Ausgabe 10/03 - meins magazin
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Die Erfindung der romantischen Liebe<br />
Liebe besteht aus zwei Phasen. Erstmal<br />
verliebt man sich. Man ist nervös, wenn<br />
man das Objekt seines Verliebtseins in<br />
unmittelbarer Nähe wähnt.<br />
Ist es zu lange nicht in unmittelbarer<br />
Nähe, empfindet man Sehnsucht. Ein<br />
Tunnelblick entwickelt sich, der die<br />
Attraktivität Anderer ausblendet und die<br />
Aura des oder der Angebeteten umso<br />
strahlender und perfekter erscheinen<br />
lässt. Ist einige Zeit vergangen, wandelt<br />
sich das Gefühl vom Euphorischen in<br />
eine Art tiefe Sympathie. So weit die<br />
heutige westliche Vorstellung von Liebe,<br />
wie sie allgemein anerkannt ist.<br />
Doch diese Form von Liebe wohnt nicht<br />
auf wundersame Weise der natürlichen<br />
Wesensart aller Menschen inne. Auch<br />
sie ist ein Konstrukt, das erfunden und<br />
in der Gesellschaft etabliert wurde. Im<br />
Fall der romantischen Liebe geht diese<br />
Etablierung gemäß dem Philosophen<br />
Irving Singer sogar so weit, dass diese<br />
Vorstellung die gesamte moderne<br />
westliche Welt für sich eingenommen<br />
hat. Der Ursprung liegt in der Bewegung<br />
des deutschen Romantikerkreises Ende<br />
des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts.<br />
Ein wichtiges Mitglied dieses Kreises<br />
und Mitbegründer der deutschen<br />
Romantik war Friedrich Schlegel. In dem<br />
Roman Lucinde (1799) exemplifiziert<br />
er die Liebe anhand des Werdegangs<br />
des Romanhelden Julius. Dabei geht<br />
es um die Konstitution seiner eigenen<br />
Subjektivität als Künstler. Das Ich<br />
des Romantikers, so die Philosophin<br />
Sharin N. Elkholy, kann sich selbst<br />
gemäß diesem Roman nur in der<br />
Widerspiegelung eines Gegenübers<br />
eingrenzen und sich damit selbst<br />
erschaffen. Über sich selbst zu<br />
46 FeinSinn<br />
reflektieren gelingt dem Romantiker<br />
nur innerhalb der Beziehung zu einem<br />
Gegenüber, im Fall des Romanhelden<br />
in Lucinde zu einer Frau. Wird die<br />
Leidenschaft des Subjekts nicht auf ein<br />
bestimmtes Objekt gebündelt, ist sie<br />
richtungslos und somit nicht imstande,<br />
zu handeln oder gar etwas zu schaffen.<br />
Damit diese Reflexion nicht abbricht,<br />
muss das Subjekt in seinem Gegenüber<br />
immer neue Aspekte entdecken, durch<br />
die es wiederum neue Facetten an sich<br />
selbst erkennt. Das Objekt der Liebe<br />
wird somit als unendlich gesehen, es<br />
wird idealisiert.<br />
Bei diesem komplexen Zusammenspiel<br />
der Selbstkonstitution in der Liebe<br />
zum Zweck der Inspiration zur Kunst<br />
handelt es sich jedoch nicht um ein<br />
gleichberechtigtes Spiegeln. Die Frau<br />
wird in dieser Idealisierung als Quelle<br />
der Liebe gesehen, die vom Mann<br />
erst freigesetzt werden muss. Der<br />
programmatische Roman trägt zwar den<br />
Namen der Frau, die der Romanheld<br />
Julius idealisiert. Der eigentliche Inhalt<br />
ist jedoch die Selbstfindung des<br />
Romanhelden mithilfe der Liebe zu einer<br />
Frau. Dabei wird diese Frau von außen<br />
idealisiert. Hier stellt sich die Frage nach<br />
der Konstitution des weiblichen Selbst,<br />
wenn sie doch primär Mittel zum Zweck<br />
der männlichen Selbstfindung dient.<br />
Doch die Entstehung der romantischen<br />
Liebe lässt auch die heutige Vorstellung<br />
von Liebe in kritischem Licht erscheinen.<br />
Auch wenn man davon ausgeht, dass<br />
das Abgrenzen und Situieren des Ichs<br />
auch von der anderen Seite in einer<br />
gleichberechtigten Liebesbeziehung<br />
geschieht, in der sich beide gegenseitig<br />
reflektieren und erkennen. Dass der<br />
andere ideal sein muss, damit die<br />
romantische Liebe entstehen kann, wird<br />
deutlich, wenn umgangssprachlich die<br />
Rede von „der/dem Richtigen“ ist, nach<br />
dem gesucht wird. Inwiefern romantische<br />
Liebe lediglich eine Selbstfindung<br />
mithilfe einer menschlichen<br />
Projektionsfläche sein kann, die<br />
Kreation eines eigenen Ideals, dem das<br />
Gegenüber zu entsprechen hat, zeigt die<br />
Entstehung dieser Idee. Es lohnt sich<br />
auch hier, sich vor Augen zu führen, dass<br />
es sich um eine Vorstellung handelt, die<br />
eine Alternative zu anderen ist, die aber<br />
allgemein anerkannt und medial immer<br />
wieder transportiert wird.<br />
Iris Sygulla / Bild von sxc.hu<br />
FeinSinn 47