Magazin 01/2010 - bei den Doxs
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Depression<br />
Auf dem Weg zur Volkskrankheit<br />
Psychosomatische<br />
Versorgung<br />
Krankenhausabteilung<br />
der Hardtwaldklinik II<br />
Gegen <strong>den</strong><br />
demografischen Wandel<br />
Kommunen im Schwalm-Eder-Kreis<br />
„Wegkommen<br />
vom Prinzip der<br />
Sachleistungen“?<br />
Kontroverse Diskussion um<br />
Kostenerstattung in der GKV<br />
<strong>Magazin</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>0<br />
<strong>Magazin</strong> Winter 2009<br />
1
2<br />
Inhalt<br />
IMPRESSUM<br />
<strong>Magazin</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>0<br />
Editorial 3<br />
kurz & bündig 5<br />
Depression: auf dem Weg zur Volkskrankheit 6<br />
DOXS im Gespräch: „Unterversorgung Depressiver wird teuer für die Gesellschaft“ 8<br />
Leitline und Integrierte Versorgung<br />
Hausarzt ist Vertrauensperson Nummer 1 11<br />
Interview: Dr. Manfred Schäfer, Bündnis gegen Depression in Nordhessen e. V. 13<br />
Kolumne: fern gesehen 15<br />
Psychosomatische Versorgung in Nordhessen<br />
Hardtwaldklinik II betreibt Krankenhausabteilung 16<br />
Die DOXS in der Region, Teil 2:<br />
Abschied von der Kirchturmpolitik im Schwalm-Eder-Kreis 18<br />
A H1N1 – (Was) lernen wir von der „Schweinegrippe-Pandemie“? 22<br />
Flussdiagramme in der Praxis 24<br />
Gemeinsame, sichere und einheitliche Verträge<br />
– Hausarztzentrierte Versorgung ab dem 1.4. in Hessen attraktiv 25<br />
Neue Serie: Praxis & Personal<br />
Teil 1: Konflikte nicht aussitzen 27<br />
„Wegkommen vom Prinzip der Sachleistungen“?<br />
Kontroverse Diskussion um Kostenerstattung in der GKV 29<br />
Kommentare: Pro und Contra Kostenerstattung 32<br />
Kleinanzeigen – Stellenangebote – Stellengesuche 35<br />
Herausgeber: DOXS eG<br />
Ständeplatz 1, 34117 Kassel<br />
Tel.: (0561) 766 207-12, Fax: (0561) 766 207-20<br />
info@doxs.de, www.doxs.de<br />
Vorstand: Priv. Doz. Dr. Erhard Lang, Dr. Stefan Pollmächer<br />
Vorsitzender des Aufsichtsrates: Dr. Detlef Sommer<br />
Redaktion: Gundula Zeitz, info@gundulazeitz.de<br />
Redaktionsteam: Michael Froelich, Dr. Stefan Pollmächer<br />
Autoren dieser Ausgabe: Irene Graefe, Dr. Klaus Meyer, Dr. Ingo<br />
Niemetz, Ralf Pasch, Dr. Stefan Pollmächer, Dr. Uwe Popert, Dr.<br />
Manfred Schäfer, Martin Wortmann, Gundula Zeitz<br />
Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die<br />
Meinung des Herausgebers wieder.<br />
Gestaltung: Reinhold Weber, e-bildwerke<br />
Titelbild: „Stelzenläufer“ in Homburg/Efze, Skulpturen<br />
von Ernst Groß, www.kunstwerkhof.de<br />
Druck: Grafische Werkstatt GmbH<br />
Anzeigen: DOXS eG Geschäftsstelle, Tel. (0561) 766 207-12<br />
Erscheinungsweise: 4-mal pro Jahr / Druckauflage: 1200 Stück<br />
Herausgeber und Redaktion haften nicht für Druck- und Satzfehler,<br />
nicht für verspätete Auslieferung durch die Druckerei und<br />
nicht für unverlangt eingesandte Bilder und Manuskripte. Termin-<br />
und Adressagaben sind ohne Gewähr. Nachdruck nur mit<br />
schriftlicher Genehmigung der Redaktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />
die Nachricht ist alarmierend: „Die nordhessische BKK B. Braun will die elektronische Gesundheitskarte<br />
ausrollen“, meldete das Fachmagazin für Telemedizin E-HEALTH-COM Mitte<br />
Februar. Danach will die Krankenkasse die E-Card bis Ende 2<strong>01</strong>0 an ihre 15.000 Versicherten<br />
weitergeben. Und das trotz der ablehnen<strong>den</strong> Haltung der KV Hessen, der Landesärztekammer<br />
und der letzten Ärztetage gegenüber dem umstrittenen Projekt.<br />
Auf Bundesebene ist die E-Card ins Stocken geraten, nachdem Bundesgesundheitsminister<br />
Philipp Rösler im November 2009 für ihre weitere Entwicklung ein „unbefristetes Moratorium“<br />
verhängt hatte. Wenig später ruderte er zurück und kündigte die zunächst<br />
schrittweise Einführung einer Version an, <strong>bei</strong> der neben dem Foto des Versicherten und<br />
einem Auslandskrankenschein nur Stammdaten gespeichert sind – wie <strong>bei</strong> der bisherigen<br />
Versichertenkarte. Doch langfristig soll die elektronische Gesundheitskarte die Ausstellung<br />
elektronischer Rezepte und <strong>den</strong> Zugriff auf elektronische Patientenakten ermöglichen.<br />
Derzeit wird die Karte in sieben Testregionen erprobt.<br />
Derweil laufen immer mehr Ärzte, darunter viele DOXS-Mitglieder, aber auch Patienten<br />
und Datenschützer Sturm gegen <strong>den</strong> ungeheuerlichen Plan, die Gesundheitsdaten von 80<br />
Millionen Bundesbürgern zu speichern. Erklärtes Ziel ist es, die medizinische Behandlung<br />
der Patienten dadurch zu optimieren und gleichzeitig Milliar<strong>den</strong> von Euro einzusparen.<br />
Eine Rechnung, die nicht aufgehen wird: Inzwischen wurde nach Schätzungen aus Krankenkassenkreisen<br />
bereits fast eine halbe Milliarde Euro für die E-Card ausgegeben. Allein<br />
die Computerbranche hat 340 Millionen Euro investiert. Insgesamt soll die Einführung der<br />
Karte laut Gesundheitsministerium 1,5 Milliar<strong>den</strong> Euro kosten. Summen, die letztlich die<br />
Versicherten tragen. Doch die E-Card ist vor allem deshalb abzulehnen, weil sie das Vertrauensverhältnis<br />
im Kontakt zwischen Arzt und Patient massiv untergräbt, dient sie doch<br />
quasi als Schlüssel zur weltweit größten internetbasierten Gesundheitsplattform – mit sensiblen<br />
Daten auf einem Netzwerk aus externen Großrechnern. Und das bedeutet: gläserne<br />
Patienten und Ärzte, gesteuerte Medizin – und Datenmissbrauch.<br />
Dass hochsensible medizinische Daten schon jetzt leicht in die Hände von Unbefugten<br />
gelangen können, hat erst kürzlich der Datenskandal <strong>bei</strong> der BKK Gesundheitskasse, mit<br />
1,5 Millionen Versicherten die größte deutsche Betriebskrankenkasse, gezeigt: Mitte Februar<br />
berichtete das TV-<strong>Magazin</strong> Kontraste, <strong>bei</strong> der Betriebskrankenkasse habe es ein „Sicherheitsleck“<br />
gegeben. Das Unternehmen räumte daraufhin ein, erpresst zu wer<strong>den</strong>:<br />
Hilfskräfte hätten von privaten Computern oder Laptops Daten wie medizinische Diagnosen<br />
abrufen und speichern können.<br />
Kostengünstige Alternative zur E-Card<br />
Fest steht: Es gibt eine kostengünstige und datenschutzrechtlich unproblematische Alternative<br />
zur E-Card: Einen von Hausärzten und Programmierern entwickelten Speicherstick.<br />
Auf dem „maxiDoc“ der gleichnamigen Firma können dezentral Arztberichte gespeichert<br />
wer<strong>den</strong> – und der USB-Stick ist nach einem Gutachten des hessischen Datenschutzbeauftragten<br />
sicher. Auf Initiative des DOXS-Vorstands und im Auftrag der Hessischen Landesärztekammer<br />
war der Speicherstick dem Datenschutzbeauftragten zur Prüfung vorgelegt<br />
wor<strong>den</strong>.<br />
Im Gegensatz zur E-Card verbleiben <strong>bei</strong>m maxiDoc die Daten in der Hand des Patienten<br />
und des Arztes und wer<strong>den</strong> nicht über das Internet verschickt. Durch die Offline-Speicherung<br />
wird das Risiko von Datenverlust, Spionage und Datenverkauf vermindert.<br />
Dr. Stefan Pollmächer (50),<br />
niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin<br />
und Psychotherapie in<br />
Kassel, DOXS-Vorstands- und Gründungsmitglied.<br />
3
4<br />
Das maxiDoc-System besteht aus einer kostenlosen Schreibsoftware für <strong>den</strong> Arzt (lediglich für<br />
deren Installation fallen Kosten an) und einer Lesesoftware auf dem USB-Stick des Patienten.<br />
Die Bedienung ist einfach und spart Zeit. Auf dem Stick können neben Notfalldaten sämtliche<br />
Untersuchungsergebnisse, Verordnungen bis hin zu EKG-Ausdrucken oder Röntgenbilder gespeichert<br />
wer<strong>den</strong>. So wer<strong>den</strong> teure Doppeluntersuchungen unnötig.<br />
Für DOXS-Mitglieder, die ihren Patienten <strong>den</strong> maxiDoc anbieten möchten, haben wir eine<br />
preisgünstige Möglichkeit ausgehandelt, die erforderliche Software installieren zu können.<br />
Newsletter zweimal im Monat<br />
Natürlich ist die Promotion des maxiDoc nur eines unserer Projekte. Wie sie dem etwa alle 14<br />
Tage erscheinen<strong>den</strong> Newsletter entnehmen können, gibt es weitere Projekte – ob verbilligte<br />
„Job-Tickets“ für DOXS-Mitglieder und ihre Praxisteams, die Zusammenstellung der IV-Verträge,<br />
in die DOXS-Mitglieder eingeschrieben sind, die Weiterentwicklung der DOXS-Akademie<br />
mit zertifizierten Veranstaltungen, das Angebot einer gemeinsamen Zertifizierung und nicht<br />
zuletzt das Vorhaben, Krankenkassen gezielt mit eigenen Ideen zu IV-Verträgen anzusprechen.<br />
All diese Projekte treiben wir energisch voran, allemal seit klar ist, dass Herr Dipl.-Kfm. Gernot<br />
Ruffing, der seit dem 1.9.2009 hauptberuflich die Geschäfte der Genossenschaft geführt hat<br />
und zum Jahresende zunächst sein Ausschei<strong>den</strong> zugunsten einer anderen Tätigkeit angekündigt<br />
hatte, nun doch Geschäftsführer der DOXS eG bleibt. Herr Ruffing verfügt über reichlich<br />
Erfahrung nach mehrjähriger Tätigkeit <strong>bei</strong> einem Krankenhausverband in Frankfurt und als<br />
Verwaltungsleiter eines Frankfurter Krankenhauses. Den erforderlichen Input aus haus- und<br />
fachärztlicher Sicht liefern mein Vorstandskollege PD Dr. Erhard Lang und ich. Im laufen<strong>den</strong><br />
Jahr wer<strong>den</strong> wir auch vermehrt Fach- und Regionalgruppenkonferenzen einberufen, um die<br />
Zusammenar<strong>bei</strong>t mit der Basis weiter auszubauen.<br />
Mitglieds<strong>bei</strong>trag könnte sich drastisch verringern, wenn ...<br />
Wir wissen, dass es <strong>den</strong>noch Kolleginnen und Kollegen gibt, die trotz der Möglichkeiten, die<br />
unsere Genossenschaft bietet, <strong>den</strong> Alleingang wählen und die DOXS eG verlassen möchten.<br />
Sollte der Grund für solche Überlegungen der (steuerabzugsfähige!) Mitglieds<strong>bei</strong>trag von monatlich<br />
75 Euro sein, so möchten wir an die Möglichkeit des Einkaufs in der – letztlich <strong>den</strong><br />
Mitgliedern gehören<strong>den</strong> – DOXS Medizintechnik GmbH – erinnern. Die DOXS eG ist die einzige<br />
deutsche Ärztegenossenschaft mit einem solchen Unternehmen.<br />
Die DOXS-Medizintechnik mit ihrem Geschäftsführer Herrn Peter Gramatzki ist in der Lage,<br />
Ihnen jegliche Praxisartikel zu einem kompetitiven Preis zu liefern. Darüber führt die DOXS<br />
Medizintechnik GmbH Wartungen, Reparaturen und relevante Prüfungen Ihrer Geräte durch.<br />
Unsere Kalkulationen zeigen, dass wir in der Lage wären, <strong>den</strong> Mitglieds<strong>bei</strong>trag gegen null zu<br />
setzen, wenn alle Mitglieder Praxisartikel <strong>bei</strong> ihrem eigenen Unternehmen kaufen wür<strong>den</strong> –<br />
einfacher geht es kaum.<br />
Fest steht: Eine Genossenschaft lebt durch ihre Mitglieder – deshalb nutzen Sie die Möglichkeiten<br />
der Beteiligung zum Beispiel über die Fach- und Regionalgruppen, die Strategiekonferenzen<br />
und die Generalversammlung. Im Übrigen freuen wir uns auch über Ihre Hinweise und<br />
Anregungen und wir nehmen Ihre Kritik ernst! Bitte sprechen Sie uns an – wir stehen jederzeit<br />
zu Gesprächen zur Verfügung.<br />
Mit freundlichen Grüßen,<br />
Ihr<br />
Stefan Pollmächer
k u r z & bündig<br />
Praxiszertifizierung für Mitglieder<br />
Fast 70 DOXS-Mitglieder haben in der jüngsten Umfrage<br />
der Geschäftsstelle ihr Interesse an einer Zertifizierung<br />
bekundet. „Wir wer<strong>den</strong> unseren Mitgliedern<br />
die Zertifizierung für einen geringen Kosten<strong>bei</strong>trag<br />
anbieten können“, sagt DOXS-Geschäftsführer Gernot<br />
Ruffing, „derzeit prüfen wir verschie<strong>den</strong>e Angebote“.<br />
Wie im DOXS akut Nr. 6 berichtet, rechnet der<br />
Vorstand damit, dass zur Teilnahme an Selektiv- und<br />
Kollektivverträgen in absehbarer Zukunft eine Zertifizierungspflicht<br />
verlangt wer<strong>den</strong> wird.<br />
AOK aktiv & vital: DOXS eG<br />
bezahlt Helferinnen-Besuch für 2<strong>01</strong>0<br />
Es ist ein Modell, das sich als ganz konkrete Antwort<br />
auf die Probleme der ärztlichen Versorgung auf dem<br />
Land versteht: Rund zwei Jahre lang besuchten sieben<br />
Arzthelferinnen im Werra-Meißner-Kreis chronisch<br />
kranke Patienten von 13 Gemeinschaftspraxen<br />
– und erledigten da<strong>bei</strong> Aufgaben, für die es nicht unbedingt<br />
einen Arzt braucht: Blut abnehmen, Blutdruck<br />
und Zucker messen, Verbände wechseln. Zwar<br />
ist das Projekt „Qualifizierter Helferinnenbesuch“ im<br />
Rahmen des IV-Vertrages AOK aktiv&vital ausgelaufen,<br />
es kann jedoch über die DOXS eG fortgesetzt<br />
wer<strong>den</strong>: „Wir haben für das Projekt noch Geld im<br />
Topf und wer<strong>den</strong> deshalb für 2<strong>01</strong>0 die Kosten für die<br />
Helferinnenbesuche <strong>bei</strong> bereits eingeschriebenen,<br />
aber auch <strong>bei</strong> neuen Patienten übernehmen“, so<br />
DOXS-Geschäftsführer Gernot Ruffing. Die Ausschüttung<br />
erfolge 2<strong>01</strong>1, allerdings aus genossenschaftsrechtlichen<br />
Grün<strong>den</strong> nur an diejenigen, die zu dem<br />
Zeitpunkt DOXS-Mitglieder sind.<br />
Umfragen zu IV-Verträgen<br />
Die DOXS-Geschäftsstelle hat <strong>bei</strong> allen großen Krankenkassen<br />
angefragt, welche – insbesondere regionalen<br />
– IV-Verträge es aktuell gibt, die für Mitglieder<br />
infrage kommen könnten. Überdies hat die Geschäftsstelle<br />
die Verträge ermittelt, in <strong>den</strong>en Mitgliedspraxen<br />
eingeschrieben sind, und erstellt eine nach<br />
Krankenkassen und Krankheitsbildern sortierte Übersicht,<br />
damit es für DOXS-Mitglieder einfacher wird,<br />
sich an bereits bestehen<strong>den</strong> IV-Verträgen zu beteiligen.<br />
„Wir wer<strong>den</strong> in diesem Jahr auch mit eigenen<br />
Vorschlägen an die Krankenkassen herantreten“, sagt<br />
DOXS-Vorstand PD Dr. Erhard Lang.<br />
Sportmedizinische Untersuchungen:<br />
Unterstützung <strong>bei</strong> Öffentlichkeitsar<strong>bei</strong>t<br />
Wer vergibt kurzfristig Termine für sportmedizinische<br />
Untersuchungen und Leistungsdiagnostik an Sportlerinnen<br />
und Sportler, die <strong>bei</strong>m E.ON-Kassel-Marathon<br />
am 16. Mai starten möchten, hatte die Geschäftsstelle<br />
die DOXS-Mitglieder kürzlich gefragt. 21 Praxen<br />
aus ganz Nordhessen haben sich gemeldet und erhalten<br />
nun über die Geschäftsstelle kostenlose Unterstützung<br />
<strong>bei</strong> entsprechender Öffentlichkeitsar<strong>bei</strong>t.<br />
Job-Ticket für DOXS-Mitglieder<br />
Alle Mitar<strong>bei</strong>terinnen und Mitar<strong>bei</strong>ter von DOXS-<br />
Mitgliedspraxen können das Job-Ticket der Kasseler<br />
Verkehrsgesellschaft (KVG) und des Nordhessischen<br />
Verkehrsverbundes (NVV) erhalten: 7 Prozent Rabatt<br />
im Vergleich zu normalen Jahreskarten für Bahn, Bus,<br />
Tram und Regio-Tram haben die DOXS eG und die<br />
KVG vereinbart. Die Jahreskarte für Berufspendler gilt<br />
am Ar<strong>bei</strong>ts- und Wohnort sowie auf allen Wegen dazwischen.<br />
Am Wochenende und nach 19 Uhr haben<br />
mit dem Ticket-Inhaber sogar ein weiterer Erwachsener<br />
sowie bis zu drei zum Haushalt gehörende Kinder<br />
freie Fahrt. Informationen: Angelika Niebling,<br />
Tel.: 0561 -766207-13, a.niebling@doxs.de<br />
Unterstützung für Forschungsprojekt<br />
des PhysikClubs Kassel<br />
Für die Erwärmung der Erdatmosphäre ist Kohlenstoffdioxid<br />
mitverantwortlich. Pflanzen können das<br />
„Treibhausgas“ per Fotosythese aufnehmen und in<br />
Sauerstoff umwandeln. Diesen biochemischen Prozess<br />
übernehmen in einer Pflanzenzelle die Chloroplasten.<br />
Wie wäre es, wenn man diese Chloroplasten<br />
aus <strong>den</strong> Pflanzen entkoppeln, bündeln und zu einem<br />
Filter zusammensetzen könnte, der direkt Kohlenstoffmoleküle<br />
in Sauerstoff umwandelt? Diese Frage<br />
haben sich zwei Schüler der Jakob-Grimm-Schule in<br />
Kassel gestellt: Cihan Sahin (19) und Tobias Hölzer<br />
(18) entwickelten, betreut vom PhysikClub Kassel, einen<br />
„Chloroplastenfilter“. Mit ihrem Projekt, das die<br />
DOXS eG mit der Spende eines speziellen Messgerätes<br />
unterstützt hat, nahmen die <strong>bei</strong><strong>den</strong> Schüler kürzlich<br />
am Regionalwettbewerb Hessen-Nord von „Jugend<br />
forscht“ teil – und erreichten <strong>den</strong> dritten Platz.<br />
Herzlichen Glückwunsch!<br />
5
6 <strong>Magazin</strong> Winter 2009<br />
6<br />
DEPrE<br />
auf dem Weg zur<br />
Ob Prominente oder Personen im eigenen beruflichen und privaten Umfeld: Immer häufiger<br />
ist zu erfahren, dass Menschen an Depression lei<strong>den</strong>. Das mag zum einen damit<br />
zusammenhängen, dass die Krankheit Stückchen für Stückchen enttabuisiert wird. So bekennen<br />
sich der ehemalige Spitzenfußballer Sebastian Deisler und der Popsänger Robbie Williams<br />
zu ihrer Depression. Die Witwe von Nationaltorwart Robert Enke, der sich das Leben genommen<br />
hatte, machte dessen Depression öffentlich. Zum anderen ist diese Ausprägung der psychischen<br />
Erkrankung auf dem Weg zur Volkskrankheit. Laut Weltgesundheitsbericht 20<strong>01</strong> der<br />
WHO (World Health Organization) wird die Depression im Jahr 2020 die zweithäufigste Krankheit<br />
nach <strong>den</strong> Herz-Kreislauf-Erkrankungen sein, 2030 soll sie in <strong>den</strong> Industrieländern schon<br />
an erster Stelle stehen. Jeder fünfte in Deutschland leidet zumindest einmal in seinem Leben<br />
an einer Depression, heißt es im Gesundheitsreport 2008 der Techniker Krankenkasse. Frauen<br />
sind doppelt so häufig betroffen wie Männer.<br />
Die Gründe, warum ein Mensch an einer Depression erkrankt, sind vielfältig: Meist findet sich<br />
ein Zusammenspiel zwischen eigener Veranlagung, der Umwelt und biologischer Prozesse wie<br />
Stoffwechselstörungen im Gehirn. Stress im Beruf, Ablehnung in der Kindheit, plötzliche traumatische<br />
Ereignisse wie Tod oder das Ende einer Beziehung können Auslöser reaktiver Depressionen<br />
sein. In etwa der Hälfte der Fälle vergehen die Beschwer<strong>den</strong> wieder, doch ein Viertel<br />
erleidet innerhalb von zwölf Monaten die nächste Depression, binnen zehn Jahren sind es drei<br />
Viertel rezidivierende depressive Störungen. Jede fünfte depressive Erkrankung wird chronisch.<br />
Unterschie<strong>den</strong> wird zwischen verschie<strong>den</strong>en Formen der Depression:<br />
• Als unipolar bezeichnet man die Krankheit, wenn sie sich auf depressive Episo<strong>den</strong> beschränkt.<br />
• Bipolare Störunge lautet die Diagnose, wenn die Betroffenen zwischen depressiven Verstimmungen<br />
und manischen Phasen der Euphorie hin- und herschwanken. Nach Angaben<br />
der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)<br />
durchläuft ein Fünftel der Patienten mit unipolarer Depression in <strong>den</strong> Folgejahren eine<br />
Manie und leidet dann an einer bipolaren Depression.<br />
• Meist schon im Jugendalter entwickelt sich die Dysthymie: eine chronische Stimmungsbeeinträchtigung<br />
über Jahre hinweg.<br />
Das eine Patentrezept, wie eine Depression behandelt wer<strong>den</strong> kann, gibt es nicht, da die Ausprägungen<br />
individuell verschie<strong>den</strong> sind. In der Regel ergänzen sich die Gabe von Psychophar-<br />
Checkliste Symptome <strong>bei</strong> Depression<br />
In der internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme<br />
(ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) sind im<br />
ICD-10 die Symptome von psychischen und Verhaltensstörungen beschrieben. Danach wer<strong>den</strong><br />
Depressionen nach Symptomen charakterisiert.<br />
Treffen vier oder mehr Merkmale anhaltend über mehr als zwei Wochen zu, wird je nach<br />
Schweregrad eine leichte, mittlere oder schwere Depression diagnostiziert.
