiösen Gebrauchswert hinausgehen,<br />

denen übernatürliche Wirkungen zugeschrieben wurden und die dem<br />

christlich legitimierten Wunderglauben zuzuordnen sind.“ 7<br />

Die Grenzen sind somit fließend, und scheinbar festgeschriebene Formen<br />

führen durch individuelle Abweichungen und Auslegungen, die nicht einer<br />

gesellschaftlichen und/oder wissenschaftlichen Idee folgen (zum Beispiel<br />

Naturdeutung), zu eigenen, magischen Kausalitäten. Es kommt zu Ab-<br />

und Ausgrenzung von kirchlichen und naturwissenschaftlichen Dogmen.<br />

Eine allgemeingültige Definition von Aberglaube und dem damit verbundenen<br />

oben erwähnten Sicherheitsbedürfnis ist somit unmöglich, da eine<br />

subjektive Auslegung, heute wie damals und unabhängig vom ländlichen<br />

oder urbanen Bereich, dominiert. Letztlich sind eine dem Aberglauben<br />

zweifelsfrei innewohnende magische Komponente und die Überzeugung,<br />

dass sich, neben physikalisch erklärbaren Gesetzmäßigkeiten, eine darin<br />

verborgene okkulte Wirklichkeit befindet, die Garanten dafür, dass diese<br />

Form der Schutzsuche auch in Zukunft seine Faszination beibehält. 8<br />

Untrennbar verbunden mit den wie immer gearteten Handlungen ist<br />

dabei die Tatsache, dass jeder Mensch durch die eigene Umgebung,<br />

Landschaft, Erziehung oder Erfahrung geprägt wird. Aus diesem Grund<br />

bewegt sich auch die „Vita activa, menschliches Leben, sofern es sich auf<br />

Tätigsein eingelassen hat, … in einer Menschen- und Dingwelt, aus der<br />

es sich niemals entfernt und die es nirgends transzendiert. Jede menschliche<br />

Tätigkeit spielt in einer Umgebung von Dingen und Menschen; in ihr<br />

ist sie lokalisiert und ohne sie verlöre sie jeden Sinn. Diese umgebende<br />

Welt wiederum, in die ein jeder hineingeboren ist, verdankt wesentlich<br />

dem Menschen ihre Existenz, seinem Herstellen von Dingen, seiner pflegenden<br />

Fürsorge des Bodens und der Landschaft, seinem handelnden<br />

Organisieren der politischen Bezüge in menschlichen Gemeinschaften.“ 9<br />

Folglich befinden sich auch Glaube und Aberglaube – gebunden eben


274 — 275<br />

Gernot Rabl<br />

10<br />

Helmut Groschwitz: Anmerkungen<br />

zum Verhältnis<br />

populärer Esoterik und<br />

popularer Religiosität als<br />

Ausstellungsthema. In:<br />

Anja Schöne (Hg.): Dinge<br />

– Räume – Zeiten. Religion<br />

und Frömmigkeit als Ausstellungsthema.<br />

Münster:<br />

Waxmann 2009, S. 46.<br />

an feste Orte und Rituale – in einem stetigen Wandel. Aufgrund der soziokulturellen<br />

Entwicklungen und den immer komplexer werdenden Anforderungen<br />

suchen Menschen somit nicht nur in der Religion (Glaube),<br />

sondern auch – und dies mitunter durchaus ergänzend – Zuflucht in der<br />

Esoterik („Aberglaube“ im weitesten Sinn). Allen damit verbundenen<br />

Objekten, wie eben Amuletten, Pendeln, Traumfängern, Talismanen usw.<br />

ist eines gemeinsam: Aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen<br />

erschließen sie sich den Betrachter/innen nicht ohne entsprechende Kontextualisierung.<br />

10 Aus diesem Grund versuchte ein (auch nicht immunes)<br />

Team von Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern während<br />

des Schafbauerntages, Hintergründe und Beweggründe zu erfragen. Offene<br />

Schilderungen über Ängste und Sehnsüchte machten letztlich vieles<br />

begreifbarer und verdeutlichen, wie viel „Tiefe“ in scheinbar bedeutungslosen<br />

Dingen steckt. Maria Papadimitriou holte diese „Tiefe“ ins Museum<br />

und sorgt mit ihrem Altar und den scheinbar naiv beigegebenen kleinen<br />

Schafen für eine gänzlich neue Raumwirkung.<br />

Wie bereits in dieser kurzen Abhandlung deutlich wird, handelt es sich bei<br />

diesem letztlich auch heiklen Thema um ein sehr komplexes Feld. Die Abhandlungen<br />

und Meinungen dazu sind vielfältig und individuell. Dennoch<br />

lässt sich resümierend und vereinfacht feststellen, dass die Grenzen zwischen<br />

Glaube und Aberglaube häufig ineinander übergehen – dient doch<br />

jede Form der Ausübung (vgl. Interviews im Anschluss) nur dem zutiefst<br />

menschlichen Wunsch nach Schutz und Sicherheit.<br />

„Die Trud’ ist angeblich – laut der Überlieferung – eine alte Frau,<br />

die mit den Kindern herumzieht, die keine Namen erhalten haben,<br />

die gestorben sind, während der Geburt, vor der Geburt, wie auch<br />

immer. Und da sagt man, das ist immer in der Walpurgisnacht, da<br />

geht sie immer mit den Kindern herum und da stellt man entweder<br />

Zuckerl hinaus oder man richtet ein paar Apferl hinaus. Und man<br />

sagt einfach Namen so hinaus, in die Luft. Irgendwelche Namen<br />

die einem gerade einfallen, damit die Kinder Namen erhalten. Und<br />

sobald ein Kind einen Namen hat, kann es weitergehen. Das ist ein<br />

ganz alter Brauch, der stammt noch aus – sie vermuten – aus der<br />

Zeit der Kelten. […] Für mich ist das eigentlich ein Glücksbringer,<br />

weil […] es heißt ja du sollst jeden mit [seinem] Namen ansprechen,<br />

und damit gibst du ihm eine Persönlichkeit, eine Wichtigkeit,<br />

und mir kommt vor, dadurch kommt Segen auf den Betrieb<br />

zurück.“<br />

„Ich glaube Angst ist ein schlechter Ratgeber. Man soll also vor<br />

solchen Ereignissen [Wetterschäden] keine Angst haben. Das<br />

gehört einfach zur Landwirtschaft dazu.“<br />

11<br />

Interviews, Universalmuseum<br />

Joanneum, Multimediale<br />

Sammlungen/Büro der<br />

Erinnerungen, 20.3.2010.<br />

„Ich glaube das Wichtigste ist der Glaube an die Zukunft. Und<br />

wenn man einen Weg in Zukunft begehen will, dann ist das keine<br />

Einbahnstraße, sondern man muss Rückschläge zur Kenntnis<br />

nehmen. Und wie gesagt, so ein Rückschlag ist zum Beispiel auch<br />

der Hagel oder sonst irgendeine Sache. Aber das sind Dinge, die<br />

man eben im Leben mitmachen muss. […] Klar, ist ein christlicher<br />

Glaube hier von Vorteil und macht einem auch wieder Mut. Ich<br />

muss aber sagen, an sonstige Glücksbringer, irgendwelche Spielzeuge<br />

oder sowas, glaube ich nicht.“<br />

„Früher wenn man ein Haus gebaut hat, [hat man] unter dem<br />

Haus beim Eingang vorne ein lebendes Tier begraben. Das war ein<br />

uralter Brauch, um das Böse abzuhalten. Das ist uralt, das macht<br />

heute niemand mehr.“<br />

„Ich glaube, wenn man daran glaubt [an schützende Bräuche],<br />

dann wird es etwas bringen. Ich glaube nicht daran, mir bringt<br />

es nichts, und ich nehme auch in Kauf, was auf mich zukommt –<br />

[damit ist es für mich] erledigt.“<br />

„Wir weihen auch unsere Autos immer, damit wir keinen Unfall<br />

haben – das ganze Jahr. Und die Haube tut man auch einweihen,<br />

dass man nicht krank wird.“<br />

„Das ist das Räuchern […] das ist so eine Rauchpfanne mit Weihrauch,<br />

Kranewitter [Wacholder], Gras, Palmzweigerl von der Palmprozession,<br />

die kommen in einen Topf hinein – mit einer Glut und<br />

dann gehen wir alles durch – Haus, Garage, Stall, alles. In jeden<br />

Raum wo gearbeitet wird gehen wir hinein und dahinter geht einer<br />

[Weihwasser] versprengen. Und für mich ist das eigentlich – ich<br />

gehe da mit seit ich ein kleiner Bub war, und ich möchte das auch<br />

weiterhin so machen.“ 11


276 — 277<br />

1<br />

Eine eindrückliche Darstellung<br />

zur Technikgeschichte<br />

der Lodenwalken liefert<br />

Johann Schwertner: Der Lodenwalker<br />

in der Ramsau.<br />

Ein Beitrag zur Volkskunde<br />

des steirischen Handwerks.<br />

Phil. Diss., Graz 1988;<br />

Johann Schwertner: „…von<br />

einem guoten stampfhart.<br />

Loden im Wandel der<br />

Zeit (=Schriftenreihe des<br />

Kärntner Freilichtmuseums<br />

in Maria Saal). Klagenfurt<br />

1996.<br />

2<br />

Siehe dazu die aus der<br />

Region (Ennstal, Steirisches<br />

Salzkammergut) stammenden<br />

Mitgliedsbetriebe<br />

der Meisterstrasse (www.<br />

meisterstrasse.at).<br />

Wetterfest in die Globalisierung<br />

Notizen zur unverwüstlichen<br />

Karriere des Lodens<br />

Günther Marchner<br />

Das Ding aus einer anderen Zeit<br />

Die „zweite Haut“ der schaffenden Menschen wurde in den Gegenden des<br />

Bezirks Liezen – wie in anderen alpinen Räumen – aus Tierhäuten, Wolle<br />

und Flachs zu Loden, Leder und Leinen und schließlich zur Kleidung lokal<br />

verarbeitet. Dieses „G’wand“ für Alltag und Arbeit ist im Prozess von<br />

Industrialisierung und Globalisierung unserer Arbeits-, Wirtschafts- und<br />

Lebensverhältnisse als „Mainstream-Kleidung“ beinahe bedeutungslos<br />

geworden. Aber vielleicht nur vorläufig.<br />

Zum Teil bis in die 1950er- und 1960er-Jahre hat sich die historische<br />

Funktion von Loden-, Leder- oder Leinenbekleidung und damit verbundener<br />

Gewerbe erhalten: Loden als Wollprodukt schützte vor den Elementen<br />

der „verschärften“ alpinen Natur und war Material für die Arbeitskleidung<br />

von Bauern oder Holzknechten. Bauern tauschten die Wolle ihrer Schafe<br />

gegen gewalkte Wolle (Loden) ein. Historisch wurde Lodenwalken in den<br />

meisten Fällen als Nebengewerbe und Dienstleistung für den Bedarf des<br />

lokalen Umfeldes betrieben. 1 Störschneider zogen von Hof zu Hof und<br />

erzeugten bzw. richteten bis in die Zeit der Textilhandelsgeschäfte das<br />

„Jahresg’wand“ für die bäuerliche Bevölkerung.<br />

Nun sind Schneider beinahe ausgestorben, außer sie schaffen es, in<br />

einem Exklusivbereich mit hochpreisigen Qualitätsprodukten für einen<br />

spezifischen Markt zu operieren. 2 Ebenso sind die meisten Lodenwalken<br />

im alpinen Raum verschwunden, wie insgesamt der größte Teil des europäischen<br />

Textilgewerbes. Textilwirtschaft ist – als erste Branche – Teil<br />

einer globalisierten Industrie geworden.<br />

Die Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung „regionaler“ Textilprodukte<br />

und „traditioneller“ Kleidung wie im Besonderen des Lodenge-<br />

3<br />

In den folgenden Ausführungen<br />

beziehe ich mich<br />

auf folgender Literatur:<br />

Franz Lipp (Hg.): Trachten<br />

in Österreich. Wien 1984;<br />

Franz Lipp: Das Ausseer<br />

G’wand (Neuauflage).<br />

Bad Ausseee 1997; Ulrike<br />

Kammerhofer-Aggermann:<br />

Dirndl, Lederhose und<br />

Sommerfrischenidylle.<br />

In: Robert Kriechbaumer<br />

(Hg.): Der Geschmack der<br />

Vergänglichkeit. Jüdische<br />

Sommerfrische in Salzburg<br />

(=Schriftenreihe des Forschungsinstitutes<br />

für Politisch-Historische<br />

Studien<br />

der Dr.-Wilfried-Haslauer-<br />

Bibliothek, Salzburg 14).<br />

Wien (u.a.): Böhlau 2002;<br />

Salzburger Landesinstitut<br />

für Volkskunde (Hg.): Trachten<br />

nicht für jedermann?<br />

Heimatideologie und Festspieltourismus<br />

dargestellt<br />

am Kleidungsverhalten in<br />

Salzburg zwischen 1922<br />

und 1938. (=Salzburger Beiträge<br />

zur Volkskunde, Bd.<br />

6). Salzburg 1993; Bernhard<br />

Tschofen: „Urtracht“ als<br />

Touristenkostüm. Ein<br />

moderner Alpenmythos<br />

zwischen Volkskunde und<br />

Alpinismus. In: Tradition<br />

Nr. 57/Frühling & Sommer<br />

2001, S. 78-81. ders.:<br />

Trachtengrün. Berufsgewand<br />

– Gesinnungsmode<br />

– Alltagskleid. In: Tradition<br />

Nr. 63/Frühling & Sommer<br />

2004, S. 8-12.; ders.:<br />

Lebensgefühl Tracht. Wege<br />

aus der Verkrampfung. In:<br />

Nora Schönfellinger, Lutz<br />

Maurer (Red.): Tracht –<br />

Landschaft – Musik. Forum<br />

Aussee 2001, Abschlussbericht.<br />

Bad Aussee 2001,<br />

S. 10-20. Zusätzliche Informationen<br />

verdanke ich den<br />

Gesprächen mit Vertretern<br />

der Ennstaler Lodenwalken,<br />

mit zwei Schneidermeistern<br />

aus der Region sowie einem<br />

Ausseer Lederhosenmacher.<br />

wandes erfuhr einen enormen Funktions- und Bedeutungswandel: Aus<br />

dem historischen „G’wand“ der Leute entstand die „Tracht“ und die<br />

„Trachtenmode“. Der frühere Einsatz von Loden als wetterfestes Material<br />

(feuchtigkeits- und schmutzabweisend, wärmend, strapazfähig) für<br />

alpines Leben und Arbeiten wurde zunehmend von seiner Rolle als Basismaterial<br />

