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Christliche Ethik im Religionsunterricht - Amt für kirchliche Dienste

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Friedrich Lohmann<br />

<strong>Ethik</strong> – was ist das eigentlich?<br />

„Wir brauchen eine neue <strong>Ethik</strong>.“ So oder ähnlich hat es oft geheißen<br />

in den letzten Monaten. Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die<br />

uns nun seit über einem Jahr in Atem hält, wird gern als Resultat<br />

eines Mangels an <strong>Ethik</strong> interpretiert, was dann sofort den Ruf nach<br />

einer „neuen“ <strong>Ethik</strong> auslöst, mit der der ökonomischen „Gier“ von<br />

vornherein ein Riegel vorgeschoben wäre.<br />

Diese Renaissance der <strong>Ethik</strong> <strong>im</strong> öffentlichen Bewusstsein löst<br />

be<strong>im</strong> <strong>Ethik</strong>er zwiespältige Gefühle aus. Eigentlich kann es ihm<br />

nur Recht sein, wenn seine Disziplin derart in das Zentrum der<br />

öffentlichen Aufmerksamkeit rückt. Doch auf der anderen Seite<br />

registriert er mit Sorge, dass die neue Popularität einem recht eingeschränkten<br />

Verständnis von <strong>Ethik</strong> gilt: der <strong>Ethik</strong> als Korrektiv,<br />

das genau dann ins Spiel kommt, wenn die üblichen Steuerungsmechanismen<br />

der Gesellschaft versagen. Wie begründet diese<br />

Sorge ist, wird daran deutlich, dass der Ruf nach <strong>Ethik</strong> in den<br />

letzten Wochen, in denen die Wirtschaftskurven langsam wieder<br />

nach oben zeigen, deutlich leiser geworden ist. Wer jetzt noch<br />

eine neue <strong>Ethik</strong> fordert, riskiert, in der öffentlichen Wahrnehmung<br />

in das alte Bild des <strong>Ethik</strong>ers als Bedenkenträger und Neinsager<br />

zurückzufallen. „Hier habe ich ethische Bedenken“ – dieser Satz<br />

klingt unserem Ohr vertrauter als der Gedanke einer <strong>Ethik</strong> der<br />

Lebensfülle, wie sie etwa Dietrich Bonhoeffer vor bald 70 Jahren<br />

gefordert hat. Und doch ist es dieser Gedanke einer umfassenden<br />

Perspektive auf das Leben <strong>im</strong> Ganzen, der die <strong>Ethik</strong> von ihren<br />

Anfängen her weit stärker geprägt hat als die wohlmeinende, aber<br />

zu kurz greifende Deutung als bloßes Korrektiv.<br />

Der Begriff „<strong>Ethik</strong>“ geht auf das griechische „Ethos“ zurück, das<br />

ursprünglich den Wohnort, dann übertragen die Gewohnheit und<br />

die Sitte bezeichnet. Es geht also um das Sittliche, die in einer<br />

Gesellschaft üblichen oder auch gewünschten Handlungs- und<br />

Lebensweisen. <strong>Ethik</strong> ist darin gleichbedeutend mit Moral, die sich<br />

vom entsprechenden lateinischen Wort „mos“ ableitet. Dennoch<br />

hat sich eine terminologische Differenzierung eingebürgert, laut<br />

der die Moral eher <strong>für</strong> die gelebte Sittlichkeit steht, während die<br />

<strong>Ethik</strong> eine Meta-Ebene einn<strong>im</strong>mt und als Reflexion auf Moral<br />

und Sittlichkeit verstanden wird (dass die Rede von der Moral<br />

<strong>im</strong> deutschen Sprachgebrauch einen negativen Beigeschmack <strong>im</strong><br />

Sinne des gesetzlichen „Moralisierens“ bekommen hat, ist ein<br />

Phänomen, das sich aus der Wortbedeutung nicht erklären lässt<br />

und auf die <strong>Ethik</strong> Kants und seiner Nachfolger zurückgehen dürfte,<br />

in der die Rede vom „moralischen Gesetz“ dominierend ist). <strong>Ethik</strong><br />

ist demnach das Nachdenken über den Ethos, ganz so wie etwa<br />

die Anthropologie das Nachdenken über den Menschen, Logos<br />

des Anthropos, ist. Man müsste streng genommen von Ethologie<br />

sprechen, wäre dieser Begriff nicht schon anderweitig <strong>für</strong> die<br />

Verhaltensforschung vergeben. Als Reflexionsleistung wird sie <strong>im</strong><br />

Prinzip von jedem denkenden Menschen ausgeübt (jede bzw. jeder<br />

ist <strong>Ethik</strong>er, ebenso wie er bzw. sie Anthropologe oder Philosoph<br />

ist), zeigt aber eine deutliche Tendenz zur wissenschaftlichen<br />

Professionalisierung.<br />

Die <strong>Ethik</strong> hat also, wie andere Wissenschaften auch, einen spezifischen<br />

