Nacht ohne Morgen (pdf) - WDR.de
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Wie <strong>de</strong>finieren sich Moral und Toleranz heute, Anfang<br />
<strong>de</strong>s 21. Jahr hun<strong>de</strong>rts? Was sind die wirklichen Werte im<br />
Leben? Alle Personen in diesem Film sind auf <strong>de</strong>r Suche<br />
nach sich selbst und nach <strong>de</strong>m, was ihrem Leben einen<br />
Sinn geben könnte.<br />
Aber auch wenn sie es wissen, leben sie es nicht aus,<br />
wie man an <strong>de</strong>m Ehepaar Dänert beobachten kann.<br />
Jasper und Katharina Dänert leben mit ihren jeweiligen<br />
Lebenslügen, weil sie sich von <strong>de</strong>n Konven tionen<br />
und <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Erwartungen be drängen<br />
lassen anstatt sich davon zu befreien. Katharina Dänert<br />
betrügt ihren Mann und sie weiß, dass er es weiß. Ihr<br />
Mann hat sich im Leben selbst verloren und damit auch<br />
Verrat an sich selbst ausgeübt. Aber wir nehmen keine<br />
moralische Bewertung und schon gar keine Verurteilung<br />
vor, wir teilen nicht in Gut und Böse, son<strong>de</strong>rn stellen<br />
alle Protagonisten dieses Films in ihrer Zerrissenheit<br />
dar. Wir geben bewusst keine Antworten. Der Zuschauer<br />
kann sich zu allen Figuren verhalten, wie er sie aus<br />
seiner Lebenserfahrung bewertet.<br />
Die Geschichte berührt auch ein Tabuthema. Wie,<br />
meinen Sie, wer<strong>de</strong>n die Zuschauer reagieren?<br />
Es gibt sicherlich viele Menschen, die – und da sind<br />
wir wie<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Zwängen – ihre<br />
Sehnsüchte nicht ausleben. Dabei geht es nicht um Sexualität,<br />
son<strong>de</strong>rn I<strong>de</strong>ntität!<br />
Das Erotische steht in diesem Film nicht im Vor<strong>de</strong>rgrund,<br />
wir erzählen nicht spektakulär, auf äußere Reize<br />
bedacht, zeigen das Schöne wie das Schmerzliche nur<br />
reduziert, zart, vorsichtig. Natürlich sind wir uns bewusst,<br />
dass im Kopf vieler Zuschauer die Klischees greifen.<br />
Wir bedienen sie aber nicht, <strong>de</strong>nn es geht uns vielmehr<br />
darum, wie wichtig seelische und körperliche<br />
Berührungen für je<strong>de</strong>n Menschen sind. Wir haben uns<br />
aus diesem Grund zum Beispiel auch in Berlin für eine<br />
Kneipe entschie<strong>de</strong>n, die Wärme und eher kuschelige<br />
Wohnzimmeratmosphäre ausstrahlt, anstatt für eine<br />
coole, harte Stricherbar. We<strong>de</strong>r soziale Romantik noch<br />
Milieu-Tourismus wollten wir ausstrahlen.<br />
nacht <strong>ohne</strong> morgen 11<br />
Konzentriert sich <strong>de</strong>r Zuschauer einzig allein darauf,<br />
ob <strong>de</strong>r Mord an <strong>de</strong>m Jungen gelöst wird und wer <strong>de</strong>r<br />
Täter war, so bleiben diese Fragen bis zur letzten<br />
Minute völlig offen. Haben Sie sich bewusst für diesen<br />
Weg entschie<strong>de</strong>n?<br />
Ich mag keine Filme, bei <strong>de</strong>nen man nach zehn<br />
Minuten ahnt o<strong>de</strong>r sogar weiß, wie er laufen wird. Sogenannte<br />
knackige Expositionen, die schnell eine Filmgeschichte<br />
durchstarten lassen, interessieren mich<br />
nicht. Man muss als Zuschauer die Möglichkeit haben,<br />
sich einem Film zu nähern wie einem frem<strong>de</strong>n Menschen.<br />
Bei einer ersten Begegnung erzählt <strong>de</strong>r mir ja<br />
auch nicht sein ganzes Leben und seine Hauptkonflikte.<br />
Man muss ihn beobachten, ihm zuhören und sich über<br />
je<strong>de</strong>s Detail sein Bild vervollständigen. Ich versuche mit<br />
cineastischen Mitteln Irritationen auszulösen, was ich<br />
dadurch erreiche, in <strong>de</strong>m ich auch in »<strong>Nacht</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Morgen</strong>«<br />
viele Fehlpfa<strong>de</strong> auslege. In diesem Film gibt es<br />
immer wie<strong>de</strong>r neue Wendungen. Diese Herausfor<strong>de</strong>rung<br />
macht doch <strong>de</strong>n großen spannen<strong>de</strong>n Reiz aus –<br />
auch für <strong>de</strong>n Zuschauer, wenn er sich auf solche stillen,<br />
sich langsam aufbauen<strong>de</strong>n Filme einlässt.<br />
Wie wichtig war es, dass Sie diesen Film überwiegend<br />
in Bran<strong>de</strong>nburg gedreht haben?<br />
Der Film spielt in zwei Zeitebenen, obwohl nur die<br />
gegenwärtige Jetztzeit zu sehen ist. Die Kurz-nach-<strong>de</strong>r<br />
Wen<strong>de</strong>-Atmosphäre war mir sehr wichtig für diesen<br />
Film. Die Stimmung dieses enormen politischen und<br />
sozialen Umbruchs überträgt sich auf die Stimmung<br />
aller in dieser Geschichte han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Figuren. Wir erinnern<br />
uns an diese Zeit durch <strong>de</strong>n Film, obwohl er ein<strong>de</strong>utig<br />
aus <strong>de</strong>r Gegenwart erzählt wird.<br />
Diese Gegenwart wie<strong>de</strong>rum hat ihre Eigenheiten im<br />
Bran<strong>de</strong>nburg 2011. Kleine Verweise, wie etwa die Szene<br />
in <strong>de</strong>m nahezu entwohnten Hochhaus, in <strong>de</strong>m bewusst<br />
nichts mehr erneuert wird, auch nicht mehr <strong>de</strong>r Fahrstuhl<br />
repariert wird, weil man die Leute raushaben will.<br />
Das nicht mehr so junge Hochzeitspaar, das man kurz<br />
wahrnimmt, die gigantische futuristische Bibliothek auf<br />
<strong>de</strong>m kleinen Marktplatz in Luckenwal<strong>de</strong>, diese brüchigen<br />
Momentaufnahmen, tragen entschei<strong>de</strong>nd zur<br />
Gesamtstimmung <strong>de</strong>s Films bei.<br />
Bei je<strong>de</strong>m Film, <strong>de</strong>n man dreht, egal, wie privat die<br />
Geschichte auf <strong>de</strong>n ersten Blick erscheint, muss man<br />
sich <strong>de</strong>r Verantwortung bewusst sein, etwas über unsere<br />
Zeit, über unsere Lebensumstän<strong>de</strong> zu erzählen.