für Trachtenbekleidung abgelöst. Aber auf den in den letzten<br />

Jahrzehnten abnehmenden Markt für „Wetterflecke“ und Lodenmäntel<br />

folgt auf leisen Sohlen die Renaissance des Lodens als Naturprodukt für<br />

qualitätsvolle Sport- und Modebekleidung sowie dessen subtiler Einsatz<br />

in der internationalen Mode und als edler Bezugsstoff.<br />

Vom G’wand zur vieldeutigen Tracht<br />

Aus dem historischen „G’wand“ der schaffenden Menschen entwickelte<br />

sich die Tracht bzw. die Trachtenmode. 3 Denn dieses „G’wand“<br />

war immer auch „Kommunikationsfläche“, verbunden mit Bedeutungen<br />

und Zuschreibungen: Sei es aufgrund von „Kleiderordnungen“, die den<br />

Menschen per Kleidung den richtigen „Stand“ zuwiesen. Oder sei es als<br />

„Mode“, die zum Beispiel Bürgern, Hammerherren oder großen Bauern<br />

zur Präsentation von Reichtum und von sozialem Status diente oder besondere<br />

Individualität ausdrücken sollte.<br />

Im Zeitalter von Aufklärung und Romantik (18. auf 19. Jahrhundert) entdeckten<br />

Adel und Bürgertum die Natur und das „einfache Volk“. Mit dieser<br />

sehnsüchtigen Hinwendung zu einer heil erscheinenden ländlichen<br />

Welt machten sie jenes alte, regional und sozial begrenzte bäuerliche<br />

Gewand, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Relikt einer ständischen<br />

Gesellschaft galt und nur in stadtfernen, alpinen Regionen überdauerte,<br />

salonfähig – wie im Besonderen im Salzkammergut und in der Obersteiermark.<br />

Die Entwicklung von Trachten, deren heute bekannte Formen großteils im<br />

ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert entstanden, ist auch Ausdruck<br />

der Zunahme an bürgerlicher Freiheit und Individualität. In Verbindung<br />

mit ihrer Natur- und Heimatsehnsucht begannen städtisch-bürgerliche<br />

Schichten und Adelige, sich im Gewand des einfachen Volkes zu kleiden<br />

– im Gegensatz zu den abwandernden „proletarischen Massen“ aus<br />

ländlichen Regionen – und machten es als Tracht in stilisierten Formen<br />

und Verfeinerungen populär. Dies hatte aber auch Auswirkungen auf das<br />

Selbstverständnis und die kollektive Identität von ländlichen Bevölkerungsgruppen<br />

und letztlich auf ihre Kleidungsideale, da dem verblassenden<br />

alten Gewand wieder ein Wert gegeben wurde.<br />

Ein wichtiges Beispiel für die Entwicklung und Verbreitung von Tracht im<br />

19. Jahrhundert bildet der populäre graugrüne Lodenrock (der spätere


Farbproben Loden Steiner 1988 In der Lodenwalke Ramsau, 2010


280 — 281<br />

Günther Marchner<br />

Steireranzug), forciert im Besonderen von Erzherzog Johann. Dieser<br />

graugrüne Rock wird zum besonderen, vielschichtigen Symbol – mit der<br />

Farbe Grün für Natur- und Heimatverbundenheit, aber auch als Absage<br />

an feudale Werte und als Bekenntnis zum neuen Staatsbürgertum (so<br />

propagierte Erzherzog Johann eine graugrüne Landwehruniform), gleichzeitig<br />

auch „rationaleren“ Vorstellungen von Kleidung entsprechend:<br />

Abgesehen vom dezent eingesetzten Grün ist er einfärbig grau, einfach,<br />

klar, schnörkellos.<br />

Über städtische Schichten, Adel und Bürgertum ist somit aus dem alten<br />

„G’wand“ die „Tracht“ geworden. Und immer weniger dient sie dem Alltagsgebrauch,<br />

sondern vermehrt als Kleidung für festliche Anlässe und<br />

für Zwecke der Präsentation.<br />

Tracht zu tragen entwickelte sich seit dem 19. Jahrhundert insgesamt zu<br />

einer komplexen und vielschichtigen Angelegenheit: Als gewohnheitsmäßiges<br />

und „selbstverständliches“ Tragen von Loden in bäuerlich-ländlichen<br />

Milieus im Alltag. Als Bekenntnis zur „Tradition“ einer Gruppe oder<br />

einer Region, der man sich mit Stolz zugehörig fühlt. Als Lust auf die besondere<br />

Ästhetik von Formen und Stoffen und des Sich-Bewegens in den<br />

Sehnsuchtsräumen des städtischen Großbürgertums („Leichtigkeit des<br />

Seins in der Sommerfrische“). Darüber hinaus wird Tracht auch Ausdruck<br />

für kulturelle und politische Werthaltungen (Ablehnung der industrialisierten,<br />

urbanen und modernen Welt, Bekenntnis zu einer überlieferten<br />

ländlichen Welt, Heimat- und Naturverbundenheit). Mit dem beginnenden<br />

20. Jahrhundert avancierte Tracht auch zum Objekt völkischer und<br />

nationaler Strömungen.<br />

Einen besonderen Höhepunkt der Adaptierung der Kleidung der Einheimischen<br />

für ein neues Lebensgefühl städtisch-bürgerlicher Schichten in<br />

Verbindung mit Freizeit und Jagd bildet die im auslaufenden Zeitalter<br />

von Romantik und Historismus aufkeimende Sommerfrische. So ist zum<br />

Beispiel das „Dirndl“ eine Erfindung bürgerlicher Sommerfrischlerinnen,<br />

die in das „Stallg’wand“ der Almerinnen schlüpften. Über Erzherzog Johann<br />

hinaus setzten auch die Habsburger das Trachtentragen fort, wie<br />

zum Beispiel Kaiser Franz Josef, der in Lederhosen auf die Ischler Jagd<br />

ging und damit starke Signale („Natursehnsucht“, „Volksnähe“, „Heimatverbundenheit“)<br />

setzte.<br />

Gegen die Auswüchse der „X-Beliebigkeit“ von Trachtenmode seit dem<br />

Ende des 19. Jahrhunderts bemühte sich die im Kontext von Heimatbewegungen<br />

und Liebe zur Volkskultur entstandene Volkskunde um die<br />

Aufarbeitung der Trachtenentwicklung sowie auch um Maßstäbe für „korrekte“<br />

Tracht. So entstanden mehrere Trachtensammlungen. Ein besonderes<br />

Beispiel für eine umfangreiche und nachhaltig wirksame Sammlung<br />

4<br />

Konrad Mautner: Steirisches<br />

Trachtenbuch.<br />

Weitergeführt und<br />

herausgegeben von<br />

Viktor Geramb. 2 Bde.<br />

Graz 1932 und 1935 (eigentlich<br />

abgeschlossen<br />

1939); vgl. dazu: Nora<br />

Schönfellinger (Hg.):<br />

„Conrad Mautner, großes<br />

Talent“. Ein Wiener<br />

Volkskundler aus dem<br />

Ausseerland. Grundlsee<br />

1999.<br />

5<br />

So der Titel eines Klassikers<br />

von Stefan Zweig.<br />

stellt das Steirische Trachtenbuch von Konrad Mautner, des regelmäßig<br />

in Gössl verweilenden Sprosses einer Industriellenfamilie, dar. 4<br />

In der Ersten Republik war Tracht nicht nur Freizeitbekleidung für die<br />

Sommerfrische und die neuen Salzburger Festspiele, sondern auch Symbol<br />

eines Bekenntnisses zu Österreich als Staat, „den keiner wollte“ und<br />

als nostalgische Hinwendung zur versunkenen „Welt von gestern“, der<br />

k.k. Monarchie. 5 Dirndl und Lederhose avancierten zur schicken Sommermode<br />

– wie zum Beispiel im Falle von vielen Künstlern und Prominenten in<br />

der Festspielstadt Salzburg (auch ein eigener Salzburger Trachten-Look<br />

wird kreiert). Der Ständestaat progagierte in seinem Identitätsbemühen<br />

im neuen, kleineren Österreich die Einführung von Landestrachten.<br />

Völkisch-nationale Gruppierungen instrumentalisierten Tracht für Agitation<br />

und Ausgrenzung und machten sie zur „heiligen, ererbten Vätertracht“<br />

als Symbol für völkischen Heimatschutz. Die antisemitische<br />

Programmatik dieser Strömungen sprach den jüdischen Mitbürgerinnen<br />

und Mitbürgern, darunter auch vielen begeisterten Sommerfrischlern,<br />

das Recht ab, Tracht zu tragen – eine Entwicklung, die im Trachtenverbot<br />

für Juden im nationalsozialistischen Staat mündete.<br />

Nach 1945 wurde das Tragen von Tracht in vielen Kreisen desavouiert. Einerseits<br />

ist dies jenem „Graben“ zu verdanken, den die völkisch-nationale<br />

und nationalsozialistische Vereinnahmung von Trachten hinterlassen<br />

hatte. Andererseits hat diese Ablehnung von Tracht auch mit der (linken)<br />

Populärkultur seit den 1960er-Jahren zu tun. Tracht zu tragen unterliegt<br />

seither – auch aufgrund politischer Vereinnahmungen – Vorurteilen und<br />

damit verbundenen Zuweisungen (Tracht = rückständig, bürgerlich, traditionell,<br />

konservativ, rechts usw.).<br />

Zurück zum Loden: Ab den 1960er-Jahren wurde Loden (oder auch Leinen)<br />

durch neue Stoffe ersetzt. Insbesondere der traditionelle Einsatz<br />

des Lodens als funktionales Material für Arbeits- und Sportbekleidung<br />

verschwand zugunsten der Verwendung von Kunstfaser. Noch bis in die<br />

1950er-Jahre war Loden aufgrund seiner besonderen Qualitäten (feuchtigkeits-<br />

und schmutzabweisend, wärmend, strapazfähig) von Bergsteigern<br />

genutzt worden.<br />

Abgesehen von alpinen Regionen – wo Trachten verbreitet bei festlichen<br />

Anlässen getragen werden – verschwand die Tracht in den letzten Jahrzehnten<br />

aus dem Alltag, besteht jedoch in spezifischem Rahmen weiter,<br />

zum Beispiel im Rahmen von Trachten- und Heimatpflegeaktivitäten.<br />

Im Besonderen wurden örtliche Musikkapellen zu Repräsentanten von<br />

Tracht, die sich zusehends von militärischen Formationen zu kollektiv<br />

marschierenden Trachtenkörpern verwandeln. In Verbindung mit Touris-


282 — 283<br />

Günther Marchner<br />

6<br />

Aus einem Gespräch mit<br />

einem Lodenproduzenten.<br />

7<br />

Ich beziehe mich dabei auf<br />

Aussagen und Informationen<br />

aus den Gesprächen<br />

mit Vertretern der Ennstaler<br />

Lodenwalken, mit zwei<br />

Schneidermeistern aus der<br />

Region sowie einem Ausseer<br />

Lederhosenmacher.<br />

8<br />

Dieser Ursprungsstandort<br />

in Rössing in der Ramsau<br />

ist eine der ältesten Lodenwalken<br />

im Alpenraum (über<br />

500 Jahre).<br />

musregionen und populärer Volkskultur wird Trachtenmode für manche<br />

Bevölkerungsschichten in Österreich, in der Schweiz, in Südtirol sowie im<br />

süddeutschen Raum zum Ausdruck eines Lebensgefühls.<br />

Heute gehört vor allem das Ausseerland – wie andere Teile des Salzkammergutes<br />

– zu jenen besonderen „Trachteninseln“, die sich im<br />

Wechselspiel des eigensinnigen Stolzes der Bewohner/innen mit dem<br />

städtisch-bürgerlichen „Sommerfrische-Import“ erhalten haben. Wo sich<br />

andernorts Trachtenvereine bemühen, „bedrohte“ Tracht zu bewahren<br />

und zu repräsentieren, zählt sie hier zur alltäglichen Selbstverständlichkeit<br />

