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Erinnerungen an Lauterbach, Kreis Reichenbach unter der Eule ...

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Es durfte nur so viel H<strong>an</strong>dgepäck mitgenommen werden, wie ein Mensch tragen konnte. Erlaubt o<strong>der</strong><br />

besser verl<strong>an</strong>gt, waren Nahrungsvorräte für ca. 14 Tage. Die Wohnungen mussten in dem Zust<strong>an</strong>d<br />

verlassen werden, in dem sie sich zu <strong>der</strong> Zeit bef<strong>an</strong>den. Wertgegenstände mitnehmen war nicht<br />

erlaubt. Die Haustüren durften nicht abgeschlossen werden, die Schlüssel mussten von außen in den<br />

Schlössern stecken.<br />

Zeit und Ort <strong>an</strong> dem sich die erste Gruppe <strong>der</strong> <strong>Lauterbach</strong>er Vertriebenen einzufinden hatte wurde<br />

bek<strong>an</strong>nt gemacht. Es war <strong>der</strong> 19. April 1946, die Schlesier hatten sogar schon die Frühjahrbestellung<br />

abgeschlossen. An diesem traurigen Tag trafen sich die <strong>Lauterbach</strong>er hinter dem Haus vom Klosig-<br />

Bäcker, wo die Straße mit einer Rechtskurve <strong>Lauterbach</strong> verlässt und über die Eichberge, Praus und<br />

Bertholdsdorf nach <strong>Reichenbach</strong> führt. Zum Tr<strong>an</strong>sport <strong>der</strong> Alten und Gehbehin<strong>der</strong>ten tauchten d<strong>an</strong>n<br />

doch Pferdefuhrwerke auf. Dabei war auch ein deutscher Bauer, <strong>der</strong> von dem Vertreibungsschicksal<br />

<strong>der</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>en nicht betroffen war und schon auf den Hof spekulierte, zu dessen Besitzer er sich durch<br />

sein polenfreundliches Verhalten gern machen wollte. Seine Verw<strong>an</strong>dtschaft, die aus dem polnischsprechenden<br />

Ostgebiet Schlesiens vor den Russen nach <strong>Lauterbach</strong> geflüchtet war, konnte plötzlich<br />

kein Wort deutsch mehr und sie blieben – zur großen Überraschung <strong>der</strong> <strong>Lauterbach</strong>er - mit den von<br />

Osten nach Schlesien gekommenen Polen in unserer Heimat.<br />

Viel Zeit blieb den Deutschen für die Vorbereitungen nicht. Wo irgendwie möglich wurden<br />

Wertgegenstände vergraben, in <strong>der</strong> Hoffnung, diese bei <strong>der</strong> ersehnten Rückkehr in die Heimat<br />

ausgraben zu können. Geld wurde teilweise in die Kleidung eingenäht, Gold und <strong>an</strong><strong>der</strong>e Wertsachen<br />

zwischen <strong>der</strong> Nahrung und den lebensnotwendigen Utensilien verstaut. Meine Schwester packte den<br />

Goldschmuck in Watte gewickelt in den Fe<strong>der</strong>betten, hatte Glück, weil die Polen sie trotz ständiger<br />

Durchsuchungen nicht f<strong>an</strong>den. Die wenigsten Habseligkeiten verließen aber mit den Schlesiern die<br />

Heimat. Ständige Kontrollen von habgierigen Milizen machten die Menschen so arm wie die<br />

sprichwörtlichen Kirchenmäuse.<br />

Die Schule in <strong>Reichenbach</strong>, das rote Backsteingebäude neben <strong>der</strong> berühmten ev<strong>an</strong>gelischen Kirche<br />

von Carl Gotthard L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s, dem bek<strong>an</strong>nten schlesischen Kirchenbaumeister, war eine Nacht<br />

Quartier. Am nächsten Morgen wurde alles, was noch übrig geblieben war, auf H<strong>an</strong>dwagen verladen.<br />