SSION<br />
Volkskrankheit<br />
maka und störungsspezifische psychotherapeutische Maßnahmen. Zwar sind die Symptome<br />
der Krankheit behandelbar. Doch eine lebenslang gesteigerte Gefahr, weitere depressive Episo<strong>den</strong><br />
zu erlei<strong>den</strong>, entsteht, wenn weitere Phasen folgen oder die Behandlung abgebrochen<br />
wird. Je weniger Episo<strong>den</strong> bis zur Erstbehandlung durchlaufen wur<strong>den</strong>, umso besser ist die<br />
Prognose für <strong>den</strong> Patienten.<br />
Bei Verdacht auf eine depressive Erkrankung (Checkliste Symptome) ist eine umfangreiche<br />
psychische und physische Befunderhebung notwendig. In einem intensiven Arzt-Patient-Gespräch<br />
wer<strong>den</strong> belastende Situationen, aktuelle Beschwer<strong>den</strong>, Vorerkrankungen und eine<br />
mögliche familiäre Veranlagung geklärt. Wichtig ist die Abgrenzung gegenüber anderen psychischen<br />
Krankheiten wie Angststörung oder Schizophrenie.<br />
In neurologischen und internistischen Untersuchungen wer<strong>den</strong> organische Krankheiten mit<br />
ähnlichen Symptomen ausgeschlossen, zum Beispiel Schilddrüsenerkrankung, gestörte Nebennierenfunktion,<br />
Diabetes, Hirntumor, Morbus Parkinson, Multiple Sklerose, Epilepsie oder<br />
Migräne. Geklärt wird auch, ob Medikamente wie Herz-Kreislauf-Präparate, Steroidhormone,<br />
Antibiotika, Zytostatika oder Suchtstoffe Verursacher der depressiven Störung sind.<br />
Ob eine ambulante oder zunächst stationäre Behandlung notwendig ist, hängt von der Art<br />
und Schwere der Depression ab. Grundsätzlich wer<strong>den</strong> drei Therapiephasen unterschie<strong>den</strong>:<br />
Die Akuttherapie dauert meist vier bis acht Wochen, bis sich die akuten Symptome deutlich<br />
abgemildert haben. Sie beginnt, sobald eine Krankheitsphase einsetzt. Im Mittelpunkt stehen<br />
die Aufklärung über die Erkrankung, das passende Therapiekonzept und eine möglicherweise<br />
notwendige Medikation.<br />
Die Erhaltungstherapie schließt sich der Akuttherapie an. Binnen sechs bis acht Monaten wird<br />
der Patient so weit stabilisiert, dass es nicht zu einem unmittelbaren Rückfall kommt. In dieser<br />
sensiblen Phase kommt es relativ leicht zu einer Wiedererkrankung. Wichtig ist es, dass auch<br />
die Patienten die Warnzeichen dafür früh erkennen und entsprechende Abwehrmechanismen<br />
beherrschen.<br />
Die Rezidivprophylaxe setzt ein, sobald sich die Stimmungslage des Betroffenen langfristig<br />
verbessert hat. Ihre Dauer hängt vom individuellen Fall – Anzahl und Schwere der depressiven<br />
Episo<strong>den</strong> – ab. Nun geht es darum, langfristig zu verhindern, dass es zu Rückfällen kommt. Ein<br />
geregelter Alltag, die Einbeziehung der Angehörigen, die Kenntnis, wie möglichen neuerlichen<br />
Episo<strong>den</strong> zu begegnen ist, sowie eventuell eine Fortsetzung der Therapie und Medikation<br />
tragen dazu <strong>bei</strong>, die Erkrankung in <strong>den</strong> Griff zu bekommen. ig<br />
Quelle: media.dgppn.de/mediadb/media/dgppn/pdf/aktuell/was-ist-depression.pdf<br />
Gedrückte Stimmung �<br />
Konzentrationsschwierigkeiten �<br />
Schlafstörungen �<br />
Müdigkeit, Mangel an Energie �<br />
Appetitlosigkeit �<br />
Verringertes sexuelles Interesse �<br />
Vermindertes Selbstvertrauen �<br />
Schuldgefühle, Gefühle von Wertlosigkeit �<br />
Negative, pessimistische Zukunftsgedanken �<br />
Suizidgedanken oder -versuch, Selbstverletzung �<br />
BUCHTIPP<br />
Martin Silek, Birgit Janssen,<br />
Heinz-Harald Abholz:<br />
Praktische Psychiatrie für <strong>den</strong> Hausarzt.<br />
Hilfen für die Diagnostik und Therapie<br />
Köln 2009, Deutscher Ärzte-Verlag,<br />
132 Seiten, 29,90 Euro.<br />
Ausgehend davon, dass die meisten depressiven Menschen<br />
zunächst ihren Hausarzt aufsuchen, bietet das Buch Hilfestellung<br />
für Diagnostik und Therapie von psychiatrischen Erkrankungen<br />
aus der Sicht des Allgemeinmediziners.<br />
<strong>Magazin</strong> Winter 2009<br />
7
Dr. Peter Kramuschke (52),<br />
niedergelassener Facharzt für Psychiatrie<br />
und Psychotherapie in Kassel,<br />
DOXS-Gründungsmitglied.<br />
Dr. Ulrich Müller (52),<br />
niedergelassener Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut<br />
in Fulda,<br />
DOXS-Gründungsmitglied und<br />
Sprecher der DOXS-Fachgruppe<br />
Psychotherapie, Psychiatrie und Psychosomatik.<br />
Dr. Stefan Pollmächer (50),<br />
niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin<br />
und Psychotherapie in<br />
Kassel, DOXS-Vorstands- und Gründungsmitglied.<br />
8 <strong>Magazin</strong> Winter 2009<br />
8<br />
„Unterversorgung Depressiver<br />
wird teuer für die Gesellschaft“<br />
In ihren Praxen steigen die Fallzahlen mit der Diagnose Depression: Das beobachten<br />
Dr. Peter Kramuschke (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie),<br />
Dr. Ulrich Müller (Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut) und Dr.<br />
Stefan Pollmächer (Facharzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapie). Woran<br />
das liegt, ob depressive Menschen in unserem Land gut versorgt wer<strong>den</strong>,<br />
wo sie Forderungen an die Politik stellen und wie die Diagnose Depression<br />
aus der Tabuzone geholt wer<strong>den</strong> kann, erläuterten die drei DOXS-Mitglieder<br />
in verschie<strong>den</strong>en Gesprächen mit Autorin Irene Graefe.<br />
„Alle Bemühungen von Ärzten und Verbän<strong>den</strong> haben in der Aufklärung über Depression weniger<br />
gebracht als die Öffentlichkeit um Robert Enkes Suizid.“ Stefan Pollmächer misst der<br />
Berichterstattung und Anteilnahme nach dem Freitod des Fußballnationaltorwarts im November<br />
2009 deutlich mehr Wirksamkeit für die Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung und in<br />
der Politik zu als konzipierten Kampagnen. „Nein, das ist keine Eintagsfliege. Meines Erachtens<br />
bleibt das sitzen“, ist er überzeugt. Etwas vorsichtiger bewerten seine Kollegen das Phänomen.<br />
„Das war eine kurze Welle“, meint Peter Kramuschke. „Es sollte einfacher wer<strong>den</strong>,<br />
über Depression zu sprechen, sich dazu zu bekennen“, wünscht er sich und sieht insofern einen<br />
positiven Effekt: „Robert Enke wurde als Mensch sichtbar. Mit ihm konnten sich die Leute<br />
i<strong>den</strong>tifizieren.“<br />
Für Ulrich Müller war „die Diskussion doch schnell vor<strong>bei</strong>“. Enkes Vorgeschichte habe gezeigt,<br />
dass Menschen, die ihre Schwäche eingestehen, eventuell Angst haben müssten, sich angreifbar<br />
zu machen. Es sei schwierig, so ein komplexes Thema an einer einzelnen Person festzumachen.<br />
Eher sieht er sogar die Gefahr der Nachahmung. Dass einem Vorzeigemenschen wie<br />
Bundestrainer Joachim Löw auf der Pressekonferenz zu Enkes Tod Tränen in die Augen stiegen,<br />
sei bemerkenswert: „Wenn wir auf dem Weg zu einer Gesellschaft sind, die es zulässt, darüber<br />
nachzu<strong>den</strong>ken, dass man so was haben kann; dass es zum menschlichen Leben dazugehört,<br />
dass es solche Phasen geben kann“, würde das die Gesellschaft in Müllers Augen humaner<br />
machen.<br />
Möglicherweise wer<strong>den</strong> depressive Erkrankungen auch deswegen immer stärker ins öffentliche<br />
Blickfeld geraten, weil sie auf dem Vormarsch sind. Entsprechend der Einschätzung der<br />
Weltgesundheitsorganisation (siehe „Depression: auf dem Weg zur Volkskrankheit, S. 6-7.)<br />
sagt der Facharzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapie Pollmächer aus seiner Erfahrung<br />
heraus: „Ja, Depression ist eine Volkskrankheit. Sie hat die Rückenbeschwer<strong>den</strong> bereits überholt<br />
– auch in Sachen Fehltage im Job und Ar<strong>bei</strong>tsunfähigkeit.“ Er verzeichnet in seiner Praxis<br />
eine „deutliche Steigerung der Fälle“. Oft stellten sich nicht nur Probleme im psychischen,<br />
sondern auch im körperlichen Bereich als Depression heraus. Da komme <strong>bei</strong>spielsweise ein<br />
Patient mit körperlichen Beschwer<strong>den</strong> oder Schmerzen und es zeige sich nach eingehender<br />
Untersuchung, dass eine somatisierte Depression dahinterstecke.<br />
Der Zulauf in psychiatrische Praxen und Institutsambulanzen steige kontinuierlich, bestätigt<br />
auch Peter Kramuschke. Wur<strong>den</strong> im ersten Quartal 2008 in Hessen 493 Fälle gezählt, waren<br />
es ein Jahr später schon 608. Er vermutet verschie<strong>den</strong>e Gründe dafür – Hausärzte überwiesen<br />
mehr Patienten zur Abklärung; die Hemmschwelle, einen psychotherapeutisch orientierten<br />
Psychiater aufzusuchen, sei gesunken; der Leistungsdruck als abhängig Beschäftigter oder<br />
Auszubil<strong>den</strong>der steige <strong>bei</strong> gleichzeitigem Erleben unzureichender Möglichkeiten, auf die Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />
Einfluss zu nehmen: Typisch ist für Kramuschke der 55-Jährige, der seine<br />
Berufserfahrung plötzlich infrage gestellt sieht. Der neue, jüngere Chef macht alles anders,<br />
Umstellungen aufs neue Computerprogramm, Ar<strong>bei</strong>tsverdichtung, gleichzeitiges Nachlassen
von Denktempo und Multitasking-Fähigkeit – „die Menschen erleben sich als<br />
ausgeliefert“. Neu seien diese Zusammenhänge nicht, „einzig neu ist, dass<br />
man heute diese ,alten‘ Erkenntnisse <strong>bei</strong>m Namen nennt.“<br />
Der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Ulrich Müller sieht <strong>bei</strong> jungen<br />
Menschen nicht unbedingt einen Anstieg der Fallzahlen. Fest stehe lediglich,<br />
dass sich die Suizidrate unter Kindern und Jugendlichen erhöht habe (siehe<br />
„Depression und Suizid“, S. 10). Dies müsse nicht zwingend die Folge von<br />
Depression sein, auch Affekthandlungen seien zu berücksichtigen. Die Dia gnose<br />
Depression sei derzeit „im Schwange, vieles schwappt aus dem angloamerikanischen<br />
Raum herüber“. Generell beobachtet er, „dass <strong>bei</strong> 60 Prozent<br />
der Kinder in meiner Praxis die Eltern getrennt leben“. Dies führe nicht automatisch<br />
zu Defiziten, doch der Konflikt müsse bear<strong>bei</strong>tet wer<strong>den</strong>. „Manche<br />
schlucken’s runter, andere tun das Gegenteil und zeigen ihre Wut nach außen“,<br />
beschreibt Müller mögliche Reaktionen. Mädchen reagierten häufig mit<br />
Essstörungen, Jungen mit körperlicher Unruhe (was oft als Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom,<br />
ADS, diagnostiziert werde). Bei vielen ADS-Kindern zeige sich<br />
in der längeren Zusammenar<strong>bei</strong>t, dass etwas unverar<strong>bei</strong>tet geblieben sei, ein<br />
depressiver Konflikt dahinter stecke. Müller <strong>den</strong>kt an einen Jungen aus seiner<br />
Praxis, „der durch seine Hyperaktivität letztlich darauf aufmerksam machte“,<br />
dass sein Vater sich zu wenig Zeit für ihn nahm.<br />
Grundsätzlich gehen Pollmächer, Müller und Kramuschke davon aus, dass<br />
<strong>bei</strong> der Entstehung depressiver Störungen mehrere Faktoren zusammenspielen.<br />
„Wie kommt man darauf, das zu trennen?“, fragt Kramuschke, „der<br />
Mensch ist ein psycho-somatisch-soziales Wesen“. Deshalb fuße die Therapie<br />
(siehe „Depression: auf dem Weg zur Volkskrankheit“, S. 6-7) in der Regel<br />
auf drei Bausteinen: auf der Psychotherapie für die psychischen Faktoren,<br />
auf der medikamentösen Behandlung für die somatischen Störungen, auf<br />
Kontakten zu Familie, Freun<strong>den</strong>, Ar<strong>bei</strong>tskollegen auf der sozialen Ebene. Wie<br />
eng verwoben verschie<strong>den</strong>e der Faktoren sind, beschreibt der Psychiater<br />
und Psychotherapeut am Beispiel der Antidepressiva: Rein biologisch lasse<br />
sich im Gehirn schon nach 24 bis 48 Stun<strong>den</strong> ein veränderter Serotoninstoffwechsel<br />
erkennen. „Bis die Wirkung aber spürbar wird, vergehen zehn bis 20<br />
Tage, <strong>den</strong>n das Gehirn muss das Ablesen genetischer Informationen erst wieder<br />
ändern“, erklärt er.<br />
Die Sorge vor Nebenwirkungen versucht Kramuschke seinen Patienten schon<br />
im Vorfeld zu nehmen, indem er die häufigsten von sich aus erklärt. Allerdings<br />
dürften die Erwartungen an <strong>den</strong> Erfolg von Antidepressiva keineswegs<br />
zu hoch gesteckt wer<strong>den</strong> und es sollte klargestellt wer<strong>den</strong>, dass es sich nicht<br />
um eine kausale Therapie handelt. Pollmächer weist zusätzlich drauf hin,<br />
„diese Medikamente machen nicht abhängig, das wird häufig mit Beruhigungsmitteln<br />
verwechselt“. Müller sieht <strong>bei</strong> schweren Depressionen <strong>den</strong><br />
akuten Einsatz von Medikamenten gerechtfertigt, langfristig kombiniert mit<br />
psychotherapeutischer Behandlung, „leichte und mittelschwere Depressionen<br />
können psychotherapeutisch behandelt wer<strong>den</strong>, Medikamente sind<br />
nicht in jedem Fall angezeigt“. Er weist auf <strong>den</strong> hohen Placeboeffekt <strong>bei</strong><br />
Antidepressiva hin. „Dies kann ein Zeichen sein, dass der behandelnde Arzt<br />
und Psychotherapeut als Person eine signifikante Wirkung hat“, so Müller.<br />
„Allein die Tatsache, dass jemand im geschützten Raum zuhört, unterstützt<br />
positive Denkprozesse und eröffnet einen Raum für Veränderungen in der<br />
Sicht des Patienten auf sich und seine Beziehungen“, schildert Kramuschke.<br />
Thomas Zipp, Psychonaut A, 2008. Courtesy: Galerie<br />
Guido W. Baudach, Berlin und Sommer Contemporary,<br />
Tel Aviv. Foto: Roman März<br />
Die Kunsthalle<br />
als psychiatrische Anstalt<br />
Der Künstler Thomas Zipp verwandelt von März bis<br />
Juni die Räume der Kunsthalle Fridericianum in Kassel<br />
in seine Vision einer „psychiatrischen Anstalt“. Unter<br />
dem Titel (WHITE REFORMATION CO-OP) MENS SA-<br />
NA IN CORPORE SANO widmet er sich Fragen nach<br />
Norm und Abweichung, sozialer Ausgrenzung sowie<br />
der Einordnung des Selbst in die Gesellschaft. Mit<br />
dem Untertitel „mens sana in corpore sano“ (ein gesunder<br />
Geist in einem gesun<strong>den</strong> Körper) verweist<br />
Zipp auf ein Zitat des römischen Dichters Juvenal<br />
(etwa 60 bis 140 n. Chr.), der als Satiriker bereits die<br />
Zeichen seiner Zeit kritisierte.<br />
Zipp fasst seine Gemälde, Grafiken, Skulpturen und<br />
Installationen immer wieder unter einem Thema zusammen.<br />
Sein aktuelles Thema „mens sana in corpore<br />
sano“ prangt in großen Lettern am Portal des Fridericianums,<br />
das Foyer wird zur Eingangshalle der<br />
„Anstalt“. In <strong>den</strong> Hauptflügeln des Hauses verbindet<br />
der Künstler sein skulpturales und malerisches Werk<br />
mit Installationen. Durch Abdunkelung und <strong>den</strong><br />
gleich zeitigen Einsatz grellen Neonlichts erschafft<br />
Zipp die Illusion langer Gänge, deren Türen zu sowohl<br />
zugänglichen als auch verschlossenen Räumen<br />
führen. Darin wird sein Thema in Gemäl<strong>den</strong> oder<br />
Plastiken, wie seine Psychonauten, aufgegriffen. An<br />
die Gänge schließen sich in <strong>den</strong> Seitenflügeln die<br />
Großinstallationen einer Gummizelle, eines Turngeräteraumes<br />
und eines Spiegelsaals an.<br />
ig/Kunsthalle Fridericianum<br />
(WHITE REFORMATION CO-OP)<br />
MENS SANA IN CORPORE SANO<br />
Kunsthalle Fridericianum, Kassel, Friedrichsplatz 18<br />
13. 3 – 13. 6. Mi. - So., 11 - 18 Uhr, 5 Euro, Mi. frei<br />
www.fridericianum-kassel.de<br />
Fitte Körper, marode Verhältnisse<br />
Mittwoch, 12. Mai, 18 Uhr<br />
Vortrag von Prof. Dr. Ernst-Dieter Lantermann,<br />
Persönlichkeits- und Sozialpsychologie, Uni Kassel<br />
Eintritt frei<br />
<strong>Magazin</strong> Winter 2009<br />
9
Depression:<br />
Häufigste Ursache für Suizid<br />
Insgesamt gehört der Suizid laut Weltgesundheitsorganisation<br />
WHO weltweit zu <strong>den</strong> drei Haupttodesursachen<br />
in der Altersgruppe zwischen 15 und<br />
34 Jahren. In Deutschland starben im Jahr 2007<br />
laut Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL) 9.400<br />
Menschen durch eigene Hand. Auf je<strong>den</strong> Suizid<br />
kommen schätzungsweise zehn bis 15 Selbstmordversuche.<br />
In rund 90 Prozent der Fälle liegt eine psychische<br />
Erkrankung – in etwa 70 Prozent eine Depression<br />
– zugrunde. Etwa zehn bis 15 Prozent der depressiven<br />
Patienten nehmen sich das Leben. Zwei von<br />
drei Selbsttötungen wer<strong>den</strong> von Männern begangen.<br />
Frauen unternehmen häufiger Selbstmordversuche<br />
(1:3), ebenso junge Menschen. Während<br />
Frauen häufig zu Medikamenten greifen, wählen<br />
Männer oft gewaltvolle Metho<strong>den</strong>.<br />
Ärzten und Therapeuten kommt laut der Analyse<br />
von 93 Studien zur Suizidprävention, veröffentlicht<br />
im Journal of the American Medical Association<br />
(2006), eine besondere Rolle <strong>bei</strong> der Verhinderung<br />
von Selbsttötungen zu. Etwa ein Drittel der<br />
Menschen, die Suizid begehen oder es versuchen,<br />
haben in <strong>den</strong> vier Wochen zuvor noch Kontakt zu<br />
ihren Ärzten gehabt. In Regionen, in <strong>den</strong>en Ärzte<br />
in Präventionsprogrammen über Symptome und<br />
Therapie von Depressionen fortgebildet wur<strong>den</strong>,<br />
sank die Selbstmordrate um 20 bis 70 Prozent. Die<br />
Autoren der Analyse schließen daraus, dass die geschulten<br />
Mediziner häufiger Depressionen und<br />
Suizidgedanken erkannten und behandelten.<br />
Ähnliche Erkenntnisse und Ergebnisse erbrachte<br />
das 20<strong>01</strong> gestartete Nürnberger Bündnis gegen<br />
Depression. Zum Konzept gehörten Fortbildungsprogramme<br />
für Ärzte, Lehrer, Pfarrer oder Apotheker<br />
genauso wie die allgemeine Öffentlichkeit und<br />
Selbsthilfeinitiativen für Betroffene und Angehörige.<br />
Nach einer wissenschaftlichen Auswertung ergab<br />
sich: Die Suizidversuche in der Modellregion<br />
Nürnberg haben während der Aktivitäten (20<strong>01</strong>–<br />
2002) um über 25 Prozent abgenommen. Heute<br />
besteht das Bündnis gegen Depression bundesweit<br />
(siehe Interview S.13-15). ig<br />
Journal of the American Medical Association,<br />
JAMA 294, 2005, 2064: www.jama.ama-assn.org<br />
Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL):<br />
http://aktuell.nationalatlas.de<br />
10 <strong>Magazin</strong> Winter 2009<br />
10<br />
Wer<strong>den</strong> depressive Patienten entsprechend ihrer individuell verschie<strong>den</strong> ausgeprägten<br />
Erkrankung ausreichend behandelt? „Nein, sie wer<strong>den</strong> nicht adäquat<br />
aufgefangen“, sagt Kramuschke entschie<strong>den</strong>. Bis Anfang 2005 habe er seinen<br />
