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BESTE BILDUNG STATT EXPERIMENTE

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4.2015www.libmag.de2,90 EUROD EBATTEN ZUR FREIHEITSCHWERPUNKT<strong>BESTE</strong> <strong>BILDUNG</strong><strong>STATT</strong> <strong>EXPERIMENTE</strong>MIT WOLF-DIETER HASENCLEVER,KLAUS HURRELMANN, ANDREAS PINKWART,MARKO MARTIN UND ANDERENJUSTITIA WIRD WEIBLICH:GISELA FRIEDRICHSEN ÜBER DENMÄNNERMANGEL IN DER JUSTIZMARX WÄRE HEUTE IN DER FDP:ULF POSCHARDT ÜBERLINKE UND LIBERALEGEFÄNGNIS FAMILIE:SIBEL KEKILLI FORDERT FREIHEITFÜR MUSLIMISCHE FRAUEN


2,90 EURO2.2015www.libmag.de2,90 EURO3.2015www.libmag.deD EBATTEN ZUR FREIHEITDEBATTEN ZUR FREIHEITD EBATTEN ZUR FREIHEIT4.2015www.libmag.deAuch alskostenfreieAPPerhältlichSCHWERPUNKT: RUSSLANDNEMZOW-MORD: K. O.FÜR DIE OPPOSITION?UNTER DER LASTDES ALTERSS C H W E R P U N K T : D I E G E K N I F F E N E G E N E R A T I O NS C H W E R P U N K T<strong>BESTE</strong> <strong>BILDUNG</strong><strong>STATT</strong> <strong>EXPERIMENTE</strong>ZHANNA NEMZOWA: DIE TOCHTER DES ERMORDETENM I T W O L F - D I E T E R H A S E N C L E V E R ,RUSSISCHEN POLITIKERS IM INTERVIEWK L A U S H U R R E L M A N N , A N D R E A S P I N K W A R T ,M A R K O M A R T I N U N D A N D E R E Nliberal bittet Freigeister wie Vince Ebert,Jan Fleisch hauer, Wladimir Kaminer,Necla Kelek, Harald Martenstein, MichaelMiersch, Ulf Poschardt, Terry Pratchett,Roland Tichy, Christian Ulmen undWolfram Weimer in die Arena.liberal ist laut Leserpost ein „intelligentesund mit spitzer Feder geschriebenes,exquisites Magazin“.liberal verleiht der Freiheit eine Stimme.liberal wird herausgegeben von derFriedrich-Naumann-Stiftung für dieFreiheit.MARIO VARGAS LLOSA:DAS BEKENNTNISDES NOBELPREISTRÄGERSZUR FREIHEITJAN FLEISCHHAUER:WIESO NICHTS ÜBER EINE ORDENTLICHEBELEIDIGUNG GEHTKARL-HEINZ PAQUÉ:WARUM TTIP UNVERZICHTBAR ISTWOLFGANG GERHARDT:WESHALB <strong>BILDUNG</strong> SOZIALESICHERHEIT SCHAFFTJUSTITIA WIRD WEIBLICH:GISELA FRIEDRICHSEN ÜBER DENMÄNNERMANGEL IN DER JUSTIZMARX WÄRE HEUTE IN DER FDP:ULF POSCHARDT ÜBERLINKE UND LIBERALEHAMED ABDEL-SAMAD:WIESO ISLAMKRITISCHESATIRIKER FÜRMUSLIME EIN SEGEN SINDGEFÄNGNIS FAMILIE:SIBEL KEKILLI FORDERT FREIHEITFÜR MUSLIMISCHE FRAUENWOLFGANG GERHARDT:WARUM GROSSE GEWISSHEITIM GLAUBEN JEDE KULTURDER TOLERANZ ZERSTÖRTCover_04_Simpson.indd 1 22.07.15 14:19001-001_Cover_iPad 1 12.05.2015 20:15:58Jetzt alle zwei Monate neukostenfrei abonnierenliberal weiterempfehlen: kostenlosesProbeexemplar an Verwandteund Freunde über abo@libmag.deOnline-Bestellungwww.libmag.de/abo/oder QR-Code scannenWOLFGANG GERHARDTHerausgeber liberal„LIBERAL IST DIEPLATTFORM FÜRFREIE, BÜRGERLICHEDEBATTEN ABSEITSDES MAINSTREAMS.“liberalDEBATTEN ZUR FREIHEIT


EDITORIALIllustration: E. Merheim nach einem Foto von A. MeissnerDie Begründung meines gefürchtetenGeografielehrers, wieso erauch noch in der Oberstufe aufhandschriftlich geführten Hefteninsistierte, lautete: „Du wirst, wenn du erwachsenbist, ja nicht immer einen Computermit dir herumschleppen wollen.“ Außerdemsei die Verwendung eines Computersunfair gegenüber finanziell schlechtergestelltenMitschülern. Seine Einschätzung solltesich als falsch erweisen. Tatsächlich führenheutzutage alle Geistesarbeiter meistensgleich zwei extrem leistungsfähige Computermit sich: ein Notebook und ein Smartphone.Und obwohl ich mich an ein Lebenohne Smartphone erinnern kann, kann iches mir nicht mehr vorstellen.Wer heute zur Schule geht, hat dievordigitale Welt hingegen nie erlebt. Dabeisind die technischen Möglichkeiten durchauszweischneidig: Dasselbe Smartphone,mit dem ein begabter und interessierterTeenager souverän auf das Weltwissenzugreift und für das er eine App schreibenkann, die ihm vielleicht viel Geld einbringt,ist in den Händen eines weniger begabtenTeenagers eine perfekte Ablenkungs- undUnterhaltungsmaschine, die ihm dankDiktierfunktion selbst rudimentärste Kulturtechnikenabnimmt – um den Preis, dass ersie nie beherrschen wird. Da leistungsfähige„OBWOHL ICH MICHAN EIN LEBEN OHNESMARTPHONEERINNERN KANN, KANNICH ES MIR NICHT MEHRVORSTELLEN.“DAVID HARNASCHCHEFREDAKTEURTechnik inzwischen spottbillig ist, vergrößertsie nicht mehr den Graben zwischenArmen und Reichen – sondern zwischenSchlauen und Doofen.Jedem Kind die optimale Förderungzuteilwerden zu lassen, ist schlicht eineFrage der Gerechtigkeit. „Moderne Bildungspolitikist gezielte Förderpolitik für Kinderund eben nicht nur Finanzausgleich für denElternhaushalt mit Kindern“, schreibt KlausHurrelmann in unserem Bildungsschwerpunkt,wo wir ergründen, warum das reicheund sonst so auf Gerechtigkeit fixierteDeutschland sich hiermit so schwertut – undwas getan werden müsste.Abseits aller Quotendiskussionen machensich die Frauen auf, einen wichtigengesellschaftlichen Bereich mehrheitlich zuübernehmen: die Justiz. Spitzenjuristinnenziehen oft, anders als ihre männlichenKollegen, den Richter- dem Anwaltsberufvor. Das ermöglicht es ihnen, ihre Kinderneben dem Beruf so zu fördern, wie derStaat es leider nicht hinbekommt. Dazumehr von Deutschlands bekanntester GerichtsreporterinGisela Friedrichsen.Übrigens: Weil liberal lesen bildet undBildung uns am Herzen liegt, steigern wiruns um 50 Prozent. In Zukunft erhalten Sieliberal sechs statt vier Mal im Jahr. Und dasAbonnement bleibt weiter kostenfrei. ●liberal 4.20153


Bildung6 VON 1000 PROBLEMENSo viel steht fest: Wir brauchen eine neue Bildungsdebatte. Nicht, dass über das Thema nicht schon lange diskutiert werdenwürde. Mancher Streit wird seit Generationen geradezu gepflegt: der um die Gesamtschule oder um das klassische dreigliedrigeSchulsystem. Oder über Kopfnoten, in denen Dinge wie Betragen und Fleiß bewertet werden. Mit den PISA-Tests hat dieDebatte eine neue Dimension erreicht: Es geht nicht mehr nur um gute oder schlechte Bildung, sondern um die Frage, obDeutschland mit seinen Ausbildungsmöglichkeiten im internationalen Wettbewerb bestehen kann. Was für ein Land ohneRohstoffe existenziell sein wird. Vorschläge für wichtige Weichenstellungen und Beschreibungen irrwitziger Zustände findenSie im Schwerpunkt dieses Heftes.Her mit den Akademikern …Fest steht: Deutschland braucht mehr gut ausgebildete Menschen. Dochwird die Zahl der Studienanfänger sinken, obwohl der Anteil derAbiturienten je Jahrgang steigt. Die Demografie schlägt zu …5045403530Tausend490480472.39247046045039,241,5489.044Der Anteil der Abiturienten in denJahrgängen wächst …42,543,4… dennoch wird die Zahl der Studienanfängerin Deutschland zurückgehen …468.699 467.045471.71944,5 45,1Quelle: Destatis, Nichtmonetäre hochschulstatistische Kennzahlen –Fachserie 11, Reihe 4.3.1, 1980-201346,549,02003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010467.816464.375459.1612012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019Der PISA-SchockAls die erste PISA-Vergleichsstudie veröffentlicht wurde, kam es zumPISA-Schock. Mit dem unterdurchschnittlichen Abschneiden Deutschlandshatte niemand gerechnet. Inzwischen hat die Bundesrepublik im Rankingaufgeholt. Ein Problem ist geblieben: Kinder aus sozial schlechtergestelltenFamilien liegen deutlich unter den Ergebnissen ihrer bessergestelltenMitschüler.Erreichte Punktzahl* der teilnehmenden 15-jährigenSchülerinnen und Schüler in den Bereichensignifkant besser schlechter als der DurchschnittMathematik NaturwissenschaftenLesekompetenzShanghai (China) 613 580 570Singapur 573 551 542Hongkong (China) 561 555 545Japan 536 547 538Schweiz 531 515 509Niederlande 523 522 511Finnland 519 545 524Deutschland 514 524 508Österreich 506 506 490Frankreich 495 499 505OECD-Durchschnitt 494 501 496Großbritannien 494 514 499Italien 485 494 490Spanien 484 496 438Russland 482 486 475Vereinigte Staaten 481 497 498Griechenland 453 467 477Mexiko 413 415 424Brasilien 391 405 410Katar 376 384 388Indonesien 375 382 396Peru 368 373 384Auswahl: *30 Punkte entsprechen etwa dem Lernfortschritt eines SchuljahresPISA-Daten 2012; Quelle: OECD4 4.2015 liberal