– quer durch alle Bevölkerungsschichten. Als typisch „ausseerisch“<br />

und „steirisch“ gilt das typische Ausrüstungsset: wie zum Beispiel die<br />

Lederhose (eng und lang bis oberhalb des Knies), der Gamslrock, grüne<br />

Stutzen mit der eingemusterten „brennaden Liab“ oder anderen Motiven,<br />

der Ausseer, bzw. der Steirerhut oder das Seidenbindl. Oder eben der<br />

graugrüne Steieranzug. Oder das Dirndl.<br />

Eine besondere Variante des graugrünen Rocks ist der „Schladminger“:<br />

als „schwerwiegender“ Überrock in der Regel aus besonderem Loden<br />

(Perlloden) hergestellt, der zwar weit über die Region hinaus bekannt ist,<br />

doch überwiegend im oberen Ennstal von Einheimischen wie zunehmend<br />

von langjährigen Gästen und zugezogenen „Zweiheimischen“ getragen<br />

wird. Im Zusammenhang mit einem „Trachtenboom“ in den 1990er-Jahren,<br />

der 10 Jahre später ebenso rasch wieder zusammengebrochen ist, 6<br />

wurde der „Schladminger“ zum besonderen Kult- und Werbeobjekt des<br />

boomenden Wintersportortes Schladming. Er avancierte vom Bauern-<br />

und Holzknechtgwand zum „Bürgermeisterjanker“, der Exilschladmingern<br />

zu ehrenhaften Anlässen oder Verwandten zum „50er“ geschenkt<br />

wird, oder auch Prominenten wie Arnold Schwarzenegger verpasst wird,<br />

durch welchen der Schladminger zum besonders „massiven“ Werbeträger<br />

wurde.<br />

Erfolgreiche Nischen- und Qualitätsprodukte<br />

für einen überregionalen Markt<br />

Alpines Textilgewerbe ist angesichts einer globalisierten Textilindustrie<br />

zu einer Besonderheit geworden. Aber hat Lodenproduktion überhaupt<br />

eine Zukunft? Kann Trachtenhandwerk überleben? Beispiele aus dem<br />

Ennstal und dem Ausseerland zeigen sehr wohl Beispiele für erfolgreiche<br />

Nischen- und Qualitätsstrategien 7 :<br />

Im Ennstal bestehen derzeit zwei Lodenwalken, die familiengeschichtlich<br />

aus einem Standort hervorgehen. 8 Beide Betriebe (mit durchschnittlich<br />

25 bzw. 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) haben es geschafft, dem<br />

Wandel von Produktionsbedingungen, Modeströmungen und Globalisie-<br />

Lederhosenstilleben,<br />

Was man nicht sieht


284 — 285<br />

Günther Marchner<br />

9<br />

Informationen aus Gesprächen<br />

mit Vertretern<br />

der beiden Betriebe im<br />

März 2010 sowie verfügbaren<br />

Unterlagen.<br />

rung zum Trotz erfolgreich zu bestehen. Im Gegensatz dazu sind viele<br />

andere kleine Lodenwalken in den letzten Jahrzehnten verschwunden.<br />

Beide Ennstaler Betriebe produzieren Loden zwar auch für Trachtenkleidung<br />

(zu ca. 50%), wie auch den berühmten „Schladminger“. Allerdings<br />

sind Trachten nicht der einzige und vor allem nicht der entscheidende<br />

Markt, der das Überleben dieser Betriebe sichert.<br />

Dafür haben diese Betriebe unterschiedliche Spezialisierungs- und<br />

Nischenstrategien entwickelt: 9<br />

→ Die Lodenwalke in Ramsau/Rössing setzt auf „Tradition“: Bis<br />

auf notwendige Modernisierungen (Maschinen für Spinnerei und<br />

Weberei) ist vieles unverändert geblieben. Loden wird naturnahe<br />

und schonend erzeugt, der Betrieb überzeugend als transparentes<br />

und ehrliches „Erlebnis“ inszeniert. Zu dieser Authentizität gehört<br />

auch, dass die Konfektionierung des Lodenstoffes für Tracht<br />

und Mode zu 100% durch steirische Schneidereien erfolgt. Eine<br />

Besonderheit, die zum Markenzeichen des Betriebes zählt: Die<br />

Produkte dieser Lodenwalke gibt es nur „vor Ort“ zu kaufen bzw.<br />

zu bestellen. Entscheidend für den Betrieb ist jedoch, dass eine<br />

Kombination aus traditionellen mit neuen modischen Produkten<br />

gelingt und damit ein erweitertes Publikum anzieht. Zunehmend<br />

wird von einer neuen Kundschaft die besondere Qualität des<br />

Lodens wahrgenommen und geschätzt, die er zum Beispiel für<br />

Sportbekleidung hat (feuchtigkeits- und schmutzabweisend, wärmend,<br />

geruchsabsorbierend). Allerdings wird von diesem Betrieb<br />

schon lange nicht mehr heimische Wolle verwendet. Diese ist aufgrund<br />

des Klimas zu hart und zu kratzig. Loden aus der Ramsau<br />

wird aus feinerer, überseeischer Wolle erzeugt. Heute bildet die<br />

Lodenwalke in Rössing einen originellen handwerksorientierten<br />

Herzeigebetrieb mit hoher Produktqualität und besonderem Erlebniswert<br />

in einer Tourismusregion.<br />

→ Loden Steiner in Mandling ist seit dem Rückgang traditioneller<br />

Lodenkleidung in den 1980er-Jahren zunehmend innovativ auf<br />

neue Märkte ausgerichtet. Im Besonderen der früher weit verbreitete<br />

Lodenmantel ist, so ein Vertreter des Unternehmens, „quasi<br />

ausgestorben und müsste unter Artenschutz gestellt werden“. Mit<br />

der Neuausrichtung des Unternehmens wurden die Lodenstoffe<br />

bunter und vielfältiger. Internationale Marken werden mit ausgewählten<br />

Stoffen beliefert, die flexibel und in kleinen Mengen<br />

erzeugt werden. Die Firma ist auf Modemessen in Paris vertreten<br />

und inzwischen dort „in den Köpfen verankert“. Zusätzlich wird mit<br />

Innendekoration (Decken, Bezugsstoffe wie zum Beispiel für Hoteleinrichtungen)<br />

eine neue und wachsende Schiene aufgebaut.<br />

Entscheidend ist: Beide Betriebe verbinden Tradition und Erfahrungswissen<br />

mit neuen Strategien (Nischen- und Qualitätsproduktion für einen<br />

überregionalen Markt) und tragen quasi als identitätsstiftende „Leit-<br />

KMUs“ zur Wertschöpfung in der Region bei.<br />

Darüber hinaus gibt es in der Region erfolgreiche Handwerksbetriebe im<br />

Bereich der Verarbeitung und Vermarktung von Trachten. Dazu zählt zum<br />

Beispiel der einzige Lederhosenmacher im Ausseerland, der Lederhosen<br />

nur auf Maß erzeugt (Kostenpunkt: zwischen 1000 bis 2000 Euro pro<br />

Stück, mit durchschnittlich einem ¾ Jahr Wartezeit), der zwischendurch<br />

für Kundinnen und Kunden auch eine Blue Jeans richtet, mit einer Werkstatt<br />

als gleichzeitigem Verkaufs-, Verhandlungs- und Anproberaum<br />

sowie einem Werbebudget von Null Euro. Und es gibt Schneidereibetriebe<br />

im Ausseerland oder in der Ramsau, die Tracht, auch in eigenständiger<br />

Weiterentwicklung und in Maßarbeit für ein ausgewähltes Publikum erzeugen<br />

– und dies mit dem Handel von Trachten- und Modebekleidung<br />

„von der Stange“ in allen Lagen und Preisklassen verbinden. Entscheidend<br />

für ihren Erfolg ist ihre Positionierung in einer Tourismusregion, aus<br />

denen sich auch ein überregionales Publikum erschließt.<br />

Wetterfest in die Globalisierung<br />

Loden wird überwiegend mit „Tracht“, „grün“ oder „grau“ und „konservativ“<br />

assoziiert. Aber das stimmt schon lange nicht mehr. Traditionelle<br />

Lodenkleidung wie der „Wetterfleck“ ist nicht ausgestorben. Aber der<br />

Wetterfleck ist zu etwas Besonderem geworden, getragen „von Individualisten“,<br />

so ein Lodenproduzent.<br />

Der Alltagseinsatz des „Schladmingers“ ist nicht nur bei Prominenten zu<br />

bewundern, sondern auch bei Skiliften der Region, wo er den Bauern, die<br />

dort im Neben- oder Zuerwerb tätig sind, jenen besonderen Schutz bietet,<br />

wie er es früher immer schon getan hat.<br />

Einer tendenziell statisch-konservierenden Trachtenpflege durch Volkskunde,<br />

Museen und Trachtenvereinen ist eine dynamische Seite gegenüberzustellen:<br />

Zum Beispiel jene cool-bunten Trachtenträger/innen, die<br />

beim „Weaner Seertag“ alljährlich das Altausseer Bierzelt heimsuchen<br />

oder jene Schneider, die mit viel Kompetenz und Behutsamkeit Trachtenkleidung<br />

in Maßarbeit durch eigene Kreationen weiterentwickeln und sich<br />

nicht gerne vorschreiben lassen möchten, wie Tracht auszusehen hat.


286 — 287<br />

1<br />

Ortsplan von Bad Mitterndorf,http://www.badmitterndorf.at/Ortsplan-<br />

Bad-Mitterndorf.577.0.html<br />

[Zugriff: 31.3.2010].<br />

2<br />

Walter Kiwit: 40 Jahre Sonnenalm<br />

in Bad Mitterndorf<br />

im steirischen Salzkammergut.<br />

Bad Mitterndorf<br />

2005, S. 4.<br />

3<br />

http://www.sonnenalm.<br />

net/3.html [Zugriff:<br />

14.4.2010].<br />

4<br />

Hermine Vidovic: Wirtschaftliche,<br />

soziale und<br />

räumliche Auswirkungen<br />

von Zweitwohnsitzen.<br />

Fallstudie Bad Mitterndorf.<br />

Dipl.-Arb., Wien 1982, S.<br />

54–55.<br />

5<br />

Ebda., S. 93–95.<br />

6<br />

Ralph Weiß: Vom gewandelten<br />

Sinn für das Private.<br />

In: Ralph Weiß, Jo Groebel:<br />

Privatheit im öffentlichen<br />

Raum. Medienhandel<br />

zwischen Individualisierung<br />

und Entgrenzung (=Schriftenreihe<br />

Medienforschung,<br />

Bd. 43). Opladen: Leske und<br />

Budrich 2002, S. 31.<br />

Schöne Ferienwohnung in ruhiger Lage<br />

Einblicke in die Gestaltung von Privaträumen<br />

auf der Sonnenalm in Bad Mitterndorf<br />

Gundi Jungmeier<br />

Gute drei Kilometer vom Ortskern von Bad Mitterndorf, nordöstlich der<br />

Salzkammergut-Bundesstraße, liegt die Sonnenalm, eine Ansiedlung<br />

von Ferienwohnbauten. 1<br />

Zwischen 1964 und 1974 wurden acht Appartementhäuser sowie eine<br />

Reihe von Bungalows und kleineren Freizeitwohnanlagen errichtet, die<br />

insgesamt 609 Wohneinheiten umfassen. 2 Diese werden von ihren Besitzerinnen<br />

und Besitzern teilweise auch anderen Erholungssuchenden<br />

zur Miete angeboten. 3<br />

Der Bau dieser Anlage ging einher mit einem in den 1960er-Jahren einsetzenden<br />

gesamtösterreichischen Trend, Freizeitwohnraum für (in erster<br />

Linie ausländische) Erholungs- und Erlebnissuchende zu schaffen,<br />

um so die regionale Wirtschaft anzukurbeln. 4<br />

Worin liegt jedoch der Reiz, sich am Urlaubsort einen Zweitwohnsitz<br />

einzurichten, anstatt den Service eines Hotels oder die Gemütlichkeit<br />

einer Frühstückspension zu genießen?<br />

Neben finanziellen Überlegungen (z. B. um sich längere Aufenthalte<br />

in einer Ferienwohnung besser leisten zu können oder den Ankauf der<br />

Wohnung auch als Wertanlage zu betrachten) ist dies auch eine Frage<br />

von Prioritäten in punkto „Wohnen am Urlaubsort“. 5 Im Gegensatz zu<br />

Beherbergungsbetrieben bieten Ferienwohnungen ein hohes Maß an<br />

privater Atmosphäre.<br />

Was aber genau ist unter „privat“ zu verstehen?<br />

Privatheit bedeutet einerseits Schutz vor Eingriffen durch öffentliche<br />

Gewalt – also staatliche Kontrolle und Überwachung – wodurch persönliche<br />

Autonomie gewährleistet wird. Andererseits schließt Privatheit<br />

auch Freiheit vor Übergriffen anderer Privatpersonen und die Sicherung<br />

materieller und sozialer Voraussetzungen für persönliche Freiheit ein.<br />

Letzteres wird wiederum von der öffentlichen Gewalt gewährleistet. 6<br />

7<br />

Hans Erich Bödeker: Die<br />

bürgerliche Literatur- und<br />

Mediengesellschaft. In:<br />

Notker Hammerstein, Ulrich<br />

Herrmann: Handbuch der<br />

deutschen Bildungsgeschichte.<br />

18. Jahrhundert.<br />

Vom späten 17. Jahrhundert<br />

bis zur Neuordnung<br />

Deutschlands um 1800, Bd.<br />

2. München: Beck 2005, S.<br />

516–517.<br />

8<br />

Helgard Mahrdt: Öffentlichkeit,<br />

Gender und Moral. Von<br />

der Aufklärung zu Ingeborg<br />

Bachmann (=Palaestra.<br />

Untersuchungen aus der<br />

deutschen und skandinavischen<br />

Philologie, Bd. 304).<br />

Göttingen: Vandenhoeck &<br />

Ruprecht 1998, S. 12.<br />

9<br />

Werner Faulstich: Die<br />

bürgerliche Mediengesellschaft<br />

(1700–1830).<br />

Göttingen: Vandenhoeck &<br />

Ruprecht 2002, S. 22.<br />

10<br />

Ebda., S. 21–22.<br />

11<br />

Ralph Weiß: Vom gewandelten<br />

Sinn für das Private,<br />

S. 34.<br />

12<br />

Siegfried Lamnek: Die Ambivalenz<br />

von Öffentlichkeit<br />

und Privatheit, von Nähe<br />

und Distanz. In: Siegfried<br />

Lamnek, Marie-Theres Tinnefeld:<br />

Privatheit, Garten<br />

und politische Kultur. Von<br />

kommunikativen Zwischenräumen.<br />

Opladen: Leske u.<br />

Budrich 2003, S. 40.<br />

13<br />

Ebda., S. 40.<br />

14<br />

Marie-Theres Tinnefeld:<br />

Privatheit: Garten und politische<br />

Kultur. Einführende<br />

Gedanken. In: Siegfried<br />

Lamnek: Marie-Theres Tinnefeld,<br />

Privatheit, Garten<br />

und politische Kultur, S. 18.<br />

Die Idee der Privatheit steht außerdem in engem Zusammenhang mit<br />

der Entwicklung der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert.<br />

