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Dr. Friederike Benthaus-Apel, Köln. - Haus kirchlicher Dienste

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<strong>Friederike</strong> <strong>Benthaus</strong>-<strong>Apel</strong><br />

„Wieviel Institution braucht Religion?“<br />

Welche Erfahrungen haben Christen und Nichtchristen mit der Institution Kirche,<br />

Einleitung:<br />

welche Erwartungen haben sie? Eine soziologische Sicht<br />

Vortrag anläßlich des<br />

1. Forum zur Begegnung von Christen und Muslimen in Niedersachsen<br />

am 12. Dezember 2003<br />

im <strong>Haus</strong> <strong>kirchlicher</strong> <strong>Dienste</strong> in Hannover<br />

Ich bin gebeten worden, Ihnen anhand der Daten aus der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsstu-<br />

die einen Eindruck davon zu vermitteln, welches Verhältnis evangelische Christen zu ihrer<br />

Kirche haben: Wie sehen evangelische Kirchenmitglieder die Institution Kirche, welches Ver-<br />

ständnis haben sie von ihrer Kirchenmitgliedschaft, und wie gestaltet sich ihre Beteiligung am<br />

kirchlichen Leben?<br />

Unter dem Titel dieser Veranstaltung „Wieviel Institution braucht Religion?“ und dem Titel<br />

meines Vortrages „Welche Erfahrungen haben Christen und Nichtchristen mit der Institution<br />

Kirche, welche Erwartungen haben sie ?“ sind eine Vielfalt von Fragestellungen angespro-<br />

chen, welche hier sicher nicht alle gleichermaßen beantwortet werden können. Lassen Sie<br />

mich deshalb einige ordnende Vorbemerkungen machen:<br />

1. Im Titel meines Vortrages wird nach den Erwartungen der Christen im Hinblick auf ihre<br />

Kirche gefragt. Die Mitgliedschaftsstudie der EKD richtet ihr Interesse auf die evangeli-<br />

schen Christen, wenngleich aus der religionssoziologischen Forschung viele Parallelen,<br />

aber eben auch manche typischen Unterschiede, z.B. im Gottesdienstbesuch zwischen e-<br />

vangelischen und katholischen Christen, bekannt sind. Wenn hier aus der EKD Studie be-<br />

richtet wird, so bezieht sich dies also nur auf die evangelischen Kirchenmitglieder. Ich<br />

1


werde in der Regel Zahlenmaterial über die westdeutschen evangelischen Kirchenmitglie-<br />

der präsentieren, da für diese Gruppe Zeitreihen seit 1972 vorliegen.<br />

2. Der Titel „Wieviel Institution braucht Religion?“ spielt auf die Differenz zwischen Reli-<br />

giösität und Kirchlichkeit an. Hierzu kann aus den Kirchenmitgliedschaftsstudien einiges<br />

gesagt werden, da sie es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese Differenz näher auszu-<br />

leuchten und zu verstehen, wie evangelische Kirchenmitglieder ihre (christliche) Religio-<br />

sität verstehen und sie sie in dem institutionellen Rahmen der Kirchenmitgliedschaft auf-<br />

gehoben und verankert sehen.<br />

In diesem Zusammenhang steht auch die religionssoziologische Frage zur Diskussion, in-<br />

wieweit sich durch den geringer werdenden Grad der Institutionalisierung von Religion in<br />

der bundesrepublikanischen Gesellschaft (Kirchenaustritte, Rückgang in der Teilnahme<br />

am Gottesdienst) auch insgesamt ein wachsender Trend zur Säkularisierung abzeichnet.<br />

3. Die Frage nach dem nötigen oder für notwendig erachteten Grad der Institutionalisierung<br />

von Religion läßt sich jedoch weder unabhängig von der Rolle der Institution Kirche in<br />

der bundesrepublikanischen Gesellschaft noch unabhängig von ihrer Bedeutung in sozial-<br />

historischer Perspektive beantworten. Auf diese Fragen kann ich in meinem Vortrag nicht<br />

ausführlich eingehen, möchte aber dennoch andeuten, welche Aspekte in diesem Zusam-<br />

menhang m.E. von Bedeutung sind:<br />

3a) Das Mitgliedschaftsverständnis vieler Kirchenmitglieder ist mit geprägt durch die staats-<br />

kirchliche Tradition der evangelischen Kirche. „Seit der Reformation war die Kirche einer-<br />

seits institutionell bis nach dem 1. Weltkrieg vom Staat getragen, was auch in die volkskirch-<br />

lichen Verhältnisse seitdem nachwirkte. Andererseits haben Reformation und Aufklärung die<br />

Freiheit des Gewissens, Denkens und Urteilens befördert. Die Kombination beider Faktoren<br />

scheint in der Mitgliedschaft bei allen Größenverhältnissen gleichbleibend ein relatives<br />

Gleichgewicht von Distanz und Nähe zu bewirken“(Schloz 2003 :10).<br />

3b) Da die Kirchenmitgliedschaft in der Regel durch die Kindestaufe zustande gekommen ist,<br />

wird sie dementsprechend in der persönlichen Biographie zunächst als ein zugeschriebenes<br />

Merkmal erfahren. Erst im Verlauf der eigenen Lebensgeschichte unterliegt sie unterschiedli-<br />

chen Wandlungen und Ausgestaltungen. Die in Elternhaus und Schule erlebte religiöse Sozia-<br />

lisation ist deshalb von nicht unerheblicher Bedeutung für das eigene Mitgliedschaftsver-<br />

ständnis. D.h., für eine angemessene Erklärung der Art und Weise der Kirchenmitgliedschaft<br />

und ihrer Gestaltung von Nähe und Distanz ist der hier angedeutete sozialisationsbedingte<br />

Hintergrund zu berücksichtigen.<br />

2


3c) Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die für die evangelische (wie katholi-<br />

sche) Kirche typische sozialräumliche Prägung der Kirchenmitgliedschaft. Kirchenmitglied-<br />

schaft gestaltet sich in wichtigen Teilaspekten im Rahmen einer gewachsenen parochialen<br />