PISA: Migranten holen kaum aufWird es gelingen, die Kinder von Zuwanderern in die WissensrepublikDeutschland zu integrieren? Angesichts der demografischen Entwicklungeine Pflichtaufgabe. Die Statistik zeigt: Das Problem ist noch lange nichtgelöst …So viele Punkte erreichten die 15-jährigen Schüler in Deutschland bei derinternationalen PISA-Studie in MathematikMittelwert im Jahr 2003 Mittelwert im Jahr 2012Schüler ohne MigrationshintergrundSchüler mit einem im Ausland undeinem in Deutschland geborenen ElternteilSchüler in Deutschland geboren,beide Elternteile im Ausland geborenSchüler und beide Elternteile im Ausland geborenQuelle: OECD431476456461Kurz vor der Pensionierung: der LehrkörperEin handfestes Gegenwartsproblem zeigt sich im Schulalltag am Umgangmit der digitalen Revolution. Nicht selten müssen Lehrer von den Schülernlernen, sich in der digitalen Welt zu bewegen. Hauptgrund dafür ist dieAltersstruktur des Lehrkörpers, kombiniert mit dem unzureichendenStellenwert der Weiterbildung im Lehrerberuf …Altersverteilung der Lehrkräfte 2013/2014Anteil an allgemeinbildenden Schulen (in Prozent)60 Jahre und älter13 %7 %unter 30 Jahre506504527531LändersacheSchulfragen sind Ländersache. Kein Wunder, dass sich die Bildungsergebnissevon Land zu Land stark unterscheiden. Das zeigt sich auch am Anteil derSchüler eines Jahrgangs, der die Berechtigung zum Studium erwirbt. DieseStatistik sorgt für dauerhaften Streit. Denn hier gute Ergebnisse zu erzielen,bedeutet noch lange nicht, ein gutes Bildungsergebnis erreicht zu haben.Vielleicht waren die Prüfungen nur leichter…Studienberechtigtenquotenach allgemeinerHochschulreife undFachhochschulreife2012 (in Prozent)DoppelterAbiturientenjahrgangin Bremen, Berlin,Brandenburg undBaden-Württemberg32,625,641,720,636,315,565,439,08,118,862,435,816,713,636,750,518,011,638,210,6allgemeine HochschulreifeFachhochschulreife37,330,930,314,7 6,47,162,57,963,234,19,39,1Quelle: StatistischesBundesamt, Schulenauf einen Blick, 201450-59 Jahre31 %Quelle: StatistischesBundesamt, Wiesbaden 2015Insgesamt664.659Lehrkräfte26 %23 %40-49 Jahre30-39 JahreSaustallAn vielen Schulen schlagen sich die Kindermit ganz profanen Problemen herum: Esgibt kaum noch saubere Toiletten, ganzeSchulgebäude sind marode. DieSchulträger geizen und verschleppen dieProbleme. Wie soll in einem solchenUmfeld beste Bildung gelingen?liberal 4.20155


STANDARDS3EDITORIAL4START6 VON 1000 PROBLEMEN6INHALT/IMPRESSUM28FUNDSTÜCK28WUTPROBEFleischhauersSchreibübung29AUTOREN DER FREIHEITSibel Kekilli30ZENTRALMOTIVHistorische Nacht40MIERSCHS MYTHENÜber Natürliches42BÜCHER54ZITATE DER FREIHEITJoachim LottmannAPP-VERSIONliberal ist auch als iPadundAndroidversionerhältlich und enthältmultimedialesZusatzmaterial:BildergalerieLeseprobeAudioLinkVideoSchule braucht FreiheitVerknöcherte Strukturen, Gängelei und Angst vor der dringend notwendigen Entbürokratisierung:Das deutsche Schul- und Bildungswesen ist altmodisch, träge und teilweise ideologisch gefärbt.liberal zeigt die Schwachstellen und lässt Experten den Finger in die Wunde legen.Ergebnis der Baustellenbegehung: Es gilt, Freiheit zur Mitgestaltung zu schaffen.8<strong>BESTE</strong> <strong>BILDUNG</strong> IST MÖGLICHEs sei kaum gelungen, Schulen mehr Freiheit zugeben, sagt Andreas Pinkwart. Im Interview erklärtder Bildungsexperte, warum er trotzdem an dieReform des Bildungswesens glaubt. VON BORIS EICHLER11IDEOLOGIE ZUM PAUSENBROTDie Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte hatgezeigt: Früh übt sich, wer ein Linker werden soll.Am besten schon in der Kita. VON KARL-ULRICH KUHLO12SANIERUNG - JETZTErlasse, Vorschriften und Bürokratie ohne Ende:Das Schulwesen ist den Veränderungen unsererZeit nicht gewachsen. VON WOLF-DIETER HASENCLEVERSCHWERPUNKT14MEINUNG <strong>STATT</strong> WISSENFalsche Aussagen, tendenziöse Behauptungen undemotionale Indoktrination: Was der Nachwuchs inmanchen Lehrbüchern zu lesen bekommt.VON JUSTUS LENZ16AB IN DIE VORSCHULEWarum die Weichen für Bildung und Erfolg schonin frühen Jahren gestellt werden müssen.VON KLAUS HURRELMANN18FORSCHES VERGESSENWieso der DDR-Autoritarismus in deutschenSchulen noch immer allgegenwärtig ist.VON MARKO MARTINFotos: mauritius images / United Archives (Titelbild); Picture-alliance/dpa64.2015 liberal


POLITIK WIRTSCHAFT GESELLSCHAFT2632 4420 „MARX WÄRE HEUTE IN DER FDP“Ulf Poschardt macht gerne „die Klappe auf“:Wie der streitbare Journalist seinelinke Vergangenheit in seiner liberalenGegenwart weiterlebt.VON DAVID HARNASCH24 SCHATTENGEHEIMDIENSTAusländermaut, Mindestlohn,Fluggastdatenspeicherung: Warumdie Macht der Zoll-Behörden immerweiter und unkontrolliert wächst.VON JAN C. KLEIN-ZIRBES26 DER GECASTETE KANDIDAT„Deutschland sucht den Superstar“war gestern: Wie sich die GemeindeSelfkant ihren Kandidaten fürsBürgermeisteramt gecastet hat.VON BORIS EICHLER32 NEUE CHANCE FÜR DIE ABBRECHERDie Zahl der Studienabbrecher liegtbei mehreren Zehntausend – jedes Jahr.Die Angst, sich neu zu orientieren, istgroß. Wie Universitäten und Unternehmenbeim Neustart in die Karriere 2.0 helfen.VON CHRISTINE MATTAUCH36 BUNDESLIGA IM WANDELDie Premier League und ihre millionenschwerenInvestoren setzen die deutscheFußballkultur gehörig unter Druck. Geldgeberwie Martin Kind und Dietmar Hoppwehren sich. Warum die Eliteklasse derdeutschen Kicker auf einem schmalenGrat wandelt.VON RALF KALSCHEUR44 MIT COOLER KOHLE HELFENCrowdfunding für die gute Sache: WieIdeengeber im Internet Sponsoren finden.VON CHRISTINE MATTAUCH48 FRAUEN AUF DEM VORMARSCHWarum die Justiz keine Frauenquotebraucht. VON GISELA FRIEDRICHSEN50 VERBRECHENSVORHERSAGEEin Polizisten-Traum wird wahr: schon vorBegehung der Tat am Tatort sein.VON ANDREAS SPIEGELHAUER52 MORALSTANDORT DEUTSCHLANDWarum Mythenbildung undVerschwörungstheorien schlechtfür Deutschland sind.VON WOLFGANG GERHARDTFotos: Nenad Aksic/Getty Imgaes; privat; E. Merheimliberal • Debatten zur Freiheit. Das Magazinder Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.Reinhardtstraße 12, 10117 BerlinTelefon 030/28 87 78 59, Fax 030/28 87 78 49www.libmag.deKontakt: leserbriefe@libmag.de; abo@libmag.de,redaktion@libmag.deBegründet von Karl-Hermann Flach und HansWolfgang RubinHerausgegeben von Dr. Wolfgang Gerhardt,Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué, Manfred Richter, SabineLeutheusser-Schnarrenberger, Dr. Wolf-DieterZumpfortBeirat: Dr. Bernd Klaus Buchholz, Karl-Ulrich Kuhlo,Helmut MarkwortGesamtleitung: Kirstin HärtigRedaktion Friedrich-Naumann-Stiftungfür die Freiheit:David Harnasch (Chefredakteur, v.i.S.d.P.),Boris Eichler (Chef vom Dienst), Thomas VolkmannAutoren dieser Ausgabe: Boris Eichler, Jan Fleischhauer,Gisela Friedrichsen, Wolfgang Gerhardt, DavidHarnasch, Wolf-Dieter Hasenclever, Klaus Hurrelmann,Ralf Kalscheur, Sibel Kekilli, Jan C. Klein-Zirbes, Karl-Ulrich Kuhlo, Justus Lenz, Joachim Lottmann, MarkoMartin, Michael Miersch, Andreas SpiegelhauerGesamtherstellung:corps. Corporate Publishing Services GmbH,ein Unternehmen der Verlagsgruppe HandelsblattKasernenstraße 69, 40213 DüsseldorfTel. 0211/542 27-700, Fax 0211/542 27-722www.corps-verlag.deVerlagsgeschäftsführung:Thorsten Giersch, Holger Löwe, Wilfried LülsdorfRedaktionsleitung: Mirko HackmannGestaltung: Ernst Merheim (Grafik), Achim Meissner(Bild redaktion), mauritius images / United Archives(Titelbild)Objektleitung: Jana TeimannAnzeigen:Tatjana Moos-Kampermann, Tel. 0211/ 542 27-671,tatjana.moos-kampermann@corps-verlag.de(Leitung),Georgios Giavanoglou, Tel. 0211/ 542 27-663,georgios.giavanoglou@corps-verlag.de(Anzeigen-Marketing),Christine Wiechert, Tel. 0211/542 27-672,christine.wiechert@corps-verlag.de (Disposition)Litho: TiMe GmbHDruck:Bechtle Druck & Service GmbH & Co. KG73730 Esslingen, Zeppelinstraße 116Namentlich gekennzeichnete Artikel gebennicht unbedingt die Meinung von Herausgeberund Redaktion wieder.Vertrieb: DPV Network GmbH www.dpv.deBezugsbedingungen: Abonnement bis auf Widerrufkostenfrei; Preis des Einzelheftes 2,90 Euro (Inlandspreis,zzgl. 2,50 Euro Porto und Verpackung).Näheres über abo@libmag.deliberal im kostenlosen Abonnement:alles dazu auf Seite 2liberal 4.2015 7