Patienten ausreichend Zeit widmen können. Mit der Honorarreform (einheitlicher<br />
Bewertungsmaßstab: EBM 2000 plus) seit 1. April 2005 hätten er und seine<br />
vier Praxiskollegen ausgerechnet, dass sie pro Stunde drei Patienten behandeln<br />
müssten, um wirtschaftlich ar<strong>bei</strong>ten zu können. Nachdem seit Juli 2009 die Gesprächsziffern<br />
im EBM für die psychiatrischen Fächer wieder <strong>den</strong> freien Leistungen<br />
zugeordnet wur<strong>den</strong>, könnten sie nun – „bedarfsgerechter“ – pro Stunde<br />
zwei Patienten ins Arztzimmer bitten.<br />
„Die Zeit, die ein Hausarzt braucht, um ein eingehendes Gespräch zu führen,<br />
findet in der Honorierung keinen Widerhall“, beklagt Pollmächer. Es liege nicht<br />
an der Ausbildung und Sensibilität der Hausärzte, dass Depressionen <strong>bei</strong> Patienten<br />
nicht erkannt oder adäquat behandelt wür<strong>den</strong>, sondern an <strong>den</strong> wirtschaftlichen<br />
Zwängen. „40 Euro pro Patient im Quartal. Da ist keine Luft drin“, moniert<br />
er. Und ebenso wie Kramuschke sieht er die Gefahr der Chronifizierung von Depression<br />
<strong>bei</strong> unzureichend versorgten Patienten. Neben dem unnötigen Lei<strong>den</strong><br />
der Patienten, das mit individuell abgestimmter, zeitintensiver Behandlung zu<br />
vermei<strong>den</strong> wäre, warnt er: „Die Versorgung chronifizierter Betroffener und ihr<br />
Ausfall am Ar<strong>bei</strong>tsplatz wer<strong>den</strong> für die Gesellschaft teuerer als die zeitnahe optimale<br />
Behandlung“.<br />
Von der Gesundheitspolitik erwarten die drei DOXS-Mitglieder, „dass die ärztliche<br />
Expertise im Vergleich zu technischen Untersuchungen besser honoriert<br />
wird“, wie es Pollmächer formuliert. Es brauche Zeit und Mühe, die depressiven<br />
Patienten zu behandeln und für sie die entsprechende Unterstützung zu organisieren.<br />
Kramuschke zählt verschie<strong>den</strong>e „Instrumente unseres Handwerkszeuges“<br />
auf: Von <strong>den</strong> unterschiedlichen Psychotherapieformen über die Medikation bis<br />
hin zu Familienhilfe, Integrationsfachdienst für die Eingliederung am Ar<strong>bei</strong>tsplatz<br />
und anderen sozialen Maßnahmen reiche das Spektrum (siehe „Leitlinie und Integrierte<br />
Versorgung“, S. 11-12). Aber: „Nur wenn das Gesundheitsministerium<br />
die Rahmenbedingungen ändert, kann die Behandlung für depressive Patienten<br />
besser wer<strong>den</strong>. Zurzeit wird diese Gruppe an <strong>den</strong> Rand gedrängt.“<br />
Foto: DAK / Wigger
Foto: DAK / van <strong>den</strong> Berg<br />
Leitlinie und Integrierte<br />
Versorgung: Hausarzt ist<br />
Vertrauensperson Nummer 1<br />
Für knapp 90 Prozent der Patienten ist der Hausarzt<br />
normalerweise der erste Ansprechpartner, also<br />
vermutlich auch die wichtigste Vertrauensperson im<br />
Gesundheitswesen. Zwar gehen innerhalb eines Jahres<br />
etwa 21 Prozent der Deutschen wegen psychischer<br />
Probleme zum Arzt oder Psychotherapeuten.<br />
Doch im Gesundheitsmonitor 2008 der Bertelsmann<br />
Stiftung gab nur die Hälfte der rund 1.500 Befragten<br />
(18 bis 79 Jahre) an, aus eigenem Antrieb psychische<br />
Schwierigkeiten anzusprechen. 68 Prozent sagten, es<br />
habe ihnen der Mut gefehlt. Jeder achte war enttäuscht,<br />
dass der Hausarzt die psychischen Beschwer<strong>den</strong><br />
nicht thematisierte. Gerade die weniger mutigen<br />
Patienten (30 Prozent) antworteten, mit ihrer ärztlichen<br />
Versorgung nicht zufrie<strong>den</strong> zu sein. Unter ihnen<br />
tendieren 42 Prozent zum Arztwechsel.<br />
Bei der Vorstellung des Gesundheitsmonitors im<br />
Frühjahr 2009 folgerte Timo Harfst von der Bundespsychotherapeutenkammer,<br />
dass „aktives Nachfragen<br />
nach psychischen Beschwer<strong>den</strong> durch <strong>den</strong> Arzt<br />
und die systematische Diagnostik psychischer Störungen<br />
in der Primärversorgung“ wichtige Ansätze<br />
zu Verbesserungen seien. Dem soll unter anderem<br />
die Verabschiedung einer Nationalen Leitlinie Depression<br />
(S3-Leitlinie zur unipolaren Depression)<br />
Rechnung tragen, die Ende vergangenen Jahres auf<br />
dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie,<br />
Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)<br />
präsentiert wurde. Die S3-Leitlinie (höchste Leitlinienstufe)<br />
wurde auf der Basis von 1.232 Publikationen<br />
und deren wissenschaftlicher Diskussion und Bewertung<br />
erstellt. Sie enthält 107 Empfehlungen zu Prävention,<br />
Diagnostik, Psycho- und Pharmakotherapie,<br />
Komorbidität, Suizidalität. Zur Versorgungskoordination<br />
wer<strong>den</strong> Ein weisungskriterien,<br />
Nahtstellen, Rehabilitation und<br />
Qualitätsmanagement b eschrieben.<br />
Hausärzte seien grundsätzlich<br />
durch ihr Medizinstudium auf die<br />
Behandlung psychischer Krankheiten<br />
vorbereitet, freiwillig ergänzt<br />
durch eine Ausbildung in<br />
psychosomatischer Grund ver sorgung,<br />
sagte der gesundheitspolitische<br />
Sprecher der DGPPN, Prof.<br />
Dr. Jürgen Fritze, auf dem Kongress<br />
seiner Gesellschaft im November<br />
2009. Gezielte Schulungen,<br />
so Dr. Mathias Berger (DG-<br />
PPN), sollten diese Berufsgruppe<br />
anhand der Nationalen Leitlinie<br />
nun besser auf die Betreuung depressiver<br />
Patienten vorbereiten.<br />
Bisher wür<strong>den</strong> etwa die Hälfte<br />
der Depressionen aufgrund ihres<br />
vielfältigen Erscheinungsbildes vom Hausarzt nicht<br />
erkannt. Der Gesundheitsmonitor 2008 registrierte<br />
sogar <strong>bei</strong> nur gut acht Prozent der Patienten, die wegen<br />
psychischer Probleme einen Hausarzt aufsuchten,<br />
eine diagnostizierte psychische Krankheit. Dagegen<br />
sei <strong>bei</strong> 53 Prozent der Patienten, die deswegen<br />
einen Spezialisten aufsuchten, die Diagnose einer<br />
psychischen Störung gestellt wor<strong>den</strong>.<br />
Eine weitere Verbesserung in der Behandlung psychisch<br />
kranker Patienten will die Techniker Krankenkasse<br />
(TK) anstoßen. Im Januar 2<strong>01</strong>0 stellte sie ihr<br />
Modell NetzWerk psychische Gesundheit (NWpG)<br />
vor, das sozial- und gemeindepsychiatrische sowie<br />
ambulante und stationäre Angebote zusammenfasst.<br />
Basis dafür sind Verträge zur Integrierten Versorgung<br />
(IV). Teilnehmende Ärzte und Psychotherapeuten erhalten<br />
eine extrabudgetäre Vergütung. Ziel ist es,<br />
psychisch Kranke so zu unterstützen, dass sie in ihrem<br />
<strong>Magazin</strong> Winter 2009<br />
11<br />
11
DOXS-Mitglieder über die<br />
Nationale Leitlinie Depression<br />
Dr. Peter Kramuschke: „Da steht nichts Neues<br />
drin. Wer sich als verantwortungsbewusster Arzt<br />
fortbildet, kennt die Inhalte ohnehin. Aber die<br />
Leitlinie ist insofern ein Fortschritt, als sie das derzeitige<br />
Expertenwissen dokumentiert und Standards<br />
festlegt.“<br />
Dr. Ulrich Müller: „Die Leitlinie empfiehlt Wege<br />
und Behandlungsmöglichkeiten entsprechend<br />
dem ICD-10, zum Beispiel wann psychotherapeutische<br />
Behandlung, wann Medikation oder wann<br />
psychiatrische Versorgung empfehlenswert und<br />
sinnvoll sind.“<br />
Dr. Stefan Pollmächer: „Das, was in der Leitlinie<br />
als Empfehlungen steht, bildet sich leider nicht in<br />
der Honorierung der niedergelassenen Ärzte – insbesondere<br />
der Fachärzte, die psychosomatisch<br />
und psychotherapeutisch tätig sind – ab. Wenn<br />
sich hier nicht etwas ändert, nutzen auch Leitlinien<br />
nur wenig.“<br />
12<br />
privaten und beruflichen Umfeld bleiben und stationäre Aufnahmen vermie<strong>den</strong><br />
wer<strong>den</strong> können.<br />
Ein multiprofessionelles Team ar<strong>bei</strong>tet in geteilter Verantwortung zusammen, zugeschnitten<br />
auf <strong>den</strong> einzelnen Patienten. Ein persönlicher Ansprechpartner koordiniert<br />
unter anderem die haus- und fachärztliche Versorgung – möglichst ambulant,<br />
aber auch stationär –, die häusliche psychiatrische Fachpflege, Soziotherapie,<br />
Psychotherapie, ambulante Rehabilitation und Ergotherapie, berufliche Integration<br />
ebenso wie familiäre und nachbarschaftliche Unterstützung. Im Mittelpunkt<br />
steht die aufsuchende Betreuung zu Hause. Zur Versorgung gehören auch<br />
Krisenpensionen. Das sind Rückzugsräume im ambulanten betreuten Wohnen,<br />
wenn es für die Patienten doch notwendig ist, ihr Lebensumfeld für geraume Zeit<br />
zu verlassen.<br />
Das Projekt wurde mit Pinel – Initiative für psychisch Kranke in Berlin entwickelt<br />
und seit Anfang 2008 umgesetzt. In Bremen läuft es in Kooperation mit GAPSY<br />
– Gesellschaft für ambulante psychiatrische Dienste. In Hessen gebe es zwar erste<br />
Gespräche, aber noch keine konkreten Ergebnisse, sagte TK-Pressesprecherin Michaela<br />
Hombach zum DOXS-<strong>Magazin</strong>, „es ist Bewegung drin und manchmal<br />
geht es gerade <strong>bei</strong> solchen Themen ganz schnell“. ig<br />
INFORMATIONEN<br />
Nationale Leitlinie Depression:<br />
www.dgppn.de :: siehe Kurzversion Leitlinien<br />
NetzWerk Psychische Gesundheit (NWpG):<br />
www.tk-online.de/tk/publikationen/pressemappen/pressemappe-netzwerk-fuerpsychisch-kranke/202624<br />
Initiative für psychisch Kranke in Berlin:<br />
www.pinel.de :: siehe Integrierte Versorgung<br />
Gesellschaft für ambulanten psychiatrische Dienste in Bremen: www.gapsy.de<br />
:: siehe Angebote<br />
Foto: AOK
Schlechte Bezahlung der sprechen<strong>den</strong><br />
Medizin ist ein „Systemfehler“<br />
Im Gespräch mit dem Vorsitzen<strong>den</strong> des<br />
„Bündnisses gegen Depression in Nordhessen e. V.“<br />
Das Bündnis gegen Depression ist bundesweit angetreten, die gesundheitliche Situation<br />
depressiv Erkrankter zu verbessern und Suizi<strong>den</strong> vorzubeugen. Zahlreiche Städte und Regionen<br />
haben sich dem Deutschen Bündnis gegen Depression angeschlossen und engagieren<br />
sich auf lokaler Ebene. Seit Frühjahr 2008 ist das Bündnis gegen Depression in Nordhessen<br />
e. V. unter dem ehrenamtlichen Vorsitz von Dr. Manfred Schäfer, Ärztlicher Direktor<br />
der Hardtwaldklinik II in Bad Zwesten, in der Region aktiv. „Unsere Aufgabe ist es, die Bevölkerung<br />
über die Krankheit Depression zu informieren und diese hierdurch zu enttabuisieren“,<br />
beschreibt Schäfer eine der Zielsetzungen.<br />
DOXS-<strong>Magazin</strong>: Wie steht es um eine optimale Versorgung<br />
depressiver Patienten?<br />
Schäfer: Ich sehe mehrere Hür<strong>den</strong>, die derzeit einer<br />
optimalen Versorgung Depressiver im Wege stehen.<br />
Ich halte es für einen Systemfehler, wenn die sprechende<br />
Medizin so schlecht bezahlt wird. Depressiv<br />
erkrankte Menschen klagen zunächst meist über unspezifische<br />
Allgemeinsymptome, wie Schlappheit,<br />
Müdigkeit, Kopfdruck und Schlafstörungen, und selten<br />
über diagnostisch relevante Veränderungen des<br />
Gefühlslebens als Hauptsymptome. Die oft schambesetzten<br />
Symptome müssen vom Arzt erfragt wer<strong>den</strong>,<br />
was Zeit kostet. Gerade Hausärzte, <strong>bei</strong> <strong>den</strong>en<br />
die meisten Betroffenen zuerst Rat suchen, können<br />
sich aufgrund der geringen Honorierung von Gesprächsleistungen<br />
oft nicht <strong>den</strong> „Luxus“ leisten, intensiv<br />
zuzuhören, nachzufragen und so einer psychischen<br />
Erkrankung auf die Spur zu kommen. Ein<br />
Dilemma, das nicht die ärztlichen Kollegen zu verantworten<br />
haben.<br />
Wo sehen Sie weitere Hür<strong>den</strong>?<br />
Schäfer: Eine weitere Hürde sind die bürokratischen<br />
Auflagen für Gruppenbehandlungen. Nicht jeder Patient<br />
braucht eine Einzelpsychotherapie. Nicht wenige<br />
Patienten profitieren sogar stärker von einer Gruppentherapie.<br />
Ärztliche und psychologische Psychotherapeuten<br />
müssen für je<strong>den</strong> Gruppenteilnehmer<br />
einen gesonderten Kassenantrag in Form eines ausführlichen<br />
Gutachtens stellen. Das sind dann für eine<br />
Gruppe acht bis neun Anträge, die sehr zeitaufwendig<br />
sind und schlecht vergütet wer<strong>den</strong>. Die Antragspflicht<br />
für Gruppenpsychotherapie ist eine unnötige<br />
bürokratische Gängelung, die letztlich durch eine artifizielle<br />
Verknappung therapeutischer Ressourcen auf<br />
dem Rücken der Patienten ausgetragen wird.<br />
Was kann <strong>den</strong>n eine Gruppentherapie<br />
bewirken?<br />
Schäfer: Gruppentherapie ist natürlich<br />
kein Allheilmittel. In der Versorgung<br />
kann sie aber entschei<strong>den</strong>d<br />
helfen, mehr Menschen in Behandlung<br />
zu nehmen und oftmals zu lange<br />
Wartezeiten deutlich zu reduzieren.<br />
Inhaltlich zeigt sich im klinischen<br />
Alltag der Hardtwaldklinik II immer<br />
wieder, dass depressive Patienten Dr. med. Manfred Schäfer,<br />
sich zunächst eine Einzeltherapie 50 Jahre alt, ist Facharzt für Psycho-<br />
wünschen, sie aber oft gerade durch somatische Medizin und Psychothe-<br />
die therapeutische Gruppe entscheirapie sowie für Psychiatrie und Psy<strong>den</strong>d<br />
profitieren. Wichtig ist die Erchotherapie mit <strong>den</strong> Zusatzbezeichkenntnis,<br />
nicht alleine zu sein in seinungen Psychoanalyse, Re ha bili tanem<br />
Leid. Dies reduziert meist tionswesen und Sozialmedizin. Er ist<br />
Scham- und Schuldgefühle und er- Ärztlicher Direktor der Hardtwaldkliöffnet<br />
einen Weg aus dem Rückzug nik II in Bad Zwesten und im Ehren-<br />
und der inneren Isolation. Im Geamt Vorsitzender des Bündnisses gespräch<br />
mit anderen Betroffenen gen Depression in Nordhessen e. V.<br />
kann man sich partiell in deren<br />
Schicksal und Problematik wiedererkennen,<br />
was <strong>den</strong> Prozess eigener Selbsterkenntnis<br />
enorm beschleunigen kann. Die Gruppe<br />
kann einen Schutzraum bieten, neue antidepressive<br />
Verhaltensweisen einzuüben. In einer therapeutischen<br />
Gruppe ist ein Erkrankter nicht auf die Patientenrolle<br />
reduziert. Er ist zwar als Patient Rat- und Hilfesuchender,<br />
kann aber zugleich anderen Rat geben<br />
und Trost spen<strong>den</strong>.<br />
Ein ganz großes Problem für viele Patienten ist der Übergang<br />
von der stationären in die ambulante psychotherapeutische<br />
Behandlung.<br />
Schäfer: Ja, lange Wartezeiten bergen das Risiko, dass<br />
13
INFORMATION<br />
Bündnis gegen Depression in Nordhessen:<br />
Auf der Internetseite fin<strong>den</strong> sich unter „Hilfe &<br />
Beratung“ für Patienten und Angehörige Links<br />
zu Rat und Hilfe in akuten Krisensituationen, zu<br />
Ärzten, therapeutischen Angeboten, Klinik-Ambulanzen,<br />
zu Kontakt- und Beratungsstellen sowie<br />
zu Selbsthilfegruppen in Kassel und Nordhessen.<br />
www.buendnis-depression.de/depression/<br />
nordhessen.php<br />
Nachsorgeprogramm IrENA der Deutschen<br />
rentenversicherung: http://www.deutscherentenversicherung-bund.de/nn_18764/DRVB/de/Navigation/Service/Zielgruppen/reha__einrichtungen/nachsorgeprogramm__node.html__<br />
nnn=true<br />
Die Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen<br />
<strong>bei</strong>m Gesundheitsamt der Region<br />
Kassel, KISS, ist die zentrale Anlaufstelle in Kassel<br />
für alle Anliegen und Fragen der gesundheitlichen<br />
und sozialen Selbsthilfe: www.selbsthilfekassel.de<br />
Das Kompetenznetz Depression ist ein bun-<br />
desweites Netz zur Forschung und Versorgung<br />
im Bereich depressiver Störungen. Das Projekt<br />
wird vom Bundesministerium für Bildung und<br />
Forschung gefördert:<br />
www.kompetenznetz-depression.de<br />
mit Listen sortiert nach Postleitzahlen zur Krisenintervention<br />
und zu Kliniken.<br />
Unter www.psychiatriekonsil.de bietet das Kompetenznetzwerk<br />
Informationen und CME-Fortbildungen<br />
für Ärzte und psychologische Psychotherapeuten.<br />
14<br />
Betroffene resignieren und letztlich nicht die fachlich indizierte ambulante Weiterbehandlung<br />
antreten. Ich rate deshalb, nicht unnötig Zeit verstreichen zu lassen.<br />
Patienten sollten sich schon vor ihrer stationären Behandlung im heimischen Umfeld<br />
auf die Suche nach einem Therapeuten machen und mit ihm in Kontakt treten.<br />
Dann sind Termine für die Zeit nach dem Klinikaufenthalt leichter zu organisieren.<br />
Kollegen sollten ihren Patienten diesen Ratschlag mit auf <strong>den</strong> Weg geben.<br />
DOXS-<strong>Magazin</strong>: Haben Sie Erfahrungen mit dem IRENA-Programm (intensivierte Rehabilitationsnachsorge)<br />
der Deutschen Rentenversicherung Bund?<br />
Schäfer: Es bietet eine Unterstützung, die nach meiner Erfahrung sehr unbürokratisch<br />
in Gang gesetzt wer<strong>den</strong> kann. Vollstationäre psychosomatische Behandlungen<br />
sind in Deutschland derzeit überwiegend Rehabilitationsmaßnahmen, also<br />
über die Rentenversicherung finanziert. Die Klinik wird, <strong>bei</strong> gegebener Indikation,<br />
noch während der Rehabilitation die Nachsorge in die Wege leiten. Das IRENA-<br />
Programm setzt zeitnah nach dem Ende der Rehabilitation ein und bietet wohnortnah<br />
für ein halbes Jahr eine Gruppentherapie an. IRENA eröffnet oftmals die<br />
Möglichkeit, Wartezeiten auf einen ambulanten Therapieplatz zu überbrücken. Da<br />
die Maßnahme von der Rentenversicherung finanziert wird, steht sie nicht in Konkurrenz<br />
zu kassenfinanzierten Leistungen. In Kassel wer<strong>den</strong> IRENA-Gruppen seit<br />
Jahren in Räumen der Kurhessentherme angeboten. Abendtermine gewährleisten<br />
die berufsbegleitende Teilnahme.<br />
Foto: Techniker Krankenkasse<br />
DOXS-<strong>Magazin</strong>: Welche Rolle spielen Selbsthilfegruppen für Patienten?<br />
Schäfer: Natürlich bieten diese Gruppen keine fachtherapeutische Behandlung,<br />
das ist auch nicht ihr Anspruch. Doch sie sind eine wertvolle Unterstützung professioneller<br />
Hilfe und dieser in einigen Aspekten sogar überlegen. Im Gespräch mit<br />
ebenfalls Betroffenen besteht ein besonderes gegenseitiges Verständnis: Man<br />
muss sich nicht schämen, man muss sich nicht verstecken, man kennt, was der<br />
andere erzählt. Sowohl für <strong>den</strong> Patienten als auch für <strong>den</strong> behandeln<strong>den</strong> Arzt ist<br />
diese ergänzende Unterstützung entlastend. Außerdem gibt es eine ganze Reihe<br />
Patienten, die einfach nur Menschen zum Re<strong>den</strong> suchen und nicht gleich alles<br />
aufar<strong>bei</strong>ten wollen. Keinesfalls sind diese Gruppentreffen eine Konkurrenz zu psychotherapeutischer<br />
Behandlung: Beides kann sinnvoll sein: Selbsthilfegruppe und<br />
Therapie zugleich.