Eine l<strong>an</strong>ge, g<strong>an</strong>z traurige Karaw<strong>an</strong>e von H<strong>an</strong>dwagen bewegte sich von <strong>der</strong> <strong>Reichenbach</strong>er Oberstadt<br />

in die Nie<strong>der</strong>stadt, über die Peile, zum <strong>Reichenbach</strong>er Bahnhof. Dort wurden in einen Guterwagen,<br />

dreißig Personen gepfercht und ein Wagenältester bestimmt. Die schlesischen Tr<strong>an</strong>sporte, die das<br />

Lager Mariental bei Helmstedt erreicht haben, sind in dem Buch: „Das Flüchtlingslager Mariental<br />

1945-1947) und die Vertriebenentr<strong>an</strong>sporte aus Schlesien (1946-1947) für die Nachwelt festgehalten.<br />

Dort können auch die Ankunftszeiten <strong>der</strong> Tr<strong>an</strong>sporte aus <strong>der</strong> <strong>Kreis</strong>stadt <strong>Reichenbach</strong> nachgelesen<br />

werden. Von hier wurden die <strong>Lauterbach</strong>er mit Lastkraftwagen nach Seesen in den <strong>Kreis</strong> Bad<br />

G<strong>an</strong><strong>der</strong>sheim tr<strong>an</strong>sportiert. Im Schützenhaus Seesen gab es eine Mahlzeit und <strong>an</strong>schließend<br />

verteilte m<strong>an</strong> die Vertriebenen auf die einzelnen Dörfer. In Bornhausen, Ackenhausen, Badenhausen<br />

und Gittelde teilte m<strong>an</strong> sie den einzelnen, ausgesuchten Familien als „Untermieter“ zu. In Gittelde<br />

empfing m<strong>an</strong> die auf <strong>der</strong> l<strong>an</strong>gen Fahrt völlig demoralisierten Menschen im Saal – gegenüber dem<br />

heutigen Sportplatz. Das Saalgebäude musste inzwischen Neubauten <strong>der</strong> Fa. Fuba weichen, <strong>der</strong><br />

Sportplatz ist heute noch dort. Die Verteilung <strong>der</strong> Familien auf die einzelnen Dörfer war genau vorher<br />

festgelegt. Son<strong>der</strong>wünsche, dass etwa <strong>unter</strong>ein<strong>an</strong><strong>der</strong> gut bek<strong>an</strong>nte Familien – die schon in<br />

<strong>Lauterbach</strong> intensive Kontakte hatten – in ein Dorf kommen wollten, erfüllte niem<strong>an</strong>d. Es war<br />

bewusst gesteuert, dass nicht viel <strong>unter</strong>ein<strong>an</strong><strong>der</strong> bek<strong>an</strong>nte Vertriebene in ein Dorf kamen, denn m<strong>an</strong><br />

fürchtete dabei eine noch stärkere Polarisierung von Einheimischen und Vertriebenen. So k<strong>an</strong>nten<br />

sich zwar die Einheimischen, die Vertriebenen <strong>unter</strong>ein<strong>an</strong><strong>der</strong> aber nicht. So ging m<strong>an</strong> befürchteten<br />

Zwischenfällen und Streitigkeiten aus dem Wege. In Gittelde wurden den Vertriebenen auf dem<br />

Gelände <strong>der</strong> Domäne Staufenburg – also ca. 2 km nördlich vom Dorfkern – Gartenparzellen zur<br />

Verfügung gestellt, auf denen sie Gemüse, Kartoffeln usw. <strong>an</strong>bauen konnten. Eine große Hilfe in <strong>der</strong><br />

damals schlechten Zeit, wo es nichts zu kaufen gab. Wie die teilweise schlesischen Großbauern<br />

diese neue Situation seelisch und moralisch verkraftet haben, k<strong>an</strong>n heute nur vermutet werden.<br />

Sogar Ährenlesen und Kartoffelstoppeln auf den abgeernteten Fel<strong>der</strong>n gehörten zum täglichen<br />

Überlebenskampf. Himbeeren, Pilze und Bucheckern lieferten die Wäl<strong>der</strong> des Vorharzes und<br />

bereicherten damit die kargen Speisezettel <strong>der</strong> Heimatvertriebenen. Es war nur folgerichtig, dass alle<br />

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