50 - Alexander von Humboldt-Stiftung
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1 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
>><br />
Editorial<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
wenn ich als Kind durch die Straßen meiner Heimatstadt<br />
(des bayerischen Augsburg) ging, habe ich mich<br />
an den sprudelnden Brunnen der breiten Straße<br />
gefreut, welche die Stadt <strong>von</strong> Süden nach Norden<br />
durchquert. Lesen konnte ich die Bilder der Architektur<br />
damals nicht. Diese breite Straße, so wurde mir<br />
später bewusst, ist spätantiken Ursprungs, weil die<br />
Gründung der Stadt auf ein Kastell römischer Legionen<br />
zurückgeht. An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert<br />
hat dann die Freie Reichsstadt den alten Prozessionsweg<br />
durch drei in Brunnenform gefasste Denkmäler<br />
geschmückt, durch einen Augustus-, einen Merkur-<br />
und einen Herkulesbrunnen. Wer „lesen“ kann,<br />
wird darin den wohlgeordneten sozialen Raum der<br />
alten Stadt erkennen: Augustus ist Sinnbild des Stadtregiments;<br />
Merkur, der Gott des Handels, ist Allegorie<br />
der patrizischen Kaufmannsgeschlechter; und Herkules<br />
schließlich ist Abbild der Handwerker, die in den<br />
heute noch nach ihnen benannten Gässlein, getrennt<br />
nach Berufen, abseits der breiten Straße zusammenwohnten.<br />
So gibt es in den alten Städten eine Brotund<br />
eine Fleischstraße, ein Färbergässlein, einen<br />
Schmiedberg und viele andere sprechende Straßen.<br />
Gekrönt wurde in Augsburg das Ensemble der Brunnen<br />
durch den Reichsadler auf dem Giebel des städtischen<br />
Siegelhauses. Denn der Kaiser war der eigentliche<br />
Herr der Freien Reichsstadt. Der Heidelberger<br />
Archäologe Tonio Hölscher hat gezeigt, dass solch<br />
sprechende Stadtbilder, in denen sich die Architektur<br />
mit Skulpturen, Mosaiken und Vasenbildern verbindet,<br />
in der griechischen und der römischen Antike wurzeln.<br />
Er hat belegt, dass und wie eine solche Bildsprache<br />
<strong>von</strong> allen Bewohnern der heterogenen Teile der alten<br />
Reiche verstanden wurde.<br />
Bis tief in das 18. Jahrhundert hinein haben alle Dinge<br />
der Natur und der Kultur etwas bedeutet. Die Menschen<br />
konnten mehr Sprachen lesen als nur die der<br />
Wörter, der Texte, der Schriftzeichen. Sie konnten die<br />
Kirchen, die Tempel, die Friedhöfe lesen, sie lebten in<br />
und mit den Ritualen, die dort verrichtet wurden, die<br />
Biblia Pauperum war auf die Innenwände mittelalterli-<br />
Titelthema Coverstory<br />
cher Dome gemalt. Das 18. Jahrhundert, die Zeit der<br />
Aufklärung, hat den Orient vom Okzident getrennt.<br />
Jetzt verloren die „Dinge“, die einst auf das hinter<br />
ihnen liegende „Numinose“ verwiesen, ihre vielschichtige<br />
Aussage. Sie „bedeuteten“ nicht mehr, sie waren<br />
nur noch sie selbst. In dieser Zeit entstand mit der Vorherrschaft<br />
der Wörter und der Texte die moderne, rationale<br />
Wissenschaft, in deren Kern der kreative Zweifel<br />
nistet. Wir, die wir in Zeiten aufgewachsen sind, die<br />
<strong>von</strong> Wörtern und Texten beherrscht werden, sind leicht<br />
zu betrügen <strong>von</strong> unerkannten Ritualen, <strong>von</strong> unbestechlichen<br />
Fotografien, welche scheinbar nur Wirklichkeit<br />
abbilden, aber doch manipulierbar sind.<br />
„Medienkompetenz“ nennen wir den Versuch, über die<br />
Worte und die Texte hinauszudringen, einer flüchtigen<br />
Zeit die Dynamik der Rituale abzuschauen, zu lernen,<br />
welche Sprache die Bilder sprechen, wie zumal die<br />
Fotografie und das bewegte Bild unser Leben dominieren.<br />
Die amerikanische Essayistin Susan Sontag, die<br />
2003 in Frankfurt mit dem Friedenspreis des Deutschen<br />
Buchhandels ausgezeichnet wurde und ihr<br />
Leben darauf gesetzt hat, die tiefe Kluft zwischen dem<br />
„neuen“ Amerika und dem „alten“ Europa zu erklären,<br />
hat uns deutlich gemacht, dass und wie unsere Wirklichkeit<br />
zumal durch die Kriegsfotografie gedeutet und<br />
verfälscht werden kann, welche Macht für die im Bildsehen<br />
ungeübten Menschen selbst <strong>von</strong> einer Fiktion<br />
der Wirklichkeit ausgeht. Die Wirklichkeit, die wir<br />
leben, stellt sich in Bildern und in Sprache her, in Bildern<br />
der Erinnerung ebenso wie in Visionen der<br />
Zukunft. Beide, Vergangenheit und Zukunft, stehen<br />
(nach Maurice Halbwachs) nicht naturwüchsig an. Sie<br />
sind soziale Setzungen, konstruiert aus den jeweiligen<br />
Bedürfnissen der Gegenwart. Von der Macht der Bilder<br />
handelt dieses Heft des <strong>Humboldt</strong>-Kosmos. Wir alle<br />
sind ihr unterworfen und sollten daher versuchen,<br />
„lesen“ zu lernen.<br />
Aus Bonn grüßt herzlich die Mitglieder der weltweiten<br />
<strong>Humboldt</strong>-Familie<br />
Wolfgang Frühwald