Diese stellt eine Teilöffentlichkeit mit eigenen Werten und Medien<br />

dar, welche ihren Protagonistinnen und Protagonisten die Möglichkeit<br />

zur Kommunikation eröffnet. Dadurch werden Privatpersonen – die ursprünglich<br />

das Publikum bildeten – zu Akteurinnen und Akteuren. 7 Voraussetzung<br />

für diese Entwicklung ist die Trennung von Staat und bürgerlicher<br />

Gesellschaft, wobei die bürgerliche Öffentlichkeit eine eigene,<br />

vom herrschaftlich-öffentlichen und vom privaten Bereich getrennte<br />

Sphäre darstellt. 8 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts vollzieht sich auch<br />

im wirtschaftlichen bzw. familiären Bereich ein Strukturwandel. Die privatwirtschaftliche<br />

Sphäre büßt beispielsweise an privatem Charakter<br />

ein und erhält stärkere öffentliche Relevanz. Analog zur bürgerlichen<br />

Öffentlichkeit entwickelt sich bis zur Wende zum 19. Jahrhundert die<br />

sogenannte „bürgerliche Privatheit“, die z. B. durch Veränderungen in<br />

Familienstrukturen (bürgerliche Kleinfamilie) gekennzeichnet ist. Zudem<br />

kommt es, so Werner Faulstich, zu einer „Isolation von Familie als programmatische<br />

Abgrenzung von der ökonomisch bestimmten neuen<br />

Öffentlichkeit“. 9 Vor dem Hintergrund der neu entstandenen kommerziellen<br />

Öffentlichkeit bildet die Familie somit einen Ort der Regeneration<br />

außerhalb eines leistungs- und gewinnorientierten Umfelds. 10<br />

Innerhalb des sehr komplexen Themas der Privatheit und in Zusammenhang<br />

mit der starken Abgrenzung der Familie bzw. des Familienlebens<br />

kann der Begriff „Häuslichkeit“ ausgemacht werden. Dieser kennzeichnet<br />

einen Bereich, in dem sich eingegangene soziale Beziehungen auf<br />

Übereinkunft gründen und davon bestimmt sein sollen. Hier können sich<br />

Menschen – zumindest der Idee nach – ohne Rücksichtnahme auf Konventionen,<br />

die bestimmend für ihr öffentliches Leben sind, offenbaren<br />

und werden um ihrer selbst willen anerkannt. Die häusliche Atmosphäre<br />

bietet Möglichkeiten für Selbstausdruck und Selbstverwirklichung und<br />

garantiert die Sphäre der Intimität. 11<br />

In den letzten Jahren verschwimmen wiederum die Grenzen zwischen<br />

häuslicher Privatheit und Öffentlichkeit, da persönliche Aspekte zunehmend<br />

in öffentlichen Räumen sichtbar werden. Siegfried Lamnek<br />

sieht darin die „schleichende Privatisierung der Öffentlichkeit“ 12 und<br />

führt dabei Argumente wie mobile Kommunikation auf offener Straße<br />

und neue Unterhaltungsformate, in denen Intimitäten und persönliche<br />

Schicksale im Fernsehen gezeigt bzw. beobachtet werden, ins Treffen. 13<br />

Umgekehrt kommt es auch zu einer stärkeren Durchdringung des privaten<br />

Raumes durch Aspekte des öffentlichen Lebens, die stark von<br />

neuen Kommunikationstechnologien, wie z. B. dem Internet, ermöglicht<br />

werden. „Staatliche und private Akteure suchen Zugang zu den Interaktionsprozessen<br />

in der digitalisierten Wirklichkeitsschicht und erfassen<br />

sie datenmäßig, um sie abzubilden und für verschiedene Zwecke zu<br />

nutzen.“ 14


288 — 289<br />

Gundi Jungmeier<br />

15<br />

Mathias Stock: Polytopisches<br />

Wohnen – ein<br />

phänomenologisch-prozessorientierter<br />

Zugang<br />

(=Informationen zur<br />

Raumentwicklung, Heft<br />

1/2.2009). Bonn 2009,<br />

S. 107.<br />

16<br />

Ebda., S. 111.<br />

17<br />

Rainer Maderthaner:<br />

Wohlbefinden, Lebensqualität<br />

und Umwelt. In:<br />

http://homepage.univie.<br />

ac.at/rainer.maderthaner/<br />

Wohlbefinden%20LQ%20<br />

Umwelt%20(Kryspin)%20<br />

Reprint.pdf [Zugriff:<br />

14.4.2010], S. 6–10.<br />

18<br />

Burkhard Pöttler: Der<br />

Urlaub im Wohnzimmer.<br />

Dinge als symbolische<br />

Repräsentation von<br />

Reisen – Reiseandenken<br />

und Souvenirs. In: Johannes<br />

Moser, Daniella Seidl (Hg.):<br />

Dinge auf Reisen. Materielle<br />

Kultur und Tourismus.<br />

Münster: Waxmann 2009,<br />

S. 120–121.<br />

19<br />

Rainer Maderthaner: Wohlbefinden,<br />

Lebensqualität<br />

und Umwelt, S. 6–10.<br />

20<br />

Marie-Theres Tinnefeld:<br />

Privatheit, Garten und<br />

politische Kultur, S. 18.<br />

Die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit sowie deren Durchdringbarkeit<br />

variieren also und unterliegen je nach kulturellem, politischem<br />

und zeitlichem Kontext Veränderungen.<br />

Im Hinblick auf den Ort, an dem sich Menschen häuslich einrichten,<br />

lässt sich seit einigen Jahrzehnten der Trend zu höherer Mobilität feststellen.<br />

Der Begriff „Wohnen“ impliziert Werte wie Verbundenheit oder<br />

Ortsansässigkeit, die im Gegensatz zu Mobilität stehen. Die Nutzung<br />

von Zweitwohnsitzen, Pendeln zum Arbeitsplatz über große Distanzen,<br />

Studienaufenthalte usw. sind Mobilitätserscheinungen, die sich nicht<br />

mehr mit ortsgebundenem Leben, in dem alle Erledigungen des Alltags<br />

im näheren Umfeld des Wohnraumes erfolgen, verbinden lassen. 15<br />

Touristische Mobilität wiederum ist gekennzeichnet vom Unterschied<br />

zwischen Alltagsort und Urlaubsort. Im Falle der Nutzung einer Zweitwohnung<br />

löst sich diese Differenz teilweise durch die Vertrautheit mit<br />

der Wohnung am Urlaubsort auf. 16<br />

Was die Wahl des Ortes bzw. der Immobilie einerseits und die Gestaltung<br />

des Wohnraumes sowie des Lebens in diesem Umfeld andererseits betrifft,<br />

so müssen Architektinnen bzw. Architekten und Bewohner/innen<br />

ein geeignetes Maß an Privatheit, Sicherheit, Funktionalität, Ordnung,<br />

Möglichkeiten zu Kommunikation und Regeneration, Aneignung, Partizipation<br />

und Ästhetik finden. 17<br />

Durch die sich laufend ändernden wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen<br />

ändern sich auch die Anforderungen im Bereich der<br />

Wohnraumschaffung.<br />

Eine besondere Bedeutung spielen – besonders auch im Hinblick auf<br />

die Gestaltung von Wohnräumen – Objekte, mit denen sich Menschen<br />

umgeben, denn diese bestätigen deren soziale Identität. Ebenso von<br />

Bedeutung sind persönliche Gegenstände und Andenken, über die sich<br />

ebenfalls die Identität ausdrückt. Immaterieller Besitz bzw. sogenanntes<br />

„kulturelles Kapital“ findet daher sehr oft in Form symbolischer Objekte<br />

Eingang in den alltäglichen Lebensraum und wird häufig dekorativ platziert<br />

oder an weniger prominenten Orten aufbewahrt. 18<br />

Durch die Aneignung von Räumen, das heißt durch deren Adaption<br />

als Teil des eigenen Lebensraums, z.B. durch das Schmücken von Eingangstüren,<br />

Anlegen von Vorgärten usw. wird die Verbundenheit und<br />

Identifikation mit der näheren Umgebung erhöht. Mit der ästhetischen<br />

Bewertung des eigenen Wohn- und Lebensumfeldes werden neben einer<br />

höheren Wohnzufriedenheit, bzw. einem höheren Wohnprestige, auch die<br />

Ortsverbundenheit und die Einsatzbereitschaft für gemeinschaftliche<br />

bzw. kommunale Angelegenheiten gesteigert. 19<br />

Die Vorstellung von häuslicher Privatheit schließt Balkone, zum Haus gehörende<br />