Struktur. So wird die Zugehörigkeit zu einer Ortsgemeinde z.B. nach einem Wohnortwechsel<br />

gleichsam „automatisch“, d.h. durch Meldung beim Einwohnermeldeamt, wiederhergestellt.<br />

Die Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche drückt sich damit in der Zugehörigkeit zu einer<br />

Kirchengemeinde des Wohnortes aus. Mit anderen Worten: Man ist qua Wohnort einer be-<br />

stimmten Kirchengemeinde zugewiesen, sucht sich diese nicht selber aus. In welcher Weise<br />

Kirchenmitglieder das kirchliche Angebot dann an ihrem Wohnort nutzen, bleibt ihrer Gestal-<br />

tung überlassen und ist naturgemäß sehr unterschiedlich.<br />

3d) Zu bedenken ist, dass nicht nur die bis zum 1. Weltkrieg bestehende Verknüpfung von<br />

Staat und Kirche, sondern auch die heutige Situation der evangelischen Kirche als einer Kör-<br />

perschaft des öffentlichen Rechtes dazu führt, dass ihr eine wichtige gesellschaftliche Funkti-<br />

on zugeschrieben wird, welche sich in den Erwartungen - vielleicht aber auch in manchen<br />

Befürchtungen - der Kirchenmitglieder widerspiegelt. Von der Kirche erwartet man, dass sie<br />

als Institution ihre diakonischen Aufgaben in der Gesellschaft wahrnimmt, und man hält ande-<br />

rerseits - vielleicht auch gewohnheitsmäßig - Distanz zu einer Kirche, die von ihrer Tradition<br />

her häufig als eine „Herrschafsinstitution“ wahrgenommen wurde.<br />

Ich möchte nun, nach diesen ausführlicheren Vorbemerkungen, zur Ausgangsfragestellung<br />

zurückkehren: Welche Erfahrungen haben Christen und Nichtchristen mit der Institution Kir-<br />

che, welche Erwartungen haben sie? Ich werde in drei Schritten vorgehen.<br />

1. Die Kirchenmitgliedschaftsstudien der EKD, ihre Zielsetzungen und Datenbasis<br />

2. Aktuelle Ergebnisse aus der vierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zu den The-<br />

men: Kirchenbindung, Verständnis des Evangelisch-Seins, Mitgliedschaftsgründe,<br />

Erwartungen an die Kirche und Gottesglaube<br />

3. Ausblick: Erwartungen an die Kirche – die Perspektive der Konfessionslosen (West)<br />

1. Die vierte Kirchenmitgliedschaftsstudie: Zielsetzung und Datenbasis<br />

1.1 Zielsetzung der Kirchenmitgliedschaftsstudien der EKD<br />

3


Die evangelische Kirche Deutschlands führt seit 1972, jeweils im Abstand von 10 Jahren,<br />

Kirchenmitgliedschaftsstudien durch. Ausgangspunkt der ersten Kirchenmitgliedschaftsstudie<br />

war die Ende der 60er Jahre stark angestiegene Zahl der Kirchenaustritte, die Anlass dafür<br />

gaben, nach dem Verhältnis der Kirchenmitglieder zur ihrer Kirche zu fragen. So wurde zu-<br />

nächst stärker aus der Organisationsperspektive das Teilnahmeverhalten der Kirchenmitglie-<br />

der erfragt. Mit den Folgeuntersuchungen setzte sich jedoch immer stärker auch die Überzeu-<br />

gung durch, dass das Selbstverständnis der Kirchenmitglieder hinsichtlich der Bedeutung der<br />

Institution Kirche, wie des Religiösen allgemein, im gesamten Lebenskontext zu untersuchen<br />

sei. In diesem Zusammenhang brachte die 1992 vorgenommene Kirchenmitgliedschaftsunter-<br />

suchung besondere Neuerungen: Es wurde erstmals mit qualitativen Verfahren gearbeitet, um<br />

mehr (als mit quantitativen Methoden möglich) über das Selbstverständnis der Kirchenmit-<br />

glieder zu erfahren. Darüber hinaus brachte die Wiedervereinigung einige Veränderungen mit<br />

sich: Erstmals konnten Kirchenmitglieder aus den alten und den neuen Bundesländern befragt<br />

werden. Hinzu kam der vergleichende Blick auf die Konfessionslosen in Ost- und West-<br />

deutschland.<br />

Auf diesen Hintergrund baut die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsstudie auf. Sie umfasst erneut<br />

einen quantitativen und einen qualitativen Untersuchungsteil. Ein Großteil des Fragebestandes<br />

wurde aus den vorangegangenen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen übernommen, um die<br />

Längsschnittperspektive zu sichern. In Anknüpfung an die vorangegangen Untersuchungen<br />

wurde die Frage nach dem Selbstverständnis der Kirchenmitglieder im Umgang mit Religion<br />

und Kirchlichkeit intensiviert. Dabei sind drei weitere Schwerpunktthemen aufgenommen<br />

worden: Die Frage nach den Weltsichten evangelischer Kirchenmitglieder und Konfessionslo-<br />

ser in Ost- und Westdeutschland, die Frage nach dem Zusammenhang von Lebensstil und<br />

Kirchlichkeit und Religiosität sowie die Frage nach den Auswirkungen von Religiosität und<br />

Kirchlichkeit auf die praktische Lebensführung.<br />

1.2 Datenbasis<br />

Die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung basiert auf einer repräsentativen Bevölke-<br />

rungsstichprobe aus der Grundgesamtheit der deutschen Wohnbevölkerung ab 14 Jahren. Es<br />

wurden aus der Grundgesamtheit zwei Teilpopulationen, die evangelischen Kirchenmitglieder<br />

und die Konfessionslosen ermittelt. Insgesamt wurden 2701 Personen befragt, davon 1821<br />

evangelische Kirchenmitglieder und 880 Konfessionslose. Ich werde mich in diesem Vortrag<br />

vor allem auf die evangelischen Kirchenmitglieder in den alten Bundesländern beziehen. Das<br />

sind 1532 Befragte.<br />

4


2. Aktuelle Ergebnisse aus der vierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung<br />

2.1 Verbundenheit mit der evangelischen Kirche<br />

Eine Basisfrage, die seit 1972 in den Kirchenmitgliedschaftsstudien der EKD gestellt wird, ist<br />

die Frage nach der Verbundenheit der Kirchenmitglieder mit ihrer Kirche. Diese Frage stellt<br />

einen verlässlichen Indikator zur Erfassung des Verhältnisses der Kirchenmitglieder zur Insti-<br />

tution Kirche dar. Mit dieser Frage wird die gefühlsmäßige Nähe bzw. Distanz zur Kirche<br />

erfasst, unabhängig davon, ob man sich am kirchlichen Leben beteiligt, die Inhalte der christ-<br />

lichen Botschaft bejaht oder welche Erwartungen man an die Kirche hat (vgl. Pollack 2003:<br />