<strong>BILDUNG</strong> INTERVIEWMehr Freiheit fürbessere BildungIn der Welt von morgen kann Deutschland nur bestehen, wenn esbeste Bildung für möglichst viele bieten kann. Trotz des immensenReformstaus an den Schulen und lähmender Strukturdebatten sagt derBildungsexperte Professor Andreas Pinkwart: Beste Bildung ist möglich.// INTERVIEW // BORIS EICHLERliberal: Herr Pinkwart, Sie sind Ende der60er und in den 70er Jahren zur Schulegegangen. Wenn Sie heute noch mal dieSchulbank drücken müssten, welcheUnterschiede würden Ihnen am meistenauffallen?Andreas Pinkwart: Die Unterschiede dürftenvergleichsweise gering sein. Die Klassen sindheute jedoch erheblich kleiner als damals.Ich hatte in der Spitze 48 Mitschüler inmeiner Klasse, 40 Schüler waren Standard.In meiner Schulzeit erlebte ich noch denschleppenden Einzug elektronischer Medien,daran hapert es bis heute. Viel zu oft wirdnoch mit klassischen Medien gearbeitet.Sie meinen die Tafel, nach wie vor dasSymbol für die Institution Schule?So ist es. Aufgebrochen ist dagegen dasDogma des Frontalunterrichts. Es gibt heutemehr Gruppenarbeit und interaktive Lernformen.Die Didaktik hat sich fortentwickelt.Dennoch ist Schule in den vergangenenJahrzehnten von einem, sagen wir es freundlich,hohen Maß an Stabilität geprägt.Das ist sehr zurückhaltend ausgedrückt.Spötter sagen, das Schulsystem stammtin seinen Grundstrukturen noch erkennbaraus dem Kaiserreich und wird passenderweisevon Beamten exekutiert,anderen fällt dazu nur der BegriffPlanwirtschaft ein …In der Tat handelt es sich um ein von denLändern zentralistisch ausgerichtetes Systemmit wenig Autonomie für die Schulen –jedenfalls soweit es die staatlichen Schulenbetrifft, also den überwiegenden Teil. Es istkaum gelungen, den Schulen mehr Freiheiteinzuräumen. Hier liegt ein wesentlicherVorteil der privaten Schulen, und das istauch ein Grund dafür, warum diese vonEltern und Kindern so wertgeschätzt werden.Dort kann man Schule ganz andersgestalten, das beginnt bei der Auswahl derLehrer und endet bei der gezielteren Förderungvon Begabungen und Talenten.Warum klappt das bei staatlichenSchulen nicht so gut?Es würde schon funktionieren, es fehlt amVertrauen in die Kompetenz von Schulleitungenund Lehrern, vor Ort die richtigenEntscheidungen selbst treffen zu können.Schulautonomie ist der Schlüssel zu bessererBildung. Nur sie ermöglicht Vielfalt undFotos: Tina Merkau/FNF8 4.2015 liberal


ZUR PERSONANDREAS PINKWART war von 2005bis 2010 stellvertretender Ministerpräsidentund Minister für Innovation,Wissenschaft, Forschung und Technologiedes Landes Nordrhein-Westfalen.Er ist seit 2011 Rektor der HHL LeipzigGraduate School of Management undLehrstuhlinhaber für Innovationsmanagementund Entrepreneurship.liberal 4.20159


<strong>BILDUNG</strong> INTERVIEWInnovation. Anstelle überbordender Bürokratiebrauchen wir spannenden Unterricht.Ein hoher Grad an Autonomie würdeaber nichts nützen ohne Schulleitungen,die davon Gebrauch machen. Ist dasSchulleitern zuzutrauen, die in der Beamtenlaufbahnsozialisiert wurden?Da bin ich zuversichtlich. Wir haben mitdem Hochschulfreiheitsgesetz in Nordrhein-Westfalen den Präsidenten und Rektorender Unis und Fachhochschulen viele zusätzlicheKompetenzen gegeben. Dabei sind wiranfangs der gleichen Skepsis begegnet.Unsere Erfahrung: Der Mensch wächst mitseiner Aufgabe und der ihm anvertrautenFreiheit. Die Rektoren haben die Chancenfür ihre Hochschulen genutzt und sind ihrerVerantwortung gerecht geworden. Ich binüberzeugt: An Schulen ginge das genausogut. Lehrer in Deutschland sind gut qualifiziertund erfahren, das bekommen die hin.Seit Aufkommen der PISA-Studien giltFinnland wegen seiner Spitzenplätzeals Vorbild. Dort werden Lehrer – andersals bei uns – aus der akademischen Eliterekrutiert …… und der Lehrerberuf genießt dort einenhervorragenden Ruf. Ich habe es mir zurRegel gemacht, bewusst positiv über Lehrerzu sprechen. Man kann die Lehrerschaftnicht per se kritisieren und zugleich beklagen,dass das Berufsbild des Lehrersschlecht beleumundet ist. Was Finnland undauch andere erfolgreiche Länder wie zumBeispiel Vietnam anbelangt: Kennzeichnendsind dort die gezielte Vorauswahl, die hoheQualität der Ausbildung und die gesellschaftlicheAnerkennung von Lehrern.Das gilt besonders für Lehrer an „Problemschulen“.Deren Arbeitsalltag kanndie Hölle sein, ihre Bezahlung ist imVergleich zu ihren gymnasialen Kollegenmager. Ein weiteres Relikt aus alter Zeit?Zweifellos ein Anachronismus. Lehrern anBrennpunktschulen, die mit besondersschwierigen Schülerbiografien umzugehenhaben, sollten wir deutlich bessere Unterstützungund eine höhere Bezahlung bieten.Und die leidige Schulformdebatte? SeitJahrzehnten beherrscht sie die Diskussionum die deutsche Schulpolitikund wird oft mit erstaunlicherVerbissenheit geführt.Dabei ist die Schulform nicht die entscheidendeFrage. Was wir jedoch brauchen, istein hinreichendes Maß an Differenzierung,um Über- und Unterforderung zu vermeiden.Diese kann innerhalb einer Schule undKlasse ebenso hergestellt werden wie durchverschiedene Schultypen. Was indessennicht weiterhilft, sind Einheitsschulen, die zuEinheitsergebnissen führen, denn dies setztEinheitsschüler voraus. Gott sei Dank habenwir es aber mit unterschiedlichen Begabungenund Talenten zu tun, die wir wertschätzenund auch gezielt fördern sollten.Immer mehr Stimmen fordern, Schulensollten vermehrt Erziehungsaufgabenwahrnehmen, die klassische Elternaufgabensind. Erziehung zu Pünktlichkeit,Höflichkeit, zum gesamten Kanonsozialer Tugenden. Überfordert das dieSchulen?Nein, Helmut Schmidts Sekundärtugendenwaren schon immer hilfreich. Schüler, Lehrerund Eltern müssen sich gegenseitigrespektieren. Das erwarten übrigens insbesonderedie Schüler. Kinder wollen undbrauchen Freiräume genauso wie klareRegeln. Nichts demotiviert sie mehr alsunterschiedliche Leistungen, die gleichbewertet werden.Und wie sieht es mit der lebenspraktischenErziehung aus? Wie ernähre ichmich gesund, wie sieht ein Mietvertragaus? Es gibt so viele Forderungen nachneuen Lehrinhalten. Würde man sieerfüllen, wären Eltern gleich nach derGeburt von allen Erziehungsaufgabenentbunden …Es muss klar sein, dass der wesentlicheAnteil der Erziehung und Vermittlung vonAlltagswissen bei den Eltern liegt. Das istdoch eigentlich die schönste Aufgabe, die„Kinder wollen und brauchenFreiräume genauso wie klareRegeln. Nichts demotiviert siemehr als unterschiedlicheLeistungen, die gleich bewertetwerden.“Eltern zukommt. Auf der anderen Seite:Wir haben heute eine wachsende Zahl vonPatchwork-Familien, deren Konfigurationsich häufiger ändert als früher. Hier sindergänzende Angebote in der Schule unverzichtbar,wenn wir allen Kindern unabhängigvom Elternhaus beste Startbedingungengeben wollen.Diese Angebote werden allerdings geradevon jenen Elternhäusern nicht wahrgenommen,für die sie gedacht sind …Genau dafür gibt es die Schulpflicht undergänzende, neuere Verpflichtungen. DenkenSie nur an die Sprachprüfung für Vierjährige,die wir in Nordrhein-Westfalen10 4.2015 liberal


eingeführt haben. Dieser für alle Kinderverpflichtenden Prüfung folgt bei Bedarfeine gezielte Sprachförderung, damit alleKinder von der ersten Unterrichtsstunde anmithalten können. Denn wir wissen: Ohnegute Ausbildung finden wir heute kaummehr einen Job, der ein eigenständigesLeben sichert. Klar muss aber sein: Fürwirkliche Fortschritte in der Chancengerechtigkeitmüssen alle sorgen: Kitas, Kindergärtenund Schulen, ebenso wie Eltern, Verwandteund Nachbarn. Das ist primär keineFrage des Einkommens, sondern des Willensund beharrlichen Tuns aller Beteiligten.Herr Pinkwart, versuchen wir zu priorisieren.Welche Stellhebel würden Sie inder Schulpolitik zuerst bewegen?Erstens: Wir brauchen mehr und eine deutlichbessere Weiterbildung. Da hinken wirhinterher: Wenn die Wirtschaft so wenig fürdie Weiterbildung ihrer Mitarbeiter tunwürde wie der Staat für seine Lehrer, wärendeutsche Unternehmen international schonlängst abgehängt. Damit Lehrer über mehrals 40 Berufsjahre hinweg motiviert undfachlich vorbereitet bleiben, sollte manihnen spätestens nach 20 Jahren die Möglichkeitzu einem halbjährigen Sabbaticalund einem Auffrischungsstudium eröffnen.Dies wird durch offene Weiterbildungsprogrammean den Universitäten ergänzt.Diese Maßnahmen werden Geld kosten,scheinen aber umsetzbar zu sein.Dafür würden wir erhebliche Mittel einsparen,die wir heute für die Frühpensionierungvon Lehrern und mittelbar für die Lerndefiziteunserer Schüler ausgeben. Wir solltennicht abwarten, bis durch den Generationswechselin der Lehrerschaft die Kreidezeitvon der Digitalisierung abgelöst wird. Wobeidas Auswechseln der Tafeln durch WhiteBoards noch keinen Fortschritt bedeutet.Vielmehr müssen wir unsere didaktischenKonzepte grundlegend renovieren, wenn wireinen Mehrwert schaffen wollen: Die Kinderleben schon seit Jahren in einer Parallelwelt,weil die Schulen die Möglichkeiten derneuen Medien für eine echte Qualitätssteigerungim Unterricht nicht nutzen. ●Ideologie zum Pausenbrot„Du lernst nicht für die Schule, du lernst für dein Leben“, hat mein Vater mireingebläut. Millionen Mitschüler hörten das Gleiche. Manche haben es verstanden undes sich zu Herzen genommen, manche weniger. Würden unsere Väter in die heutigenKlassenzimmer sehen, müssten sie resigniert feststellen: „Unsere Kinder lernen nicht fürdie Schule, sondern auch Vorurteile. Statt Fakten. Besonders, wenn’s um Wirtschaftgeht!Schon 2002 hatte Olaf Scholz, heute Bürgermeister von Hamburg, damals Generalsekretärder SPD, unverhohlen zu Protokoll gegeben: „Wir wollen die Lufthoheit über denKinderbetten erobern.“ Es scheint gelungen. Zumindest in weiten Teilen des Landes.Und wenn es noch kein 100-Prozent-Erfolg ist, dann liegt das nur an tapferen Eltern,die die häufige Linksausrichtung unserer Schulen nicht hinnehmen wollen. AlsWahlkampfthema taugt Bildungspolitik nur bedingt, weil das Interesse der Wähleram Schicksal unserer Kinder meistens dann erlischt, wenn die eigenen Kleinen ihrenAbschluss gemacht haben. Dann endet die Betroffenheit und damit oft auch dasInteresse am Thema.Leider! Denn die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte hat gezeigt: Früh übt sich,wer ein Linker werden soll. Am besten schon in der Kita.Ideologie mit dem Pausenbrot, das hat Wirkung. Wer schon im Schulbuch eingetrichtertbekommt, dass Wirtschaftswachstum Arbeitslosigkeit zur Folge hat (siehe Seite 14dieser liberal-Ausgabe), wird das nicht mehr vergessen und später entsprechendeWahlentscheidungen treffen. Wer schon im zarten Kindesalter lesen muss, dass demUnternehmer die Maschinen wertvoller waren als die Arbeiter, der hat ein Feindbild fürsein ganzes Leben.Perfide! Klug ausgedacht! Und mit ungeheuren Langzeitfolgen. Nicht nur für unsereKinder, sondern für unsere ganze Gesellschaft, für unser Land. Denn mittel- undlangfristig wirkt sich diese schleichende Indoktrination auf den Kurs aus, denDeutschland in Zukunft nimmt. Das hat schon in den vergangenen Jahrzehntenfunktioniert, wie der Pegel des „Zeitgeistes“ beweist, der sogar aus Adenauers CDU in70 Jahren eine sozialdemokratische Partei hat werden lassen. Und so lenken natürlichauch Bildungspolitiker von heute die Entwicklung unseres Landes von morgen. Ganzeinfach, indem sie unsere Kinder formen.Bildungspolitik hat eine viel zu hohe Bedeutung für unsere Zukunft, als dass sieweiterhin stiefmütterlich behandelt werden darf, meist weit abgeschlagen hinteranderen politischen Themen. Es lohnt sich für alle, die zukünftig nicht in einer anderenRepublik leben wollen, Bildungspolitik endlich Priorität zu verschaffen. Wer auch in10, 20 oder 30 Jahren Freiheit genießen will, muss dafür sorgen, dass unseren KindernFreiheit vorgelebt wird, dass sie nicht einseitig ideologisiert werden, dass aus ihnenmündige Bürger werden, die ihre ganz persönlichen Chancen zu nutzen gelernt haben,unbehelligt von Ideologen!Denn merke: Wirtschaftspolitik, Umweltpolitik, Sozialpolitik, Außenpolitik oderVerteidigungspolitik von morgen fängt schon heute an – im Kindergarten.Karl-Ulrich Kuhloliberal 4.201511