Gärten usw. mit ein. 20 Dennoch handelt es sich dabei um Räume,<br />

deren Grenzen (im Sinne häuslicher Zurückgezogenheit) durchlässig<br />

sind. Sie stellen eine Verbindung zur Außenwelt her und ermöglichen<br />

Lukas Kogler,<br />

Johannes Pötscher<br />

Einblicke in die Gestaltung<br />

von Privaträumen auf<br />

der Sonnenalm in<br />

Bad Mitterndorf<br />

(von oben nach unten):<br />

Andenken am Kachelofen,<br />

Hummelfiguren am<br />

Zierboard, Selbstgefertigte<br />

Schnitzerei, Andenken, 2010


290 — 291<br />

Gundi Jungmeier<br />

21<br />

Interviews mit Besitzerinnen<br />

und Besitzern von<br />

Immobilien der Sonnenalm,<br />

Universalmuseum<br />

Joanneum, Multimediale<br />

Sammlungen, Büro<br />

der Erinnerungen (i. d.<br />

F.: UMJ), 31.3.2010,<br />

1.4.2010, 2.4.2010.<br />

22<br />

Interview, UMJ,<br />

31.3.2010.<br />

23<br />

Interview, UMJ,<br />

1.4.2010.<br />

24<br />

Interview, UMJ,<br />

31.3.2010.<br />

25<br />

Interview, UMJ,<br />

1.4.2010.<br />

26<br />

Interview, UMJ,<br />

31.3.2010.<br />

Interaktion. Hier sind die Bewohner/innen vor die Aufgabe gestellt, ein<br />

für sie passendes Maß zwischen Transparenz und Abgeschlossenheit aus<br />

einem breiten Feld von Möglichkeiten – zwischen symbolischen Grenzen<br />

in Form von optisch wahrnehmbaren Umrandungen (z. B. Blumenrabatten)<br />

und tatsächlichen Barrieren (z. B. Zäune oder Hecken) – zu wählen.<br />

Die Gestaltung von Gärten, Balkonen usw. bestimmt zu einem Teil die<br />

Möglichkeiten bzw. die Intensität der Interaktion mit der Öffentlichkeit.<br />

Mittlerweile haben mehrere Besitzer/innen von Ferienwohnungen die<br />

Sonnenalm als permanenten Wohnsitz auserkoren und wollen ihren Lebensabend<br />

ganz oder zumindest zu einem großen Teil dort verbringen.<br />

Einige von ihnen haben für das vorliegende Projekt ihre Türen geöffnet<br />

und Einblicke in ihre Wohnräume und Gärten ermöglicht. 21<br />

„Wir sind keine Hotelmenschen in dem Sinn. Beide nicht. Sondern<br />

wir waren immer [darauf] bedacht, dass man etwas besitzt, wo<br />

man hin kann und gleich wieder zuhause ist. Mit seinen eigenen<br />

Möbeln, auch mit der Kleidung etc. Das hat eben besser gepasst,<br />

als wenn man dann mit dem Koffer jedes Mal anreisen muss. Also<br />

wir gehen nicht gerne ins Hotel.“ 22<br />

„Wir brauchen keine Vorhänge oder sonst etwas, bei uns ist es<br />

immer offen. Es kann niemand hereinschauen, es scheint den<br />

ganzen Tag die Sonne herein. Wir können uns frei bewegen, das<br />

ist super.“ 23<br />

„Das ist der hintere Garten. Der ist ostseitig, den nutzen wir sehr<br />

viel. Im Sommer schon beim Frühstück, weil da die Sonne aufgeht.<br />

Und dann kann man hier an unserem Tisch wunderschön<br />

frühstücken. Das ist wie so ein Atrium als Innenhof, da schaut<br />

kaum jemand rein.“ 24<br />

„Wir wissen oft nicht, kommt es von da oder kommt es von da<br />

oder von oben, das kann man nicht feststellen. Wenn man einen<br />

Fernseher oder Musik hört. Das kann man nicht recht feststellen,<br />

wo das herkommt. Aber es ist nicht störend, es ist ganz leise,<br />

wenn man ab und zu etwas hört.“ 25<br />

Lukas Kogler, Johannes Pötscher<br />

Sonnenalm, 2010<br />

„Wir haben es uns halt in der Zeit unseres Hierseins so angenehm<br />

wie möglich gemacht, haben uns gemütlich – so wie wir uns<br />

wohl fühlen – eingerichtet. Unter anderem haben wir dann auch<br />

so Sachen wie die Wandverkleidung und die Deckenverkleidung<br />

in Eigenarbeit montiert und in den Räumen, wo es nötig war das<br />

anzubringen, angebracht. […] Und dazu gehören halt die kleinen<br />

Dinge, die oben auf dem Board stehen, wie die Hummelfiguren.<br />

Auf der anderen Seite haben wir noch ein paar Geweihe. Wir versuchen<br />

das halt mit so viel Liebe wie möglich einzurichten. […]<br />

Da sind so urige Häferl hier mit ganz netten Sprüchen drauf, die<br />

haben wir uns mal angeschafft. Wenn es mal Glühwein gibt im<br />

Winter, dann werden die auch wieder benutzt.“ 26


Biografien<br />

PAWEL ALTHAMER<br />

Geboren 1967 in Warschau<br />

(PL), lebt in Warschau (PL)<br />

Einzelausstellungen<br />

(Auswahl):<br />

2009<br />

Pawel Althamer und Andere,<br />

Secession, Wien (AT)<br />

Frühling, Kunsthalle Fridericianum,<br />

Kassel (DE)<br />

(mit Nowolipie Group)<br />

2007<br />

One of Many, Fondazione<br />

Nicola Trussardi, Mailand<br />

(IT)<br />

black market, neugerriemschneider,<br />

Berlin (DE)<br />

2006<br />

In the Centre Pompidou,<br />

Espace 315, Musée National<br />

d’Art Moderne, Centre<br />

Pompidou, Paris (FR)<br />

2005<br />

Paweł Althamer zachęca,<br />

Zacheta National Gallery of<br />

Art, Warschau (PL)<br />

2004<br />

Pawel and Vincent, The<br />

Vincent Van Gogh Bi-annual<br />

Award for Contemporary Art<br />

in Europe, Bonnefantenmuseum<br />

Maastricht (NL)<br />

2003<br />

The Wrong Gallery, New<br />

York (US)<br />

2002<br />

Unsichtbar, Alexanderplatz,<br />

Berlin (DE, Projekt im<br />

öffentlichen Raum)<br />

Prisoners, Kunstverein<br />

Münster, Münster (DE)<br />

2001<br />

Weronika, Amden (CH, Projekt<br />

im öffentlichen Raum)<br />

The Collective Unconsciousness,<br />

migros museum,<br />

Zürich (CH)<br />

Museum of Contemporary<br />

Art, Chicago (US)<br />

2000<br />

Bródno 2000 (Projekt im<br />

öffentlichen Raum),<br />

Warschau (PL)<br />

Gruppenausstellungen<br />

(Auswahl):<br />

2010<br />

Les Promesses du Passé,<br />

Centre Pompidou, Paris<br />

(FR)<br />

2009<br />

Shifting Identities. Art<br />

Now, Contemporary Art<br />

Center Vilnius (LT)<br />

2008<br />

Art Comes Before Gold,<br />

Museum of Modern Art<br />

Warsaw, Warschau (PL)<br />

After Nature, New<br />

Museum, New York (US)<br />

Periphere Blicke und<br />

kollektive Körper, Museion,<br />

Bozen (IT)<br />

Shifting Identities,<br />

Kunsthaus Zürich, Zürich<br />

(CH)<br />

Double Agent, ICA, London<br />

(UK)<br />

2007<br />

The World as a Stage, Tate<br />

Modern, London (UK)<br />

Volksgarten: Politik der<br />

Zugehörigkeit, Kunsthaus<br />

Graz (AT)<br />

Skulptur Projekte Münster,<br />

Münster (DE)<br />

2006<br />

The exotic journey ends,<br />

Foksal Gallery Foundation,<br />

Warschau (PL)<br />

Of mice and men, Berlin<br />

Biennale 4, Berlin (DE)<br />

Sculptures in the Park,<br />

Villa Manin, Udine (IT)<br />

2005<br />

9. Istanbul Biennale,<br />

Istanbul (TR)<br />

Kollektive Kreativität<br />

(zusammen mit Artur<br />

Zmijewski), Kunsthalle<br />

Fridericianum, Kassel (DE)<br />

1. Moskau Biennale,<br />

Moskau (RU)<br />

2004<br />

Utopia Station, Haus der<br />

Kunst, München (DE)<br />

54 th Carnegie International,<br />

Carnegie Museum<br />

of Art, Pittsburgh (US)<br />

Artists’ Favourites, ICA<br />

Institute of Contemporary<br />

Art Gallery, London (UK)<br />

Dreaming of a Better<br />

World in Six Parts, BAK,<br />

Utrecht (NL)<br />

2003<br />

Art Focus 4 (zusammen<br />

mit Artur Żmijewski), Israel<br />

Museum, Jerusalem (IL)<br />

Bring on the Clowns,<br />

Frieze Art Fair Projects,<br />

London (UK)<br />

Dreams and Conflicts-The<br />

Viewer’s Dictatorship,<br />

Biennale di Venezia,<br />

Venedig (IT)<br />

2002<br />

Warum, Martin Gropius<br />

Bau, Berlin (DE)<br />

„I promise it’s political”,<br />

Museum Ludwig, Köln (DE)<br />

The Collective Unconsciousness,<br />

migros<br />

museum, Zürich (CH)<br />

2001<br />

„Ausgeträumt...”,<br />

Secession, Wien (AT)<br />

Abbild, Landesmuseum<br />

Joanneum, Graz (AT)<br />

2000<br />

Manifesta 3, Ljubljana<br />

(SLO)<br />

1997<br />

Documenta X, Kassel (DE)<br />

FRAnz KAPFER<br />

geboren 1971 in<br />

Fürstenfeld (AT), lebt in<br />

Wien (AT)<br />

Einzelausstellungen<br />

(Auswahl):<br />

2009<br />

In the shadow<br />

of Skanderbeg.<br />

Lichtinstallation, Oper<br />

Tirana, TICA Tirana (AL)<br />

Für Gott, Kaiser und<br />

Vaterland, Kunstpavillon,<br />

Innsbruck (AT)<br />

2008<br />

Zur Errettung des<br />

Christentums, Traklhaus,<br />

Salzburg (AT)<br />

Wunderwürdiges Kriegs-<br />

und Siegs-Lager, Oberes<br />

Belvedere, Wien (AT)<br />

2007<br />

Zur Errettung des<br />

Christentums, MMK<br />

Stiftung Wörlen, Passau<br />

(DE)<br />

2006<br />

Franz Kapfer, Salzburger<br />

Kunstverein, Salzburg (AT)<br />

Zur Errettung des<br />

Christentums, Galerie<br />

Hohenlohe, Wien (AT)<br />

2004<br />

Rom 2003, Galerie<br />

Hohenlohe & Kalb, Wien<br />

(AT)<br />

Franz Kapfer 2002-03,<br />

Studio, Neue Galerie, Graz<br />

(AT)<br />

2003<br />

Der Einzug König Etzels in<br />

Wien, MAK NITE, Wien (AT)<br />

Gruppenausstellungen<br />

(Auswahl):<br />

2010<br />

tanzimat, Augarten<br />

Contemporary, Wien (AT)<br />

Triennale Linz 1.0, OK<br />

Offenes Kulturhaus<br />

Oberösterreich, Linz (AT)<br />

2009<br />

Because it’s Like That<br />

Now, it Won’t Stay That<br />

Way, Galeria Arsenal,<br />

Bialystok (PL)<br />

Rewind / Fast Forward.<br />

Die Videosammlung, Neue<br />

Galerie Graz, Graz (AT)<br />

Einführung in die<br />

Kunstgeschichte 6,<br />

Landesgalerie Linz (AT)<br />

Schönheit des Hässlichen,<br />

Forum Frohner, Krems (AT)<br />

2008<br />

Rückblende, Neue Galerie,<br />

Graz (AT)<br />

Sexy Sexism, Galerie<br />

Václava Špály, Prag (CZ)<br />

Open Sky, regionale08,<br />

Schloss Kalsdorf,<br />

Kalsdorf (AT),<br />

Another Tomorrow,<br />

Slought Foundation,<br />

Philadelphia (US)<br />

2007<br />

Scheitern, Landesgalerie,<br />

Linz (AT)<br />

Soufflé, Kunstraum<br />

Innsbruck (AT)<br />

Objekthaftes, MdM<br />

Rupertinum, Salzburg (AT)<br />

Exitus, Künstlerhaus Wien,<br />

Wien (AT)<br />

Einführung in die<br />

Kunstgeschichte, Ursula<br />

Blickle Stiftung, Kraichtal-<br />

Unteröwisheim (AT)<br />

2005<br />

Das Neue 2, Atelier<br />

Augarten, Wien (AT)<br />

2004<br />

Lost Eight, Museum<br />

Moderner Kunst Stiftung<br />

Wörlen, Passau (DE)<br />

2002<br />

Ines Doujak / Franz<br />

Kapfer, Galerie Hohenlohe<br />

& Kalb, Wien (AT)<br />

2001<br />

The Subject and the<br />

Power, Central House of<br />

Artists, Moskau (RU)<br />

Le Tribù dell’Arte,<br />

Galeria Communale<br />

d’Arte Moderna e<br />

Contemporanea, Rom (IT)<br />

2000<br />

Gouvernementalität, Expo<br />

2000, Hannover (DE)