DOXS-<strong>Magazin</strong>: Wie wichtig sind Selbsthilfegruppen<br />
für Angehörige?<br />
Schäfer: Es ist manchmal nicht leicht auszuhalten,<br />
wenn ein Mensch in der näheren<br />
Umgebung depressiv erkrankt ist. So eine<br />
Gruppe kann wichtig sein, um das durchzustehen.<br />
Es ist keine Schande, sich auszutauschen.<br />
Ohnehin wer<strong>den</strong> die Angehörigen<br />
oft vergessen: sowohl als Unterstützer<br />
in der Therapie der Erkrankten als auch mit<br />
ihren eigenen Bedürfnissen und Belastungen.<br />
Und wie findet man die Selbsthilfegruppe, die<br />
zu einem passt?<br />
Schäfer: In Kassel und Umgebung empfehle<br />
ich, <strong>bei</strong> KISS nachzufragen, der Kontakt-<br />
und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen<br />
<strong>bei</strong>m Gesundheitsamt der Region Kassel.<br />
Die Mitar<strong>bei</strong>ter dort kennen die Gruppen<br />
oft aus der Gründungsphase und können<br />
daher meist an eine geeignete Gruppe<br />
verweisen. Auf der Internetseite des Bündnisses<br />
gegen Depression in Nordhessen fin<strong>den</strong><br />
Sie ebenfalls Hinweise auf Selbsthilfegruppen<br />
in der Region. Es empfiehlt sich,<br />
die jeweiligen Ansprechpartner zunächst<br />
anzurufen, um grundsätzliche Fragen vorab<br />
zu klären.<br />
Das Interview führte Irene Graefe.<br />
KOLUMNE<br />
fern gesehen von Irene Graefe<br />
Foto: ad.unger/photcase.de<br />
Über 30 Arztserien laufen derzeit in deutschen Fernsehprogrammen, mit<br />
Ausnahme von „Bloch“ (Dieter Paff) in der ARD geht es bislang aber nicht<br />
um Psychotherapeuten. Neu gestartet ist im Februar „In Treatment – Der<br />
Therapeut“ über <strong>den</strong> Psychotherapeuten Dr. Paul Weston, dessen Darsteller<br />
Gabriel Byrne dafür einen Gol<strong>den</strong> Globe erhielt. Die erste Staffel der<br />
amerikanischen TV-Serie läuft auf 3sat. Jede 25-Minuten-Folge behandelt<br />
einen Therapiesitzung. In <strong>den</strong> USA ist die ursprünglich fürs israelische Fernsehen<br />
konzipierte und für <strong>den</strong> Sender HBO von Rodrigo Garcia (Sohn von<br />
Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez) umgeschriebene Serie so erfolgreich,<br />
dass bereits die dritte Staffel produziert wird.<br />
Ob und wie sich Patienten in Deutschland von der Serie beeinflussen lassen,<br />
ist noch nicht abzusehen. Dass Arztserien die Erwartungshaltung von<br />
Patienten prägen, gilt inzwischen als unbestritten. Die Kommunikationswissenschaftlerin<br />
Dr. Constanze Rossmann von der Ludwig-Maximilians-<br />
Universität München überlegte, ob sich TV-Serien für die Gesundheitsaufklärung<br />
der Bevölkerung eignen. Sie kam in ihrer Untersuchung zu dem<br />
Schluss: Zuschauer von Lin<strong>den</strong>straßen-Episo<strong>den</strong> (ARD), in <strong>den</strong>en es um die<br />
Prävention von Aids ging, merkten sich mehr Details, wenn sie diese in<br />
unterhaltsamer Weise präsentiert bekamen.<br />
Dr. Dr. Kai Witzel, Chirurg und Kommunikationswissenschaftler in Hünfeld<br />
und unter anderem Mitglied der Ar<strong>bei</strong>tsgruppe Medien der Deutschen Gesellschaft<br />
für Chirurgie, stellte 2008 die Ergebnisse einer Befragung von<br />
162 seiner Patienten vor. Zum einen hatten die Fans von Ärzteserien mehr<br />
Angst vor Operationen, wohl wegen der oft dramatischen Darstellungen.<br />
Zum anderen waren sie unzufrie<strong>den</strong>er mit <strong>den</strong> Visiten, <strong>den</strong>n in der Realität<br />
haben Mediziner am Krankenbett weniger Zeit als ihre Fernsehkollegen.<br />
Zuschauer von Bloch und Dr. Weston könnten möglicherweise also auch<br />
erwarten, dass ihre Therapeuten mehr Zeit für sie haben. Witzel rät, sich<br />
dem Bild der Fernsehärzte in deren guten Eigenschaften anzupassen. Vermutlich<br />
würde das im Fall der Diagnose und Behandlung von depressiven<br />
Patienten so manch ein Behandelnder auch gerne tun. Nur die (honorierte)<br />
Realität sieht anders aus.<br />
15
16<br />
Ein Teil des Teams der Krankenhausabteilung der Hardtwaldklinik II in Bad Zwesten. Von links nach rechts: Dr. Manfred Schäfer,<br />
Ärztlicher Direktor; Petra Janowski-Luedtke, Verwaltungsleiterin; Bettina Lobert-Speck, Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie,<br />
Oberärztin; Christiane Unger, Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie; Doris Kolster, Konzentrative Bewegungstherapeutin;<br />
Veronika Helfferich, Sozialberaterin; Ralf Kadel, Pflegedienstleiter, QB; Sylvia Zimmer, Pflege, Stationsleitung; Gudrun Friedrich,<br />
Pflege; Dr. Karl-Heinz Wenz, Arzt für Allgemeinmedizin; Frank-Werner Schink, Kunst- und Gestaltungstherapeut.<br />
Psychosomatische Versorgung in Nordhessen<br />
Hardtwaldklinik II betreibt<br />
Krankenhausabteilung von Dr. Manfred Schäfer<br />
Sie verfügt über eine mehr als 30-jährige Tradition in der psychosomatischen Rehabilitation:<br />
Die Hardtwaldklinik in Bad Zwesten (Schwalm-Eder-Kreis). Die Fachklinik mit insgesamt<br />
330 Plätzen hat im April 2009 eine Krankenhausabteilung für Psychosomatische Medizin<br />
und Psychotherapie eröffnet – und <strong>bei</strong>m Hessischen Sozialministerium bereits einen Erweiterungsantrag<br />
gestellt. Denn der Bedarf ist da.<br />
Mit 15 vollstationären Behandlungsplätzen ist die<br />
Krankenhausabteilung für Psychosomatische Medizin<br />
und Psychotherapie in <strong>den</strong> Krankenhausplan des Landes<br />
Hessen aufgenommen wor<strong>den</strong>. Diese Entscheidung<br />
des Hessischen Sozialministeriums ist ein wichtiger<br />
Schritt zur Verbesserung der psychosomatischen<br />
Versorgung in Nordhessen, wenngleich sich das ausgewiesene<br />
Bettenkontingent erwartungsgemäß nicht<br />
annähernd als bedarfsdeckend erweist. Deshalb hat<br />
die Klinikleitung <strong>bei</strong>m Sozialministerium einen Erweiterungsantrag<br />
gestellt.<br />
Die Weichen für eine personelle, organisatorische<br />
und bauliche Trennung der Krankenhausabteilung<br />
von der Rehabilitationsabteilung der Klinik wur<strong>den</strong> in<br />
einer intensiven Vorbereitungsphase Anfang 2009<br />
gestellt. Inszwischen sind insgesamt elf neue Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />
in der neuen Abteilung entstan<strong>den</strong>. Das Behandlungsteam<br />
aus langjährig in der Psychosomatischen<br />
Medizin erfahrenen Mitar<strong>bei</strong>terinnen und Mitar<strong>bei</strong>tern<br />
ist multidisziplinär besetzt: So gehören eine<br />
angehende Doppelfachärztin für Psychosomatische<br />
Medizin und Psychotherapie sowie für Psychiatrie als<br />
oberärztliche Leiterin, eine weitere Fachärztin für Psy-<br />
chiatrie und Psychotherapie, ein Facharzt für Psychosomatische<br />
Medizin und Psychotherapie, eine ärztliche<br />
Weiterbildungsassistentin, ein approbierter Diplompsychologe,<br />
eine Bewegungstherapeutin, ein<br />
Kunst- und Gestaltungstherapeut, eine Physiotherapeutin,<br />
eine Sozialberaterin und sechs Krankenschwestern<br />
dazu.<br />
Behandlungskonzept<br />
der Krankenhausabteilung<br />
Das Behandlungskonzept beruht auf einem ganzheitlichen<br />
Krankheitsbegriff und berücksichtigt körperliche,<br />
psychische und soziale Aspekte der Erkrankung.<br />
Psychotherapeutische Behandlungsmaßnahmen stehen<br />
meist im Vordergrund. Die therapeutische<br />
Grundausrichtung ist tiefenpsychologisch. Psychodynamische<br />
Behandlungsansätze wer<strong>den</strong> fallbezogen<br />
erweitert um Techniken der Verhaltenstherapie und<br />
der Traumatherapie.<br />
Um die Behandlungskapazität der neuen Krankenhausabteilung<br />
bevorzugt Menschen aus der Region<br />
Nordhessen zur Verfügung stellen zu können, wurde<br />
auf eine ausgrenzende Spezialisierung der Kranken-
hausabteilung bewusst verzichtet. Bisher sehr positive<br />
Behandlungsergebnisse bestätigen die Binnendifferenzierung<br />
in zwei Behandlungsstränge.<br />
• Konfliktorientiertes Setting für Patienten, die von<br />
niederfrequenter ambulanter Psychotherapie nicht<br />
ausreichend profitieren: Wichtig sind hier, neben<br />
dem Milieuwechsel, die deutliche Intensivierung<br />
der Therapiedichte und vor allem der ambulant in<br />
der Richtlinienpsychotherapie nicht vorgesehene<br />
multimodale Behandlungsansatz, d. h. die sinnvolle<br />
Kombination von Einzel-, Gruppen- und Kreativtherapien.<br />
• Stabilisierendes Setting insbesondere für Patienten<br />
mit akuten Belastungsreaktionen und posttraumatischen<br />
Belastungsstörungen, teilweise auch für<br />
Menschen mit Persönlichkeitsstörungen und Psychosomatosen<br />
im engeren Sinne. Ressourcenorientierte<br />
und stabilisierende Psychotherapie steht<br />
hier im Vordergrund.<br />
Indikation<br />
Eine Krankenhausbehandlung ist indiziert <strong>bei</strong> einer<br />
akuten und schweren psychosomatischen Erkrankung.<br />
Bei chronischen Erkrankungen wird meist eine<br />
psychosomatische Rehabilitation angezeigt sein; jedoch<br />
stellt eine eingetretene oder drohende Dekompensation<br />
im Rahmen eines chronischen Krankheitsgeschehens<br />
ebenfalls eine Indikation für eine Krankenhausbehandlung<br />
dar. Bei Patienten, die eine notwendige<br />
psychotherapeutische Behandlung bislang<br />
aus inneren Barrieren nicht aufnehmen konnten,<br />
kann eine Krankenhausaufnahme zur Förderung eines<br />
psychosomatischen Krankheitsverständnisses sinnvoll<br />
sein.<br />
In Übereinstimmung mit dem vorläufigen Rahmenkonzept<br />
für die Krankenhausbehandlung in dem<br />
Fachgebiet der Psychotherapeutischen Medizin in<br />
Hessen (Stand 09.09.2002) stellen Erkrankungen aus<br />
dem Kapitel F4 ICD-10 (Neurotische, Belastungs- und<br />
somatoforme Störungen) und F5 (Verhaltensauffälligkeiten<br />
mit körperlichen Störungen und Faktoren) die<br />
Behandlungsschwerpunkte dar. Weitere Indikationen,<br />
im Grenzgebiet zum Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie,<br />
sind depressive Episo<strong>den</strong> (F32), rezidivierende<br />
depressive Störungen (F33), anhaltende affektive<br />
Störungen (F34) und spezifische Persönlichkeitsstörungen<br />
(F60). In <strong>den</strong> genannten Grenzbereichen<br />
ist die Indikation insbesondere dann gegeben,<br />
wenn eine Co-Morbidität mit einer Erkrankung aus<br />
dem Bereich der Hauptindikationen vorliegt oder<br />
wenn das Behandlungssetting der psychosomatischen<br />
Krankenhausabteilung eher geeignet scheint, das vorliegende<br />
Krankheitsbild zu bessern. Patienten mit psychotischen<br />
Erkrankungen, Suchterkrankungen, hirnorganischen<br />
Abbauprozessen und akuter Selbstmordgefährdung<br />
können nicht behandelt wer<strong>den</strong>.<br />
Zuweisung und Aufnahmemodalitäten<br />
Eine Krankenhausaufnahme in der Hardtwaldklinik II<br />
kann nicht als Alternative zu einer inhaltlich indizierten<br />
psychosomatischen Rehabilitationsbehandlung<br />
erfolgen, etwa zur Beschleunigung des Verfahrens.<br />
Eine Umwandlung einer Krankenhaus- in eine Rehabilitationsbehandlung<br />
ist in der Regel nicht möglich,<br />
da Anschlussheilbehandlungen im Indikationsgebiet<br />
Psychosomatische Medizin bislang nicht vorgesehen<br />
sind.<br />
Die Aufnahme geschieht auf der Basis einer fachärztlichen<br />
Krankenhauseinweisung aus <strong>den</strong> Gebieten<br />
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie oder<br />
Psychiatrie und Psychotherapie. Einweisen können<br />
auch Kollegen anderer Fachrichtungen mit dem Zusatztitel<br />
Psychotherapie. Eine sehr kurz gehaltene<br />
ärztliche bzw. psychologische Stellungnahme zur<br />
Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung kann<br />
die Aufnahme unterstützen. Zudem erbitten wir im<br />
Vorfeld um die Bear<strong>bei</strong>tung eines Patientenfragebogens,<br />
der im Internet hinterlegt<br />
ist oder schriftlich angefordert<br />
wer<strong>den</strong> kann. Nach Eingang aller<br />
Unterlagen wird ein Aufnahmetermin<br />
vergeben und ggf.<br />
ein Vorgespräch zur Motivationsüberprüfung<br />
oder zum Abbau<br />
möglicher Schwellenängste<br />
vereinbart. Aufgrund der begrenzten<br />
Bettenkapazität sind<br />
Wartezeiten leider unvermeidbar,<br />
auch Absagen müssen erteilt<br />
wer<strong>den</strong>.<br />
Nachsorge<br />
meanträgen in Form telefonischer Beratung<br />
an. Formulierungshilfen sind auch<br />
in schriftlicher Form hinterlegt und kön-<br />
Für Patienten, deren nahtlose nen angefordert wer<strong>den</strong>. Bei Schwierig-<br />
ambulante psychotherapeutikeiten mit einer Privatkrankenversichesche<br />
Weiterbehandlung nicht rung oder Beihilfestelle bietet die Klinik<br />
gesichert ist, bietet die Klinik zudem ein ambulantes Vorgespräch und<br />
eine poststationäre Nachsorge die Erstellung eines ausführlichen Kosten-<br />
an. Da die Klinik nicht über eine<br />
Ambulanz verfügt und nicht in<br />
übernahmeantrages an.<br />
Konkurrenz zum ambulanten Versorgungssektor treten<br />
möchte, ist die Teilnahme an der Nachsorgegruppe<br />
auf drei Monate begrenzt.<br />
KONTAKT<br />
Hardtwaldklinik II<br />
Fachklinik für psychogene Erkrankungen<br />
Werner Wicker KG<br />
Hardtstraße 32<br />
34596 Bad Zwesten<br />
Tel.: 05626 - 88 17 03<br />
Fax: 05626 - 88 18 33<br />
E-Mail: finger@hwk2.de<br />
www.hardtwaldklinik2.de<br />
Unterstützung <strong>bei</strong><br />
Kostenübernahme-Anträgen<br />
Für privat Krankenversicherte gestaltet<br />
sich der Zugang zu einer fachlich indizierten<br />
stationären psychotherapeutischen<br />
Behandlung immer schwieriger.<br />
Ausufernde Anforderungen an Kostenübernahmeanträge<br />
schrecken niedergelassene<br />
Kollegen oft ab, einen Antrag zu<br />
stellen. Die Hardtwaldklinik II bietet deshalb<br />
Unterstützung <strong>bei</strong> Kostenübernah-<br />
17
18<br />
Die DOXS<br />
in der Region<br />
Die wohnortnahe ambulante medizinische<br />
und psychotherapeutische<br />
Versorgung der Bevölkerung in Nordhessen<br />
aktiv mitzugestalten ist eines<br />
der zentralen Ziele der Ärzte- und Psychotherapeutengenossenschaft<br />
DOXS<br />
eG. Ein weiteres Ziel: Die Genossenschaft<br />
will die freiberufliche und wirtschaftliche<br />
Existenz niedergelassener<br />
Ärzte und Psychotherapeuten stärken<br />
– und sich da<strong>bei</strong> konsequent an <strong>den</strong><br />
Interessen der Patienten orientieren.<br />
Beides hatten sich die Initiatoren der<br />
DOXS eG von Anfang an auf die Fahnen<br />
geschrieben. Es waren Vertreter<br />
14 verschie<strong>den</strong>er, bis dahin teilweise<br />
auch konkurrierender lokaler Ärztenetze<br />
aus allen Teilen Nordhessens,<br />
die die DOXS-Gründung im November<br />
2007 vorbereitet hatten. Bis heute<br />
stammen die aktuell rund 500 Mitglieder<br />
aus der gesamten Region. Grund<br />
genug für das DOXS-<strong>Magazin</strong>, einen<br />
Blick über <strong>den</strong> Tellerrand zu werfen:<br />
Wir stellen die Landkreise, aus <strong>den</strong>en<br />
DOXS-Mitglieder stammen, nach und<br />
nach vor – und das nicht nur mit Blick<br />
auf die Gesundheitspolitik.<br />
Teil 2: Der Schwalm-Eder-Kreis.<br />
Von Ralf Pasch<br />
<strong>Magazin</strong> <strong>Magazin</strong> Winter Frühjahr 2009 2<strong>01</strong>0<br />
Abschied von<br />
Im Schwalm-Eder-Kreis kämpfen<br />
Kommunen vereint gegen <strong>den</strong><br />
demografischen Wandel<br />
Über einen „großen Sprung im EU-Standortranking“ freute<br />
sich kürzlich der Landrat des Schwalm-Eder-Kreises, Frank-<br />
Martin Neupärtl (SPD). Die EU hatte die Entwicklungschancen von<br />
1.000 Region untersucht, der nordhessische Kreis, der im Jahre<br />
2007 noch auf Platz 532 lag, rückte auf Rang 460 vor. Bis an die<br />
Spitze ist es noch ein weiter Weg. Doch offenbar hat die Region<br />
Potenziale. Immerhin zählt sie in Hessen zu <strong>den</strong> Kreisen mit der<br />
niedrigsten Verschuldung und die Ar<strong>bei</strong>tslosenquote lag im Januar<br />
<strong>bei</strong> 6,6 Prozent, während sie im gesamten Bundesland sieben Prozent<br />
betrug.<br />
Allerdings steht der Kreis auch vor diversen Herausforderungen.<br />
Wenn nicht schnell etwas getan wird, nimmt die Bevölkerung in<br />
<strong>den</strong> nächsten Jahren rapide ab: aktuellen Schätzungen zufolge bis<br />
2030 um 12 Prozent, bis 2050 gar um 27 Prozent. In „schrumpfen<strong>den</strong><br />
Regionen“ leben nicht nur immer weniger Menschen, sondern<br />
auch immer mehr ältere. Bis 2025, so die Prophezeiung, werde<br />
der Anteil der Menschen im Landkreis, die älter als 65 sind, auf<br />
fast 30 Prozent wachsen.<br />
Landrat Neupärtl und seine Mitar<strong>bei</strong>ter in der Homberger Kreisverwaltung<br />
haben inzwischen eingesehen, dass es nicht genügt,<br />
<strong>den</strong> demografischen Wandel zu beklagen. Eine Leitstelle „Älter<br />
wer<strong>den</strong>“ soll eingerichtet wer<strong>den</strong>, die Dezernate wollen ressortübergreifend<br />
zusammenar<strong>bei</strong>ten, in einem „Leerstandskataster“<br />
will die Bauaufsicht die Gebäude und Grundstücke erfassen, um<br />
gezielt nach einer neuen Nutzung zu suchen.<br />
Gemeinsame Gewerbegebiete<br />
Viele Kommunen im Kreis scheinen schon einen Schritt weiter zu<br />
sein: Immerhin 18 der 27 Städte und Gemein<strong>den</strong> pflegen eine<br />
rege „interkommunale Kooperation“. Felsberg, Melsungen, Spangenberg,<br />
Malsfeld und Morschen setzten sich schon Ende der<br />
90er Jahre an einen Tisch, um gemeinsam das Gewerbegebiet<br />
Mittleres Fuldatal direkt an der Autobahn A 7 zu planen und auszuweisen.<br />
Die Flächen gehören Malsfeld, die anderen Mitglieder<br />
im Verband beteiligten sich entsprechend ihrer Einwohnerzahl an<br />
<strong>den</strong> Erschließungskosten und <strong>den</strong> übrigen Ausgaben. Im Gegenzug<br />
profitieren sie von <strong>den</strong> Gewerbesteuern, die die sich ansiedeln<strong>den</strong><br />
Unternehmen zahlen. Die anfangs vorgesehenen 24 Hektar<br />
sind nach <strong>den</strong> Angaben von Geschäftsführer Klaus Stiegel verkauft<br />
und belegt, inzwischen sei eine Verdopplung der Fläche genehmigt.<br />
Stiegel spricht dann auch von einer „Erfolgsgeschichte“.<br />
Die vier Kommunen beließen es nicht <strong>bei</strong> einem gemeinsamen<br />
Gewerbegebiet und schlossen sich zu einem Zweckverband zusammen,<br />
was Schule machte, <strong>den</strong>n inzwischen gibt es drei weitere<br />
solcher Bündnisse im Kreis.