<strong>BILDUNG</strong> SCHULAUTONOMIEMehrFreiheitwagenDas deutsche Schulwesen ist seiner Traditionals obrigkeitsstaatliche Einrichtung ausKaisers Zeiten treu: durchverwaltet, miteinem Übermaß an Erlassen und Vorschriftenausgestattet, von weisungsgebundenenBeamten exekutiert. Dieses schwerfälligeSystem ist den schnellen Veränderungenunserer Zeit nicht gewachsen. Schulebraucht Freiheit. // TEXT // WOLF-DIETER HASENCLEVERDAS BUCH ZUMSCHWERPUNKT:Bildung für AlleBildungsvielfalt imIdeenwettbewerb, vonPeter Altmiks/KathleenKlotchkov (Hrsg.),Peter Lang EditionIm November 1997 fand im Schauspielhaus amGendarmenmarkt das Berliner Bildungsforum statt.Einer der Redner war Roman Herzog. Seinen Vortragschloss der damalige Bundespräsident mit denWorten: „Setzen wir neue Kräfte frei, indem wir bürokratischeFesseln sprengen. Entlassen wir unser Bildungssystemin die Freiheit.“18 Jahre nach der wohlbegründeten Aufforderungdes damaligen Bundespräsidenten hat sich der Eindruckverfestigt, dass die einzige politische Kraft, die sichernsthaft um (relative) Autonomie, Eigenverantwortungund Gestaltungsfreiheit für die Schulen bemüht, in derTat die Liberalen waren und sind. Warum aber wird dasauch von anderen Parteien vorgetragene Bekenntnis zurFreiheit der Schulen in der Praxis der Länder – bis aufdie rühmliche Ausnahme Niedersachsens in der Zeit derCDU-FDP-Koalition – nicht oder nur höchst oberflächlichumgesetzt?Mehr Selbstverantwortung für die auch im Detailunmittelbar den Weisungen der Politik und Verwaltungunterworfenen Schulen bedeutet Machtverlust fürbeide. Entscheiden Schulen selbst über die Schwerpunktbildungbeim Unterricht oder gar über ihre Organisationsformen,kann nicht mehr durch Weisung desMinisteriums „mal eben“ eine pädagogisch weitgehendnutzlose Strukturänderung oder ein gerade modischesThema in die Bildungsstätten hineingebracht werden.Dabei ist die eigene Möglichkeit, sich an die jeweilsunterschiedlichen Voraussetzungen ihrer Schülerschaftanzupassen, wesentlich für die Qualität der Schulen.Nach den für Deutschland schlechten Ergebnissen derPISA-Studie wurden die Faktoren untersucht, die erfolg-12 4.2015 liberal


Illustration: E. Merheim; Fotos: SuperStock, Inc.; privatreichere Schulsysteme ausmachen. Als zentral erwiessich das Maß an Freiheit der einzelnen Schulen in folgendenBereichen: Lehrereinstellung, Verfügung über dasBudget, Bestimmung des Lernstoffs, Entscheidung überdas Fächer- und Kursangebot. Bei all diesen Faktoren lagDeutschland auf dem letzten Platz hinter den VergleichsstaatenKanada, Finnland, Schweden, Großbritannien,Niederlande.Der Grund: Historisch hat sich das deutsche Schulwesenals obrigkeitsstaatliche Einrichtung im Kaiserreichentwickelt: mit einem Übermaß an Erlassen und Vorschriftenausgestattet, durchverwaltet, von weisungsgebundenenBeamten ausgeführt. Dieses schwerfälligeSystem ist den schnellen Veränderungen unserer Zeit inWissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft nicht gewachsen.Das staatliche Schulwesen in Deutschland kanndaher als System bezeichnet werden, das durch Verwaltungsabläufeim Dienste einer eher statisch orientiertenGesellschaft gekennzeichnet war und in weiten Teilennoch ist. Einem solchen System sind Individualisierungund die Zentrierung auf die Schüler fremd. Reformen inder Schule können nicht schnell und pragmatisch vonunten kommen, sondern mussten und müssen denmühsamen und politisch belasteten Weg von den Landesregierungenüber die Verwaltungen nehmen. DerSchritt in die eigenverantwortete Freiheit ist daher weitmehr als eine Organisationsveränderung: Er bahnt denWeg für neue Formen des Unterrichtens und Erziehens,für mehr Individualisierung und Kreativität.Auch beim Personal mitentscheidenMehr Selbstständigkeit der einzelnen Bildungseinrichtungbedeutet aber auch mehr Verantwortung für dieQualität der eigenen Arbeit, für die Ergebnisse des Unterrichts,für die Erziehung, also für das, was herauskommt(Outcome). Eltern, Kinder und Jugendliche haben einRecht auf qualitativ gute Arbeit. Die Steuerzahler habenein Recht auf Effizienz der eingesetzten Mittel. Die Schulenhaben ein Recht auf die objektive Beurteilung ihresTuns: Dabei beurteilen zuallererst Eltern und Schüler,aber auch die Lehrkräfte selbst ihre Arbeit. Von außenmüssen zentrale Prüfungen und Schulinspektionendazukommen. Die Freiheit der Schulwahl für Eltern unddie Finanzierung der Schulbudgets über Bildungsgutscheinekönnen entscheidende Anreize für die weitereQualitätsentwicklung sein.Unter dem Begriff der Eigen- oder Selbstverwaltunghaben viele Bundesländer den Schulen einige Freiheitengegeben. Zum Beispiel Teilbudgets für Fortbildungen,Mitsprache bei der Personalauswahl, bei Beförderungenund bei der Verteilung der Lehrstoffpläne. Durch dieEinbindung der Schulen in das staatliche Personalrecht,die Anbindung an ein allzu detailliertes Haushaltsrechtund die immer noch anhaltende Erlassflut sind dieseFreiheiten bisher jedoch massiv eingeschränkt. NeueVerwaltungsvorschriften – beispielsweise zur Art undWeise von Leistungsstanddiagnosen – statt der unbedingterforderlichen Entbürokratisierung belasten undkonterkarieren den Freiheitsgedanken.Werden darüber hinaus bisher von den Schulbehördengeleistete Verwaltungsaufgaben unter dem Zeichenvon Selbstverwaltung auf die Schulen abgewälzt, ohneihnen die nötigen Ressourcen zu geben, entstehenUnmut und Skepsis gegenüber der – letztlich nur vermeintlichen– Freiheitsgewährung.Aus den Erfahrungen des Schulwesens in freierTrägerschaft lassen sich einige Grundbedingungenwirksamer, von den Beteiligten für wesentlich gehaltenerFreiheitsbedingungen herausdestillieren. Entscheidendfür die Schulen sind:1. Freiheit in der Verwendung der Ressourcen2. Freiheit in der Organisation des Unterrichtsund in der Lehrstoffverteilung3. Freiheit bei Personalmaßnahmenund –entscheidungen.Solche schwerwiegenden Änderungen in der Verfasstheitder Schulen können nur erfolgreich implementiertwerden, wenn man sie sorgfältig vorbereitet und dauerhaftunterstützt. Zumindest müssten folgende Rahmenbedingungengeschaffen werden: Gründliche Aus- undFortbildung für Führungskräfte im Schulbereich – nichtnur für Schulleiterinnen und Schulleiter –, hinreichendZeit für deren angewachsene Führungsaufgaben sowiedie Zusammenführung der Sach- und Personalbudgetsan den Schulen. Notwendig ist dazu eine weitgehendeVerfügungsfreiheit.So kann schrittweise aus dem alten Modell derdurchverwalteten das neue, freiheitliche und zukunfts–fähige Modell einer Schule in eigener Verantwortungentstehen. ●PROFESSORWOLF-DIETERHASENCLEVERist Mitgründer undGesellschafter der FreienSchule Panketal undwar von 2006 bis2010 Präsident desLandesamtes fürLehrerbildung undSchulentwicklung desLandes Niedersachsen.redaktion@libmag.deliberal 4.201513


<strong>BILDUNG</strong> SCHULBÜCHERMeinung statt WissenFalsche Fakten, tendenziöse Behauptungen und emotionalisierteThemen: Was Schüler in manchen Lehrbüchern zu lesen bekommen,ist nahezu unglaublich.// TEXT // JUSTUS LENZIn deutschen Schulbüchern geht es manchmalabenteuerlich zu: Da beutet der Unternehmer seineMitarbeiter aus, Wirtschaftswachstum erzeugtArbeitslosigkeit, und die Schüler werden zum Mitmachenbei Greenpeace aufgefordert. Kein Wunder, dassauch die öffentliche Meinung in diese Richtung tendiert– zur Schule mussten wir schließlich alle gehen. Dass esihnen in einem stärker vom Staat kontrollierten Wirtschaftssystemschlechter gehen würde, meinen imWesten 34, im Osten nur 18 Prozent der Bundesbürger– das fanden die Meinungsforscher von Allensbach 2013im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heraus.Vielen Deutschen fallen zum Thema Marktwirtschaftdie Begriffe „Gier“ (56 Prozent), „Rücksichtslosigkeit“(53 Prozent), „Ausbeutung“ (51 Prozent) und „hohePreise“ (49 Prozent) ein.Die tendenziell links orientierten Schulbücher sindzwar sicher nicht der einzige Grund für die in Deutschlandvorherrschende Marktskepsis und Aufgeschlossenheitgegenüber freiheitsfeindlichen Ideen. Sie sind jedochein besonders bemerkenswerter Faktor. Ob Lehrerim Unterricht auf ihre Schüler ideologisch einwirken, istzwar schwer nachprüfbar. Dass Jugendliche in Schulbü-14 4.2015 liberal