L/B<br />

Sabina Lang , geboren<br />

1972 in Bern (CH), Daniel<br />

Baumann, geboren 1967 in<br />

San Francisco (US),<br />

leben in Burgdorf (CH),<br />

Zusammenarbeit seit 1990<br />

Einzelausstellungen<br />

(Auswahl):<br />

2009<br />

Le Bel Accident. Vincent<br />

Ganivet, Lang/Baumann,<br />

Le Confort Moderne,<br />

Poitiers (FR)<br />

I’m Real, Galerie Urs Meile,<br />

Beijing (CN)<br />

2008<br />

More is More, Galerie<br />

Loevenbruck, Paris (FR)<br />

2007<br />

Pocket Stadium, Locust<br />

Projects, Miami (US)<br />

Hotel Everland, Palais de<br />

Tokyo, Paris (FR)<br />

Comfort #4, Villa du Parc,<br />

Annemasse (FR)<br />

2006<br />

Lumps and Bumps, Spiral/<br />

Wacoal Art Center,<br />

Tokio (JP)<br />

Hotel Everland, Galerie für<br />

Zeitgenössische Kunst,<br />

Leipzig (DE)<br />

2005<br />

Diving Platform, Marks<br />

Blond Project, Bern (CH)<br />

2004<br />

Perfect #2, Stage,<br />

Bern (CH)<br />

Lobby, Kunsthalle,<br />

St.Gallen (CH)<br />

2003<br />

L/B, Bell-Roberts Gallery,<br />

Cape Town (ZA)<br />

2002<br />

Duell, Galerie Urs Meile,<br />

Luzern (CH)<br />

Hotel Everland, Expo.02,<br />

Yverdon (CH)<br />

2001<br />

Window 002, Kunstraum<br />

Walcheturm, Zürich (CH)<br />

Transit, eine Navigation,<br />

Kunstverein, Freiburg (DE)<br />

Beautiful Entrance #3,<br />

Swiss Institute,<br />

New York (US)<br />

2000<br />

L/B, Josh Blackwell, Hot<br />

Coco Lab,<br />

Los Angeles (US)<br />

1999<br />

Au dernier cri, Galerie Urs<br />

Meile, Luzern (CH)<br />

Inforaum, Kunsthalle,<br />

Bern (CH)<br />

SAT 2, migros museum für<br />

gegenwartskunst,<br />

Zürich (CH)<br />

Gruppenausstellungen<br />

(Auswahl):<br />

2010<br />

Fukutake House, Art<br />

Setouchi 2010,<br />

Kagawa (JP)<br />

Portrait de l’artiste en<br />

motocycliste. Olivier<br />

Mosset, Musée des<br />

beaux-arts, La Chaux-de-<br />

Fonds (CH)<br />

2009<br />

WolaArt, Warschau (PL)<br />

Portrait de l‘artiste en<br />

motocycliste. Olivier<br />

Mosset, Magasin,<br />

Grenoble (FR)<br />

Utopics. 11.<br />

Schweizerische Plastikausstellung,<br />

Stadt,<br />

Biel-Bienne (CH)<br />

2008<br />

Nationale<br />

Kunstausstellung,<br />

Autofriedhof,<br />

Kaufdorf (CH)<br />

Balls and Brains,<br />

Helmhaus, Zürich (CH)<br />

2007<br />

Môtiers 2007, Art en plein<br />

Air, Môtiers (CH)<br />

The Memory of this<br />

Moment from the<br />

Distance of Years, Former<br />

Schindler’s Factory,<br />

Krakau (PL)<br />

2006<br />

5 Milliards d’années,<br />

Palais de Tokyo, Paris (FR)<br />

Trial Baloons, Canal<br />

Musac, León (ES)<br />

Space Boomerang, Swiss<br />

Institute, New York (US)<br />

2005<br />

Rundlederwelten, Martin-<br />

Gropius-Bau, Berlin (DE)<br />

Focus Switzerland, KBB,<br />

Barcelona (ES)<br />

Malereiräume, Helmhaus,<br />

Zürich (CH)<br />

2004<br />

Design? Kunst, Kunsthaus,<br />

Langenthal (CH)<br />

2003<br />

Floating Land, L’art sur<br />

place, Biennale de Lyon,<br />

Lyon (FR)<br />

Lee 3 Tau Ceti Central<br />

Armory Show, Villa Arson,<br />

Nizza (FR)<br />

Môtiers 2003, Art en plein<br />

Air, Môtiers (CH)<br />

2002<br />

Sweet Nothing, Kunsthaus<br />

Baselland, Basel (CH)<br />

Balsam - Exhibition der<br />

Fussballseele, Helmhaus,<br />

Zürich (CH)<br />

Cape Town Festival, SA<br />

National Gallery, Cape<br />

Town (ZA)<br />

2001<br />

Dreamgames, Stadion<br />

Dynamo Kiev, Kiew (UA)<br />

70s versus 80s, Museum<br />

Bellerive, Zürich (CH)<br />

migros museum für<br />

gegenwartskunst,<br />

Zürich (CH)<br />

CHRISTIAn PHILIPP<br />

MÜLLER<br />

Geboren 1957 in Biel (CH),<br />

lebt in Berlin (DE) und<br />

New York (US)<br />

Einzelausstellungen<br />

(Auswahl):<br />

2008<br />

Resolutions, Galerie<br />

Christian Nagel,<br />

Berlin (DE)<br />

cookie-cutter, 47 Orchard,<br />

New York (US)<br />

2007<br />

Basics, Kunstmuseum<br />

Basel, Museum für<br />

Gegenwartskunst,<br />

Basel (CH)<br />

Passé immediate: [plug.in],<br />

Kunst und Neue Medien,<br />

Basel (CH)<br />

2006<br />

Mozart Was Here<br />

(permanent, mit Roman<br />

Ondak), Benediktinerstift<br />

Melk, Melk (AT)<br />

2005<br />

Berlin, Deutschland und<br />

die Welt, Galerie Christian<br />

Nagel, Berlin (DE)<br />

2004<br />

Im Geschmack der<br />

Zeit. Das Werk von<br />

Hans und Marlene<br />

Poelzig aus heutiger<br />

Sicht, IG-Hochhaus<br />

der Johann Wolfgang<br />

Goethe Universität,<br />

Frankfurt am Main (DE);<br />

Architekturmuseum Basel,<br />

Basel (CH)<br />

2003<br />

Im Geschmack der Zeit.<br />

Das Werk von Hans und<br />

Marlene Poelzig aus<br />

heutiger Sicht, Weydinger<br />

Strasse 20, Berlin (DE)<br />

Spice up Powdermaker<br />

Hall, Social Sciences,<br />

Queens College,<br />

New York (US)<br />

2002<br />

A Taste for Money, Galerie<br />

Christian Nagel, Köln (DE)<br />

2001<br />

Humus. Kulturelle<br />

Bodenprobe aus Hamburg,<br />

Köln und Luzern,<br />

Hochschule für Gestaltung<br />

und Kunst, Luzern (CH)<br />

2000<br />

A Sense of Place,<br />

American Fine Arts, Co.,<br />

New York (US)<br />

Gruppenausstellungen<br />

(Auswahl):<br />

2010<br />

Modernologies, Muzeum<br />

Sztuki Nowoczesnej,<br />

Warschau (PL)<br />

Under one Umbrella,<br />

Silberkuppe at Bergen<br />

Kunsthall, Bergen (NW)<br />

2009<br />

TOHUWABOHU. Spirit<br />

of the Haus, Haus der<br />

Kulturen der Welt,<br />

Berlin (DE)<br />

Modernologies, MACBA,<br />

Barcelona (ES)<br />

See this Sound, Lentos<br />

Kunstmuseum Linz,<br />

Linz (AT)<br />

Fifty Fifty. Kunst im Dialog<br />

mit den 50er-Jahren, Wien<br />

Museum, Wien (AT)<br />

C’era una volta un anello,<br />

Galleria d’arte moderna,<br />

Palazzo Margerita,<br />

Modena (IT)<br />

2008<br />

Recollecting. Raub und<br />

Restitution, MAK,<br />

Wien (AT)<br />

Manifesta 7. The European<br />

Biennal of Contemporary<br />

Art, Rovereto (IT)<br />

2007<br />

Rückblende, Neue Galerie<br />

am Landesmuseum<br />

Joanneum, Graz (AT)<br />

Helmut Draxler:<br />

Shandyismus, Kunsthaus<br />

Dresden, Dresden (DE)<br />

The Price of Everything...<br />

Perspectives on the Art<br />

Market, präsentiert vom<br />

Whitney Museum of<br />

American Art Independent<br />

Study Program, The Art<br />

Gallery, CUNY Graduate<br />

Center, New York<br />

Shandyismus. Autorschaft<br />

als Genre, Secession,<br />

Wien (AT)<br />

2006<br />

Sammlung Grässlin, St.<br />

Georgen (CH)<br />

Heard Not Seen, Orchard,<br />

New York (US)<br />

Make Your Own Life:<br />

Artists In & Out of<br />

Cologne, ICA Philadelphia;<br />

The Power Plant,<br />

Toronto (CA)<br />

2005<br />

Projekt Migration,<br />

Kölnischer Kunstverein,<br />

Köln (DE)<br />

Icestorm, Kunstverein<br />

München, München (DE)<br />

In den Wäldern, Kunsthaus<br />

Mürz, Mürzzuschlag (AT)<br />

2004<br />

Election, American Fine<br />

Arts, Co., New York (US)<br />

2003<br />

Watershed, The Hudson<br />

Valley Art Project, Bard<br />

College, Annandale-on-<br />

Hudson, New York (US)<br />

2002<br />

Ökonomien der Zeit,<br />

Museum Ludwig, Cologne<br />

(DE); Akademie der<br />

Künste, Berlin (DE);<br />

migros museum für<br />

gegenwartskunst,<br />

Zürich (CH)<br />

Minimal Maximal, National<br />

Museum of Contemporary<br />

Art, Seoul (KO)