13).<br />

Graphik 1: Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche<br />

Gefühl der Verbundenheit mit der Evangelischen Kirche<br />

in den alten Bundesländern im Zeitvergleich (in %)<br />

Quelle: KMU I bis KMU IV<br />

sehr verbunden<br />

ziemlich verbunden<br />

etwas verbunden<br />

kaum verbunden<br />

überhaupt nicht verbunden<br />

5<br />

12<br />

14<br />

10<br />

13<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

25<br />

22<br />

29<br />

24<br />

20<br />

22<br />

18<br />

20<br />

31<br />

32<br />

35<br />

37<br />

0 10 20 30 40 50<br />

1972<br />

Basis: 2.000 Befragte<br />

1992<br />

Basis: 1.585 Befragte<br />

1982<br />

Basis: 1.523 Befragte<br />

2002<br />

Basis: 1.532 Befragte


Graphik 1 veranschaulicht, dass über die letzten 30 Jahre hinweg die Verbundenheit mit der<br />

Institution ein hohes Ausmaß an Stabilität aufweist. Betrachtet man die Angaben der evange-<br />

lischen Kirchenmitglieder in den alten Bundesländern von 2002 so geben 13% der Kirchen-<br />

mitglieder an, sich der Kirche sehr verbunden zu fühlen, 24% fühlen sich der Kirche ziemlich<br />

verbunden. Das sind zusammengenommen 37% evangelische Kirchenmitglieder, die sich<br />

ihrer Kirche gefühlsmäßig durchaus sehr nahe fühlen. Die „etwas Verbundenen“ nehmen mit<br />

37% einen gleichgroßen Anteil ein. Diese Gruppe ist über die letzten 30 Jahre angewachsen.<br />

D.h., ein zunehmender Anteil evangelischer Kirchenmitglieder positioniert sich in einer Mit-<br />

tellage von Nähe und Distanz zur Institution Kirche. Diese Gruppe wird häufig als Gruppe<br />

derjenigen Kirchenmitglieder bezeichnet, die in „freundlicher Distanz“ zur Kirche stehen. Der<br />

Anteil der „kaum verbundenen“ Kirchenmitglieder ist mit 20% über die letzten 30 Jahre hin-<br />

weg eine recht stabile Größe, während der Anteil der überhaupt nicht verbundenen stetig<br />

sinkt; er liegt 2002 bei 6% der evangelischen Kirchenmitglieder.<br />

Dieses - über drei Jahrzehnte - recht konstante Bild hat, im Zusammenhang mit anderen Indi-<br />

katoren wie der Teilnahme am Gottesdienst und dem Gottesglauben dazu geführt, dass man<br />

ganz grob drei Gruppen von Kirchenmitgliedern unterscheidet: Die sogenannten Kernmitglie-<br />

der, die sich der Kirche sehr verbunden fühlen, regelmäßig den Gottesdienst besuchen und<br />

sich in der Regel auch aktiv am gemeindlichen Leben z.B. in Gesprächskreisen u.ä. beteili-<br />

gen. In dieser Gruppe ist die Differenz zwischen Kirchlichkeit einerseits, d.h. Teilnahme in<br />

und Bindung an die evangelische Kirche, und der christlich-religiösen Überzeugung und Pra-<br />

xis andererseits am geringsten: Diese Gruppe umfasst um die 13% der evangelischen Kir-<br />

chenmitglieder.<br />

Die überwältigende Mehrheit von ca. 70% evangelischer Kirchenmitglieder werden als soge-<br />

nannte distanzierte Kirchenmitglieder bezeichnet. Diese Gruppe ist hinsichtlich der aktiven<br />

Teilnahme am kirchlichen Leben und der christlichen Glaubensüberzeugungen heterogen.<br />

Typisch für diese Gruppe ist, dass sich diese Kirchenmitglieder ab und zu am kirchlichen Le-<br />

ben beteiligen, zu hohen kirchlichen Feiertagen oder familiären Anlässen den Gottesdienst<br />

besuchen und dem christlichen Glauben zum Teil nahe stehen, zum Teil diesen aber auch<br />

immer wieder anzweifeln bzw. ein Glaubensverständnis bevorzugen, welches sich im Glau-<br />

ben an eine höhere Macht ausdrückt und nicht an einen Gott, wie ihn die Kirche beschreibt.<br />

Für diese Gruppe ist weiterhin kennzeichnend, dass eine Differenz zwischen persönlichen<br />

Glaubensüberzeugungen und dem christlichen Gottesglauben einerseits und der eigenen reli-<br />

giösen Praxis und dem von der Kirche erwarteten Teilnahmeverhalten andererseits besteht.<br />

Dennoch verstehen sich diese Kirchenmitglieder als der Kirche verbunden. Dieser Gruppe,<br />

6


welche früher häufig als bloße „Taufscheinchristen“ diffamiert wurde, galt das besondere<br />

Interesse der dritten und der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsstudie. Insbesondere in den Er-<br />

zählinterviews der dritten Kirchenmitgliedschaftsstudie wurde deutlich, dass die erzählte Le-<br />

bensgeschichte der „Sitz der Religion“ ist (vgl. Engelhardt/Loewenich/Steinacker 1997:61).<br />

D.h., Kirchenbindung und christlich religiöse Glaubensüberzeugungen sind erst im Kontext<br />

der Lebensphasen und zentraler biographischer Ereignisse angemessen zu verstehen und zu<br />

erklären.<br />

Man kann darüber hinaus ca. 15% evangelischer Kirchenmitglieder erfassen, welche der Kir-<br />

che eher fern stehen und mit dem Gedanken spielen, aus der Kirche auszutreten.<br />