Illustration: E. Merheim; Fotos: Hulton Archive/Getty Images; privatchern mit Emotionalisierungen, falschen Fakten undtendenziösen Behauptungen beeinflusst werden, ist aberschwarz auf weiß nachzulesen. Dies sollten wir nichtignorieren.Gerade wenn es um die Darstellung wirtschaftlicherZusammenhänge geht, finden sich einige besondersbemerkenswerte Beispiele für ideologisch gefärbtePassagen. So heißt es auf Seite 58 des 2007 erschienenenKlett-Schulbuchs „Terra Erdkunde 9/10 Niedersachsen“:„Ständiges Wirtschaftswachstum unddamit wachsender Wohlstand habenaber (…) in zunehmendem Maße auchArbeitslosigkeit zur Folge.“Die falsche Behauptung, Wirtschaftswachstum führe zuArbeitslosigkeit, sollte in einem Schulbuch keinen Platzhaben. Zumal die Aussage in ihrem Kontext geradezuzynisch wird. Der Schulbuchautor nutzt sie, um zuerklären, dass Wirtschaftswachstum folglich kein erstrebenswertesZiel für Entwicklungsländer ist. Natürlichstellt sich sofort die Frage, was denn die besseren Alternativensind. Bezeichnenderweise werden die Schülerdabei ohne eine konkrete Antwort allein gelassen. Zurückbleibt bei ihnen womöglich ein diffuses Gefühl vonMisstrauen gegenüber Wirtschaft und Wachstum.Auch die wichtigsten Akteure in einer Marktwirtschaft,die Unternehmer, werden häufig in ein schlechtesLicht gestellt. So heißt es auf Seite 168 tendenziös imWestermann-Schulbuch von 2007 „Die Reise in dieVergangenheit 3“:„Für den Unternehmer waren dieMaschinen wertvoller als die Arbeiter.“Die schlechten Beispiele beschränken sich nicht auf dieDarstellung wirtschaftlicher Zusammenhänge. ÄhnlichePhänomene findet man auch bei ethischen und politischenFragen. Komme niemand auf die Idee, die großeZeit des Sozialismus sei vorbei. Folgende Arbeitsanweisungfinden wir in dem Klett-Geschichtsbuch „Zeitreise3: Imperialismus/Sozialismus“ (2007, S. 44-47) unter demin einer chinesischen Buchhandlung ausgestellten Bild,das Marx, Engels, Lenin und Mao zeigt:„Wie verhält sich das Bild zu derBehauptung, das Ende der UdSSR bedeuteauch das Ende des Sozialismus?“Die Schüler sollen wohl angesichts des Bildes schlussfolgern,der Kommunismus sei lebendig wie eh und je.Plumper geht es kaum. Eine aufgeklärte Reflexion überdas politische System Chinas wird diese Frage freilichnicht anstoßen.Geht es ums Thema Umweltschutz, ist der Feind derUmwelt regelmäßig ausgemacht: der Kapitalismus. Dochdagegen kann man etwas tun. So werden die Schüler imEthiklehrbuch „Verantwortlich leben: Freiheit, Verantwortungund Solidarität (7/8)“ unter der Überschrift „Tuwas!“ dazu aufgefordert, aktiv zu werden (Militzke, 2007,S. 73). Die Adresse von Greenpeace wird praktischerweiseauf der gleichen Seite mitgeliefert. So wichtig dasThema Umweltschutz auch sein mag – die unkritischeWerbung für einzelne politische Organisationen gehörtnicht in Schulbücher. Wie groß wäre wohl der Aufschrei,wenn ein Schulbuch für die European Students forLiberty werben würde? In einem anderen Ethikbuchwird recht apodiktisch von „der totalen Ausbeutung derNatur“ gesprochen („Abenteuer Ethik 2 9/10“, C.C. Buchner,2008, S. 66).Die Schulbuchverlage zeigen keine Spur schlechtenGewissens: So rechtfertigte der Klett-Verlag die Darstellungdes falschen Zusammenhangs zwischen Wirtschaftswachstumund Arbeitslosigkeit in einem Deutschlandfunk-Interviewmit den Worten, diese Darstellung seija nur „ein Blickwinkel“. Der Bildungsalltag in Deutschlandsieht so aus: Schulbücher geben tendenziell dieMehrheitsmeinung der Lehrer im jeweiligen Fach wieder.Denn Lehrer sind auf vielfältige Weise in den Prozessder Schulbucherstellung eingebunden, sind oft selbstAutoren bestimmter Abschnitte. Zudem entscheidenmeist die jeweiligen Fachkonferenzen an den Schulendarüber, welche Bücher angeschafft werden und welchenicht. In vielen Bundes ländern müssen Schulbücherzudem staatlich zuge lassen werden, bevor die Schulensie im Unterricht verwenden dürfen.Fazit: Wenn freiheitsfeindliche Einstellungen dasErgebnis einer aufgeklärten Willensbildung sind, dannmüssen wir damit umgehen. Es darf jedoch nicht sein,dass falsche Behauptungen, Emotionalisierungen undtendenziöse Darstellungen gesellschaftlicher Themen inSchulbüchern zur Entstehung solcher Einstellungenbeitragen. ●In unserem Webshopfinden Sie dreiUntersuchungen zumThema – unter derInternetadresse:https://shop.freiheit.orgJUSTUS LENZ ist LeiterHaushaltspolitik beiDie Familienunternehmer/Die Jungen Unternehmer.Er hat für dieFriedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheitdie Darstellungwirtschaftlicher Themenin Schulbüchernuntersucht.redaktion@libmag.deliberal 4.201515


<strong>BILDUNG</strong> VORSCHULEAuf Gedeih und VerderbDie Weichen für den Bildungserfolg werden im Vorschulalter gestellt. Das bestreitetniemand mehr. Für den Bildungsforscher Professor Klaus Hurrelmann ist es jetzthöchste Zeit, daraus politische Konsequenzen zu ziehen. // TEXT // KLAUS HURRELMANNEtwa 200 Milliarden Euro werden in DeutschlandJahr für Jahr umverteilt, um Ehepaare mit undohne Kinder zu unterstützen. 200 MilliardenEuro an Kindergeld, Kinderfreibeträgen, Kinderzuschlag,Elterngeld, Steuererleichterungen bei überdurchschnittlichhohen Kosten der Kinderbetreuung,Kinderzuschlägen bei der Riester-Rente, Ausbildungsfreibeträgen,dazu die Mitversicherung der Kinder in derKrankenversicherung, Beitragsreduktionen für Eltern beider Pflegeversicherung und viele andere Programmemehr. Das hat vor einem Jahr ein Expertengremium ausverschiedenen Forschungsinstituten errechnet.Diese Programme zeigen alle das gleiche Strickmuster:Familien mit Kindern sollen finanzielle Unterstützungerfahren, um ihren im Grundgesetz in Artikel 6 festgelegtenAuftrag erfüllen zu können: „Erziehung und Pflege derKinder sind das natürliche Recht der Eltern und diezuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Die Formulierungeines solchen Auftrags in einer Verfassung dürfte es kaumnoch einmal auf der Welt geben. Unter dem Eindruck destotalitären Regimes der Nationalsozialisten, das dem Staatweitgehende Interventionen in das Familienleben ermöglichte,waren die Verfassungsgeber gegenüber öffentlichenEingriffen in das Familienleben äußerst skeptisch gewordenund verankerten im Grundgesetz der BundesrepublikDeutschland ein monopolartiges Erziehungsrecht derEltern.Das Ergebnis: Kinder in Deutschland sind im wahrenSinn des Wortes „auf Gedeih und Verderb“ auf ihre Elternangewiesen. Von der Idee der Subsidiarität her sollenMutter und Vater die einzig verantwortlichen Personensein, die sich in den ersten sechs Lebensjahren um ihr16 4.2015 liberal


Illustration: E. Merheim; Fotos: SuperStock RM; privatWohl kümmern, um ihre Erziehung und ihre Bildung.Vorschuleinrichtungen, Kinderkrippen, Horte und Kindergärtensind nach dieser Idee nur ein Angebot für KrisenundNotfälle. Erst mit dem sechsten Lebensjahr soll dasKind für einige Stunden des Tages in die (Halbtags-)Schulegegeben werden. Dort soll es eine kognitive und fachlicheBildung erhalten, während die Erziehung und die Persönlichkeitsbildungweiterhin Elternsache bleiben.Dies führt dazu, dass in Deutschland der Bildungserfolgder Kinder so stark vom Elternhaus abhängt wie inkaum einem anderen Land der entwickelten Welt. Machendie Eltern ihre Sache gut, dann profitieren ihreKinder davon, können eine starke Persönlichkeit entwickelnund ihre Leistungsfähigkeit in der Schule entfalten.Machen die Eltern ihre Sache schlecht, dann hat ihr Kindeinen schweren Start ins Leben.Trotz der ungeheuren Transfersummen an Ehepaaremit Kindern gelingt es im internationalen Vergleich nochnicht einmal befriedigend, materielle Armutslagen vonKindern zu vermeiden und ihre körperliche und psychischeGesundheit zu sichern. Indirekt wirken sich dieseFaktoren noch einmal auf die Leistungsunterschiede derKinder aus.Alle vorliegenden Untersuchungen bestätigen: Dasdeutsche Modell der Familienpolitik sichert die erwünschtewirksame und nachhaltige „Erziehung undPflege“ der Kinder nicht. Es ist falsch, den Eltern die absoluteMonopolstellung bei der Erziehung, Pflege undBildung der Kinder einzuräumen. Viele andere europäischeLänder stellen den Eltern von Anfang an Betreuungs-,Erziehungs- und Bildungseinrichtungen zur Seite.Sie relativieren damit absichtlich den Einfluss der Eltern.Großbritannien, die Niederlande und die skandinavischenLänder, um nur einige Beispiele zu nennen, investierenanteilsmäßig mehr in die vorschulische Erziehung undBildung als in die Unterstützung von Familien. Sie sehenauch und gerade die öffentliche Vorschulerziehung und-bildung als einen integralen Bestandteil der Wohlfahrtspolitikan und geben ihr ein entsprechend hohes Gewicht.Seit der Jahrtausendwende haben Bundesregierungenendlich damit begonnen, Elemente dieser Politik zuübernehmen. Der Rechtsanspruch auf einen Kinderkrippen-und Kindergartenplatz und die gezielte Förderungvon Ganztagsschulen signalisierten diese Trendwende.Aber der neue Weg ist mühsam und die Pfadabhängigkeitder inzwischen über 130 Jahre alten Wohlfahrtspolitikgroß.International vergleichende Bildungsstudien habendrei strukturelle Merkmale herausgearbeitet, die denverhängnisvollen Effekt der sozialen Herkunft auf dieLeistungsbilanz der Kinder abschwächen können:1. Ein möglichst hoher Anteil von Kindern in denvorschulischen Bildungseinrichtungen2. Ein möglichst langer Aufenthalt der Kinder in diesenEinrichtungen bei intensiver Abstimmung der Erziehungsimpulsezwischen Elternhaus und Einrichtung3. Eine möglichst spät in der Bildungs laufbahn einsetzendeAufteilung der Kinder in unterschiedlicheSchultypen nach ihrem bis dahin erreichtenLeistungsstandJedes dieser Merkmale erhöht das Potenzial des Bildungssystems,die schulischen Leistungen bei allenKindern, unabhängig von den Vorgaben des Elternhauses,aber immer in enger Abstimmung mit dem Elternhaus,zu verbessern. Auf diesem Wege werden zudemdie Chancen, die Persönlichkeits- und Leistungsentwicklungder Kinder aus unteren sozialen Herkunftsschichtenvergrößert.Moderne Bildungspolitik ist gezielte Förderpolitik fürKinder und eben nicht nur Finanzausgleich für denElternhaushalt mit Kindern. Wir brauchen die materielleBasisabsicherung des Elternhaushaltes und zugleich dievorschulische Betreuung und Erziehung in Kinderkrippenund Kindertagesstätten und die Angebote vonKindergärten und Grundschulen auch am Nachmittag,weil sie die Förderimpulse der Eltern ergänzen. Je besserdie öffentliche mit der privaten Erziehung abgestimmtist, desto mehr profitieren die Kinder.Und nicht zu vergessen: 20 Prozent aller Kindererhalten in ihren Familien nicht die Anregungen undUnterstützungen, die sie für ihre körperliche, psychische,sprachliche, emotionale und intellektuelle Entwicklungunbedingt benötigen. Für sie sind die öffentlichen Bildungseinrichtungenüberlebenswichtig. Ohne sie fallensie früh zurück und sind nicht in der Lage, den Anforderungendes gesellschaftlichen Lebens gerecht zu werden.Es würde sich rechnen, von den vielen Milliarden EuroTransfergeldern für Ehepaare mit und ohne Nachwuchseinige für ein Vorschulangebot und eine frühkindlicheBildung für diese Kinder abzuzweigen. ●KLAUS HURRELMANNist Professor of PublicHealth and Educationan der Hertie School ofGovernance in Berlin. SeinArbeitsschwerpunkt liegtin der Verbindung vonSozial-, Bildungs- undGesundheitspolitik.redaktion@libmag.deliberal 4.201517