der Kirchturmpolitik<br />
Auch andere Zweckverbände seien entstan<strong>den</strong>, weil<br />
<strong>den</strong> beteiligten Kommunen klar wurde, dass es leichter<br />
ist, Gewerbegebiete gemeinsam statt in Konkurrenz<br />
zueinander zu entwickeln, so der Leiter des Amtes<br />
für Wirtschaftsförderung in der Kreisverwaltung,<br />
Hans-Georg Korell. Inzwischen kümmern sich diese<br />
Verbände aber auch um andere Themen, laut Korell<br />
sind zum Beispiel alle vier in das hessische Stadtumbau-Programm<br />
aufgenommen wor<strong>den</strong> – ebenfalls<br />
ein Versuch, <strong>den</strong> demografischen Wandel in <strong>den</strong> Griff<br />
zu bekommen. Bis 2<strong>01</strong>3 fördern das Land Hessen<br />
und der Bund unter dem Motto „Stadtentwicklung<br />
ohne Wachstum“ Konzepte und Projekte, die die<br />
Schrumpfung zwar nicht aufhalten, aber deren Folgen<br />
mildern könnten. Städte und Gemein<strong>den</strong> müssen<br />
sich Gedanken darüber machen, was sie mit leer<br />
stehen<strong>den</strong> Gebäu<strong>den</strong> tun oder wie sie für immer weniger<br />
und immer mehr ältere Einwohner ihre Infrastruktur<br />
in Gang halten.<br />
Vorreiter <strong>bei</strong>m Stadtumbau:<br />
Zweckverband Schwalm-Eder-West<br />
Vorreiter <strong>bei</strong>m Stadtumbau – nicht nur in Hessen,<br />
sondern bundesweit – war der Zweckverband<br />
Schwalm-Eder-West, in dem sich 2003 Bad Zwesten,<br />
Borken, Jesberg, Neuental und Wabern zusammenschlossen.<br />
Die Region hatte mit dem Strukturwandel<br />
bereits Erfahrungen, musste sie doch Ende der 80er<br />
Jahre nach dem Zusammenbruch des Braunkohlebergbaus<br />
in Borken neue Wege gehen.<br />
Dass Problem schrumpfender Städte schien im Westen<br />
zunächst nicht zu existieren. Deshalb gab es lediglich<br />
<strong>den</strong> „Stadtumbau Ost“. Mit Fördergeldern<br />
des Bundes und der Länder wur<strong>den</strong> in <strong>den</strong> neuen<br />
Bundesländern unter anderem leer stehende Plattenbausiedlungen<br />
abgerissen oder umgebaut. Dann<br />
meldeten auch die alten Bundesländer Bedarf an, sodass<br />
ein Programm „Stadtumbau West“ aufgelegt<br />
wurde. Die Region Schwalm-Eder-West gehörte zu<br />
<strong>den</strong> 16 Pilotprojekten. Mit fünf Millionen Euro wur<strong>den</strong><br />
in <strong>den</strong> Mitgliedskommunen diverse Projekte realisiert<br />
oder zumindest angeschoben.<br />
Zum Beispiel ging es um die 38 Dorfgemeinschaftshäuser<br />
im Zweckverband. Ausgaben und Einnahmen<br />
stan<strong>den</strong> nicht mehr im Verhältnis, weil einige Häuser<br />
kaum noch genutzt wur<strong>den</strong>. Und so wur<strong>den</strong> in<br />
Großenenglis, einem Ortsteil von Borken, ungenutzte<br />
Teile des Dorfgemeinschaftshauses abgerissen, in<br />
Neuental-Bischausen übernahmen die Vereine die<br />
Nutzung des kommunalen Gebäudes. Ein anderes<br />
„Impulsprojekt“ war eine Datenbank für leer stehende<br />
Bauten und Flächen. Der Zweckverband stimmt<br />
inzwischen mit <strong>den</strong> Eigentümern ab, wie leer stehende<br />
Immobilien genutzt wer<strong>den</strong> können, und übernimmt<br />
die Vermarktung.<br />
Masterplan für die kommen<strong>den</strong> Jahre<br />
2007 war das Stadtumbau-Programm in <strong>den</strong> Schwalm-<br />
Eder-West-Kommunen beendet, doch viele Projekte<br />
mussten noch realisiert oder weiterentwickelt wer<strong>den</strong>.<br />
Deshalb wurde ein Masterplan mit Ideen und<br />
Konzepten aufgestellt, die in <strong>den</strong> nächsten Jahren realisiert<br />
wer<strong>den</strong> sollen. So haben die Kommunen ambitionierte<br />
Pläne in Sachen Tourismus: Flüsse und die<br />
Restlöcher des ehemaligen Braunkohlebergbaus sollen<br />
als Bestandteile einer „WasserWelt Schwalm Eder<br />
West“ Touristen anlocken. In Sachen Frem<strong>den</strong>verkehr<br />
und Wasser schauen die Zweckverbands-Kommunen<br />
inzwischen über <strong>den</strong> Tellerrand und ar<strong>bei</strong>ten in der<br />
Foto: Touristik Service Kurhessisches Bergland<br />
Besuch im Dom<br />
Fritzlar ist zwar kein Bischofssitz, trotzdem hat die Stadt einen Dom.<br />
Die Kirche neben dem Kloster, das heute noch einen Mönchsor<strong>den</strong><br />
beherbergt, verdient diese Bezeichnung nicht nur wegen der beeindrucken<strong>den</strong><br />
Architektur, sondern auch wegen ihrer historischen Bedeutung:<br />
Dort fan<strong>den</strong> Syno<strong>den</strong> und Reichtage statt, auf <strong>den</strong>en außer<br />
kirchlichen auch politische Entscheidungen getroffen wur<strong>den</strong>. Im Jahre<br />
2004 kürte Johannes Paul II. das Bauwerk zur Päpstlichen Basilika.<br />
Das Dommuseum bewahrt unter anderem Gemälde, Skulpturen und<br />
liturgische Geräte auf, außerdem gibt es einen Klosterla<strong>den</strong>.<br />
Informationen: www.basilika-dom-fritzlar.de<br />
<strong>Magazin</strong> Winter 2009 19
SCHWALM-EDER-KREIS<br />
In <strong>den</strong> 27 Kommunen des Kreises leben rund 188.000 Einwohner<br />
auf einer Fläche von etwa 1.500 Quadratkilometern. Gegenwärtig<br />
gibt es im Landkreis vier Zweckverbände, in <strong>den</strong>en Kommunen koope<br />
rieren:<br />
• Mittleres Fuldatal mit Felsberg, Melsungen,<br />
Spangenberg, Malsfeld, Morschen<br />
• Schwalm-Eder West mit Bad Zwesten, Borken,<br />
Jesberg, Neuental, Wabern<br />
• Mitte mit Homberg, Knüllwald, Schwarzenborn<br />
• Schwalm mit Frielendorf, Gilserberg, Schrecksbach,<br />
Schwalmstadt, Willingshausen<br />
Die Zahl der niedergelassenen Ärzte im Schwalm-Eder-Kreis ist von<br />
218 im Jahr 2005 auf 199 im Februar dieses Jahres gesunken. Rund<br />
1.000 Betten bieten die Asklepios-Kliniken in Melsungen, Homberg<br />
und Schwalmstadt, das von der katholischen Kirche betriebene Heilig<br />
Geist Hospital in Fritzlar, die Hephata Kliniken in Schwalmstadt<br />
und die Hardtwaldkliniken der Wicker-Gruppe in Bad Zwesten.<br />
Touristischen Ar<strong>bei</strong>tsgemeinschaft Erlebnisregion<br />
Edersee auch mit anderen Orten zusammen. Die Brücke<br />
zum benachbarten Zweckverband Schwalm wird<br />
in der LEADER-Region Schwalm Aue geschlagen. Mit<br />
dem LEADER-Programm fördert die EU „benachteiligte<br />
Regionen“ in ländlichen Gebieten. Brüssel stellt<br />
20 <strong>Magazin</strong> Winter 2009<br />
20<br />
Foto: Stefan Pollmächer<br />
Alte Pfarrei Niederurff, ArtGarten und Landrosinen<br />
In der Alten Pfarrei aus dem Jahr 1445 organisieren Dr. Stefan Pollmächer<br />
und seine Frau Dr. Alexandra Urbas seit 1997 Ausstellungen mit internationalen<br />
und heimischen Künstlern, Musikveranstaltungen, Diavorträge<br />
oder Thea terabende. Regelmäßig findet der „Niederurffer Salon“ mit Vorträgen<br />
zu Themen aus Politik, Kultur und Wissenschaft statt.<br />
Wer <strong>den</strong> Weg nach Niederurff gefun<strong>den</strong> hat, sollte auch <strong>den</strong> ArtGarten<br />
besuchen, <strong>den</strong> Dr. Pollmächer mit Unterstützung der Gemeinde Bad<br />
Zwesten betreibt. Der Artgarten lädt Künstler zu Workshops ein und<br />
Anfänger und Fortgeschrittene zu Steinbildhauerkursen.<br />
Nicht zuletzt lohnt sich ein Blick in <strong>den</strong> Veranstaltungskalender der<br />
„Landrosinen“, das Kulturnetzwerk Schwalm-Eder. Künst lerinnen und<br />
Künstler, Kulturinitiativen, Theater- und Musikgruppen haben sich zu<br />
diesem Netzwerk zusammengeschlossen und bieten ein vielfältiges<br />
Spektrum von Ausstellungen, Konzerten, Theater- und Kabarett-Aben<strong>den</strong>,<br />
Vorträgen und Lesungen.<br />
Informationen: www.alte-pfarrei-niederurff.de,<br />
www.art-garten.de, www.landrosinen.de<br />
<strong>den</strong> Kommunen an der Schwalm bis 2<strong>01</strong>3 rund 1,6<br />
Millionen Euro zur Verfügung. Mit diesen Geldern soll<br />
unter anderem der Schwalm-Radweg finanziert wer<strong>den</strong>,<br />
ein Projekt, an dem sich elf Kommunen beteiligen,<br />
die auch aus dem benachbarten Vogelsbergkreis<br />
kommen.<br />
Der Borkener Bürgermeister und Vorsitzende des<br />
Zweckverbandes Schwalm Eder West, Bernd Heßler,<br />
stellt selbstbewusst fest, „dass wir die interkommunale<br />
Kooperation erfun<strong>den</strong> haben“. Zwar war sein Verband<br />
nicht der erste, doch so umfassend und intensiv<br />
wie in seiner Region sei die Zusammenar<strong>bei</strong>t zunächst<br />
nirgendwo gewesen. Für Heßler steht fest, „dass es<br />
künftig nur noch so funktionieren wird“. Mit Blick auf<br />
die leeren Kassen und die immer schlechter wer<strong>den</strong>de<br />
Finanzlage der Kommunen sei eine solche Zusammenar<strong>bei</strong>t<br />
regelrecht zwingend.<br />
Die Schwalm Eder-West Kommunen betreiben auch<br />
in wirtschaftlichen Fragen keine Kirchturmpolitik<br />
mehr. Der Verband mietete für ein gemeinsames Existenzgründerzentrum<br />
<strong>bei</strong> einem Borkener Logistikunternehmen<br />
1.500 Quadratmeter an, die er zu günstigen<br />
Konditionen an Gründer vermietet. Von <strong>den</strong> fünf<br />
Mietern, die nach dem Aufbau des Zentrums dort<br />
ihre Zelte aufschlugen, stehen inzwischen drei auf eigenen<br />
Beinen.<br />
Investoren stehen hier nicht Schlange<br />
Doch nicht in allen Fragen herrscht in der Region<br />
Schwalm-Eder-West Einigkeit. Das hehre Ziel, ein interkommunales<br />
Gewerbegebiet einzurichten, kam<br />
bisher über erste Schritte nicht hinaus. In Wabern<br />
fand sich zwar eine geeignete Fläche, doch bisher<br />
konnten sich die Kommunen im Verband nicht darauf<br />
einigen, welche Unternehmen sich dort ansiedeln<br />
können, eher kleinere oder auch große, zum Beispiel<br />
aus der Logistikbranche. Doch eine große Auswahl<br />
haben die Kommunen nicht, „die Investoren stehen<br />
hier nicht Schlange“, sagt Borkens Bürgermeister
Foto: Touristik Service Kurhessisches Bergland<br />
Bergbaugeschichte erleben<br />
Der Braunkohlebergbau hat Borken und seine Umgebung<br />
geprägt, die Restlöcher des Tagebaus sind ein<br />
anschauliches Beispiel. Die Geschichte dieser Branche,<br />
deren Tradition in Hessen etwa 400 Jahre zurückreicht,<br />
wird im Borkener Braunkohlebergbaumuseum<br />
dokumentiert. In der Stadt endete der Abbau<br />
des Bo<strong>den</strong>schatzes nach einem Grubenunglück<br />
im Jahre 1988. Das Museum ist auf mehrere Standorte<br />
verteilt, sein Herzstück ist ein über drei Hektar großer<br />
Themenpark mit Schaufelradbaggern, Lokomotiven<br />
und einem Miniaturkraftwerk. Ein Naturschutzzentrum<br />
informiert über die artenreiche Flora und<br />
Fauna, die sich an <strong>den</strong> Tagebauseen entwickelt.<br />
Informationen:<br />
www.braunkohle-bergbaumuseum.de<br />
Heßler. Potente Unternehmen wie der Medizinproduktehersteller<br />
B. Braun, nach wie vor größter Ar<strong>bei</strong>tgeber<br />
im Schwalm-Eder-Kreis, sind rar. Auch für die<br />
derzeit in der Region ansässigen Unternehmen könnte<br />
der demografische Wandel zum Problem wer<strong>den</strong>,<br />
weil ihnen damit ein Mangel an Fachkräften droht.<br />
Qualifizierte junge Leuten zieht es immer stärker in<br />
die Ballungszentren.<br />
Die medizinische Versorgung<br />
sicherzustellen wird schwieriger<br />
Damit geht ein weiteres „Zukunftsproblem“, wie es<br />
Landrat Neupärtl nennt, einher: Vor allem in <strong>den</strong> kleineren<br />
Gemein<strong>den</strong> wird es zunehmend schwieriger,<br />
die medizinische Versorgung sicherzustellen. Anfang<br />
Februar gab es nach <strong>den</strong> Angaben der Kassenärztli-<br />
chen Vereinigung Hessen im Schwalm-Eder-Kreis 199<br />
niedergelassene Ärzte. Vor fünf Jahren waren es zum<br />
selben Zeitpunkt 218. „Diese Entwicklung zeigt, dass<br />
es immer schwieriger wird, frei wer<strong>den</strong>de Praxissitze<br />
wieder zu besetzen“, so KV-Sprecherin Silvia Herzinger.<br />
„Der Abmarsch in die Zentren“ sei auch <strong>bei</strong> <strong>den</strong><br />
Ärzten zu beobachten. Allerdings will sie im Schwalm-<br />
Eder-Kreis nicht von einer Unterversorgung sprechen.<br />
Das Problem scheint erst allmählich zu<br />
wachsen: „Einen erheblichen Mangel“<br />
sieht DOXS-Mitglied Dr. Meinhard Rudolff,<br />
der mit einer Kollegin eine Praxis in<br />
Felsberg betreibt, in <strong>den</strong> nächsten fünf<br />
bis zehn Jahren auf die Region zukommen.<br />
Er beobachtet, dass viele Landärzte<br />
nach und nach das Alter erreichen, in<br />
dem sie sich zur Ruhe setzen. Nachfolger<br />
Dr. Meinhard Rudolff, Arzt in<br />
zu fin<strong>den</strong>, sei schwierig. Rudolff bekommt Felsberg und DOXS-Mitglied<br />
<strong>den</strong> Mangel schon zu spüren, <strong>den</strong>n er<br />
sucht für eine aufgekaufte Nachbarpraxis bisher vergeblich<br />
einen Kollegen.<br />
Bevor ein junger Arzt in eine Landpraxis einsteigt,<br />
stellt er meist die Frage, wie oft er Bereitschaftsdienste<br />
leisten muss. Anders als in Städten mit Kliniken, die<br />
auch im Schwalm-Eder-Kreis Notdienstzentralen eingerichtet<br />
haben, vertreten sich Ärzte im ländlichen<br />
Raum üblicherweise gegenseitig. Und so muss auch<br />
Rudolff durchschnittlich ein Mal im Monat ein ganzes<br />
Wochenende dafür einplanen. Diese „kollegiale<br />
Dienstregelung“ wird darüber hinaus auch an Wochentagen<br />
praktiziert. Um die hohe Belastung zu reduzieren,<br />
sind Gespräche mit angrenzen<strong>den</strong> Notdienstbezirken<br />
in der Umgebung im Gange. Außer<br />
der mangeln<strong>den</strong> Bereitschaft junger Ärzte, <strong>den</strong> Schritt<br />
aufs Land zu wagen, sieht Rudolff jedoch noch ein anderes<br />
Problem: „Die bürokratischen Hür<strong>den</strong> sind sehr<br />
hoch, fehlt einem Kollegen auch nur eine Teilqualifikation,<br />
wird er nicht für eine Praxis zugelassen“.<br />
Auch sein Kollege Dr. Ulrich Herzberger,<br />
der gemeinsam mit seiner Frau in Felsberg<br />
eine Praxis betreibt, sieht <strong>den</strong> Mangel an<br />
Nachwuchs als Hauptproblem der Zukunft.<br />
Das betrifft ihn ganz persönlich: Der 60-<br />
Jährige muss sich in absehbarer Zeit über<br />
die Nachfolge Gedanken machen. Zwar<br />
hat er einen Sohn, der ebenfalls Mediziner<br />
wurde. Doch der ar<strong>bei</strong>tet gegenwärtig in<br />
Dr. Ulrich Herzberger, Arzt in<br />
einer Klinik und „überlegt sich gut, ob er<br />
Felsberg und DOXS-Mitglied<br />
hierher kommt“, weiß der Vater. Aus seiner<br />
Sicht ist ein Hinderungsgrund für <strong>den</strong> Nachwuchs die<br />
derzeit offene Frage, wie sich das deutsche Gesundheitswesen<br />
weiterentwickelt. Er befürchtet, dass sich<br />
die niedergelassenen Praxen künftig immer stärker<br />
großen Klinikketten unterordnen müssen und die<br />
Ärzte damit ihre Freiberuflichkeit einbüßen.<br />
21
22<br />
Durchschnittliche A/H1N1-Mortalität nach Wintersaison<br />
(Stand 13.2.2<strong>01</strong>0) Quelle: Wikipedia<br />
Land Einwohner A/H1N1- Tote pro<br />
Tote 100.000 Einw.<br />
Argentinien 39.400.000 617 1,566<br />
USA 308.241.000 3.127 1,<strong>01</strong>4<br />
Mexiko 109.960.000 1.006 0,915<br />
Chile 16.763.470 150 0,895<br />
Australien 21.360.000 191 0,894<br />
Brasilien 195.100.000 1.632 0,836<br />
England 50.431.700 411 0,815<br />
Neuseeland 4.143.279 20 0,483<br />
Frankreich 65.073.482 303 0,466<br />
Ukraine 45.994.287 213 0,463<br />
Österreich 8.376.761 24 0,287<br />
Schwe<strong>den</strong> 9.269.986 26 0,280<br />
Deutschland 81.882.342 216 0,263<br />
Deutschland RKI 81.882.342 8.200 10,000<br />
„Exzess“ 1995-2006 (82 bis 31.160) (0,1 bis 38)<br />
(Was)<br />
lernen<br />
wir von der<br />
„Schweinegrippe-<br />
Pandemie“?<br />
Die Influenza-Barometer sind wieder fast auf null gesunken; wahrscheinlich<br />
ist die „Neue Influenza“ für diese Saison vor<strong>bei</strong>. Jetzt ist es Zeit, ein<br />
Resumee zu ziehen.<br />
Von Dr. Uwe Popert<br />
Die „Schweinegrippe“-Infektion ist zumeist unbemerkt oder völlig harmlos verlaufen – fast<br />
die Hälfte der Kinder weisen Antikörpertiter1 auf. Statt der von einem BILD-„Experten“ vorhergesagten<br />
„mindestens 35.000 Toten“ hat es in Deutschland nur 216 nachgewiesene<br />
Influenza A-H1N1-Todesfälle gegeben. Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich<br />
von vorrangig mit „Weißen“ bevölkerten Ländern extrem niedrig (siehe Tabelle).<br />
Das „german miracle“ ist noch nicht entschlüsselt.<br />
Kann die niedrige Sterberate in<br />
Deutschland an der A-H1N1-Impfung liegen?<br />
Nein. Weniger als 7 % der Bevölkerung wur<strong>den</strong> geimpft;<br />
<strong>bei</strong> angenommenem idealen 100%-igem Impfschutz wäre<br />
die Sterberate ohne Impfung um 7 % höher gewesen –<br />
weiterhin ein sensationell niedriger Wert.<br />
Wie ist die Influenza-Sterblichkeit<br />
im Vergleich zu <strong>den</strong> Vorjahren?<br />
Die Influenza-Todesfälle der letzten Jahre wur<strong>den</strong> nicht so<br />
häufig untersucht, sondern vom RKI mit einer zweifelhaften<br />
Methode hochgerechnet 2 ; da<strong>bei</strong> ergaben sich zwischen<br />
1995 bis 2006 Deutschland durchschnittlich 8.200<br />
(82 bis 31.160) Tote/Jahr. Experten schätzen, dass diese<br />
Zahlen absichtlich um <strong>den</strong> Faktor 10 (!) übertrieben dargestellt<br />
wur<strong>den</strong>, um <strong>den</strong> Absatz der Influenza-Impfung zu<br />
fördern 3 . Aber selbst wenn man das berücksichtigt, ist die<br />
Sterblichkeit immer noch um <strong>den</strong> Faktor 4 niedriger als im<br />
RKI-Vorjahresdurchschnitt (siehe Tabelle).