Graphik 2: Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche nach Geschlecht<br />

Ich möchte ihnen nun noch zwei Graphiken zur Verbundenheit mit der Kirche zeigen, die<br />

einen deutlichen Alters- und Geschlechtseffekt bezüglich der Verbundenheit mit der Kirche<br />

veranschaulichen.<br />

Gefühl der Verbundenheit mit der Evangelischen Kirche in den<br />

alten Bundesländern (in %)<br />

sehr/ziemlich verbunden<br />

Quelle: KMU IV<br />

etwas verbunden<br />

kaum/überhaupt<br />

nicht verbunden<br />

nach Geschlecht<br />

7<br />

21<br />

31<br />

33<br />

36<br />

37<br />

42<br />

0 10 20 30 40 50<br />

Männer Frauen


Graphik 2 zeigt, dass unter den hochverbundenen Kirchenmitgliedern Frauen um rund 10<br />

Prozentpunkte häufiger vertreten sind als Männer. Jene sind hingegen unter den kaum ver-<br />

bundenen stärker vertreten. Dieser Sachverhalt ist hinlänglich bekannt, wenngleich die religi-<br />

onssoziologische Forschung zeigt, dass es der Tendenz nach in der jüngeren Generation zu<br />

einer Angleichung zwischen Männern und Frauen bezüglich des christlich religiös-kirchlichen<br />

Handelns kommt. „Dieser Prozeß geht offensichtlich mit Veränderungen im gelebten Ge-<br />

schlechterverhältnis einher“ und „ist insbesondere mit einem verstärkten Zugang von Frauen<br />

zur Berufswelt und zum öffentlichen Raum verbunden.“ (Lukatis/Sommer/Wolf 2000: 15).<br />

Ebenso eindeutig ist der Alterseffekt bezüglich der Kirchenbindung. Die älteren Kirchenmit-<br />

glieder geben häufiger als die jüngeren an, sich der Kirche sehr bzw. ziemlich verbunden zu<br />

fühlen. So ist einerseits deutlich, dass es vor allem die jüngeren Kirchenmitglieder sind, wel-<br />

che eine gewisse Distanz zur Kirche zum Ausdruck bringen. Darüber hinaus wissen wir aus<br />

der Analyse der Lebensstile, dass die sogenannten Kernmitglieder von Kirchengemeinden<br />

überdurchschnittlich häufig aus ganz bestimmte Bevölkerungsgruppen stammen: Es sind zu-<br />

meist ältere Menschen und überdurchschnittlich oft Frauen, die dem konservativ gehobenen<br />

Milieu oder dem kleinbürgerlichen Milieu angehören, und als aktive Kirchenmitglieder das<br />

Bild der Kerngemeinde stärker prägen als die jüngeren Kirchenmitglieder (vgl. <strong>Benthaus</strong>-<br />

<strong>Apel</strong> 2003).<br />

Graphik 3: Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche nach Alter<br />

Verbundenheit mit der Kirche nach Altersgruppen im Zeitvergleich<br />

(in%)<br />

West<br />

sehr verbunden und ziemlich verbunden (1+2)<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

Quelle: KMU IV<br />

21<br />

16<br />

20<br />

19<br />

27<br />

23<br />

21<br />

19<br />

37<br />

36<br />

33<br />

29<br />

8<br />

42<br />

47<br />

46<br />

45<br />

67<br />

60<br />

59<br />

58<br />

14-24 25 - 34 35 - 49 50 - 64 65 und älter<br />

1972 1982 1992 2002


Dieser Sachverhalt wird in der Forschung als eine gewisse Milieuverengung der Kerngemein-<br />

de beschrieben.<br />

2.2 Bedeutung des Evangelisch-Seins<br />

Was erwarten nun die evangelischen Kirchenmitglieder von ihrer Kirche und was gehört für<br />

sie unbedingt zum Evangelisch sein dazu?<br />

Graphik 4 zeigt, dass die evangelischen Kirchenmitglieder den institutionellen Aspekten von<br />

Kirchenmitgliedschaft große Bedeutung beimessen. D.h., es gehört zum Evangelisch-Sein<br />

unbedingt dazu, dass man getauft, konfirmiert und Mitglied der evangelischen Kirche ist. Mit<br />

der institutionellen Zugehörigkeit verbunden wird eine innere Haltung, welche sich darin aus-<br />

drückt, dass man „sich bemüht, ein anständiger Mensch zu sein“, „seinem Gewissen zu fol-<br />

gen“ und „die Freiheit anderer zu achten“.<br />

Graphik 4: Merkmale des Evangelisch-Seins<br />

*1982: man Kirchensteuer zahlt<br />

**bis 1992: bewußt als Christ lebt<br />

Quelle: KMU II bis KMU IV<br />

Merkmale des Evangelischseins im Zeitvergleich<br />

alte Bundesländer (in%)<br />

getauft ist<br />

konfirmiert<br />

Mitglied der ev. Kirche ist*<br />

zur Kirche geht<br />

die Bibel liest<br />

mitbekommt,<br />

was in Kirche passiert<br />

als bekennder Christ lebt**<br />

seinem Gewissen folgt<br />

sich bemüht,<br />

anständiger Mensch zu sein<br />

nach den 10 Geboten lebt<br />

an der Botschaft Jesu orientiert<br />

am Abendmahl teilnimmt<br />

gute Werke tut<br />

über seinen Glauben<br />

selbst bestimmt<br />

die Freiheit anderer achtet<br />

Es gehört UNBEDINGT zum Evangelisch-Sein, daß man...<br />

26<br />

36<br />

33<br />

25<br />

21<br />

22<br />

35<br />

34<br />

41<br />

40<br />

46<br />

9<br />

65<br />

59<br />

53<br />

55<br />

54<br />

58<br />

52<br />

50<br />

71<br />

74<br />

76<br />

76<br />

85<br />

91<br />

93<br />

80<br />

84<br />

87<br />

79<br />

77<br />

80<br />

83<br />

1982 Basis: N=1.523<br />

1992 Basis: N=1.585<br />

2002 Basis: N=1.532<br />

0 20 40 60 80 100 120<br />

84<br />

87<br />

86


Ein im engeren Sinne christlich-normatives Verständnis des Evangelisch-Seins wie es die<br />