MARIA PAPADIMITRIOU<br />

geboren 1957 in Athen<br />

(GR), lebt in Volos und<br />

Athen (GR)<br />

Einzelausstellungen<br />

(Auswahl):<br />

2010<br />

Hotel Balkan, Haifa<br />

Mediterranean Biennial,<br />

Haifa (ISR)<br />

2009<br />

The Party, öffentliches<br />

Event, Aliveri, Volos (GR)<br />

Infinito fa rumore eternita<br />

fa Silenzio, Mercato<br />

Coperto, Regio Emillia (IT)<br />

2008<br />

Corbu, Zina Athnasiadou<br />

Gallery, Thessaloniki (GR)<br />

2007<br />

Sa Ma Khol Truck – a City<br />

Tour, öffentliches Event,<br />

Teseco Foundation,<br />

Pisa (IT)<br />

Novocomum on Wheels,<br />

Direct Architecture,<br />

Politics and Space,<br />

Borgovico33, Como (IT)<br />

2006<br />

Hotel Plug-Inn, Castillo<br />

de San Gabriel, Lanzarote,<br />

1st Bienal de Arquitectura,<br />

Arte y Paisaje de Canarias,<br />

Kanaren (ES)<br />

2005<br />

Screening at the Kinitron<br />

Gas Station, National<br />

Road Larissa-Trikala,<br />

Larissa Contemporary Art<br />

Center, Thessaly (GR)<br />

Two or Three Things<br />

I Know About him,<br />

Riflemaker Gallery,<br />

London (UK)<br />

Gruppenausstellungen<br />

(Auswahl):<br />

2010<br />

Hotel Balkan, Haifa<br />

Mediterranean Biennial,<br />

Haifa (ISR)<br />

Mute Signs –<br />

Contemporary approaches<br />

to (in)tolerance,<br />

Hungarian University<br />

of Fine Arts Budapest,<br />

Budapest (HU)<br />

2009<br />

T.A.M.A. Side Effects, 10 th<br />

Lyon Biennial, Lyon (FR)<br />

We do it, Kunstraum<br />

Lakeside, Klagenfurt (AT)<br />

The First Image, Center<br />

of Contemporary Art<br />

Sete, (FR)<br />

Naughtiness, Beltsios<br />

Collection, Margari<br />

Foundation, Amfilohia (GR)<br />

Amateur Bicyclism,<br />

ReMap2, Locus, Athen (GR)<br />

The 2nd Gypsy Roma<br />

Traveller Month -<br />

Screening, Autograph ABP,<br />

London (UK)<br />

EU-Roma Dwelling, RIBA,<br />

London (UK)<br />

2008<br />

Nothing is Happening,<br />

Common View, National<br />

Theater, Athen (GR)<br />

National Museum of<br />

Contemporary Art,<br />

Thessaloniki (GR)<br />

Material Links: A Dialogue<br />

Between Greek and<br />

Chinese Artists,<br />

Museum of Contemporary<br />

Art, Shanghai (CN)<br />

Women Only, Beltsios<br />

Collection, Margaris<br />

Foundation, Amfilohia (GR)<br />

Ideal Homes, Casa del<br />

Lago, Mexico City (MX)<br />

Sũeno de casa propia,<br />

VIMCORSA, Cordoba (ES)<br />

Games Without Frontiers,<br />

Zoumboulaki Gallery,<br />

Athen (GR)<br />

2007<br />

Volksgarten Orchestra,<br />

Volksgarten: Politik der<br />

Zugehörigkeit, Kunsthaus<br />

Graz, Graz (AT)<br />

TAMAhouse, Sueňo de<br />

Casa Propia, La Casa<br />

Encendida, Madrid (ES)<br />

Luv car, 7 th Gwangju<br />

Biennale, Gwangju (CO)<br />

Topoi, Benaki Museum,<br />

Athens (GR)<br />

Who’s There, Macedonian<br />

Museum of Contemporary<br />

Art, Thessaloniki (GR)<br />

Two or three things I know<br />

about him, Photosynkyria<br />

19, International festival<br />

of Photography, Museum<br />

of Contemporary Art,<br />

Thessaloniki (GR)<br />

2006<br />

The Athens Effect,<br />

Mudima Foundation,<br />

Mailand (IT)<br />

What Remains is Future,<br />

European Cultural Capital<br />

2006, Patras (GR)<br />

Check in Europe, EPO,<br />

München (DE)<br />

Less: Alternative Living<br />

Strategies, Pavillion of<br />

Contemporary Art,<br />

Mailand (IT)<br />

The People’s Choice, Isola,<br />

Mailand (IT)<br />

2005<br />

The Rolling Billboard Art<br />

Project euroPART,<br />

Wien (AT)<br />

Myths / AntiMyths, Forum<br />

Plus, Wroclaw (PL)<br />

Gesture, Quarter, Centro<br />

Produzione Arte,<br />

Florenz (IT)<br />

Biennial on the<br />

Mediterranean Landscape,<br />

Pescara (IT)<br />

Mira como se mueven,<br />

Telefonica Foundation,<br />

Madrid (ES)<br />

KATEŘInA ŠEDÁ<br />

Geboren 1977 in Brno (CZ),<br />

lebt in Brno - Líšeň und<br />

Prag (CZ)<br />

Einzelausstellungen<br />

(Auswahl):<br />

2010<br />

From Morning Till Night,<br />

Tate Modern, London (UK)<br />

2009<br />

Der Geist von Uhyst, Über<br />

Tage, Uhyst (DE)<br />

Česky snadno a rychle<br />

(Tschechisch schnell und<br />

mühelos), mit Rolf Simmen,<br />

Deutsches Radio (DE)<br />

2008<br />

1+1+1 =3, Culturgest,<br />

Lissabon (PO), mit Robert<br />

MacPherson und Manfred<br />

Pernice<br />

Kateřina Šedá (Colocation<br />

n. 4), La box, Bourges (FR)<br />

Kateřina Šedá, The<br />

Renaissance Society,<br />

Chicago (US)<br />

2007<br />

Sweden, mit Fritz<br />

Quasthoff, 1+1, galerie<br />

Arratia/Beer, Berlin (DE)<br />

Vnučka (The Granddaughter),<br />

Czech Center,<br />

New York (US)<br />

2006<br />

Kateřina Šedá *1977, etc.<br />

Galerie, Prag (CZ)<br />

Kateřina Šedá, Cultural<br />

House, Brno – Líšeň (CZ)<br />

Kateřina Šedá x 3,<br />

Francosoffiantino<br />

Artecontemporanea,<br />

Turin (IT)<br />

Arrivals > Czech Republic,<br />

Modern Art Oxford,<br />

Oxford (UK)<br />

Gruppenausstellungen<br />

(Auswahl):<br />

2010<br />

Video Drawing, The Israel<br />

Museum, Jerusalem (ISR)<br />

Jeden na jednoho/ ONE ON<br />

ONE, The Brno House of<br />

Arts, Brno (CZ)<br />

Les Promesses du<br />

passé, Centre Pompidou,<br />

Musée National d´Art<br />

Moderne, Paris (FR)<br />

2009<br />

Video Drawing, The Ticho<br />

House, Jerusalem (ISR)<br />

Radio D-CZ, Tranzitdisplay,<br />

Prag (CZ)<br />

Po sametu / After Velvet,<br />

City Gallery Prague,<br />

Prag (CZ)<br />

Formáty transformace<br />

/ Formats of<br />

Transformation, The Brno<br />

House Of Arts, Brno (CZ)<br />

Na okraji zájmu / On the<br />

Periphery of Concern, Emil<br />

Filla Gallery, Ústí nad<br />

Labem (CZ)<br />

Fri Porto, Den Frie Centre<br />

of Contemporary Art<br />

Copenhagen, (DK)<br />

After The Final<br />

Simplification Od Ruins,<br />

Montehermoso Cultural<br />

Center in Vitoria (ES)<br />

10th Lyon Biennial,<br />

Lyon (FR)<br />

Der Geist von Uhyst, Über<br />

Tage, Uhyst (DE)<br />

Time out of Joint: Recall<br />

a Evocation in Recent Art,<br />

Kitchen, New York (US)<br />

Monument transformace,<br />

City Gallery Prague,<br />

Prag (CZ)<br />

Younger than Jesus, New<br />

Museum, New York (US)<br />

2008<br />

The Green Room, CCA,<br />

Bard Center, New York (US)<br />

Cutting Realities. Gender<br />

Strategies in Art, Austrian<br />

Cultural Forum NYC,<br />

New York (US)<br />

La Petite Histoire,<br />

Kunstraum<br />

Niederösterreich,<br />

Wien (AT)<br />

Average, Kunsthaus<br />

Langenthal,<br />

Langenthal (CH)<br />

Manifesta 7, Bozen (IT)<br />

Social Diagrams,<br />

Künstlerhaus Stuttgart,<br />

Stuttgart (DE)<br />

Sixth Biennial of Young<br />

Artists, Zvon 2005 (Bell<br />

2005), City Gallery Prague,<br />

Prag (CZ)<br />

Where Are Lions Are, Para/<br />

Site Art Space,<br />

Hong Kong (CN)<br />

5 th Berlin Biennial,<br />

Berlin (DE)<br />

No Borders, AICA,<br />

Brüssel (BE),<br />

Close Encounters, Fine<br />

Arts Center Galleries,<br />

University of Rhode<br />

Island (US)<br />

2007<br />

Documenta 12, Aue<br />

pavillon, Kassel (DE)<br />

Dazwischen (INGENDWO),<br />

Museum Sammlung in<br />

Friedrichshof (AT)<br />

Asia Europe Meditation,<br />

National Museum of Art,<br />

Poznan (PL)<br />

Facelift: 3 Contemporary<br />

Czech and Slovak Artists,<br />

A.I. R. Gallery,<br />

New York, (US)<br />

As In Real Life, Gallery P<br />

74, Ljubljana (SLO)<br />

Auditorium, Stage,<br />

Backstage. An Exposure<br />

In 32 Acts, Frankfurter<br />

Kunstverein,<br />

Frankfurt (DE)<br />

2006<br />

Gray Zones, Dům umění,<br />

Brno and Galerie für<br />

Zeitgenössische Kunst,<br />

Leipzig (DE)<br />

Shadows of Humor, BWA<br />

Wrocław (PL)<br />

Local Stories, Modern Art<br />

Oxford (UK)


Autoren<br />

Jennifer Allen<br />

lebt als Kunstkritikerin<br />

in Berlin.<br />

Hannah Arendt<br />

Gesellschafts- und politikwissenschaftlicheTheoretikerin,<br />

geboren 1906 in<br />

Hannover, gestorben 1975<br />

in New York, studierte<br />

Philosophie, Theologie und<br />

Griechisch unter anderem<br />

bei Martin Heidegger,<br />

Edmund Husserl und Karl<br />

Jaspers, bei dem sie 1928<br />

promovierte. Nach einer<br />

kurzen Inhaftierung<br />

durch die Gestapo 1933<br />

Emigration nach Paris,<br />

Sozialarbeiterin bei jüdischen<br />

Einrichtungen,<br />

1940 Verschleppung in<br />

das Internierungslager<br />

Gurs, ab 1941 in New York,<br />

1944-46 Forschungsleiterin<br />

der Conference on<br />

Jewish Relations, 1946-49<br />

Cheflektorin im Salman<br />

Schocken Verlag, 1948-<br />

52 Direktorin der Jewish<br />

Cultural Reconstruction<br />

Organization zur Rettung<br />

jüdischen Kulturguts,<br />

1953 nach mehreren Gastvorlesungen<br />

u. a. in Princeton<br />

und Harvard Professur<br />

am Brooklyn College in<br />

New York, 1959 als erste<br />

Frau Gastprofessur an der<br />

Princeton University, 1963<br />

Professorin an der Universität<br />

von Chicago, ab<br />

1967 an der New School<br />

for Social Research in New<br />

York.<br />

Publikationen (Auswahl):<br />

Elemente und Ursprünge<br />

totaler Herrschaft,<br />

1955; Rahel Varnhagen.<br />

Lebensgeschichte einer<br />

deutschen Jüdin aus der<br />

Romantik, 1958; Vita<br />

activa oder Vom tätigen<br />

Leben, 1958; Eichmann in<br />

Jerusalem. Ein Bericht von<br />

der Banalität des Bösen,<br />

1963; Über die Revolution,<br />

1963; Macht und Gewalt,<br />

1970; Das Urteilen. Texte<br />

zu Kants politischer Philosophie,1982.<br />

Christoph Doswald<br />

Freier Kurator, Publizist<br />

und Kritiker in Zürich.<br />

Vorsitzender der Arbeitsgruppe<br />

Kunst im öffentlichen<br />

Raum, AG KiöR der<br />

Stadt Zürich und Kurator<br />

diverser Ausstellungen,<br />

u.a. Press Art (Kunstmuseum<br />

St.Gallen/Museum der<br />

Moderne, Salzburg),<br />

Hanspeter Hofmann<br />

(Kunsthaus Graz/Villa<br />

Arson, Nizza), Konkret<br />

Megamopp (Seedamm<br />

Kulturzentrum, Pfäffikon),<br />

Missing Link: Menschen-<br />

Bilder in der Fotografie<br />

(Kunstmuseum, Bern/<br />

Kunst Haus, Dresden),<br />

Nonchalance (Centre<br />

Pasquart, Biel/Akademie<br />

der Künste, Berlin).<br />

Peter Gruber<br />

1955 geboren, aufgewachsen<br />

im Ennstal, Steiermark,<br />

auf dem Bergbauernhof<br />

seiner Eltern. Lebt<br />

als Autor (Textwerkstätte)<br />

in Wien, im Ennstal und<br />

als Hirte am Dachstein.<br />

Seit 1981 literarische<br />

Veröffentlichungen: Naturfeuilletons,<br />

Lyrik, Sagen,<br />

Märchen, Wildererspiel,<br />

Bauernspiel, Adventspiel.<br />

Texte für Fotobände,<br />

Anthologien, Symposien,<br />

Literaturzeitschriften und<br />

Schreibwerkstätten.<br />

Publikationen (Auswahl):<br />

Sommerschnee (mit Fotos<br />

von Kurt Hörbst), 2008;<br />

Tod am Stein, 2006;<br />

Schattenkreuz, 2001;<br />

Notgasse, 1998.<br />

Christof Huemer<br />

1972 geboren, lebt als<br />

Literat und Journalist in<br />

Graz. Sein Erstlingsroman<br />

Zweifellos erschien 2008<br />

in der Edition Keiper.<br />

Günther Marchner<br />

Als Organisationsentwickler,Sozialwissenschafter<br />

und Historiker<br />

tätig, Mitbegründer des<br />

sozialwissenschaftlichen<br />

Netzwerks b.a.s.e. (www.<br />

base-salzburg.at) und von<br />

conSalis - Entwicklungsberatung<br />

(www.consalis.<br />

at). Er lebt und arbeitet in<br />

Salzburg und in Bad<br />

Mitterndorf.<br />

Tomáš Pospiszyl<br />

Lebt als Kritiker, Kurator<br />

und Kunsthistoriker in<br />

Prag. Er arbeitete als Kurator<br />

in der Nationalgalerie<br />

in Prag (1997-2002) und<br />

war Forschungsstipendiat<br />

im Museum of Modern<br />

Art in New York (2000).<br />

Seit 2003 unterrichtet<br />

er an der Film- und Fernsehschule<br />

der Akademie<br />

für darstellende Kunst in<br />

Prag.<br />

Publikationen (Auswahl):<br />

Primary Documents; A<br />

Sourcebook for Eastern<br />

and Central European Art<br />

since the 1950s (hrsg. mit<br />

Laura Hoptman), 2002;<br />

Octobrianaa ruský underground,<br />

2004, sowie<br />

zahlreiche Katalogbeiträge<br />

und Zeitschriftenartikel.<br />

Martin Prinzhorn<br />

Linguist an der Universität<br />

Wien, daneben Ver-<br />

öffentlichungen zu Kunst<br />

und Architektur.<br />

André Rottmann<br />

1977 geboren, ab 1998<br />

Studium der Kunstgeschichte,<br />

Neueren deutschen<br />

Literatur, Politikwissenschaft,<br />

Philosophie<br />

und Allgemeinen und<br />

Vergleichenden Literaturwissenschaft<br />

an der<br />

Humboldt-Universität zu<br />

Berlin, der Tufts University<br />

Boston und an der<br />

Freien Universität Berlin.<br />

Seit 2005 Chefredakteur<br />

der Zeitschrift Texte zur<br />

Kunst, Berlin. Seit 2007<br />

Korrespondent in Berlin<br />

für Artforum International,<br />

New York. Arbeitet<br />

an seiner Promotion zur<br />

Geschichte und Ästhetik<br />

institutionskritischer<br />

Kunst nach 1970.<br />

Richard Sennett<br />

1943 geboren in Chicago,<br />

Illinois, lehrt Soziologie<br />

und Geschichte an der<br />

New York University und<br />

an der London School of<br />

Economics and Political<br />

Science. Seine Hauptforschungsgebiete<br />

sind<br />

Städte, Arbeit und Kultursoziologie.<br />

Publikationen (Auswahl):<br />

Verfall und Ende des<br />

öffentlichen Lebens, 1977;<br />

How I write: Sociology as<br />

Literature, 2009; Der flexible<br />

Mensch. Die Kultur des<br />

Neuen, 1998.<br />

Das kulturwissenschaftliche<br />

Team unter der Leitung<br />

von Elke Murlasits<br />

(Historikerin, Graz) setzt<br />

sich aus Gundi Jungmeier<br />

(Historikerin, Graz),<br />

Günther Marchner (Historiker,<br />

Salzburg) und Gernot<br />

Rabl (Kunsthistoriker,<br />

Trautenfels) zusammen<br />

und bildet seit 2009 eine<br />

Arbeitsgruppe.