Warum sind weniger Senioren an Influenza gestorben als sonst?<br />
Man nimmt an, dass diese durch vorherige Infektionen oder Impfungen mit A-H1N1 gut geschützt<br />
waren 4 . (Allerdings wiesen nur maximal 30 % Antikörpertiter auf. Es ist also anzunehmen,<br />
dass der Schutz durch die zelluläre Abwehr (T-Lymphozyten) eine mindestens ebenso<br />
wichtige Rolle spielt. Das macht die Aussagekraft von Serumtitern zur Kontrolle von Impferfolg<br />
und Ansteckungen fraglich.)<br />
Wie gut hilft Oseltamivir (Tamiflu®)?<br />
Nach ersten Studienergebnissen wurde behauptet, Oseltamivir (Tamiflu®) bewirke im Durchschnitt<br />
eine Krankheitsverkürzung um 0,5 bis 1 Tag und könne vor Komplikationen schützen.<br />
Allerdings wird die Aussagekraft der – meist firmengesponserten – Studien inzwischen bezweifelt.<br />
Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA sieht derzeit keine Belege mehr für einen<br />
Schutz vor Grippekomplikationen durch Oseltamivir – weder für Gesunde noch für chronisch<br />
Kranke 5 .<br />
Schadet die H1N1-Impfung?<br />
Die Einführung der Pandemrix®-Massenimpfung wurde leider nicht mit einer systematischen<br />
Studie zur Erfassung von Nebenwirkungen begleitet. Zur Häufigkeit von leichten und mittelschweren<br />
Nebenwirkungen lässt sich deswegen derzeit nichts Sicheres sagen. Im zeitlichen<br />
Zusammenhang traten <strong>bei</strong> Geimpften in Deutschland 48 Todesfälle auf; das PEI teilte mit, dass<br />
bisher nur in der Hälfte der Fälle eine andere Todesursache gefun<strong>den</strong> wer<strong>den</strong> konnte 6 .<br />
Nützt die H1N1-Impfung?<br />
Zu einem tatsächlichen Schutzeffekt durch eine A-H1N1-Impfstoff gibt es bisher weltweit keine<br />
veröffentlichten Studienergebnisse. Ein Effekt wird lediglich durch <strong>den</strong> meist nachweisbaren<br />
Antikörper-Anstieg postuliert.<br />
Abschätzung eines möglichen Nutzens: Bei 82 Millionen Deutschen sind bisher 216 Todesfälle<br />
durch A-H1N1 nachgewiesen wor<strong>den</strong>. Bei Annahme eines 100%-igen Impfschutzes müssten<br />
also 379.000 Personen geimpft wer<strong>den</strong>, um einen Todesfall zu verhüten.<br />
Andererseits sind von <strong>den</strong> 4,6 Millionen Geimpften möglicherweise etwa 20 an Impffolgen<br />
verstorben. Es ist also <strong>bei</strong> der Impfung von 230.000 Personen ein zusätzlicher Todesfall zu<br />
befürchten – der mögliche Scha<strong>den</strong> ist also fast doppelt so hoch wie die erhoffte (aber bisher<br />
noch nie real nachgewiesene) Schutzwirkung.<br />
Fazit:<br />
Die derzeitigen Erkenntnisse sollten eine Reihe von Diskussionen, Um<strong>den</strong>kprozesse und Korrekturen<br />
in Gang setzen. Insbesondere folgende Fragen stellen sich:<br />
• Hat sich die Aufweichung der WHO-Definition für eine „Pandemie“ (Infektiös statt Infektiös<br />
+ letal) wirklich bewährt? (Isolationsmaßnahen wur<strong>den</strong> nirgendwo wirksam durchgehalten;<br />
Impfungen spielten weltweit keine entschei<strong>den</strong>de Rolle.)<br />
• Wieso wur<strong>den</strong> bisher keine aussagekräftigen Studien zu dem wahrscheinlich meistverkauften<br />
Grippe-Impfstoff der Welt (Pandemrix®) veröffentlicht?<br />
• Wie kann man verhindern, dass die Bundesländer/der deutsche Steuerzahler wieder von<br />
der Pharmaindustrie so über <strong>den</strong> Tisch gezogen wer<strong>den</strong>? (Stichwort: je Impfdosis 1 € für<br />
die Wirksubstanz, aber 6 € für ein umstrittenes Adjuvans.)<br />
• Kann man die Pandemrix®-Impfung derzeit noch guten Gewissens empfehlen?<br />
• Können wir uns weiterhin einen Kreis von Politik-Beratern/eine Ständige Impfkommission<br />
(STIKO) leisten, die zu einem großen Teil pharmaabhängig sind/ist?<br />
1 www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS<strong>01</strong>40-6736%2809%2962126-7/<br />
fulltext#article_upsell<br />
2 www.rki.de; epidemiolog. Bulletin 35_07; Influenza-assoziierte Mortalität in Deutschland 1985–2006<br />
3 www.wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument.html?id=66133688&top=SPIEGEL<br />
4 www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/infektionskrankheiten/schweinegrippe/<br />
article/585281/schweinegrippe-jedes-dritte-kind-h1n1-virus-traeger.html?sh=1&h=-1365123692<br />
5 www.arznei-telegramm.de/abo/b091222.php3?&knr=028790/303178<br />
6 Ärzte Zeitung online, 28.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>0<br />
Dr. med. Uwe Popert<br />
ist seit 20 Jahren als Arzt für Allgemeinmedizin<br />
in Kassel niedergelassen.<br />
Er ist Gründungsmitglied der<br />
Ärzte- und Psychotherapeutengenossenschaft<br />
DOXS eG, 1. Vorsitzender<br />
des „Gesundheitsnetz Nordhessen<br />
e. V.“ und Lehrbeauftragter<br />
an der Abteilung für Allgemeinmedizin<br />
der Universität Göttingen. Außerdem<br />
ist er als Beauftragter des<br />
KV-Bezirksausschusses beratend für<br />
die Organisation der Bereitschaftsdienste<br />
zuständig – und damit auch<br />
für die Koordination <strong>bei</strong> Pandemiefällen.<br />
23
24<br />
Flussdiagramme in der Praxis<br />
Für die Bewältigung neuer Routineaufgaben kann es sich lohnen, Flussdiagramme zu erstellen, um sich über<br />
die beste Verfahrensweise zu verständigen und diese jederzeit abrufbar zu haben. Gerade <strong>bei</strong> der zunehmen<strong>den</strong><br />
Vernetzung von Praxen wird dies in Zukunft immer wichtiger wer<strong>den</strong>. Dr. Uwe Popert hat (ohne Gewähr<br />
für Richtigkeit und Vollständigkeit) einen Ablauf <strong>bei</strong> Influenza-Verdacht entworfen. Das entsprechende Flussdiagramm<br />
hat der Arzt für Allgemeinmedizin dem DOXS-<strong>Magazin</strong> zum Abdruck zur Verfügung gestellt.<br />
Neue Influenza A (H1N1 09)<br />
Empfehlungen zu Diagnostik und Therapie<br />
(Stand 10.02.2<strong>01</strong>0)<br />
Dieses Flussdiagramm gilt unter folgen<strong>den</strong> Bedingungen:<br />
• Influenza H1N1-Pandemie<br />
• hohe Infektionsrate<br />
• > 99,9 % harmloser Verlauf <strong>bei</strong> Nicht-Risikopersonen<br />
• Hochrisikopatienten sind zu schützen<br />
Patient kommt in die Praxis ggf. Telefontriage: kann Patient in die Praxis kommen? (Hausbesuch?)<br />
Symptome<br />
Hat Patient* mindestens zwei der folgen<strong>den</strong><br />
• Fieber > 38° C<br />
• Husten<br />
• Schmerzen (Hals-, Kopf, -Glieder-)<br />
• plötzlicher Infektbeginn<br />
* Alter < 5 Jahre: s. spez. Empfehlung www.dgpi.de<br />
Diagnose „pandemische Influenza“ = J09.und<br />
Ziffer 88200 eintragen<br />
JA<br />
JA<br />
Patient mit schwerem Krankheitsbild,<br />
gekennzeichnet u. a. durch<br />
• Atemnot und/oder<br />
• Sauerstoffmangel und/oder<br />
• Kreislauf-Schock und/oder<br />
• Verwirrtheit<br />
NEIN<br />
• (Ungeimpfter) Hochrisikopatient, z. B.<br />
• Schwangerschaft, inbesondere 3.Trimenon<br />
• Krankhafte Adipositas (BMI > 30)<br />
• symptomatische Lungenerkrankung (z. B. COPD, Asthma)<br />
• Immunsuppression (z. B. HIV/AIDS, behand. rheumat.<br />
Arthritis, onkolog./hämatologische Krankheiten, Trans-<br />
plantation, Medikamente)<br />
• schwere Nierenerkrankung<br />
• Diabetes mellitus, insbes. <strong>bei</strong> HbA1c > 8%<br />
• chron. Stoffwechselkrankheit<br />
• Herzerkrankung (nicht: einfache Hypertonie)<br />
• Chron. neurologische Erkrankung<br />
• Chronische Lebererkrankung, …<br />
Symptomatische Diagnostik, insbes.<br />
• Inspektion/Auskultation<br />
• ggf. EKG <strong>bei</strong> Hinweisen auf Myokarditis<br />
• ggf. CRP/BSG <strong>bei</strong> Hinweisen auf bakt. Erkrankung<br />
• ggf. Influenza-Abstriche, wenn ungeimpfte Risikopersonen<br />
in engem Kontakt stehen und therapeutische<br />
Konsequenzen sinnvoll sind<br />
JA<br />
NEIN<br />
Im Regelfall sind Influenza-Abstriche nicht sinnvoll!<br />
Im Regelfall ist Behandlung mit Antibiotika bzw. Oseltamivir nicht sinnvoll!<br />
Im Regelfall ist eine medikamentöse Prophylaxe <strong>bei</strong> Kontaktpersonen nicht sinnvoll!<br />
Ja<br />
Ja<br />
Ja<br />
Anderer Beratungsanlass<br />
Ggf. zusätzlich klären, ob Influenza-<br />
Hochrisikopatient (Def. siehe unten)<br />
JA<br />
Beratung von Hochrisikopatienten<br />
(<strong>bei</strong> Kontakt/Recall)<br />
� Impfung Influenza<br />
� Impfung Pneumokokken<br />
� Infektprävention<br />
Klinik-Einweisung<br />
Klinik telefonisch informieren<br />
Engmaschig beobachten<br />
Klinik-Einweisung erwägen<br />
Oseltamivir anbieten, wenn < 48 h Erkrankung<br />
Ggf. Influenza-Abstriche<br />
(wenn ggf. therapeutische Konsequenzen<br />
sinnvoll sind)<br />
Pneumonie? => ggf. Antibiotika<br />
Symptomatische Therapie<br />
AU-Bescheinigung<br />
Vermeidung von Kontakt zu Hochrisikopersonen<br />
Wiedervorstellung <strong>bei</strong> Verschlechterung<br />
kein ASS für Patienten < 16 Jahren
Gemeinsame,<br />
sichere und<br />
einheitliche<br />
Verträge<br />
Hausarztzentrierte Versorgung<br />
ab dem 1. April auch in<br />
Hessen attraktiv<br />
Der ba<strong>den</strong>-württembergische Hausärzteverband und<br />
MEDI als regionaler Verbund von Ärztenetzen entwickeln<br />
derzeit neuartige Verträge zwischen Krankenkassen<br />
und Spezialisten (Kardiologen, Gastroenterologen<br />
und Rheumatologen). Die Besonderheit: Diese<br />
Verträge nach § 73c und § 140 wer<strong>den</strong> an die 73b-<br />
Hausarzt-Verträge gekoppelt.<br />
Solche Vertragskombinationen zwischen Hausärzten<br />
und Spezialisten sind zukunftsträchtig, <strong>den</strong>n einige<br />
der bisherigen Verträge nach § 140 sind Fehlkonstruktionen,<br />
die <strong>den</strong> kollegialen Frie<strong>den</strong> gefähr<strong>den</strong>. Wenn<br />
zum Beispiel Operateure IV-Verträge abschließen und<br />
darauf vertrauen, dass beteiligte Hausärzte die angeforderte<br />
„präoperative Diagnostik“ dann im Rahmen<br />
der KV-Ziffern abrechnen, dann ist dies problematisch,<br />
<strong>den</strong>n der Hausarzt hat gegenüber der KV ja gar<br />
keinen Anspruch auf Erstattung seiner Leistungen.<br />
Außerdem wer<strong>den</strong> Leistungen im Rahmen der IV-<br />
Verträge meist (deutlich besser) nach GOÄ vergütet.<br />
Um die für unsere Zukunft so wichtige gute Kooperation<br />
der Fachgruppen weiter zu gewährleisten, hat<br />
das Gesundheitsnetz Nordhessen e. V. Formulare entwickelt<br />
(zu fin<strong>den</strong> auf www.g-n-n.de), mit <strong>den</strong>en die<br />
Vertragsform und der Vergütungsweg <strong>bei</strong> Operationen<br />
schnell und unbürokratisch geklärt wer<strong>den</strong> kann.<br />
Für Ärzte gilt unter anderem ein Zuweisungsverbot<br />
(vgl. hessische Berufsordnung, § 31). Unter bestimmten<br />
Bedingungen gilt dies <strong>bei</strong> gemeinsamen Verträgen<br />
z. B. nach § 140 nicht. Insbesondere <strong>bei</strong> Gemeinschaftspraxen<br />
muss zusätzlich darauf geachtet wer<strong>den</strong>,<br />
dass durch die Verträge keine BGB-Gesellschaft<br />
entsteht, die dann ggf. durch „Infektiosität“ ein erhöhtes<br />
Risiko für eine Gewerbesteuerpflicht birgt.<br />
Deswegen sind diese Kooperations-Verträge besonders<br />
sorgfältig zu verfassen und mit der Landesärztekammer<br />
abzustimmen.<br />
Verträge nach § 73 bzw. 140 sind laut aktueller KVH-<br />
Satzung (§ 5) mit dem KV-Honorar zu bereinigen<br />
bzw. in der EHV zu berücksichtigen. Entsprechend<br />
müssen all diese Verträge der KVH mitgeteilt wer<strong>den</strong>.<br />
Dies ist <strong>bei</strong> dem derzeitigen Vertragschaos in Hessen<br />
allerdings kaum umsetzbar – immerhin verteilt inzwi-<br />
In Ba<strong>den</strong>-Württemberg, Bayern und Bremen<br />
gibt es inzwischen zum Teil flächendeckend<br />
Krankenkassen, die eine hausarztzentrierte<br />
Versorgung (HZV) nach § 73b anbieten.<br />
Nach der AOK sind auch IKK und BKKs<br />
und RVO-Kassen beteiligt – nachdem zahlreiche<br />
Patienten die Kasse gewechselt hatten,<br />
um sich einschreiben zu können. Ab<br />
dem 1. April gibt es auch attraktive HZV-<br />
Verträge in Hessen.<br />
Von Dr. Uwe Popert<br />
schen fast jede operative Großpraxis eigene IV-Verträge.<br />
Aber wie soll man so viele unterschiedliche Verträge<br />
kennen und beurteilen? Deswegen sind regional<br />
einheitliche und rechtlich überprüfte Vertragskons truktionen<br />
wichtig.<br />
Welche Verträge gibt es in Hessen?<br />
IV-Verträge (Integrierte Versorgung nach<br />
§ 140 SGB V)<br />
Es gibt zahlreiche solcher Verträge, manchmal gemanagt<br />
über Fachgesellschaften, die KV Hessen, viele<br />
über Vertriebsgesellschaften wie zum Beispiel medicalnetworks.<br />
Angeblich wur<strong>den</strong> die meisten IV-Verträge<br />
wegen mangelnder Umsetzung vor etwa einem<br />
Jahr gekündigt. Bei <strong>den</strong> restlichen ist der Markt völlig<br />
unübersichtlich; bisher scheint kaum jemand die Anzeigepflicht<br />
<strong>bei</strong> der KV beachtet zu haben.<br />
Hausarztzentrierte Versorgung<br />
Laut Gesetz müssen die Kassen eine HZV anbieten. In<br />
Schiedsverfahren wer<strong>den</strong> derzeit die meisten Krankenkassen<br />
zur Verhandlung entsprechender Verträge<br />
mit dem hessischen Hausärzteverband gezwungen.<br />
Für zukünftige HZV-Verträge in Hessen ist das Ba<strong>den</strong>-<br />
Württemberger Modell maßgeblich – und auch von<br />
<strong>den</strong> Kassen bevorzugt, weil sie sich von der regionalen<br />
Kooperation die Möglichkeiten einer effektiveren<br />
Gesundheitsversorgung versprechen.<br />
Ab dem 1.4.2<strong>01</strong>0 wer<strong>den</strong> die bereits unterzeichneten<br />
HZV-Verträge mit der IKK Signal Iduna starten.<br />
Die Verhandlungen zu § 73c- und 140er-Verträgen<br />
sind dann der nächste Schritt. Patienten, die in das<br />
HZV-Modell der Signal-Iduna wechseln, können bis<br />
zu 136,- € pro Jahr an Krankenkassenkosten sparen.<br />
Das motiviert zusätzlich.<br />
Mit der AOK Hessen läuft ein Schiedsverfahren; dieses<br />
wird wohl bis Ende März entschie<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>.<br />
Vermutlich wer<strong>den</strong> die Verträge zur Jahresmitte anlaufen<br />
– wohl als Bereinigungsvertrag, d. h. nicht<br />
25
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über die KVH. Weitere Verhandlungen/Schiedsverfahren<br />
z. B. mit <strong>den</strong> bundesweit agieren<strong>den</strong> Ersatzkassen<br />
bzw. BKKs laufen noch zentral in Berlin.<br />
Ärztenetze und Ärztegenossenschaften sollten sich<br />
nicht die Chance entgehen lassen, an <strong>den</strong> sich entwickeln<strong>den</strong><br />
Strukturen teilzuhaben. Nur wenn sie ihre<br />
Stärke ausspielen und „ambulant vor stationär“ umsetzen,<br />
können sie die eigentlichen Effektivitätsreserven<br />
heben. Nur mit der Kombination 73b plus73c/<br />
140er-Verträge können Netze und Genossenschaften<br />
ihre Kooperationsfähigkeiten ausspielen. Und nur<br />
wenn wir genügend Patienten in die Hausarztzentrierte<br />
Versorgung (§ 73b) einschreiben, können wir<br />
haus- und fachärztliche Verträge nach § 73c/140 verhandeln<br />
und umsetzen.<br />
Letztlich braucht man von <strong>den</strong> derzeit etwa 160<br />
Krankenkassen aber regional wohl nur noch maximal<br />
drei. Alle weiteren Kassen sorgen wegen der Vielzahl<br />
von Sonderwünschen und Sonderwegen z. B. <strong>bei</strong> Rabattverträgen<br />
nur für hinderliche Bürokratie – es sei<br />
<strong>den</strong>n, die Kassen sind bereit, sich auf die bisher bestehen<strong>den</strong><br />
Verträge einzulassen.<br />
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, <strong>den</strong> Krankenkassen<br />
und der Politik deutlich zu machen, dass sich der<br />
Patient eher für seinen Arzt als für seine Krankenkasse<br />
entscheidet! Zumal er da<strong>bei</strong> noch Geld sparen kann<br />
und eine bessere Versorgung erhält.<br />
Schaffen wir das nicht, wird das deutsche Gesundheitswesen<br />
weiter in ein Chaos nach US-amerikanischem<br />
Vorbild steuern. Und wir brauchen nicht mehr<br />
lange nach dem nächsten Gesundheitskonzern Ausschau<br />
zu halten.<br />
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26
Ar<strong>bei</strong>t in der Arztpraxis ist immer auch Teamar<strong>bei</strong>t. Chef oder Chefin und ihre<br />
Mitar<strong>bei</strong>terinnen – in <strong>den</strong> meisten Fällen sind es Frauen – ziehen im Idealfall an<br />
einem Strang. Das ist gut fürs Betriebsklima, das ist aber vor allem auch gut im<br />
Umgang mit <strong>den</strong> Patienten. Nur wenn die Umgangsformen im Team stimmen,<br />
ist auch der Ton gegenüber <strong>den</strong> Patienten der richtige. Nicht immer ist es einfach,<br />
so eine Mannschaftsleistung hinzubekommen. In der Serie Praxis & Personal<br />
gibt Dr. Heidemarie Krüger,<br />
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Tipps von Personalberaterin Dr. Heidemarie Krüger<br />
Konflikte nicht aussitzen<br />
„Vorhin bin ich von Ihrer Sprechstun<strong>den</strong>hilfe ganz schön angepflaumt wor<strong>den</strong>“: Der<br />
Hinweis des Patienten versetzt einem erst mal einen kleinen Stich. Doch dann erinnert<br />
die Situation an das eigene Bauchgefühl –„irgendwie ist das Klima in meiner Praxis auch<br />
schon mal besser gewesen.“<br />
Wenn so etwas vorkommt, rät Personalberaterin Dr. Heidemarie Krüger aus Kassel zum<br />
zügigen Handeln. „Denn je länger etwas nicht gut läuft, desto mehr schleift es sich ein“,<br />