Aussage „nach den 10 Geboten zu leben“ zum Ausdruck bringt, findet dagegen weniger Zu-<br />

stimmung. „Daran zeigt sich, dass „Evangelisch-Sein“ als eine selbstverantwortete Haltung<br />

der Gewissensbindung und Anständigkeit definiert (wird), den anderen in seinen differenten<br />

Überzeugungen achtet, für sich selbst denselben Respekt einfordert und zu vorgegebenen in-<br />

stitutionellen Anforderungen auf Distanz geht – und zwar je mehr desto enger sie formuliert<br />

sind.“ (Pollack 2002 :19).<br />

Ein im kirchlichen Sinne partizipatorisches Verständnis des Evangelisch-Seins ist nicht sehr<br />

verbreitet: Nur 33% der evangelischen Kirchenmitglieder (West) sehen es als unbedingt er-<br />

forderlich für das Evangelisch-Sein an, dass man zur Kirche geht und am Abendmahl teil-<br />

nimmt (34%). Und nur für 22% gehört es zum Evangelisch Sein unbedingt dazu, dass man die<br />

Bibel liest. Dagegen gehört es für 71% der Kirchenmitglieder unbedingt zum Evangelisch<br />

sein dazu, dass man gute Werke tut. D.h., Evangelisch zu sein, soll nach der Meinung der<br />

evangelischen Kirchenmitglieder durchaus Folgen in der Lebensführung haben, allerdings<br />

werden diese nicht im Kontext <strong>kirchlicher</strong> Partizipation gesucht, sondern eher unabhängig<br />

von der Institution Kirche gestaltet. Zu ergänzen ist hier, dass die evangelischen Kirchenmit-<br />

glieder der neuen Bundesländer von den Kirchenmitgliedern der alten Bundesländer dahinge-<br />

hend in ihrem Urteil über die Bedeutung des Evangelisch-Seins abweichen, dass sie es etwas<br />

häufiger für wichtig erachten, zur Kirche zu gehen und in der Bibel zu lesen.<br />

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die evangelischen Kirchenmitglieder dem institu-<br />

tionellen Aspekt durchaus einen bedeutenden Stellenwert für ihr Selbstverständnis als Chris-<br />

ten beimessen. Man ist evangelischer Christ, weil man (zahlendes) Mitglied der evangelischen<br />

Kirche ist und die von der Institution vorgegebenen integrativen Riten von Taufe und Kon-<br />

firmation vollzogen hat. Das persönliche Glaubensverständnis ist damit jedoch nur partiell<br />

abgedeckt. Die religiöse Praxis und Sinngebung des Evangelischseins folgen individuell ges-<br />

talteten Plausibilitätsstrukturen des Religiösen, welche vor allem auch biographisch verankert<br />

sind.<br />

2.3 Gründe für die Kirchenmitgliedschaft und Erwartungen an die evangelische Kirche<br />

Die Frage nach den Mitgliedschaftsmotiven (vgl. Graphik 5) gibt einen weiteren Einblick, wie<br />

die Kirchenmitglieder ihre Zugehörigkeit zur Institution verstehen.<br />

Es zeigt sich, dass mit 50% die kultische Begleitung der am häufigsten genannte Grund für<br />

die Mitgliedschaft in der Kirche ist, dicht gefolgt von der Begründung, dass „der christliche<br />

10


Glaube einem etwas bedeute (45%)“. D.h., die Kirche ist dem einzelnen wichtig als eine Insti-<br />

tution, „die eine besondere Kompetenz bei der Begehung der biographisch relevanten Über-<br />

gänge besitzt (...)“ (Pollack 2003:15). Dem persönlichen christlichen Glauben wird in den<br />

relevanten biographischen Umbruchsituationen durch die Teilnahme an den kirchlichen Riten<br />

zum Ausdruck verholfen. Dabei ist die Art und Weise, wie dies geschieht sehr verschieden.<br />

Manche suchen die kultische Begleitung durch den Pfarrer/die Pfarrerin und überlassen den<br />

Amtsträgern die Ausgestaltung der Feier, während andere die Möglichkeit zur aktiven Mit-<br />

gestaltung z.B. der Hochzeit oder des Taufgottesdienstes suchen. Jedoch ist mit Letzterem in<br />

der Regel kein Mitgliedschaftsverständnis verbunden, welches generell auf die Mitarbeit in<br />

der Kirche zielt: Die Kirche als ein Ort für sinnvolle Mitarbeit nimmt mit 19% den letzten<br />

Platz unter den Gründen für die Kirchenmitgliedschaft ein.<br />

Graphik 5: Mitgliedschaftsgründe im Zeitvergleich<br />

Quelle: KMU I bis KMU IV<br />

Mitgliedschaftsgründe der Evangelischen Kirchenmitglieder<br />

in den alten Bundesländern im Zeitvergleich (in%)<br />

7-stufige Skala: 1 = trifft überhaupt nicht zu, 7 = trifft genau zu; trifft zu (6+7)<br />