Gegenstandsbereich und sie bearbeitet diesen Gegenstandsbereich<br />

mit den Mitteln der Vernunft. Es lassen sich vier Schritte<br />

1•2010 ZEITSPRUNG I inhalte<br />

inhalte<br />

des ethischen Vernunftgebrauchs unterscheiden, die sowohl das<br />

ethische Urteil und die eventuell folgende Handlungsentscheidung<br />

<strong>im</strong> gelebten Leben als auch die Urteilsbildung in der professionellen<br />

<strong>Ethik</strong> best<strong>im</strong>men. Ich werde sie <strong>im</strong> Folgenden skizzieren und<br />

an einem vergleichsweise einfachen Beispiel veranschaulichen.<br />

Wir stellen uns vor, verspätet mit dem Auto zu einer Konzertveranstaltung<br />

zu kommen. Der Parkplatz ist überfüllt; nur noch<br />

in der Halteverbotszone <strong>für</strong> einen eventuellen Feuerwehreinsatz<br />

besteht eine Parkmöglichkeit. Was tun wir?<br />

(1) Beschreibung der Situation. Hier geht es um einen möglichst<br />

vorurteilsfreien Wahrnehmungsakt der individuellen oder gesellschaftlichen<br />

Lage, in der das zu fällende ethische Urteil verortet<br />

ist. Zur Lagebeschreibung gehören sowohl die empirischen Umstände<br />

der gegebenen Situation als auch die empirischen Konsequenzen<br />

möglicher Handlungsweisen. Im gegebenen Fall wäre<br />

hier an alternative Parkmöglichkeiten zu denken sowie an die<br />

zu erwartenden Folgen der einen oder anderen Handlungsweise<br />

(Zunahme der Verspätung versus mögliches kostenpflichtiges<br />

Abschleppen des Autos bzw., <strong>im</strong> Extremfall, Behinderung eines<br />

Einsatzes der Feuerwehr).<br />

(2) Analyse der Situation <strong>im</strong> Blick auf die <strong>im</strong>plizierten Wertentscheidungen.<br />

Die Analyse macht explizit, welche moralisch relevanten,<br />

handlungsleitenden Überzeugungen offen oder verborgen<br />

<strong>im</strong> Spiel sind: der Wunsch, das Konzert möglichst vollständig<br />

anzuhören; die Scham, das Konzert bei verspäteter Ankunft zu<br />

stören; die Sorge um den eigenen Geldbeutel; das Pflichtgefühl,<br />

Verbotsschilder und Verkehrsregeln zu beachten; die Sorge, <strong>im</strong><br />

Fall eines Brandes Menschenleben zu gefährden.<br />

(3) Kritische Analyse der <strong>im</strong>plizierten Werte <strong>im</strong> Sinne einer Güterabwägung.<br />

Welche der genannten Überzeugungen sprechen<br />

<strong>für</strong> die eine oder andere Handlungsalternative? Welchen kommt<br />

moralisches Gewicht zu? Erst jetzt wird die Vernunft wertend<br />

tätig, und erst hier ist der Moment, an dem sich die Wege zwischen<br />

verschiedenen ethischen Optionen scheiden. Im Beispiel<br />

dürfte allerdings über den moralischen Wert der verschiedenen<br />

<strong>im</strong>plizierten Überzeugungen relative Einigkeit bestehen: Der Wert<br />

von Menschenleben überwiegt aus ethischer Sicht eindeutig den<br />

Wert des Hörgenusses und der vermiedenen Peinlichkeit. Dass die<br />

Wahl, einen anderen Parkplatz zu suchen, zusätzlich den Geldbeutel<br />

schont und das Rechtsbewusstsein stärkt, ist angenehm,<br />

aber ethisch nicht entscheidend.<br />

(4) Normative Entscheidung. Die Entscheidung erfolgt gemäß der<br />

vorausgegangenen Analyse.<br />

Dieses Vorgehen ist <strong>für</strong> beide Varianten des ethischen Urteils<br />

angemessen: <strong>für</strong> die retrospektive Beurteilung einer bereits getroffenen<br />

Entscheidung ebenso wie <strong>für</strong> eine – wie <strong>im</strong> Beispielfall<br />

– prospektive Bewertung. Man kann diese vier Schritte zu zwei<br />

zusammenfassen: einen deskriptiv-explikativen und einen kritisch-normativen<br />

Teil. Das Problem vieler ethischer Urteile liegt<br />

dabei auf der ersten Ebene: Es wird vorschnell geurteilt, bevor<br />

noch die Problemlage sine ira et studio analysiert wurde. Oder es<br />

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