ist ihre Erfahrung. Natürlich weiß sie auch: Chef oder Chefin sein, das kam im Medizinstudium<br />
nicht vor. „Die Kernkompetenz liegt ganz klar auf ärztlichem Gebiet. Aber die<br />
Führung ist ein Teil der Rolle, die man als Arzt und Unternehmer in der eigenen Praxis<br />
spielt. Und die sollte man aktiv annehmen.“<br />
Was tun, wenn das Klima nicht so ist wie gewünscht? „Einfach mal einen Moment beobachten.<br />
Schauen, wie gehen die Mitar<strong>bei</strong>terinnen miteinander um? Daran kann man<br />
messen, wie zufrie<strong>den</strong> sie sind“, sagt Krüger. Wenn hier schon so etwas wie dicke Luft,<br />
Stress, Unfreundlichkeit zu spüren ist, dann ist eines auch klar: Das strahlt auf <strong>den</strong> Umgang<br />
mit <strong>den</strong> Patienten ab. Weitere Indikatoren für unzufrie<strong>den</strong>e Mitar<strong>bei</strong>ter können ein<br />
hoher Krankenstand, häufige Fluktuation im Team und die Leistungen der Azubis sein.<br />
Nächster Schritt sollte sein zu schauen, wer „informeller“ Führer unter <strong>den</strong> Mitar<strong>bei</strong>terinnen<br />
ist. Mit dieser und mit einer anderen Person aus dem Team wird jetzt das Gespräch<br />
gesucht: „Kurz mal am Rande einbauen, zügig auf <strong>bei</strong>de jeweils einzeln zugehen<br />
und sie gerade heraus ansprechen“, empfiehlt die Beraterin, „keine langen Re<strong>den</strong> und<br />
Antworten, zehn Minuten“. Das Problem, das gelöst wer<strong>den</strong> soll, ist klar zu benennen.<br />
Ein kurzer Austausch darüber und dann für sich zusammenfassen, wo die Ursachen liegen:<br />
in <strong>den</strong> einzelnen Personen im Team, in der Organisation der Praxisabläufe, in der<br />
Qualifikation?<br />
„Wichtig ist, dass nach diesen Kurzgesprächen sofort deutlich gemacht wird, es gibt einen<br />
nächsten Schritt – zum Beispiel schon bald ein Gespräch im Team, in dem der Chef<br />
oder die Chefin und die Mitar<strong>bei</strong>ter Lösungsvorschläge unterbreiten“, schildert Krüger,<br />
wie es weitergeht. Aus diesem Zusammentreffen wer<strong>den</strong> dann Regeln abgeleitet, die<br />
das Klima in der Praxis wieder angenehm machen, damit die Patienten sagen: „Vorhin<br />
bin ich von ihrer Sprechstun<strong>den</strong>hilfe richtig nett empfangen wor<strong>den</strong>“. ig<br />
Zahlen & Fakten:<br />
Nur 13 Prozent der Beschäftigten ar<strong>bei</strong>ten gerne für ihr Unternehmen und fühlen sich<br />
diesem verpflichtet. Das war im vergangenen Jahr ein Ergebnis der regelmäßig wiederholten<br />
Umfrage des Gallup-Institutes zur Ar<strong>bei</strong>tnehmerzufrie<strong>den</strong>heit. Zwei Drittel der<br />
Ar<strong>bei</strong>tnehmer fühlen sich ihrem Ar<strong>bei</strong>tgeber nicht verbun<strong>den</strong>, jeder fünfte hat bereits<br />
innerlich gekündigt. Lustlose Mitar<strong>bei</strong>ter fehlen bis zu vier Tagen mehr im Jahr als engagierte.<br />
Laut der Studie kritisieren viele Beschäftigte, dass ihre Meinung im Unternehmen<br />
nicht zähle. Sie wünschen sich mehr Anerkennung.<br />
Dr. Heidemarie Krüger<br />
Nach ihrem Studium der Soziologie in<br />
Bielefeld führte Krüger als Wissenschaftliche<br />
Mitar<strong>bei</strong>terin über zehn Jahre lang<br />
Forschungsprojekte zu <strong>den</strong> Themen Personal<br />
und Organisation durch und promovierte<br />
1987 an der Universität Bielefeld<br />
zum Thema „Anforderungen an außerfachliche<br />
Qua lifikationen“. Bei der deutschen<br />
Personalberatungsgruppe Steinbach&Partner<br />
be gann sie 1989 als Personalberaterin.<br />
Inzwischen ist sie Partnerin<br />
und führt seit 20 Jahren das von ihr aufgebaute<br />
Büro als Inhaberin in Kassel.<br />
Ihr Schwerpunkt liegt darin, mittelständische,<br />
Klein- und inhabergeführte Unternehmen<br />
in allen Fragen des Personalmanagements<br />
und insbesondere in der Beschaffung<br />
von Fach- und Führungskräften<br />
zu unterstützen. Zunehmend wird sie<br />
auch <strong>bei</strong> Fragen der Organisationsanalyse<br />
von kleinen Einheiten eingeschaltet. ig<br />
27
Checkliste für ein Mitar<strong>bei</strong>tergespräch<br />
Zügig agieren Tritt ein Ereignis auf, sollte kurz darauf das Gespräch mit<br />
dem/der Mitar<strong>bei</strong>ter/in gesucht wer<strong>den</strong>. Bitten Sie am selben<br />
Tag noch zu einem Gespräch.<br />
Auf <strong>den</strong> Punkt bringen Sprechen Sie das „Problem“ direkt und konkret mit Fakten<br />
an; erläutern Sie die Folgen für das Klima, die Praxis etc. Fassen<br />
Sie sich kurz.<br />
Reaktion anhören Lassen Sie <strong>den</strong>/die Mitar<strong>bei</strong>ter/in Stellung nehmen.<br />
Den eigenen Standpunkt klar formulieren Diskutieren Sie nicht, formulieren Sie die Notwendigkeit der<br />
Veränderung.<br />
Keine Ausschweifungen Das Gespräch sollte nicht länger als zehn Minuten dauern.<br />
Veränderung einfordern Fragen Sie nach, wie sich der/die Mitar<strong>bei</strong>ter/in die Veränderung<br />
selbst vorstellt, was er/sie dazu tun will.<br />
Das Ziel gemeinsam benennen Setzen Sie einen Zeitpunkt, bis wann eine Veränderung umgesetzt<br />
sein muss.<br />
Gesprächsergebnisse fixieren Am Ende des Gespräches sollten die wesentlichen Absprachen<br />
nochmals benannt wer<strong>den</strong>, um Missverständnisse zu<br />
vermei<strong>den</strong> und positive Veränderungen als Erwartung zu fixieren.<br />
Schween_ANZ_148,5x210_Kassel.qxd 26.05.2009 16:36 Seite 2<br />
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„Wegkommen<br />
vom Prinzip der<br />
Sachleistungen“?<br />
Kontroverse Diskussion<br />
um Kostenerstattung<br />
in der GKV<br />
Von Martin Wortmann<br />
Patienten- und Verbraucherverbände sind kritisch,<br />
die Krankenkassen dagegen. Die KBV ist skeptisch,<br />
aber offen und will Patienten wie Ärzten die<br />
Wahl lassen. Hartmannbund und „Freie Ärzteschaft“<br />
sind dafür, ebenso eine klare Mehrheit der Ärzte, die<br />
sich an einer Umfrage der KV Rheinland-Pfalz beteiligt<br />
haben. „Das ist im Moment kein Thema für uns,<br />
das steht auch nicht an“, heißt es dagegen <strong>bei</strong>m<br />
Deutschen Hausärzteverband. In Internet-Foren argumentieren<br />
einzelne Hausärzte skeptisch, praktikabel<br />
und wirtschaftlich sei die Kostenerstattung wohl<br />
nur für Facharztpraxen.<br />
Die Befürworter bekamen nun Unterstützung von<br />
Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP): „Wir müssen<br />
stärker wegkommen vom Prinzip der Sachleistungen<br />
und hinkommen zur Kostenerstattung“, sagte<br />
Rösler laut „Die Welt“ auf dem Neujahrsempfang der<br />
FDP-Fraktion im niedersächsischen Landtag. Es sei<br />
sinnvoll, wenn Patienten per Rechnung erführen,<br />
wieviel einzelne Behandlungen kosten.<br />
Wahlrecht und Patientenquittung<br />
Laut ARD-DeutschlandTrend Februar 2<strong>01</strong>0 wünschen<br />
sich das auch 91 Prozent der befragten Bürger. Wohl<br />
die wenigsten wissen, dass sie darauf auch in der gesetzlichen<br />
Krankenversicherung schon seit 2004 einen<br />
gesetzlichen Anspruch haben. Laut Sozialgesetzbuch<br />
müssen Ärzte, Zahnärzte und Krankenhäuser<br />
auf Verlangen des Patienten eine sogenannte Patientenquittung<br />
ausstellen, die in verständlicher Form<br />
über die erbrachten Leistungen und ihre voraussichtlichen<br />
Kosten informiert. Da<strong>bei</strong> können die Patienten<br />
zwischen einer „Tagesquittung“ und – gegen einen<br />
Euro plus Versandkosten – einer Quartalsquittung<br />
wählen (siehe Kasten § 305 SGB V).<br />
Genutzt wird diese Möglichkeit wohl nur von wenigen,<br />
Zahlen liegen allerdings weder dem GKV-Spitzenverband<br />
noch der KBV vor. Bei einem Modellversuch<br />
der früheren KV Rheinhessen 2002/2003 lag die<br />
Für die einen ist sie das Ende der solidarischen<br />
Krankenversicherung, für die<br />
anderen eine große Chance für mehr<br />
Transparenz, sachgerechte Behandlung<br />
der Patienten und ein gerechtes Arzt-<br />
Honorar: die Kostenerstattung in der<br />
Gesetzlichen Krankenversicherung.<br />
Auch in der Ärzte- und Psychotherapeutengenossenschaft<br />
DOXS eG wird das<br />
Thema kontrovers diskutiert.<br />
Inanspruchnahme immerhin <strong>bei</strong> durchschnittlich 15<br />
Prozent, nahm innerhalb von vier Quartalen allerdings<br />
von 21,9 auf 8,1 Prozent ab. Insbesondere <strong>bei</strong><br />
<strong>den</strong> zu Beginn deutlich engagierteren Fachärzten<br />
sackte die Beteiligung von zunächst 27,6 (Hausärzte<br />
16,4) auf 8,3 (Hausärzte 7,9) Prozent. „Die Hemmschwelle<br />
ist groß“, meint Christian Zimmermann,<br />
Präsi<strong>den</strong>t des Allgemeinen Patienten-Verbandes in<br />
Marburg. Funktionieren könne die Sache nur, „wenn<br />
der Arzt verpflichtet ist, dem Patienten eine Rechnung<br />
in die Hand zu geben“.<br />
Ebenfalls nach der ARD-Umfrage wollen fast Dreiviertel<br />
der Bürger am gegenwärtigen Gesundheitssystem<br />
festhalten. Ob sie damit auch das Sachleistungsprinzip<br />
gemeint haben, geht aus <strong>den</strong> Anfang Februar veröffentlichten<br />
Ergebnissen nicht hervor. Doch seit<br />
2004 können gesetzlich Versicherte sich auch für die<br />
Kostenerstattung entschei<strong>den</strong>, 2007 wur<strong>den</strong> die<br />
Wahlmöglichkeiten nachgebessert. Hierzu legte der<br />
GKV-Spitzenverband im März 2009 einen Bericht vor.<br />
Danach haben nur 0,19 Prozent der Versicherten die<br />
Kostenerstattung gewählt. Da<strong>bei</strong> liegt der Anteil <strong>bei</strong><br />
<strong>den</strong> Ersatz- (0,34) und Betriebskrankenkassen (0,30<br />
Prozent) deutlich höher, in der AOK-Familie ist er dagegen<br />
mit 0,02 Prozent um <strong>den</strong> Faktor zehn geringer<br />
als im GKV-Durchschnitt.<br />
Gegner der Kostenerstattung sehen sich durch diese<br />
Zahlen bestätigt, Befürworter dagegen verweisen auf<br />
die bisherigen gesetzlichen Bedingungen (siehe Kasten<br />
§ 13 SGB V): Abgerechnet wird mit dem einfachen<br />
Satz der GOÄ. Die Kasse erstattet <strong>den</strong> Patienten<br />
aber höchstens <strong>den</strong> Betrag, <strong>den</strong> die gleiche Behandlung<br />
als Sachleistung gekostet hätte, zudem kann sie<br />
noch Abschläge machen. In Wahltarifen dürfen die<br />
Kassen seit 2007 gegen zusätzliche Prämien die Eigenbeteiligung<br />
reduzieren, ebenso gibt es private<br />
Zusatzversicherungen. Im regulären Erstattungs-Tarif<br />
müssen die Ärzte über das Kostenrisiko aufklären.<br />
29
Transparenz<br />
So steht es im Gesetz<br />
SGB V, § 13 Kostenerstattung<br />
(1) [...]<br />
Wichtigstes Argument für die Kostenerstattung ist die<br />
Transparenz. Gemeint ist damit – ganz im Sinne Röslers<br />
– meist die Kostentransparenz. „Der Patient wird<br />
endlich befähigt, die Abrechnung <strong>bei</strong> Erhalt zu prüfen<br />
oder prüfen zu lassen, wie in anderen Lebensbereichen<br />
üblich“, heißt es etwa in einem Positionspapier<br />
der Freien Ärzteschaft zur Bundestagswahl 2009.<br />
Der Hartmannbund Nordrhein erwartet so ein verstärktes<br />
Kostenbewusstsein der Patienten. Ilka Enger,<br />
Vorsitzende des Bayerischen Fachärzteverbandes,<br />
wundert sich nicht, dass die Patientenquittung bislang<br />
nur selten angefordert wird. „Da der Patient seine<br />
Rechnung nicht selbst bezahlen muss, ist das Interesse<br />
an diesem Rechnungsausdruck nahe Null“,<br />
schreibt sie im Internet auf „fachartz.de“. Das könnte<br />
sich ändern, wenn der Patient die Rechnung selbst<br />
bezahlen muss.<br />
Kehrseite der Kostentransparenz ist für die Ärzte die<br />
Transparenz ihres Honorars. Allerdings hatte die KBV<br />
schon in einem ausführlichen „Argumentationspa-<br />
(2) Versicherte können anstelle der Sach- oder Dienstleistungen Kostenerstattung<br />
wählen. Hierüber haben sie ihre Krankenkasse vor Inanspruchnahme der<br />
Leistung in Kenntnis zu setzen. Der Leistungserbringer hat die Versicherten vor<br />
Inanspruchnahme der Leistung darüber zu informieren, dass Kosten, die nicht<br />
von der Krankenkasse übernommen wer<strong>den</strong>, von dem Versicherten zu tragen<br />
sind. Der Versicherte hat die erfolgte Beratung gegenüber dem Leistungserbringer<br />
schriftlich zu bestätigen. Eine Einschränkung der Wahl auf <strong>den</strong> Bereich der<br />
ärztlichen Versorgung, der zahnärztlichen Versorgung, <strong>den</strong> stationären Bereich<br />
oder auf veranlasste Leistungen ist möglich. […] Anspruch auf Erstattung besteht<br />
höchstens in Höhe der Vergütung, die die Krankenkasse <strong>bei</strong> Erbringung als<br />
Sachleistung zu tragen hätte. Die Satzung hat das Verfahren der Kostenerstattung<br />
zu regeln. Sie hat da<strong>bei</strong> ausreichende Abschläge vom Erstattungsbetrag<br />
für Verwaltungskosten und fehlende Wirtschaftlichkeitsprüfungen vorzusehen<br />
sowie vorgesehene Zuzahlungen in Abzug zu bringen. Die Versicherten sind an<br />
ihre Wahl der Kostenerstattung mindestens ein Jahr gebun<strong>den</strong>. [...]<br />
SGB V, § 305 Auskünfte an Versicherte<br />
(1) […]<br />
(2) Die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen<strong>den</strong> Ärzte, Einrichtungen<br />
und medizinischen Versorgungszentren haben die Versicherten auf Verlangen<br />
schriftlich in verständlicher Form, direkt im Anschluss an die Behandlung<br />
oder mindestens quartalsweise spätestens vier Wochen nach Ablauf des Quartals,<br />
in dem die Leistungen in Anspruch genommen wor<strong>den</strong> sind, über die zu<br />
Lasten der Krankenkassen erbrachten Leistungen und deren vorläufige Kosten<br />
(Patientenquittung) zu unterrichten. […] Der Versicherte erstattet für eine quartalsweise<br />
schriftliche Unterrichtung nach Satz 1 eine Aufwandspauschale in<br />
Höhe von 1 Euro zuzüglich Versandkosten. Das Nähere regelt die Kassenärztliche<br />
Bundesvereinigung. [...]<br />
30<br />
pier“ im Juli 2006 darauf hingewiesen, dass mehr<br />
Transparenz für die Ärzte nicht die Kostenerstattung<br />
voraussetzt, sondern lediglich eine Abkehr vom budgetierten<br />
Punkte-System. Da<strong>bei</strong> ist die KBV von ihrer<br />
damaligen Forderung nach Pauschalierungen abgerückt.<br />
„Eine Einzelleistungsvergütung ist der sinnvollere<br />
Weg“, erklärte Sprecher Roland Stahl auf Anfrage.<br />
Für die Patienten wichtig wäre sicher auch die sprachliche<br />
Transparenz: Bislang seien die Patientenquittungen<br />
in diesem Punkt noch recht unzulänglich, diagnostiziert<br />
Enger. Die Kostenerstattung, so hier die<br />
Hoffnung der Befürworter, würde die Ärzte zwingen,<br />
ihre Rechnung und damit letztlich auch die Behandlung<br />
so zu erklären, dass die Patienten sie verstehen.<br />
Patienten-Verbands-Präsi<strong>den</strong>t Zimmermann ist freilich<br />
skeptisch. „Es wird für die Patienten oft zu schwierig<br />
sein, die Rechnung zu überprüfen“, meint er. Das<br />
sei auch bislang <strong>bei</strong> vielen Privatpatienten schon so.<br />
Und auch die KBV schrieb 2006: „Mancher Kranke<br />
wäre damit überfordert.“<br />
Bürokratie, Verwaltung, Arzt und Patient<br />
Äußerst umstritten sind die Auswirkungen, die es hätte,<br />
würde die Kostenerstattung von der Ausnahme<br />
zur Regel. Mengensteuerung und Verwaltung sind<br />
hier die Stichworte. Ganze Behör<strong>den</strong> wür<strong>den</strong> überflüssig,<br />
etwa die Prüfgremien und zumindest weite<br />
Teile der KVen. Die KV Rheinland-Pfalz, die seit Veröffentlichung<br />
ihrer Umfrageergebnisse am 25. Januar<br />
die Kostenerstattung unterstützt, nennt <strong>den</strong>n auch<br />
eher beschei<strong>den</strong>e Aufgabenfelder für die Zukunft:<br />
Abrechnungswesen, Qualitätssicherung und Schlichtungsstelle.<br />
Die Freie Ärzteschaft hofft auf ein Ende<br />
von „Bürokratie und Selbstbedienung in <strong>den</strong> ‚Selbstverwaltungen‘<br />
von Kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen“<br />
und auch „die planwirtschaftliche Bedarfsplanung<br />
verliert so ihren Sinn“. Doch ob die<br />
Ärzte so wirklich ihrem Traum von Freiheit und Freiberuflichkeit<br />
näher kämen, bezweifelte 2006 die KBV:<br />
Foto: AOK
Die „Ordnungsfunktion“ des KV-Systems würde nicht<br />
entfallen, sie würde wohl an Behör<strong>den</strong> und Krankenkassen<br />
übergehen. „Letztlich würde das einer weiteren<br />
Verstaatlichung des Systems <strong>den</strong> Weg ebnen.“<br />
Auch Arzt und Patient bekämen ganz neue Aufgaben:<br />
Die einen müssten Einzelrechnungen schreiben, die<br />
anderen müssten sie genau überprüfen. Eventuell<br />
müssten <strong>bei</strong>de sogar <strong>den</strong> Preis aushandeln, ein Streit<br />
landete vor Gericht. Kosten und Risiken kämen auf<br />
die Ärzte auch durch das Inkasso zu. Die Gebühren<br />
ärztlicher Verrechnungsstellen bezifferte die KBV<br />
2006 auf sechs Prozent, das Inkassorisiko <strong>bei</strong> Privatversicherten<br />
auf stolze 28 Prozent.<br />
Mit Blick auf bereits bestehende Internet-Gebote für<br />
Zahnmedizin warnt die KBV in ihrem Argumentationspapier<br />
2006 gar vor einer „e-bay-isierung“ medizinischer<br />
Leistungen. „Bisher hat die Ärzteschaft diese<br />
Ökonomisierung des Arzt-Patienten-Verhältnisses immer<br />
abgelehnt.“ Auch die Verbraucherzentralen halten<br />
wenig von der Kostenerstattung: Ohne wesentliche<br />
Vorteile müssten die Patienten in Vorleistung<br />
treten „und einen zusätzlichen Verwaltungsaufwand<br />