Index<br />

Werke der Ausstellung<br />

L/B<br />

Beautiful Steps #5,<br />

2010 Holz, laminiert und<br />

lackiert; Durchmesser 8 m,<br />

Stegbreite 70 cm,<br />

Höhe 110 cm<br />

Courtesy der Künstler<br />

Beautiful Steps #3, 2009<br />

Holz, Farbe;<br />

11,5 x 5 x 4,3 m<br />

Courtesy Le Confort<br />

Moderne, Poitiers<br />

→ S. 32ff<br />

Kateřina Šedá<br />

Es ist kein Licht am Ende<br />

des Tunnels, 2010<br />

203 Zeichnungen<br />

(Ölkreide) und Faksimile<br />

der Zeichnungen in<br />

verschiedenen Versionen;<br />

je 51 x 73 cm<br />

Courtesy der Künstlerin<br />

und Franco Soffiantino<br />

Gallery<br />

→ S. 48ff<br />

Maria Papadimitriou<br />

Alpine Altar, 2010<br />

Installation, verschiedene<br />

Materialen; Maße variabel<br />

Courtesy der Künstlerin<br />

→ S. 64ff<br />

Christian Philipp Müller<br />

Burning Love<br />

(Lodenfüßler), 2010<br />

Installation bestehend<br />

aus ca. 50 m Loden,<br />

20 Schrangen aus<br />

Lärchenholz, Projektion,<br />

4 Ölgemälden und 3<br />

s/w-Fotos aus diversen<br />

Sammlungen, 3 Farbfotos;<br />

Maße variabel<br />

Courtesy des Künstlers<br />

→ S. 80ff<br />

Pawel Althamer mit<br />

seiner Klasse für<br />

Objektbildhauerei der<br />

Akademie der Bildenden<br />

Künste, Wien<br />

Coach: Donat Grzechowiak<br />

Baptiste Elbaz, Luka<br />

Berchtold, Matthias<br />

Böhler, Hannah Breitfuss,<br />

Ida Divinzenz, Batiste<br />

Elbaz, Pauline Fauchour,<br />

Roland Gaberz, Johanna<br />

Guggenberger, Veronika<br />

Gahmel, Johannes<br />

Hoffmann, Konrad Kager,<br />

Matthias Kendler, Stefan<br />

Klampfer, Tonio Kröner,<br />

Bettina Mangold, Andrea<br />

Maurer, Tobias Nagiller,<br />

Nanna Nordström,<br />

Andreas Nutz, Noële<br />

Ody, Lukas Oppenauer,<br />

Michéle Pagel, Sabrina<br />

Peer, Heidi Rada, Johanna<br />

Reiner, Roland X. Roland,<br />

Eva Seiler, Dominika<br />

Soran, Stefan Stecher,<br />

Fabian Störk, Mario Strk,<br />

Klemens Waldhuber, Julian<br />

Wallrath, Benjamin Zuber<br />

Things You Can Walk Into,<br />

2010<br />

Verschiedene Materialien;<br />

Maße variabel<br />

Courtesy der Künstler<br />

→ S. 98ff<br />

Franz Kapfer<br />

Sieh-Dich-Für, 2010<br />

Holz, Lack,<br />

Halogenscheinwerfer;<br />

295 x 388 x 100 cm;<br />

332 x 115 x 130 cm;<br />

256 x 127 x 100 cm<br />

Courtesy des Künstlers<br />

Sieh-Dich-Für, 2010<br />

Holz, Beton, Lack;<br />

12 x 15 x 5,7 m<br />

Courtesy des Künstlers<br />

→ S. 120ff<br />

Copyrights<br />

© Universalmuseum<br />

Joanneum<br />

© für die abgebildeten<br />

Werke bei den<br />

Künstlerinnen und<br />

Künstlern<br />

© für die Texte bei<br />

den AutorInnen,<br />

ÜbersetzerInnen<br />

oder deren<br />

RechtsnachfolgerInnen<br />

© für die Fotografien<br />

bei den FotografInnen<br />

oder deren<br />

RechtsnachfolgerInnen<br />

Cover: © Maria<br />

Papadimitriou<br />

Archiv Schloss Trautenfels<br />

→ S. 7, 9-11, 35<br />

Courtesy Pawel Althamer<br />

und Open Art Projects<br />

→ S. 22<br />

David Kranzelbinder<br />

→ S. 84<br />

Mike Hall → S. 20<br />

François Charrière, Môtiers<br />

→ S. 44<br />

KBB → S. 44<br />

Oliver Heissner → S. 47<br />

L/B → S. 20, 21, 33, 38-<br />

42, 45<br />

Wolfgang Otte → S. 11, 36<br />

Paul Ott → S. 37<br />

Michal Hladík → S. 28, 49,<br />

51, 52, 56-58, 62/63<br />

Courtesy Fondazione<br />

Adriano Olivetti → S. 68<br />

Contemporary Art Center<br />

→ S. 67, 71<br />

Courtesy PAC, Milano →<br />

S. 71<br />

Courtesy Thessaly<br />

University → S. 69<br />

Maria Papadimitriou<br />

→ S. 17-19, 65, 68, 74-76,<br />

78/79, 270<br />

John Yancy → S. 97<br />

Gundi Jungmeier → S. 97<br />

Christian Philipp Müller<br />

→ S. 24, 25, 27, 85, 89-<br />

95, 138/139, 220/221,<br />

248/249, 278, 279, 283<br />

Franz Kapfer → S. 29-31,<br />

121, 123, 125-131, 133,<br />

135, 137<br />

Nicole Siegel → S. 271<br />

Kurt Hörbst → S. 155, 159<br />

Stefan Emsenhuber<br />

→ S. 164, 169, 177, 182,<br />

189<br />

Pawel Althamer mit<br />

seiner Klasse für<br />

Objektbildhauerei der<br />

Akademie der Bildenden<br />

Künste, Wien → S. 23,<br />

100-119<br />

Kateřina Šedá → S. 27<br />

Lukas Kogler, Johannes<br />

Pötscher → S. 289, 291<br />

Wir haben uns bemüht,<br />

sämtliche Rechtsinhaber<br />

ausfindig zu machen.<br />

Sollte es uns im Einzelfall<br />

nicht gelungen sein, so<br />

bitten wir diese, sich an<br />

das Universalmuseum<br />

Joanneum zu wenden.<br />

Quellenverzeichnis und<br />

Übersetzungen<br />

Adam Budak<br />

Die Performance des<br />

einheimischen Lebens,<br />

oder: Die Herstellung der<br />

Welt in der Landschaft der<br />

Selbstbedingtheit<br />

(übersetzt von Otmar<br />

Lichtenwörther, textkultur)<br />

Tomáš Pospiszyl<br />

Ein Grashügel und beleuchtete<br />

Kreuzungen<br />

(übersetzt von<br />

Dan Morgan und<br />

Christof Huemer)<br />

Jennifer Allen<br />

Für immer Parken<br />

(übersetzt von<br />

Christof Huemer)<br />

Pierre Bourdieu (u.a.):<br />

Der Einzige und sein<br />

Eigenheim. Erweiterte<br />

Neuausgabe der Schriften<br />

zu Politik & Kultur 3,<br />

herausgegeben von<br />

Margareta Steinrücke.<br />

Hamburg: VSA 2002.<br />

Übersetzung des Textauszugs:<br />

Jürgen Bolder<br />

Hannah Arendt: Vita<br />

activa oder Vom tätigen<br />

Leben. Ungekürzte<br />

Taschenbuchausgabe,<br />

8. Aufl., München: Piper<br />

2010.<br />

Richard Sennett:<br />

Handwerk. Aus dem<br />

Amerikanischen von<br />

Michael Bischoff. Berlin:<br />

BvT 2009.


Dieser Katalog erscheint<br />

anlässlich der Ausstellung<br />

Der schaffende Mensch<br />

Welten des Eigensinns<br />

Schloss Trautenfels<br />

Universalmuseum Joanneum<br />

03. Juni bis 31.Oktober 2010<br />

Kurator<br />

Adam Budak<br />

Herausgeber<br />

Adam Budak, Peter Pakesch<br />

Universalmuseum Joanneum<br />

Redaktion<br />

Katia Schurl<br />

Lektorat<br />

Jörg Eipper Kaiser<br />

Grafische Gestaltung<br />

Michael Posch<br />

ISBN<br />

978–3–90209–530–5<br />

© Universalmuseum Joanneum<br />

Mariahilferstraße 2-4, A-8020 Graz<br />

www.museum-joanneum.at<br />

Mit Unterstützung von<br />

Land Steiermark<br />

Wir danken<br />

Gerhard Abel<br />

Richard Aigner<br />

Jennifer Allen<br />

Anna Baldinger<br />

Helga Baldinger<br />

Rita Bender<br />

Bezirkspolizeikommando<br />

Liezen<br />

Binder & Krieglstein<br />

Andrea Binder, Piper<br />

Verlag<br />

Helmut Blaser<br />

Dieter Boyer<br />

Christian Brugger,<br />

Bundesdenkmalamt<br />

Perry Cartwright,<br />

University of Chicago<br />

Press<br />

Christine Czaika<br />

Sarah Dodgson, Polity<br />

Press<br />

Christoph Doswald<br />

Maria Düregger<br />

Stephan Egger<br />

Stefan Emsenhuber<br />

Marion Fisch, VSA-Verlag<br />

Josefine Flöß<br />

Freiwillige Feuerwehr<br />

Mitterberg<br />

Maria Froihofer<br />

Gerhard Grill<br />

Peter Gruber<br />

Otto Habermayer<br />

Handarbeitsrunde Schloss<br />

Trautenfels<br />

Kathrin Hartenberger<br />

Georg Haselnus<br />

Anton Hausleitner<br />

Michal Hladík<br />

Ondřej Hladík<br />

Günther Holler-Schuster<br />

Kurt Hörbst<br />

Nada Huber<br />

Christof Huemer<br />

Bert Jüngermann<br />

Isle Jury<br />

Jiří Kadlec<br />

Ulrike Kammerhofer-<br />

Aggermann<br />

Grete Karner<br />

Peter Kettner<br />

Julie Klusáková<br />

Lukas Kogler<br />

Margret Kohlberger<br />

Alois Kölbl<br />

Jiří Kovář<br />

David Kranzelbinder<br />

Christa und Franz Kraus<br />

Heinz Leuner<br />

Andrea Liebenberger<br />

Gernot Lux<br />

Anja Mallmann, Berlin<br />

Verlag<br />

Birgit Marcher<br />

Heimo Marcher<br />

Günther Marchner<br />

Cyril Marounek<br />

Daniela Matlschweiger<br />

Maria Mössner<br />

Alois Murnig,<br />

Bundesdenkmalamt<br />

Karin und Frieder<br />

Nischwitz<br />

Österreichisches Rotes<br />

Kreuz/LV-Steiermark/<br />

Bezirksstelle Liezen<br />

Pauline Perrignon, Yale<br />

University Press<br />

Roswitha Planitzer<br />

Rosina Plattner<br />

Karel Poneš<br />

Tomas Pospiszyl<br />

Johannes Pötscher<br />

Karl Pucher<br />

Christian Raich<br />

Johannes Rauchenberger<br />

Peter Regner<br />

Yorgos Rimenidis<br />

Eva Rossian<br />

André Rottmann<br />

Birgit Schachner<br />

Trixi Schlömmer<br />

Christian Schmid<br />

Christine Schmiedhofer<br />

Gerhard Schmiedhofer<br />

Josef Schmiedhofer<br />

Walter Schmiedhofer<br />

Mathias Schrempf<br />

Norbert Schrempf<br />

Rudolf Schwarz<br />

Hana Šedá<br />

Josef Šedý<br />

Herbert Seiberl<br />

August Singer<br />

Franco Soffiantino Gallery<br />

Herbert Steiner<br />

Johannes Steiner<br />

Jörg Steiner<br />

Karl Stocker<br />

Markus Straber<br />

Eva Taxacher<br />

Ingeborg Trink<br />

Anna Vasof<br />

Markéta Venclů<br />

Verein Schloss Trautenfels<br />

Marianne Winkler<br />

Wollkönigin Martina II<br />

Grete Zeiler<br />

Wir danken den<br />

Bewohnerinnen<br />

und Bewohnern der<br />

Gemeinden Ramsau<br />

am Dachstein, Haus im<br />

Ennstal, Aich-Assach,<br />

Pruggern, Michaelerberg,<br />

Mitterberg, Großsölk,<br />

Öblarn, Niederöblarn,<br />

Pürgg-Trautenfels und<br />

deren Bürgermeisterinnen<br />

und Bürgermeistern<br />

und insbesondere allen<br />

Menschen, die sich an den<br />

künstlerischen Projekten<br />

ehrenamtlich beteiligt<br />

haben.<br />

Besonderer Dank gilt<br />

den Künstlerinnen und<br />

Künstler der Ausstellung,<br />

die ihre Projekte mit<br />

außergewöhnlichem<br />

Engagement und Einsatz<br />

realisiert haben.<br />

Leihgeber<br />

Kammerhofmuseum<br />

Bad Aussee<br />

Gasthof Pension Veit,<br />

Gössl/Grundlsee<br />

Neue Galerie Graz,<br />

Universalmuseum<br />

Joanneum<br />

Gestaltung und Grafik<br />

Kulturwissenschaftlicher<br />

Raum<br />

Marianne Winkler<br />

Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter der<br />

Ausstellung,<br />

Universalmuseum<br />

Joanneum<br />

Peter Pakesch,<br />

Intendant<br />

Adam Budak,<br />

Kurator<br />

Katia Schurl,<br />

Projektleitung<br />

Katharina Krenn,<br />

Leitung Schloss<br />

Trautenfels<br />

Elke Murlasits,<br />

Leitung Kulturwissenschaftliches<br />

Team<br />

Gundi Jungmeier, Gernot<br />

Rabl, Günther Marchner,<br />

Kulturwissenschaftliche<br />

Mitarbeit<br />

Wolfgang Otte,<br />

Wissenschaftliche<br />

Mitarbeit, Schloss<br />

Trautenfels<br />

Michael Posch,<br />

Grafik<br />

Jörg Eipper Kaiser,<br />

Lektorat<br />

Nicole Siegel,<br />

Office Management,<br />

Schloss Trautenfels<br />

Teresa Ruff,<br />

Office Management,<br />

Kunsthaus Graz<br />

Robert Bodlos,<br />

Leitung Zentralwerkstatt,<br />

Graz<br />

Michael Huber,<br />

Haustechnik Schloss<br />

Trautenfels<br />

Werner Wihan,<br />

Werkstatt Schloss<br />

Trautenfels<br />

Erich Aellinger, Walter<br />

Ertl, Markus Ettinger,<br />

Bernd Klinger, Klaus<br />

Riegler, Michael Saupper,<br />

Stefan Savič, Peter<br />

Semlitsch, Andreas<br />

Zerawa, Zentralwerkstatt<br />

Margit Eingang, Josefine<br />

Eichtinger, Sabine Geier,<br />

Ursula Hänsel, Johanna<br />

Köberl, Ingeborg Schranz,<br />

Unterstützung Aufbau<br />

Schloss Trautenfels


Der schaffende Mensch<br />

Welten des Eigensinns<br />

Wir sind die schaffenden Menschen, Schmiede der<br />

Wirklichkeiten, Produzenten des Alltags, Schöpfer noch<br />

kommender Zukunften und Bildhauer von Orten. Als<br />

Studie performativer Zugehörigkeit geht der Katalog zur<br />

Ausstellung der Frage nach, ob der Homo Faber in der<br />

Welt des Eigensinns überhaupt möglich ist.<br />

Leben, Arbeit und die Leidenschaft, die beidem<br />

innewohnt, stehen dabei im Zentrum. Wie der Mensch<br />

lebt, wird hier durch ein Vergrößerungsglas gesehen,<br />

porträtiert und als autonomes und emanzipiertes Selbst<br />

dargestellt. Eigensinn erscheint dabei als ein mentaler<br />

und physikalischer Mechanismus, der die Identität<br />

eines sozialen und kulturellen Mikrokosmos formt<br />

und bedingt. Es ist ein vager Zwischenraum, in dem<br />

das Kleine und Intime, das Persönliche und Exklusive<br />

das unausweichlich Globale und Kosmopolitische der<br />

heutigen Gesellschaft herausfordert. Eigensinn ist das<br />

beschwerliche Territorium, auf dem Gemeinschaft und<br />

Zusammengehörigkeitsempfinden mit der Sturheit<br />

der Singularität und des selbstzentrierten Universums<br />

kämpfen.<br />

In sechs partizipativen Kunstprojekten, die von einem<br />

kulturwissenschaftlichen Beitrag begleitet werden, stellen<br />

sich internationale Künstlerinnen und Künstler mit völlig<br />

unterschiedlichen Herangehensweisen lokalen Themen.<br />

Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung:<br />

Pawel Althamer (PL) mit Studierenden der Akademie der<br />

Bildenden Künste Wien (AT), Franz Kapfer (AT), L/B (CH),<br />

Christian Philipp Müller (CH), Maria Papadimitriou (GR),<br />

Kateřina Šedá (CZ)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!