sie viel Gutes tut<br />

sie etwas für Arme, Alte<br />

und Kranke tut<br />

mir der christliche Glaube<br />

etwas bedeutet*<br />

ich der christlichen<br />

Lehre zustimme<br />

ich an das denke,was<br />

nach dem Tod kommt<br />

sich für Gerechtigkeit<br />

in der Welt einsetzt<br />

mir die Möglichkeit zu<br />

sinnvoller Mitarbeit gibt<br />

ich an meine Kinder denke<br />

ich die Gemeinschaft brauche<br />

sie mir Trost in<br />

schweren Stunden gibt<br />

sich das so gehört<br />

ich auf kirchliche Trauuung<br />

oder Beerdigung nicht<br />

ich religiös bin<br />

sie mir einen inneren<br />

Halt gibt<br />

mir Antwort auf die Frage<br />

nach dem Sinn des Lebens<br />

meine Eltern auch in<br />

der Kirche sind bzw. waren<br />

den Blick auf nicht<br />

alltägliche Fragen eröffnet<br />

* bis 1992: ich Christ bin<br />

13<br />

13<br />

15<br />

19<br />

14<br />

17<br />

17<br />

20<br />

15<br />

20<br />

21<br />

11<br />

22<br />

28<br />

24<br />

25<br />

29<br />

26<br />

26<br />

26<br />

28<br />

29<br />

25<br />

24<br />

28<br />

23<br />

26<br />

29<br />

28<br />

25<br />

27<br />

35<br />

33<br />

30<br />

33<br />

34<br />

33<br />

28<br />

28<br />

30<br />

32<br />

25<br />

22<br />

28<br />

26<br />

34<br />

34<br />

34<br />

38<br />

39<br />

43<br />

45<br />

45<br />

46<br />

42<br />

1972 Basis: N=2.000<br />

1982 Basis: N=1.523<br />

1992 Basis: N=1.585<br />

2002 Basis: N=1.532<br />

41<br />

45<br />

49<br />

50<br />

51<br />

52<br />

51<br />

0 10 20 30 40 50 60<br />

51


Deutlich zeigt sich in Graphik 5 auch, dass sowohl der diakonische Aspekt (Bin in der Kirche,<br />

weil sie etwas für Arme, Kranke und Alte tut (43%)) als auch der Aspekt der Tradition (Bin in<br />

der Kirche, weil meine Eltern auch in der Kirche sind bzw. waren (38%)), wichtige Mitglied-<br />

schaftsgründe darstellen, wenngleich der traditionale Aspekt in den letzten 10 Jahren deutlich<br />

an Bedeutung eingebüßt hat.<br />

Auch die Auswertung der Frage nach den Erwartungen, die die evangelischen Kirchenmit-<br />

glieder an ihre Kirche haben, (vgl. Tabelle 1) zeigt, dass man ihre Kernfunktion der Verkün-<br />

digung und rituellen Begleitung sehr schätzt, man es aber für noch bedeutsamer erachtet, dass<br />

die Kirche ihrer diakonischen Aufgaben nachkommt.<br />

Tabelle 1: Erwartungen an die Kirche<br />

Erwartungen an die Kirche<br />

Ich möchte gerne wissen, ob sich die evangelische Kirche Ihrer Meinung nach in den verschiedenen Bereichen<br />

engagieren soll.<br />

Die evangelische Kirche sollte ... 1972 1982 1992 2002<br />

West West West West<br />

Die christliche Botschaft verkündigen<br />

(zeitnah und modern)<br />

Gottesdienste feiern (Gottesdienste,<br />

57 70 76 72<br />

durch die sich die Menschen angesprochen<br />

fühlen)<br />

74 74<br />

Raum für Gebet, Stille und innere<br />

76 68<br />

Zwiegespräche geben<br />

Menschen durch Taufe, Konfirmation,<br />

Hochzeit und Beerdigung an den<br />

Wendepunkten des Lebens begleiten<br />

Einen Beitrag zur Erziehung der<br />

Kinder leisten<br />

12<br />

78<br />

52 60 40<br />

Entwicklungshilfe leisten<br />

Sich zu politischen Grundsatzfragen<br />

73 69 53<br />

äußern (zur Urteilsbildung beitragen,<br />

indem sie sich zu wichtigen Gegenwartsfragen<br />

äußert)<br />

22 41 52 22<br />

Die christlich-abendländischen Werte<br />

verteidigen<br />

42<br />

Sich um Probleme von Menschen in<br />

sozialen Notlagen kümmern<br />

78 77<br />

Das Gespräch mit den nichtchristlichen<br />

Religionen verstärken<br />

39<br />

Sich um Arbeitsalltag und Berufsleben<br />

kümmern<br />

35 43 27<br />

Kulturelle Angebote machen 57 37<br />

Sich gegen Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit<br />

wenden<br />

73 61<br />

Alte, Kranke und Behinderte betreuen<br />

76 90 82 82<br />

N= 2000 1523 1585 1532


So erwarten 78% der Kirchenmitglieder, dass die Kirche Menschen durch Taufe, Konfirmati-<br />

on, Hochzeit und Beerdigung an den Wendepunkten des Lebens begleitet, dass sie Gottes-<br />

dienste feiert (74%) und die christliche Botschaft verkündet (72%). Die Wahrnehmung der<br />

sogenannten Kernaufgaben der Institution werden von den Kirchenmitgliedern also auch in<br />

hohem Maße erwartet. Aber noch höher ist, wie gesagt, die Erwartung, dass die Kirche ihre<br />

diakonischen Aufgaben erfüllt: So erwarten 82% der Kirchenmitglieder, dass die Kirche Alte,<br />

Kranke und Behinderte betreut und sich um Menschen in sozialen Notlagen kümmert (77%).<br />

Hierzu zählt auch, im Sinne des Eintretens eines christlichen Verständnisses des respektvollen<br />

Miteinanders, dass die Kirche sich gegen Fremdenhaß und Ausländerfeindlichkeit wendet<br />

(61%). Eine Einflussnahme auf die Gestaltung der Politik oder die alltägliche Lebensführung<br />

wird von den Kirchenmitgliedern in der Regel nicht begrüßt: So nehmen sowohl die Aussage,<br />

„die Kirche solle sich zu politischen Grundsatzfragen äußern“ (22%), als auch „die Kirche<br />

solle sich um Arbeitsalltag und Berufsleben kümmern“ (27%) die hintersten Positionen in der<br />

Rangfolge der Erwartungen an die Kirche ein.<br />

Mit den in den Kirchenmitgliedschaftsumfragen als Zeitreihen angelegten vier Fragen nach<br />

der Verbundenheit der Kirchenmitglieder mit der Kirche, den Mitgliedschaftsgründen, dem<br />

Verständnis des Evangelischsein und den Erwartungen der Kirchenmitglieder an die evange-<br />

lische Kirche habe ich ausführlich das Verhältnis zur und die Erwartungen der evangelischen<br />