auf sich nehmen“, schreibt die Verbraucherzentrale<br />
Hamburg in einer 2007 herausgegebenen „Patientenberatung“.<br />
Mehrar<strong>bei</strong>t käme schließlich auch auf<br />
die Krankenkassen durch die Prüfung jeder einzelnen<br />
Rechnung zu. Die Kostenerstattung würde „durch erhöhten<br />
Verwaltungsaufwand die medizinische Versorgung<br />
nur verteuern“, erklärte der GKV-Spitzenverband<br />
auf Anfrage.<br />
Mengeneffekte<br />
Als Folge erhöhter Transparenz und direkter Kontrolle<br />
erwarten Befürworter der Kostenerstattung eine Verringerung<br />
von Doppelbehandlungen und Abrechnungsbetrug.<br />
Gewünschte Leistungen außerhalb des<br />
GKV-Katalogs könnten die Patienten einfach zuzahlen,<br />
argumentiert etwa Facharzt-Funktionärin Enger.<br />
Auch nach Überzeugung der Freien Ärzteschaft und<br />
des Hartmannbundes wür<strong>den</strong> weniger unnötige Behandlungen<br />
in Anspruch genommen. Dagegen<br />
warnte die KBV 2006, eine Kostenbeteiligung könnte<br />
Patienten vom Arztbesuch abhalten; sie wür<strong>den</strong> entweder<br />
auf stationäre Angebote ausweichen oder<br />
Krankheiten verschleppen – und so oder so die Kosten<br />
nach oben treiben.<br />
Sozialverträglichkeit<br />
„Die Gefahr, dass vor allem sozial Schwache ihren<br />
Arzt überhaupt nicht aufsuchen, ist im Sachleistungssystem<br />
deutlich geringer“, heißt es im Argumentationspapier<br />
der KBV von 2006. Enger kontert mit der<br />
Möglichkeit, Rechnungen ohne Vorleistung des Patienten<br />
innerhalb der Zahlungsfrist direkt an die Kran-<br />
kenkasse weiterzureichen. Und schon heute gebe es<br />
Patienten, die sich die Zuzahlungen nicht leisten<br />
könnten – ein Problem, das daher politisch zu lösen<br />
sei. Ergänzend argumentiert der Hartmannbund,<br />
eine Selbstbeteiligung mache niedrigere Kassen<strong>bei</strong>träge<br />
möglich. „Eigenverantwortung, Selbstbestimmung<br />
und Autonomie der Patienten“ wür<strong>den</strong> gestärkt.<br />
Foto: AOK<br />
Blick auf die Details<br />
Die Debatte mit guten Argumenten auf <strong>bei</strong><strong>den</strong> Seiten<br />
zeigt, wie wichtig ein Blick auf die Details ist. Nur<br />
ein geschlossenes Gesamtkonzept der Kostenerstattung<br />
lässt sich brauchbar mit dem bestehen<strong>den</strong><br />
Sachleistungssystem vergleichen. Der Konflikt zwischen<br />
Mengensteuerung und Sozialverträglichkeit<br />
macht dies exemplarisch besonders deutlich.<br />
Nach dem Erfahrungsbericht der KV Rheinhessen zur<br />
Patientenquittung „bewirkte die Kostenkenntnis der<br />
Patienten keine signifikante Veränderung des Nachfrageverhaltens“.<br />
So erwarten Befürworter der Kostenerstattung<br />
eine kostenbewusste und verringerte<br />
Nachfrage auch vorrangig durch „eine sozialverträgliche<br />
Selbstbeteiligung der Versicherten“, wie die Vorsitzende<br />
des Hartmannbundes Nordrhein, Angelika<br />
Haus, formuliert. Doch soziale Abfederungen durch<br />
Ausnahmen von einer prozentualen Kostenbeteiligung<br />
oder das schlichte Durchreichen der Rechnung<br />
an die Kasse wür<strong>den</strong> die gewünschten Steuerungseffekte<br />
zumindest teilweise aufheben. Gleiches gilt, wie<br />
die KBV 2006 feststellte, für private Zusatzversicherungen,<br />
zu <strong>den</strong>en unter anderem der Hartmannbund<br />
zumindest gegen „existenziell bedrohliche Kostenrisiken“<br />
rät.<br />
31
Ich hatte einen Traum!<br />
Es ist Montag, der 4.1.2<strong>01</strong>0. Nachdem ich auf meinem<br />
Konto überprüft habe, dass der monatliche Beitrag<br />
von € 42,- an meine Werkstattkasse überwiesen<br />
wor<strong>den</strong> ist, fahre ich zu meiner Autowerkstatt, zahle<br />
die Eigenbeteiligung von € 10,-, die alle drei Monate<br />
fällig ist, lasse meine Werkstattkassenkarte durchziehen<br />
und nehme <strong>den</strong> neuen Scheibenwischer mit,<br />
<strong>den</strong>n die Kosten trägt ja meine Werkstattkasse. Bei<br />
dieser Gelegenheit teilt mir mein Automechaniker<br />
mit, dass die jährliche Inspektion für mein Auto fällig<br />
ist, selbstverständlich auch „auf Kasse“, sodass ich<br />
gleich einen Termin vereinbare. Auf der<br />
Rückfahrt fängt mein Auto an zu stottern,<br />
plötzlich stirbt der Motor ab – ich<br />
habe doch glatt vergessen zu tanken.<br />
Kein Problem, ich rufe meinen Automechaniker<br />
an. Nach einer halben Stunde<br />
kommt er vor<strong>bei</strong> und schleppt mich zur<br />
nächsten Tankstelle, die Kosten übernimmt<br />
wieder meine Werkstattkasse.<br />
Gut, dass es sie gibt, sonst wäre dies<br />
Dr. med. Ingo Niemetz ist doch teuer gewor<strong>den</strong>.<br />
hausärztlicher Internist mit diabe- Unmöglich? – Keinesfalls, <strong>den</strong>n so artologischer<br />
Schwerpunktpraxis in <strong>bei</strong>ten wir Ärzte je<strong>den</strong> Tag. Eine Auto-<br />
einer Praxisgemeinschaft in Kassel. werkstatt, die sich auf diese Bedingun-<br />
Er ist Aufsichtsrat der DOXS eG gen einlässt, findet sich indes nicht –<br />
und engagiert sich im Vorstand offensichtlich aus gutem Grund. Aber<br />
des Gesundheitsnetzes Nordhessen warum ar<strong>bei</strong>ten wir immer noch nach<br />
e. V. (GNN) und des Hartmann- dem Sachleistungsprinzip, obwohl uns<br />
bundes Landesverband Hessen. unsere Kollegen in Europa zeigen, wie<br />
es besser geht?<br />
32<br />
KOMMENTAR<br />
Pro Kostenerstattung:<br />
„Der einzige Weg aus der Misere ist die<br />
Direktabrechnung mit dem Patienten“<br />
Von Dr. Ingo Niemetz<br />
Transparenz<br />
Der einzige Weg aus der Misere ist die Direktabrechnung<br />
mit dem Patienten und bis dahin als Übergangslösung<br />
die Kostenerstattung, <strong>den</strong>n: Nur mit einer<br />
echten Rechnung erfährt der Patient, wie teuer<br />
seine Behandlung war (und wie wenig Geld im Vergleich<br />
zur Bürokratie in die Patientenbehandlung<br />
fließt). Außerdem kann er am besten überprüfen, ob<br />
Leistungen abgerechnet wur<strong>den</strong>, ohne erbracht wor<strong>den</strong><br />
zu sein. Die bisherige Variante einer Rechnung<br />
nach EBM ist eine Luftnummer zur Desinformation<br />
der Patienten, <strong>den</strong>n welcher Anteil der in Rechnung<br />
gestellten Leistungen wird <strong>den</strong>n erstattet?<br />
Eigenverantwortung<br />
Überall wird der mündige Bürger propagiert, nur <strong>bei</strong><br />
der Krankenversicherung ist er der Willkür der Kassen<br />
ausgesetzt. Wir sind doch Ärzte und schul<strong>den</strong> dem<br />
Patienten eine Behandlung nach aktuellem Stand der<br />
Medizin, dürfen aber aufgrund des Sachleistungssystems<br />
nur „WANZ“-Medizin durchführen: „wirtschaftlich,<br />
ausreichend, notwendig, zweckmäßig“. Im Rahmen<br />
der Kostenerstattung ergibt sich ein echter<br />
Wettbewerb unter <strong>den</strong> Kassen, <strong>den</strong>n der Patient kann<br />
sich ja jetzt sein gewünschtes Leistungspaket zusammenstellen<br />
und nach Wegfall jeglicher Umverteilungsmaßnahmen<br />
(Morbi-RSA) erfährt er jetzt auch,<br />
welche Kasse das Geld der Versicherten optimal<br />
nutzt.<br />
Steuerungsfunktion<br />
Durch Kenntnis der Behandlungskosten und Einführung<br />
einer prozentualen Selbstbeteiligung statt einer<br />
pauschalen Kassengebühr von € 10,- wird es zum gewünschten<br />
Rückgang der Kontaktfrequenz kommen,<br />
weil nicht mehr wegen jeder Bagatellerkrankung ein<br />
Arzt aufgesucht wird. Dann bliebe endlich auch genügend<br />
Zeit für die chronisch kranken Patienten.<br />
Morbiditätsrisiko<br />
Das Morbiditätsrisiko geht durch die Kostenerstattung<br />
endlich auf die Kassen über. Da keine Umverteilung<br />
zwischen <strong>den</strong> Kassen mehr erfolgt, entfällt auch<br />
der Wettbewerb um „gesunde Kranke“, dies spart<br />
Hunderte Millionen Werbungskosten!<br />
Foto: AOK
Angleichung an Europa<br />
Früher oder später wird im Rahmen der Harmonisierung<br />
ohnehin auch in Deutschland das Sachleistungssystem<br />
abgeschafft wer<strong>den</strong> müssen. Was hält uns<br />
also von einer radikalen Veränderung ab?<br />
Finanzielle Belastung des Patienten? Nein!<br />
Der Patient erhält ein Zahlungsziel oder kann <strong>bei</strong> Bedarf<br />
eine Abtretung unterzeichnen. Außerdem, wie<br />
hoch ist der Rechnungsbetrag nach GOÄ? Eine 1 und<br />
eine 5 = € 20,- Euro sind unzumutbar?<br />
Finanzielle Belastung<br />
der Versichertengemeinschaft? Nein!<br />
Im europäischen Ausland ist trotz Kostenerstattung<br />
der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt<br />
geringer als in Deutschland – und das <strong>bei</strong><br />
besserem Gesundheitsstatus.<br />
Kostenerstattung ist unsozial? Nein!<br />
Sinn der Gesundheitsversorgung ist es, dass niemand<br />
durch eine schwere gesundheitliche Störung verarmt.<br />
Unsozial ist die augenblickliche Situation, in der durch<br />
„WANZ“-Medizin alle gesetzlichen Patienten unterversorgt<br />
sind und aufgrund der Rationierung nicht<br />
KOMMENTAR<br />
Das Thema Kostenerstattung muss aus zwei Blickwinkeln<br />
betrachtet wer<strong>den</strong>: Dem des Arztes und<br />
dem der Patienten. Meine Überzeugung: Durch das<br />
System der Kostenerstattung wird der Arzt keinen<br />
Gewinn erzielen können – und für Patienten aus ärmeren<br />
Bevölkerungsschichten wird der Zugang zum<br />
Gesundheitswesen erschwert.<br />
Von Ärzten kommt immer wieder der Vorwurf, dass<br />
das KV-System intransparent sei. Doch immerhin: Im<br />
jetzigen System wird das Honorar sehr zuverlässig<br />
vier Monate nach Abgabe der Abrechnung gezahlt.<br />
Wenn auch um etwa 30 % gekürzt, <strong>den</strong>n obwohl es<br />
eine Euro-Gebührenordnung gibt, wird <strong>bei</strong> der Berechnung<br />
an diversen Stellschrauben – wie Rückstellung,<br />
Regelleistungsvolumen etc. – gedreht. Die Verwaltungskosten<br />
sind mit drei Prozent im Vergleich<br />
zum Aufwand der privatärztlichen Verrechnungsstellen<br />
niedrig. Und das KV-System kennt keine säumigen<br />
Zahler.<br />
Contra Kostenerstattung<br />
mehr jeder Kranke alle medizinisch benötigten Leistungen<br />
erhält.<br />
Kostenerstattung birgt ein<br />
hohes Inkassorisiko? Nein!<br />
Die Berechnung unserer aktuellen Gebührenordnung<br />
beruht auf einem Punktwert von 5,11 Cent<br />
<strong>bei</strong> Annahme eines Oberarztgehaltes (sind wir in<br />
unseren Praxen etwa nicht Chef?), wo<strong>bei</strong> hier sicherlich<br />
zehn Jahre Inflationsausgleich noch nicht<br />
berücksichtigt wur<strong>den</strong>. Aktuell liegt der Punktwert<br />
<strong>bei</strong> 3,5 Cent, also <strong>bei</strong> etwa der Hälfte des betriebswirtschaftlich<br />
notwendigen Honorars. Mit vernünftiger<br />
Buchführung und konsequentem Mahnwesen<br />
sollte der Honorarausfall <strong>bei</strong> Kostenerstattung sicherlich<br />
unter 50 % liegen.<br />
Letztlich ist die Kostenerstattung auch ein Beispiel für<br />
ärztliches Selbstverständnis und Selbstbewusstsein.<br />
Die einzige Möglichkeit einer gerechten Honorierung<br />
besteht in der korrekten Bezahlung jeder einzelnen<br />
erbrachten Leistung, so wie es auch in jedem anderen<br />
Beruf der Fall ist.<br />
Ich habe einen Traum!<br />
– Also worauf warten wir noch?<br />
„Kostenerstattung erschwert ärmeren<br />
Patienten <strong>den</strong> Zugang zum Gesundheitswesen“<br />
Von Dr. Klaus Günther Meyer<br />
Viele Kolleginnen und Kollegen<br />
erhoffen sich durch die Kostenerstattung<br />
eine transparente<br />
und überprüfbare, gerechtere<br />
und letztlich sicherere Leistungsvergütung.<br />
Doch wer die Gebührenordnung<br />
kennt und als<br />
Privatpatient Rechnungen erhält,<br />
hat sich bisweilen verwundert<br />
die Augen gerieben über<br />
das Maß an Ausdehnung der<br />
ärztlichen Leistung. Die Kostenerstattung<br />
scheint also dem zu<br />
nützen, der eine Leistungsausweitung<br />
betreiben möchte.<br />
Diejenigen, die Kostenerstattung<br />
fordern, erwarten eine Umstellung<br />
des jetzigen Sachleistungsprinzips<br />
in das GOÄ-System der<br />
Dr. Klaus Günther Meyer ist<br />
niedergelassener Allgemeinmedi-<br />
ziner und Sportmediziner in Kassel.<br />
Der Aufsichtsrat der DOXS eG<br />
hat die Genossenschaft mit gegründet<br />
und ist auch im Vorstand<br />
des Gesundheitsnetz Nordhessen<br />
e. V. (GNN).<br />
33
Foto: AOK<br />
34<br />
privatärztlichen Abrechnung mit Einzelleistungsvergütung.<br />
Die Frage ist aber: Wie wer<strong>den</strong> die GOÄ und<br />
die Vergütung dann aussehen? Seit Jahren wird eine<br />
neue GOÄ verhandelt, die statt Einzelleistungsvergütung<br />
eine pauschalierte Systamatik vorsieht, ähnlich<br />
<strong>den</strong> DRGs der Krankenhäuser.<br />
Die Abschläge, die Apotheken und Heilmittelerbringer<br />
für gesetzlich Versicherte zahlen müssen, zeigen,<br />
dass eine Umstellung auf Kostenerstattung nicht<br />
ohne Weiteres zu einem ungedeckelten GOÄ-System<br />
führen wird, insbesondere solange die Politik<br />
<strong>den</strong> Niedergelassenen nur eine fixe Summe der Gesundheitsausgaben<br />
zur Verfügung stellt. Im Übrigen:<br />
Was ist mit <strong>den</strong> Außenstän<strong>den</strong> säumiger Zahler<br />
(in der Schweiz sind das 30 %!). Mit anderen Worten:<br />
Das neue System würde nicht mehr Jahresumsatz<br />
bedeuten.<br />
Ein Grundprinzip, das sich seit der Einführung der<br />
Krankenkassen durch die Sozialgesetzgebung von<br />
Reichskanzler Bismarck entwickelte, war einerseits die<br />
Einbindung möglichst aller Bürger in die Versicherung<br />
mit andererseits ungehindertem Zugang zu <strong>den</strong><br />
Leistungen. Dieses Kriterium hat die WHO aufgenommen,<br />
indem sie sich für <strong>den</strong> barrierefreien Zugang<br />
zur ärztlichen Versorgung ausspricht. Dieses<br />
Grundprinzip wurde erst in <strong>den</strong> letzten 20 Jahren<br />
durch Einführung von Zuzahlungen und Praxisgebühr<br />
ausgehebelt. Die Einführung der Praxisgebühr<br />
hat dazu geführt, dass Menschen, die sich die Gebühr<br />
nicht mehr leisten konnten, dem Gesundheitswesen<br />
fernblieben. Ich kann eine Handvoll Personen<br />
aufzählen, die sich genau mit diesen Worten mir gegenüber<br />
von der medizinischen Versorgung zurückzogen<br />
und „sozialverträglich“ in <strong>den</strong> nächsten Jahren<br />
verstarben. Genauso wie die Selbstbeteiligungen und<br />
„Eintrittsgebühren“ würde die Kostenerstattung die<br />
Teilhabe armer Bevölkerungsschichten am Gesundheitswesen<br />
verhindern – mit der Gefahr, dass die Kosten<br />
noch steigen, wenn Komplikationen auftreten,<br />
die <strong>bei</strong> einem früheren Arztbesuch zu vermei<strong>den</strong> gewesen<br />
wären. Gesundheit und deren Abwesenheit –<br />
sprich Krankheit – ist nicht vergleichbar mit materiellen<br />
Werten. Ein Mensch mit körperlicher Not oder<br />
psychischer Bedrängnis muss sich ohne Ansehen des<br />
Geldbeutels an <strong>den</strong> Arzt seines Vertrauens wen<strong>den</strong><br />
können.<br />
Dem Patienten ist es nicht möglich, die Plausibiliät<br />
medizinischer Leistungen zu überprüfen. Er wird immer<br />
dem Ratschlag des Arztes für weitere Maßnahmen<br />
zur Absicherung der Diagnose folgen. Damit ist<br />
die Tür geöffnet für unnötige medizinische Untersuchungen<br />
aus pekuniären Motiven. Der Lösungsansatz:<br />
Wie bereits in vielen Ländern Europas umgesetzt<br />
und wie von der WHO empfohlen, sollte der Zugang<br />
zur primärärztlichen Versorgung ohne Barriere möglich<br />
sein. Die ersten Schritte zu einer solchen Versorgung<br />
hat der Gesetzgeber durch die § 73 b und c des<br />
SGB V geebnet.<br />
Nicht jeder Schnupfen muss zum HNO-Arzt, nicht<br />
jeder banale Rückenschmerz geröntgt wer<strong>den</strong>. Der<br />
Zugang zur fachärztlichen Ebene sollte nach medizinischen<br />
Kriterien erfolgen. Schnittstellen hierzu müssen<br />
definiert wer<strong>den</strong> – unter anderem dies ist Aufgabe<br />
der DOXS eG in <strong>den</strong> kommen<strong>den</strong> Jahren.<br />
Die zukünftige gesundheitspolitische Landschaft wird<br />
sich ändern. Die Hoffnung, dass es ein Zurück zur<br />
Einzelleistungsvergütung und damit zur Kostenerstattung<br />
geben wird, ist in Wahrheit ein Rückblick in<br />
die Vergangenheit.<br />
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Pneumonitis u. Lungenödem), tox. epiderm. Nekrolyse,<br />
Reakt. ähnlich einem kut. Lupus erythematodes bzw. Wiederauftr.<br />
eines kutanen Lupus erythematodes, Pankreatitis,<br />
Ikterus (intrahepat. cholestat. Ikterus), Muskelkrämpfe,<br />
Nierenfunktionsstör., interstit. Nephritis, Fieber, Blut-Harnstoff-Stickstoff-<br />
(BUN) u. Serum-Kreatinin-Anstieg. Mögliche<br />
Laborwertveränd.: Abnahme d. Hämoglobin- od. Natriumwerte,<br />
Erhöhung der ALAT (S-GPT), Kreatinin-, Harnstoff-,<br />
Kalium-, Harnsäure- und Glukosewerte, sowie der<br />
ASAT (S-GOT). Hinw.: Beeinträchtigung b. Führen v. Kraftfahrzeugen<br />
od. b. Bedienen v. Maschinen mögl., da während<br />
einer Behandl. Schwindel od. Müdigkeit auftreten<br />
können. In Verbind. m. Anästhesie u. chirurg. Eingriffen Hypotonie<br />
mögl. Sehr selt. Einsatz intraven. Flüssigk. u./od.<br />
Vasopressoren b. starker Ausprägung d. Hypotonie erforderl.<br />
Wechselw. sowie sonst. Hinw.: siehe Fachinfo. Handelsformen:<br />
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