Ausgabe 10/03 - meins magazin
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50 FeinSinn<br />
Als ich an dem Irish Pub vorbei gehe,<br />
kommen sie vor mir aus dem Laden raus.<br />
Sie sind beide höchstens 20, wahrscheinlich<br />
jünger. Er ist groß und schlaksig, sieht<br />
nach Alternativrock aus, aber auf eine<br />
altmodische, vorstädtische Weise. Keiner<br />
von denen mit den Karo-Pantoffeln und<br />
den tiefsitzenden Röhrenhosen, die unterm<br />
Arsch ein straff gespanntes Segel bilden.<br />
Stattdessen ziert den Rücken seiner<br />
schwarzen Motorradjacke ein Heavy<br />
Metal-Aufnäher, und seine Jeans trägt er<br />
ordentlich auf der Hüfte, wodurch seine<br />
langen spindeldürren Beine ins Auge<br />
springen. Sie trägt eine lange braune<br />
Steppjacke und ist einen Kopf kleiner als er.<br />
Ihre Stiefel sehen nicht besonders alternativ<br />
aus.<br />
Sie gehen nebeneinander her, aber zu<br />
weit voneinander weg, als dass sie schon<br />
zusammen sein könnten, es sieht mehr<br />
nach einer ersten Verabredung aus. Sie läuft<br />
komisch; ein bißchen wie ein Preisboxer,<br />
breitbeinig, mit schwingenden, weit<br />
ausholenden Armbewegungen. Im Laufen<br />
wirft sie ihm hin und wieder einen zaghaften<br />
Blick von der Seite zu. Er streicht sich<br />
nervös den Kapuzenpullover um den Gürtel<br />
glatt und sieht meistens stur gerade aus, die<br />
Hände in den Taschen.<br />
Die Absätze ihrer Stiefel knallen dumpf<br />
auf die Gehwegplatten. Es scheint so, als<br />
hätte sie sich die Stiefel von ihrer großen<br />
Schwester für heute Abend geliehen, aber<br />
den Dreh noch nicht raus, wie man damit<br />
auch so läuft, dass es sexy wirkt. Bei seinen<br />
seltenen Blicken zur Seite blitzen seine<br />
Brillengläser in der Straßenbeleuchtung auf.<br />
Die dünnen Haare hängen ihm in die Stirn.<br />
Es ist nach halb drei Uhr morgens, also<br />
war ihre Verabredung wahrscheinlich kein<br />
Reinfall. Sie haben ein paar Stunden in<br />
der Kneipe verbracht, und die Momente<br />
peinlicher Stille sind immer seltener<br />
geworden. Wer hätte das gedacht, als<br />
sie sich vor zwei Wochen zufällig auf<br />
den Gängen des Hauptgebäudes über<br />
den Weg liefen. Zuerst war es so, wie es<br />
meistens ist, wenn sich Menschen wieder<br />
begegnen, die Jahre auf der gleichen<br />
Schule verbracht haben, aber nie ein Wort<br />
miteinander wechselten: zäh, verdruckst<br />
und unbeholfen.<br />
Aber dann standen sie eine halbe Stunde<br />
vor der Tür des Hörsaals, um am Ende<br />
dieses Treffen zu verabreden. Keiner von<br />
beiden dachte dabei an ein Date; es war<br />
mehr die Erleichterung, in der Flut von<br />
Neuem jemand Bekannten gefunden zu<br />
haben, etwas an dem man ansetzen kann.<br />
Auch als sie dann im Irish Pub sitzen,<br />
kommen sie erst dann richtig ins Gespräch,<br />
als sie anfangen von früher zu erzählen.<br />
Sie haben festgestellt, dass sie bei<br />
ihren Lehrern die gleichen Vorlieben und<br />
Abneigungen hatten, worüber sie damals<br />
nie miteinander gesprochen hätten. Er führt<br />
ihr seine Imitation ihres Chemie-Lehrers<br />
vor, der immer Goldkettchen trug und<br />
bis in die dritte Reihe nach kaltem Rauch<br />
stank. Sie verschluckt sich beim Lachen,<br />
und jetzt versteht sie endlich, was daran<br />
so lustig war, wenn er mit seinem Kumpels<br />
früher in der letzten Reihe albern kichernd<br />
Verrenkungen machte und den Unterricht<br />
störte.<br />
Aber irgendwann hat dann der Barkeeper<br />
die letzte Runde angekündigt und wohl<br />
oder übel sind sie jetzt auf dem Weg zur<br />
Straßenbahn, und die Unsicherheit kommt<br />
wieder zurück. Beide haben den Abend und<br />
die Gesellschaft des Anderen genossen<br />
und beide denken an dasselbe: Dass sie in<br />
die große Stadt gegangen sind, um etwas<br />
zu erleben, dass das hier eigentlich genau<br />
das ist, was sie damit meinten, dass sie<br />
inzwischen wirklich alt genug sind und<br />
worauf sie eigentlich noch warten wollen.<br />
Und doch wissen sie nicht genau, wie sie es<br />
anstellen sollen. Es fehlt der Vergleich, und<br />
beide beobachten vorsichtig die Reaktionen<br />
des jeweils anderen.<br />
Es ist eine unangenehme Situation und<br />
will nicht ganz zu ihrer vorherigen guten<br />
Laune passen. Aber zwischendurch treffen<br />
sich ihre Blicke doch, und dann lächelt sie,<br />
schlägt frierend die Arme um den Körper<br />
und beugt sich zu ihm hin, um den Witz<br />
besser zu verstehen, den er leise in seinen<br />
Bartflaum nuschelt. Es scheint schwierig,<br />
aber diese Blicke lassen doch Hoffnung<br />
aufkommen, dass sie sich an der Bahn<br />
nicht einfach voneinander verabschieden,<br />
um dann jeweils auf dem Heimweg darüber<br />
nachzudenken, was gewesen wäre wenn.<br />
Vielleicht passiert es diesmal einfach so,<br />
und morgen werden sie sich gar nicht mehr<br />
erinnern können, wer den ersten Schritt<br />
gemacht hat.<br />
Aber ich werde es nicht mehr erfahren,<br />
denn an der nächsten Kreuzung biege<br />
ich in die dunklere Seitenstraße ein, wo<br />
der nächtliche Straßenlärm abklingt und<br />
zwischen den Häusern verhallt. Ich sehe<br />
sie noch, während ich abdrehe, im Pulk<br />
vor dem Kiosk verschwinden und wünsche<br />
ihnen alles Gute.<br />
Nein, ehrlich.<br />
Christopher Dröge<br />
FeinSinn 51