<strong>BILDUNG</strong> KULTURSCHOCK DDR-LEHRERForsches VergessenAuch nach 25 Jahren deutscher Einheit ist der Autoritarismusin der DDR sozialisierter Lehrer präsent.// TEXT // MARKO MARTIN18 4.2015 liberal


Illustration: E. Merheim; Fotos: ddrbildarchiv.de/Manfred Uhlenhu, privatLängst zu Tode zitiert ist das William FaulknerscheDiktum, nach dem die Vergangenheit nicht tot, janoch nicht einmal vergangen sei. Die BerlinerRepublik nämlich gibt sich hip, Millionen Touristenbestaunen das Areal zwischen East Side Gallery undCheckpoint Charlie, posten ihre Smartphone-Bilder,nuckeln an nachhaltig produziertem Coffee to go. Dochauch die permanent Ansässigen dürfen der Illusionhuldigen, das Vergangene sei längst Stein und Attraktiongeworden – harmloser Grusel, ein historischer Kick.Wer schulpflichtige Kinder hat oder nach einemKita-Platz sucht, kann allerdings ganz schnell völlig andereErfahrungen machen. Zynisch ausgleichende Gerechtigkeit:Häufig trifft es gerade jene ökologisch hyperbewusstenZuzügler aus den sogenannten alten Bundesländern,die sich im Prenzlauer Berg, im Friedrichshain oder im„Speckgürtel“ zwischen der Hauptstadt und dem brandenburgischenUmland eine neue, idyllische Bleibegeschaffen haben. Denn plötzlich wird ihr Nachwuchs –kommunikativ gewaltfrei erzogen und mit garantiertumweltverträglichen Lebensmitteln und Spielzeug gepäppelt– unerwartet rüde angeherrscht. Wenn alle aufsTöpfchen gehen, werden wir für dich keine Extrawurstbraten. Egoistische Einzelgänger kann unser Klassenkollektivnicht gebrauchen.Autoritäre Kindergärtnerinnen mit ostentativ präsentierterDDR-Sozialisation, Lehrer mit realsozialistischemSchmiss, die noch heute von „BRD“ und „Hitlerfaschismus“reden, jedoch plötzlich vor den Ferien kaum nochZeit finden, die obligatorische „Unterrichtseinheit DDR“abzuhandeln. Allzu überraschend sollte dies freilich nichtsein: Wer im Wendejahr 1989 im berühmt-berüchtigten„IFL“, dem DDR-Institut für Lehrerbildung, seinen Abschlussgemacht hatte, steht jetzt mit Mitte Ende vierzig inSaft und Kraft – und stammt statistisch mehrheitlich auseinem Elternhaus, das ebenfalls schon der ostdeutschenFunktionselite angehörte. Weshalb also sollten sich dieaus solch hartleibigem Milieu Hervorgegangenen densanften Diskursmodalitäten der Bundesrepublik anpassen?Man hatte es ihnen ja auch denkbar leicht gemacht:Außer besonders eklatant stasi- oder SED-belastetenDirektoren oder bejahrten Staatsbürgerkundelehrernübernahm der Staat nach 1990 en masse Lehrer in seinenDienst. Die damalige Gewerkschaft GEW ließ gegen die„Zwangsdurchmischung“ demonstrieren: Weder solltenOstlehrer in den Westen versetzt werden noch allzu vieleWestlehrer in den Osten gehen. Taten es Letztere ausIdealismus doch, wurden sie nicht selten gemobbt. ProminentesterFall: der Westberliner Lehrer Peter Klepper, dervor der Hardcore-Mentalität in Lichtenberg bald wiederins heimische Tempelhof flüchtete.Wirklich schockierend aber ist etwas anderes: BundesdeutscheWohlfühlbürger scheinen erst dann aufzumerken,wenn der eigene Nachwuchs die atmosphärischenNachwehen der DDR-Ideologie zu spürenbekommt. Der totalitäre Charakter des SED-Staates, derunter Margot Honeckers Ägide vor allem im Bildungsbereichpeinlich darauf achtete, ein Gehorsamsmilieu wiederund wieder zu reproduzieren – er bleibt bis heuteeher unbekannt, mögen ihn Wissenschaftler und Zeitgeschichtlerinzwischen auch bis ins letzte Detail analysierthaben.Bis in die Gegenwart hinein rächt sich, dass nach 1990bundesrepublikanische Lehrpläne einfach übergestülptwurden und westliche Bildungspolitiker ebenso naiv wiearrogant von einer gemeinsamen Wissens- und Wertebasisausgingen. Wie aber sollten diejenigen, die dank ihrergeschmeidigen oder überzeugten Anpassung in einerDiktatur Lehrer geworden waren, nun das „Unrechtssystemder DDR“ plausibel analysieren? Der Autor dieserZeilen, häufig auf Schullesungen in den neuen Bundesländernunterwegs, wird immer wieder Zeuge, wie Schülerbedauern, dass zwischen den Themen Zweiter Weltkriegund Brandtsche Ostpolitik kaum noch Zeit für jenen Staatbleibt, in dem ihre Eltern geboren und erzogen wurden.Denn so anregend es auch sein mag, als SchullesestoffBernhard Schlinks „Der Vorleser“ und Daniel Kehlmanns„Die Vermessung der Welt“ zu besprechen – und nichtmehr die masochistisch altbundesdeutschen Evergreens„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ und „Biedermannund die Brandstifter“ –, die Namen von DDR-Dissidentenwie Freya Klier, Jürgen Fuchs oder Erich Loestbleiben den Teenagern Hekuba. Dabei böte sich geradeKliers äußerst lesbares Buch „Lüg Vaterland. Erziehung inder DDR“ für Lehrer und Schüler gleichermaßen an, überdas Spannungsfeld zwischen Fanatismus, Opportunismusund tapfer bewahrtem pädagogischen Anspruch, den esselbstverständlich auch gab, zu diskutieren und ein wirklichesGenerationsgespräch zu wagen. Genau das aberbleibt aus – auch nach einem Vierteljahrhundert sogenannterdeutscher Einheit. ●MARKO MARTIN,Jahrgang 1970,verließ im Mai 1989 alsKriegsdienstverweigererdie DDR und lebt alsSchriftsteller in Berlin.Ende Juni erschiensein neues Buch„Madiba Days. Einesüdafrikanische Reise“(Wehrhahn Verlag).redaktion@libmag.deliberal 4.201519


POLITIK INTERVIEW„Marx wäre heutein der FDP“Ulf Poschardt ist Stellvertreter des Chefredakteurs der WeltN24-Gruppe und ein bekennender Liberaler.Als „der Fleisch gewordene Synergieeffekt, ein wandelndes Roundtabletreffen extremer Persönlichkeiten,die eines gemeinsam haben: den unbedingten Blick nach vorn“, bezeichnete ihn Cornelius Tittel schon vor13 Jahren in der taz. Im liberal-Interview erklärt Poschardt, wie der Liberalismus mehr von dem entwickelnkann, was linke Politik als Markenzeichen hat: Charme. // INTERVIEW // DAVID HARNASCHliberal: Herr Poschardt, reden wir ersteinmal über Ihre linke Vergangenheit.Wie lässt sie sich in Ihr heutiges Daseinals Vollblutliberaler einordnen?Poschardt: Vollblut klingt mir ein bisschenzu biologistisch. Aber Liberaler, klar. Meinelinke Vergangenheit hilft mir. Am allermeistenhilft der Grundgedanke, mit dem ichaufgewachsen bin: Mach die Klappe auf. Lassdir nichts gefallen, schlag zurück!Das ist tatsächlich ein Verdienst linkerEltern, auch beim Kollegen Fleischhauer,der einem sozialdemokratischenElternhaus entstammt.Genau. Auch meine Erziehung war in vielenPunkten ideologisch interessant. Meinelinken Eltern haben mir ein Verantwortungsgefühlmitgegeben, das ist nach wie vor eineKraftquelle für mich. Und natürlich wurdezu Hause von morgens bis abends überPolitik geredet. Deswegen fühle ich michnach wie vor wohl in diesen Milieus, sie sindmir vertraut. Und weil ich die Denkarbeitdieser Milieus so gut kenne, weiß ich auch,wo ihre neuralgischen Punkte sind und woman bei Debatten richtig reinfeuern kann.Das muss für Linke sehr irritierend sein …Ja, man merkt, wenn man sie in ihrem punkrocklinkenKampfsound angeht, dann sindsie ganz schnell irritiert. Auch auf Podienund Kongressen, wo Bürgerliche in der Regelals aggressionsgehemmt gecastet werden.Ich bin nach wie vor der Meinung, dass eskaum etwas Wichtigeres für einen Liberalengeben kann als die Marxlektüre. Es ist einantiidealistisches Säurebad, in dem dieÖkonomie im Vordergrund steht, und das istetwas, was den Marxisten und den Wirtschaftsliberalenauf jeden Fall verbindet.Karl Marx hat das quasi-religiöse seinersozialen Frage wegbekommen, indem er eszur Wissenschaft erklärt hat. Das hat natürlichden Charakter der größtmöglichenAnmaßung. Dieser Gestus der Anmaßung istder Linken bis heute geblieben – in allenFacetten!Warum haben Sie Marxdann so gerne lesen?Weil es aufregend, anregend, ja in Gestaltdes Kommunistischen Manifestes aucherregend ist. Der deutsche Idealismus wirdauf die Füße gestellt und danach die Welt aufden Kopf. Total irre. Aber die Kraft diesesDenkens, seine Energie kann abgezapftwerden. Zudem hatte es etwas Heroischesan sich, das spricht einen ja besonders an,wenn man als Jugendlicher auf Sinnsucheist. Zumindest wenn man ein Eckensteherwar wie ich.Und heute sind linke Veranstaltungenmore sexy als liberale und bürgerliche?Ja, ich finde schon, dass vielem in der Unionoder in der FDP eine unangenehme Ausstrahlungdes Arrivierten anhaftet.Besonders bei der FDP bricht dasdoch gerade extrem auf …Stimmt! Die FDP als Loserpartei war zuletzttotal geil. Weil jemand, der bei zwei Prozentin eine Partei eintritt, das weder aus Opportunismusnoch aus Karrieregründen macht.Ändert sich gerade die Wahrnehmung inder nicht gerade von Haus aus liberaleingestellten Öffentlichkeit gegenüber demLiberalismus?Ich glaube, wenn selbst Heribert Prantlschreibt, dass er irgendwas Liberales in20 4.2015 liberal