Kirchenmitglieder an die Institution Kirche beschrieben. Nun möchte ich mich, die Datenfülle<br />

abschließend, noch einer Frage nach dem christlich-religiösen Selbstverständnis der Kir-<br />

chenmitglieder, nämlich der Frage nach dem Gottesglauben, zuwenden.<br />

2.4 Gottesglaube<br />

Betrachtet man Tabelle 2, so zeigt sich erstens, dass das Antwortverhalten in den fünf Aussa-<br />

gen zum Gottesglauben sich in den letzten 10 Jahren unter den evangelischen Kirchenmitglie-<br />

dern (West) kaum verändert hat. Demnach vertreten 43% einen explizit christlichen Gottes-<br />

glauben, während 27% an Gott glauben, wenngleich Zweifel geäußert werden. 26% der evan-<br />

gelischen Kirchenmitglieder stellen explizit eine Differenz zwischen dem von der Institution<br />

vertretenen christlichen Gottesglauben und dem eigenen Glaubensverständnis her: Sie glau-<br />

ben an eine höhere Macht, aber nicht an einen Gott, wie ihn die Kirche beschreibt. Eine Min-<br />

derheit der ev. Kirchenmitglieder von 3% bzw. 1% vertritt eine agnostische bzw. atheistische<br />

Position.<br />

13


Die Frage nach dem Gottesglauben verdeutlicht, dass gut 40% der evangelischen Kirchenmit-<br />

glieder den von der Institution Kirche vertreten christlichen Gottesglauben uneingeschränkt<br />

teilen, während die Mehrheit der Kirchenmitglieder sich in mehr oder weniger starker Distanz<br />

zu diesem Gottesglauben ansiedeln. Es zeigt sich in dieser Frage ein typisches Muster des<br />

Eigensinns in der selbstverantworteten Gestaltung der Glaubensüberzeugung.<br />

Tabelle 2: Gottesglauben<br />

Glaube an Gott<br />

Auf dieser Liste stehen fünf Aussagen zum Glauben an<br />

Gott. Welche dieser Aussagen trifft am ehesten auf Sie<br />

selbst zu?<br />

Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus<br />

Christus zu erkennen gegeben hat<br />

Ich glaube an Gott, obwohl ich immer wieder zweifele<br />

und unsicher werde<br />

Ich glaube an eine höhere Kraft, aber nicht an einen<br />

Gott, wie ihn die Kirche beschreibt<br />

Ich glaube weder an einen Gott noch an eine höhere<br />

Kraft<br />

Ich bin überzeugt, dass es keinen Gott gibt<br />

N=<br />

Detlef Pollack hat auf die enge Wechselwirkung zwischen christlichen Gottesglauben und<br />

Kirchlichkeit hingewiesen: „Von denen, die jeden Sonntag zum Gottesdienst gehen, glauben<br />

94% an einen Gott, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat, von denen, die den<br />

Gottesdienst nie besuchen, sind es hingegen nur 10%, die sich zu einem solchen Glauben be-<br />

kennen“ (Pollack 2003: 24).<br />

Wie wir aus der Lebensstilanalyse wissen, sind es, wie bereits erwähnt, vor allem ältere Men-<br />

schen, die mehrheitlich die von Pollack beschriebenen kirchennahen und von der christlichen<br />

Lehre überzeugten Christen stellen. Demgegenüber gestalten die jüngeren Kirchenmitglieder<br />

auf sehr unterschiedliche Art und Weise ihr Verhältnis zur Kirche, zur religiösen Praxis und<br />

zum Gottesglauben. So haben die Auswertungen der Erzählinterviews der dritten Mitglied-<br />

schaftsstudie, welche vor allem mit distanzierten Kirchenmitgliedern der jüngeren Generation<br />

14<br />

Evangelische in %<br />

1992<br />

West<br />

2002<br />

West<br />

42 43<br />

26 27<br />

25 26<br />

6 3<br />

2 1<br />

1585 1532


geführt wurden, gezeigt, wie stark die Nähe und Distanz zur Kirche, wie auch die eigene Re-<br />

ligiosität in dem Gesamtkontext des Verlaufs der Lebensgeschichte eingebunden gesehen<br />

werden muss. „Besonders deutlich lässt unsere Erhebung eine an Lebenslauf-Situationen ori-<br />

entierte Mitgliedschaft hervortreten. Diese ist gebunden an die Amtshandlungen und lebens-<br />

zyklisch orientierten Gottesdienstformen sowie an die pastorale Begleitung in besonderen<br />

Krisenlagen.“ (Engelhardt/Loewenich/Steinacker 1997: 353).<br />

In der dritten wie in der vierten Mitgliedschaftsstudie hat sich gezeigt, dass die traditionell<br />

geprägte christlich-religiöse Sprache bei der Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder<br />

eher auf Unverständnis und zu Teilen sogar auf Ablehnung stößt, was eine lebendige religiöse<br />

Kommunikation erheblich erschwert. Wiederum in den Erzählinterviews der dritten Kirchen-<br />

mitgliedschaftsstudie wurde deutlich, dass bei den kirchlich Distanzierten kaum eine Erzähl-<br />

passage über die persönliche Religiosität (welche mit großer emotionaler Teilnahme und Le-<br />

bendigkeit geführt wurden) in der Tradition explizit christlicher Sprache geführt wurde. „Der<br />

weitreichende Plausibilitätsverlust traditioneller dogmatischer Sprachmuster ist hier mit Hän-<br />

den zu greifen. Die christliche Sprachtradition, <strong>kirchlicher</strong>seits häufig als einzig legitime<br />

Form religiöser Kommunikation akzeptiert, erscheint in den Interviews bestenfalls eine unter<br />

vielen Codierungen, mit denen man sein Leben religiös zu deuten versucht. Woran jemand im<br />

Letzten glaubt; worin der Sinn des Lebens gesucht und was als religiöse Erfahrung qualifiziert<br />

wird, dies alles wird in vielfältigen Sprach- und Bildtraditionen kommuniziert“( Engel-<br />

hardt/Loewenich/Steinacker 1997: 63).<br />

Hieran wird deutlich, dass die Frage „Wieviel Institution Religion denn brauche“ auch fol-<br />

gendermaßen beantwortet werden kann: Die Daten weisen darauf hin, dass für das Selbstver-<br />

ständnis der Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder die Zugehörigkeit zur Institution<br />

