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BALTIC MEETINGS - Baltic Writers Council

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Unweit der Stadt K befindet sich das Dorf Tolmingkehmen (heute Chistye Prudy), dem<br />

Johannes Bobrowski ein gleichnamiges Gedicht widmete. Grund dafür (wie auch für<br />

unsere Fahrt ins Dorf) war der erste litauische Dichter Kristijonas Donelaitis (1714 bis<br />

1780), der hier als Pfarrer seinen Dienst getan hat. Sein Poem „Jahreszeiten“ leistete einen<br />

großen Beitrag zur Rettung der litauischen Sprache, die in Ostpreußen und Kleinlitauen,<br />

wie Litauer das Memelland nennen, fast ausgestorben war. Die alten Pruzzen hatten<br />

weniger Glück: Ihre mit dem Litauischen und dem Lettischen verwandte Sprache ist<br />

tatsächlich verschwunden. Der litauische Autor Rimantas Černiauskas sprach über 750<br />

Jahre alte Geschehnisse und über die von Rom befohlene und abgesegnete Besatzung<br />

des Landes durch den Deutschen Orden. Černiauskas meint, die Katholische Kirche<br />

müsse sich dafür bei den baltischen Völkern noch entschuldigen. Der einzige bedeutende<br />

deutsche Dichter, der sich für diese verschwundenen Ureinwohner der Region<br />

interessierte, war eben Johannes Bobrowski, das Genie des Blicks aus dem anderen<br />

Winkel. Uns bleiben unsere eigenen Winkel zum Sehen.<br />

Was können kulturelle Veranstaltungen in solch einer Region bewirken? Was geschieht,<br />

wenn der Berliner Dichter Richard Pietraß und ich an jenem öden Platz stehen, an dem<br />

früher das Königsberger Schloss stand? Sein Vater wohnte vor 90 Jahren zwei Straßen<br />

von diesem Platz entfernt. Mein Vater stürmte diese Stadt mit der Roten Armee. Ein sehr<br />

junger Mann mit kulturellen Interessen, ging er sofort nach der Schlacht zum Schloss,<br />

wo ihn beinahe ein Scharfschütze getötet hätte. Pietraß und ich können kein richtiges<br />

Gespräch darüber führen. Wir können hier stehen und jeder still über Fremdes und<br />

Eigenes denken. Zumindest das können die kulturellen Veranstaltungen bewirken. Und<br />

das ist nicht wenig.<br />

DIE ZEIT Nr. 27,<br />

30. Juni 2005

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