Deutschland vermisst, dann ist das einZeichen, dass sich da wirklich etwas zuändern droht. Und ich glaube, dass durchdie Große Koalition, den Kirchentag oder dieöffentlich-rechtlichen Kommentierungen,durch diesen ganzen pampigen, fettgesäßigenSozialdemokratismus auch so eineSehnsucht nach etwas Leichtem, Liberalemaufkommt. Dass man diese Leichtigkeit mitder FDP assoziieren kann, ist natürlich auchein Verdienst von Christian Lindner.Inwiefern?Zwischendurch war ich etwas ungläubig, obaus dem, was er gerade anstellt, etwas werdenkann: Berater, Werbeagenturen und sowas … Aber wenn man sich die letzten sechs,sieben Monate anguckt, dann finde ich eserstaunlich, wie gut das aufgeht. Es gibt eineneue Neugier auf die Liberalen – und die wardavor komplett verschwunden, verstellt vonEkel und auch Empörung über diese nichtsonderlich tolle Leistung in den vier Jahrender Koalition. Und gleichzeitig gibt es auchein wirklich tief empfundenes „Wir habenverstanden“-Signal, bis tief in den letztenOrtsverein. Die Devise lautet jetzt: Haltet denBall flach, und tappt nicht wieder in eureSelbsterhöhungsfallen.Foto: H. Galuschka/dpaIch habe den Eindruck, dass es auch imFeuilleton liberaler zugeht als noch vorvier Jahren. Das wäre doch eine guteNachricht.Ja, die Fronten brechen auf. Es ist schön, weilman sagen kann, jetzt lesen sie alle JohnStuart Mill oder sie entdecken das Spätwerkvon Foucault, wie er über die FreiburgerSchule schreibt. Foucault, der ja immereindeutig links verortet war.Die spannende linke Auseinandersetzunghat meines Erachtens vor 40 bis 50 Jahrenstattgefunden. Seitdem kommt es mir allesvorgedacht vor, als könne man sich dasalles aus dem Baukasten zusammensetzen.ZUR PERSONUlf Poschardt ist Stellvertreter desChefredakteurs der WeltN24-Gruppe.Er wurde 1967 in Nürnberg geboren, istverheiratet und Vater zweier Kinder.1995 erschien erstmalig das auf seinerPromotionsschrift basierende Buch„DJ Culture“, das der Tropen Verlag imAugust 2015 ergänzt um ein Nachwortvon DJ Westbam erneut veröffentlicht.Zuletzt verfasste der bekennende Petrolheadmit „911“ eine kulturgeschichtlicheHommage an den Klassiker von Porsche.liberal 4.2015 21


POLITIK INTERVIEWWenn man die soziale Frage als die linkeFrage definiert, dann ist in Wahrheit vieldazugekommen, aber eher zivilgesellschaftlich.Weniger von Linken als von Megakapitalisten.Größere Humanisten als Bill Gatesund Warren Buffett wird man nicht finden.Also sind ein paar Großkapitalisten in denUSA zugleich Treiber und Philosophen desglobalen sozialen Fortschritts? Warumfällt die linke Antwort in Deutschland sodünn aus?Das ist eine Mentalitätsgeschichte. Die heideggerscheAngst hat das Linke eben aucherfasst, insbesondere, wenn man sich dielinken Grünen ansieht. Deren zentralesMotiv ist die Angstmache vor der Apokalypse.Und das ist eigentlich überhaupt nichtlinks. Linkssein bis 1968 war immer auch einZuversichtsfanatismus. Den haben im Augenblickvor allem die Bürgerlichen.Insbesondere die Liberalen.Wir umarmen den technischen Fortschritt,weil genau er die linken Ziele amweitesten nach vorne bringen kann?Genau. Auch Marx hat bereits internationalistischgedacht. Man hat an sehr vielenseiner Passagen gesehen, dass der moderneKapitalismus auch die Rückständigkeit unddie Verblödung zerstört. Wäre ich einer derjungen, kecken Neu-FDP-Werber, würde ichsagen: Marx wäre heute in der FDP. Auch,weil die soziale Frage durch Bismarck, dieSozialdemokraten und die soziale Marktwirtschaftaus ihrer Drastik befreit wurde.Marx wäre stolz auf das Erreichte. Abervielleicht ist das ja nur eine blödeWerberidee.„Marx wäre stolzauf das Erreichte.Aber vielleicht istdas ja nur eineblöde Werberidee.“Sind Linke gar nicht empfänglichfür liberale Gedanken?Doch, im Augenblick gibt es schon eineEmpfänglichkeit für freiheitliche Gedanken.Aber wir müssen uns fragen: Wo sind dieHebel, wo können wir sagen: Wir brauchenemanzipatorische Entwicklung und Freiheitsmöglichkeitenals Treiber allen gesellschaftlichenFortschritts. Wer sind die emanzipatorischenMilieus? Wo ist der politischeLiberalismus mit dem Aufbruchs- undEmanzipationswillen junger Migrantenverzahnt, die hier Kapitalismus at its bestmachen? Diese Erfolgsgeschichten werdenauch von Liberalen bislang zu wenig in ihrNarrativ eingearbeitet und ernst genommen.Da sind Frauen mit Kopftuch, die erfolgreicheUnternehmerinnen sind und Mercedesoder BMW fahren, die Verantwortung übernehmenfür ihren Laden und für die zehnoder zwölf Leute, die sie anstellen. Ohne inKlischees zu verfallen, aber diese erfolgreichenUnternehmerinnen haben ein sehrklares Verständnis von Familienwerten undEigenverantwortung. Sie sind eigenständig,engagiert, werteorientiert, doch im Augenblicknoch mit null Kontakt zu irgendwelchenliberalen bürgergesellschaftlichenAktivisten.Da gehört der Liberalismus aber hin.Richtig. Aber damit nicht genug: Wo ist dasfeministische Narrativ im Liberalismus? DieFDP war lange verdienstvollerweise eineschwule Partei, schließlich spürt der Schwulean vielen Punkten, wie eng eine Gesellschaftwerden kann. Aber es gibt leider keineliberale feministische Theorie.Wenigstens gibt es ein paar Personen:Lencke Steiner, Katja Suding undNicola Beer.Gute Frauen, klar. Immerhin da liegt dasbürgerliche Lager vorn: Ich glaube, in derUnion ist es bereits Common Sense, dasmoderne Frauenbild zu transportieren.Merkel, von der Leyen, Christina Schrödersind vorzeigbare Role Models. Die SPD tutsich hingegen da noch schwer. GerhardSchröder war der Vorzeigemacho. SigmarGabriel ist es auch. Und Nahles oder Schwesig,die haben einfach nicht den Punch.Dennoch fehlt bei den Liberalen das theoretischeFundament. Es gibt ja einen Männerüberschussin allen liberalen Vereinen – dasperpetuiert das Problem.Das Thema wird in liberalen Kreisenaktuell tatsächlich kaum diskutiert,hier dreht sich alles um Bildung.Ja, das macht die FDP jetzt auch zu ihremThema, aber mir fehlen die konkreten Ansatzpunkte.Da müsste man in die Brennpunktschulen,wo sich das Elend durchSozialstaatsverwahrlosung so aufgetürmthat, dass eigentlich keine normale Interventionmehr eine Erfolgschance hat.Da gehören die besten Lehrer des Landeshin, die Debatte um die Rütlischule warhierzu ein Weckruf. Die Lehren darauslassen sich beispielhaft generalisieren.Liberale müssten sagen können: „Das meinenwir mit Hilfe zur Selbsthilfe. Und Selbst-22 4.2015 liberal