Kirche von Bedeutung ist, wenngleich die Lebendigkeit und Erfahrungsfülle der persönlichen<br />

Religiosität auch häufig in der Differenz zur Institution Kirche erfahren und gelebt wird. Die<br />

persönliche Einschätzung einer wachsenden Zahl evangelischer Kirchenmitglieder, sich der<br />

Kirche „etwas“ verbunden zu fühlen, bringt dies m.E. zum Ausdruck. Dass dieser auf den<br />

ersten Blick widersprüchliche Institutionenbezug evangelischer Kirchenmitglieder nicht zu<br />

trennen ist von der sozialgeschichtlichen Bedeutung, welche der Institution Kirche in der<br />

BRD zukommt, hatte ich eingangs bereits gesagt.<br />

3. Ausblick: Erwartungen an die Kirche – die Perspektive der Konfessionslosen<br />

(West)<br />

15


Ich habe mich in meinem Vortrag auf die Gruppe der evangelischen Kirchenmitglieder in den<br />

alten Bundesländern konzentriert. Ich möchte Ihnen nun abschließend einen Eindruck darüber<br />

vermitteln, welche Aufgaben, aus der Sicht der Konfessionslosen - und ich beziehe mich aus<br />

Vergleichsgründen hier auf die Konfessionslosen aus den alten Bundesländern - die Instituti-<br />

on Kirche übernehmen sollte. Auch an die Konfessionslosen wurde die Frage nach den Er-<br />

wartungen an die Institution Kirche gestellt. Die Formulierung lautete: „Die evangelische<br />

Kirche kann ja in ganz verschiedenen Bereichen tätig sein bzw. sich dort engagieren. Ich<br />

möchte gerne wissen, ob sich die evangelische Kirche Ihrer Meinung nach in den verschiede-<br />

nen Bereichen engagieren soll. Vorgegeben war eine Liste von 14 Aussagen, welche identisch<br />

ist mit den Aussagen für die Kirchenmitglieder in dieser Frage (vgl. Tabelle 1).<br />

Im Ergebnis zeigt sich, dass auch unter Konfessionslosen in den alten Bundesländern ge-<br />

wünscht wird, dass die evangelische Kirche ihre diakonischen Aufgaben wahrnimmt. So be-<br />

fürworten 73% der Konfessionslosen ein Engagement der ev. Kirche in der Betreuung von<br />

Alten, Kranken und Behinderten und 69% meinen, die ev. Kirche solle sich um Probleme von<br />

Menschen in sozialen Notlagen kümmern. Auf Platz drei liegt mit 55 % die Erwartung, dass<br />

die ev. Kirche sich gegen Fremdenhaß und Ausländerfeindlichkeit wenden solle. D.h., ver-<br />

gleichbar mit den Evangelischen existiert auch unter den Konfessionslosen die Erwartung,<br />

dass die ev. Kirche sich als Institution um soziale Aufgaben – getragen durch ein christliches<br />

Selbstverständnis – zu kümmern habe, welches einschließt, öffentlich die Stimme gegen Aus-<br />

länderfeindlichkeit und Fremdenhaß zu erheben.<br />

Resümee:<br />

Für die hier interessierende Frage nach der Bedeutung des institutionellen Aspekts von Reli-<br />

giosität lässt sich festhalten, dass Evangelische wie Konfessionslose die institutionelle Rolle<br />

der evangelischen Kirche in der Gesellschaft zuerst in der Wahrnehmung ihrer sozialen Auf-<br />

gabenbereiche sehen, dicht gefolgt von dem Bereich der Verkündigung und rituellen Beglei-<br />

tung. Wie wir aus anderen Auswertungszusammenhängen der aktuellen Kirchenmitglied-<br />

schafsstudie wissen (vgl. Wohlrab-Sahr 2003), ist sowohl unter Evangelischen wie unter Kon-<br />

fessionslosen die Einstellung verbreitet, dass das Christentum ein Bestandteil der eigenen<br />

Kultur sei. Die oben genannte Rangfolge der Aufgabenbereiche, die die Institution Kirche<br />

erfüllen soll, ist vor allem auch in ihrem Bedeutungszusammenhang dieses kulturellen Selbst-<br />

verständnisses zu verstehen. Dabei ist anzumerken, dass die Gruppe der Konfessionslosen in<br />

den alten Bundesländern in mancher Hinsicht der Deutungsperspektive einer christlichen<br />

16


Leitkultur skeptischer gegenübersteht als dies für die Konfessionslosen der neuen Bundeslän-<br />

der festzustellen ist.<br />

Literatur:<br />

<strong>Benthaus</strong>-<strong>Apel</strong>, F.: Lebensstile und Kirchenmitgliedschaft. Zur Differenzierung der „treuen<br />

Kirchenfernen“ In: Kirche, Horizont und Lebensrahmen. Vierte EKD-Erhebung über Kir-<br />

chenmitgliedschaft, 2003, S.55-70.<br />

Engelhardt, K./ Loewenich, H./Steinacker, P.: Fremde-Heimat-Kirche: Die dritte EKD-<br />

Erhebung über Kirchenmitgliedschaft ,1997.<br />

Lukatis, I./Sommer, R./Wolf Chr. (Hrsg.): Religion und Geschlechterverhältnis, 2000.<br />

Pollack, D.: Be(un)ruhigende Stabilität. Gleiches Bild- Verschärfte Lage. In: Kirche, Horizont<br />

und Lebensrahmen. Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, 2003, S.13-28.<br />

Schloz, R.: Einleitung. In: Kirche, Horizont und Lebensrahmen. Vierte EKD-Erhebung über<br />

Kirchenmitgliedschaft, 2003, S.7-12.<br />

Wohlrab-Sahr, M.: Was uns verbindet – was uns trennt. Weltsichten von Kirchenmitgliedern<br />

und Konfesssionslosen In: Kirche, Horizont und Lebensrahmen. Vierte EKD-Erhebung über<br />

Kirchenmitgliedschaft, 2003, S.7-12.<br />

17

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