Fotos: Getty Images (2), privatermächtigung.“ Die Bildung muss da Exzellenzliefern, wo die Schwächsten derSchwachen drohen, aus der Chance zurSelbstverantwortung verstoßen zu werden.Es braucht Hilfe für Schwache in einemantipaternalistischen Sound. Entscheidendfür die Gesellschaft ist, was von der frühkindlichenPrägung bis zum Alter von17 Jahren passiert. Wir sind ein so wohlhabendesLand, das muss man einfach hinkriegen!Die sozialdemokratische Sozialstaatspaternalisierunghat es ja offensichtlich nichtgebracht.Haben Sie in aktuelle Schulbücher reingeguckt?Wie dort Wirtschaft erklärt wird?Das ist völlig egal. Mir geht es um die totalabgehängten Kinder, da muss man ran.Sehen Sie sich mal „Frauentausch“ auf RTL 2an. Dort ist zu studieren, wie dünn ökonomischdie Grenzen zwischen Transfer empfangenderUnterschicht und fleißiger, totalselbstbestimmt lebender unterer Mittelschichtsind. Letztere sind einfach besondersbeeindruckend. Die wohnen in einembescheidenen, aber gepflegten Viertel, sindstolz und happy, während die Familie in derSozialtransferplatte jede Form für Verantwortunghat fahren lassen. Die kriegen einKind nach dem anderen, es ist dreckig undvoller Schimmel. So zumindest bei der Folge,die ich gestern verschlungen habe. Bei denEltern ist der Zug schon abgefahren, unddann sieht man die Kinder und denkt: OhGott! Wenn man die da drin lässt, sind sieverloren. Das sage ich nicht, weil ich Sozialromantikerbin, aber das Schicksal dieserKinder lässt mich nicht los. Die könnennichts dafür. Wie kann man denen helfen,ohne sie in eine Hilfsbedürftigkeit hineinzuerziehen?Das ist auch eine Szenerie, in derich mir wünsche, dass der Liberale dafürVerantwortung übernimmt. Dort gelingenoder scheitern Biografien, und auch die Ideevon Freiheit, wie ich sie jedem Menschenwünsche. Vielleicht kommt diese Rührungaus meiner linken Vergangenheit. Das warauch das Großartige an sozialdemokratischenBildungsvereinen und Arbeiterkultur:Es war Dünger für eine gelingende Zivilgesellschaft.Ich würde es auch begrüßen,wenn die Linkspartei Schulen in Brennpunktviertelnaufbaut, so wie das Kirchengerne tun. Egal, wenn die Kinder danachschwärmerische Kommunisten sind: Siehaben auf jeden Fall Rechnen, Schreiben,Lesen und Denken gelernt. Und wissen, dasses für das Leben eben stets eine Grundstrukturvon Disziplin und Ehrgeiz geben muss.„Lindner hattevöllig recht,Steuersenkungenfür die untereMittelschichtzu fordern.“Weil wenigstens dieGrundfertigkeiten da sind?Die Kulturtechniken sind dann da. Man hatDisziplin. Und Liberale müssen weitergehenund sich fragen: Wo bauen wir die biografischenPortale, Schleichwege, Rennstrecken,die jemand nehmen kann, um zu einemgelungenen Leben zu finden?Und wie macht man dasim Diskurs glaubhaft?Ein Beispiel: Lindner hatte völlig recht,Steuersenkungen für die untere Mittelschichtzu fordern, um deutlich zu machen:Auch wir sehen die Auseinanderentwicklungder Gesellschaft als problematisch! Daswar völlig kongruent liberal gedacht. Ichbezweifle, dass der Staat als einziger Akteurhandeln muss. Es kann ja auch zivilgesellschaftlichesSocial Engineering sein.Zivilgesellschaftlich wäredie wahrhaft liberale Lösung …Wir brauchen schnell konkrete Projekte undmüssen dafür die Bündnispartner in derLehrer- und Rektorenwelt finden. Die Naumann-Stiftungkann vorangehen: Anstatt diex-te Veranstaltung zu John Stuart Mill zumachen, sollte sie auch mal Schulprojekte inden Städten durchführen, Naumann-Stipendiatenin die Schulen schicken, die sagenkönnten: Das sind unsere Ideen. Der Liberalismusmuss die soziale Frage auf seine Artbeantworten können.Oh je, klingt das jetzt alles linksliberal.Stimmt. Und natürlich müssen dann auchfür Leute wie mich die Steuern runter(lacht), aber ich warte gerne, bis es unsgelingt, Hunderten und Tausenden vonTransferempfänger-Kindern zu gelingendenSchulbiografien zu verhelfen.Okay, haben wir sonstnoch was vergessen?Ja, die Start-up-Unternehmer-Kultur alsReservoir fortschrittlicher Freiheitsideen,naturwissenschaftliche Forschung und dasZurückdrehen der Forschungsverbote inDeutschland und die verheerende Wirkungdes säkularisierten Protestantismus inDeutschland. Aber darüber reden wir beimnächsten Mal. ●liberal 4.201523


POLITIK ZOLLGeheimdienstim SchattenDem deutschen Zoll haftet das Image einer trägen Behörde mit einpaar skurrilen Fällen an. Zu Unrecht: Die Fahnder bekommen immermehr Aufgaben, Personal und damit mehr Macht. Bislang blieb dasnahezu unbemerkt. Eine kritische Bestandsaufnahme.// TEXT // JAN C. KLEIN-ZIRBESDer Zoll: eine etwas bräsige Behörde, die inTV-Dokusoaps am Flughafen Transportboxenmit exotischen Tieren abfängt oder bei Touristeneine Stange „vergessene“ Zigaretten ausdem Reisegepäck fischt. Dabei verschiebt sich der Schwerpunktder Tätigkeit des Zolls mehr und mehr in dessenEDV-Abteilungen. Denn mit schöner Regelmäßigkeitkommen der Behörde neue Aufgaben zu – und die dazugehörigenDatenpakete gleich mit. Der Mindestlohn: einbürokratischer Albtraum für Arbeitgeber. Die Umsetzung– kontrolliert der Zoll. Die Ausländermaut: ein peinlichesPolitikum für die CSU – Arbeitsfeld des Zolls. Die Fluggastdatenspeicherung:ein Datenschutzdesaster, initiiert ausWashington und Brüssel – Zuständigkeit: Zoll. PolitischeDiskussion über die neue Bundesdatenkrake Zoll? Gleichnull.Damit die neuen Aufgaben zu bewältigen sind, kommtallerdings modernste Technik zum Einsatz: Der Bundesverkehrsministererlaubt dem Zoll Kennzeichenüberwachungmittels Streaming und einer Software, die nicht nurNummernschilder, sondern auch Gesichter erkennenkann. Wie erschreckend gut solche Software inzwischenfunktioniert, erfuhren deutsche Facebook-Nutzer 2011, alssie sich in den Weiten des sozialen Netzwerks völlig korrektmarkiert fanden auf Fotos, die sie nie zuvor gesehenhatten. Europäische Datenschützer liefen Sturm gegen dieGesichtserkennung. Facebook schaltete das Feature fürden europäischen Raum aus – und arbeitete in den USAan der Weiterentwicklung: Heute kann „Deep Face“ Gesichterin 97,25 Prozent aller Fälle erkennen. Menschensind dabei millionenfach langsamer.Nun geht es bei der Mautüberwachung ja „nur“ um diekorrekte Identifikation von Ausländern, also habe derdeutsche Auto- beziehungsweise Beifahrer ja nichts zubefürchten, heißt es. Es sei denn, das Zollkriminalamt hatirgendein Interesse am deutschen Auto- beziehungsweiseBeifahrer: Dann ist der Zugriff auf diese Daten selbstverständlichfrei. Auch Telekommunikationsbetreiber sinddem Zoll als Strafverfolgungsbehörde gegenüber auskunftspflichtig– genauso wie Landeskriminalämtern unddem Bundeskriminalamt. Sollte die geplante EU-weiteFluggastdatenspeicherung tatsächlich umgesetzt werden,bedeutete dies für die Zollbehörden einen weiterenunendlichen Steinbruch an Bewegungsprofilen. Derzeitkönnen sie sich lediglich bei US-Reisenden an die Kollegenbei der US-Heimatschutzbehörde wenden – denn dieDatenübermittlung läuft vereinbarungsgemäß in beidenRichtungen.Was aber könnte überhaupt das Interesse des Zolls aneiner Person wecken? Was Bauunternehmern vertraut ist,erwartet bald auch jeden anderen Arbeitgeber: Überraschungsbesuchvon bewaffneten Beamten, gerne auch inmartialischen Schutzwesten, die bitte schön sofort maleinen genauen Blick in die Bücher und auf die Ausweisealler Angestellten werfen dürfen und dabei nicht mit sichverhandeln lassen. Nicht die Polizei steht da vor der TürFotos: F. Büh/action press, Privat24 4.2015 liberal


Der Zoll ist überall:Der Kampf gegenSchwarzarbeit aufdem Bau war bislangein Schwerpunkt derBehörde. Das hatsich längst geändert.– es ist der Zoll, der die Arbeitgeber auf die Einhaltung desMindestlohngesetzes kontrollieren soll. Auf den erstenBlick erscheint dies schlüssig, da er bereits für Schwarzarbeitauf dem Bau zuständig ist. Entsprechend kann derZoll auch in die Bücher der Unternehmen Einblick nehmen,wenn er befürchtet, dem Staat gingen Einnahmenverloren.Zugriff auf jede Menge DatenbankenBereits heute kann die FKS (Finanzkontrolle Schwarzarbeit)auf die Datenbanken des polizeilichen AuskunftssystemsPOLAS/INPOL, das Informationssystem DeutscherZoll (INZOLL), das Ausländerzentralregister, die Meldedateiender bundesweiten Einwohnermeldeämter, aufKfz-Halterauskünfte beim Kraftfahrt-Bundesamt, dasBundeszentralregister, das Gewerbezentralregister, Bankauskünftesowie Auskünfte der Rentenversicherungsträgerhinsichtlich der Sozialversicherungspflichtigen zugreifen.Auf Anforderung senden die FinanzämterSteuerakten an die Kollegen beim Zoll, und auch dieBundesagentur für Arbeit hilft gerne mit Leistungsbescheidenaus. Der Gesetzgeber empfiehlt allen Arbeitgebernden Einsatz elektronischer Zeiterfassungssysteme,die dann automatisch mit den Finanzbehörden abgeglichenwerden können: Es wäre doch schade, wenn nurwegen eines Flüchtigkeitsfehlers in der alltäglichen Betriebshektikirgendwelche Widersprüche in den Dateneinen Verdacht begründen würden! Wer könnte dieseDatenmassen bewältigen? Dafür werden dem Zoll zunächst1.600 zusätzliche Stellen bewilligt, um hier mit dergebotenen Gründlichkeit arbeiten zu können.Kommen die geplanten Änderungen, dann entstehtmit dem Zoll ein veritabler Schattengeheimdienst: eineBehörde, berechtigt zum Führen von Schusswaffen undEintreten von Türen – freilich nur bei begründetem Verdacht–, die selbst zur vermutlich größten einzelnen Erhebungsstellefür Daten wird, jederzeit Amtshilfe anfordernkann und über so detaillierte Bewegungsprofile von sovielen Menschen verfügen wird wie keine andere, derenTätigkeit nicht an lästigen Grenzen der Bundesländerenden muss. Und sie untersteht vor allem keinem parlamentarischenKontrollgremium, lediglich dem ehemaligenInnen- und heutigen Finanzminister WolfgangSchäuble. Und der wird vermutlich große Freude anseiner schlagkräftigsten Einheit haben. ●JAN C. KLEIN-ZIRBES, Jahrgang 1968,Reserveoffizier, lebt in München, studierteRechtswissenschaften in Bonn sowie Münchenund sieht es zunehmend skeptisch, wie,gegen wen und was der Staat vorgeht.redaktion@libmag.deliberal 4.201525


POLITIK BÜRGERMEISTERWAHLWill Bürgermeistervon Selfkant werden:Jan-Frederik Kremer (2. v.r.)Der Selfkant ist in mehrfacher Hinsichtungewöhnlich. Als westlichste GemeindeDeutschlands ist man Mitglied im „Zipfelbund“,einer Vereinigung der am nördlichsten,westlichsten, östlichsten und südlichsten gelegenen KommunenDeutschlands (außerdem: List auf Sylt, Görlitz und Oberstdorf ). Nachdem Zweiten Weltkrieg stand der Selfkant lange unter niederländischerAuftragsverwaltung. 1963 zahlte die Bundesrepublik 280 MillionenD-Mark für die Rückgabe. In diesem Sommer machte die knapp10.000 Einwohner zählende Gemeinde erneut Schlagzeilen: Gegenden CDU-Bürgermeister Herbert Corsten tritt am 13. September fürdie SPD, die FDP, die Grünen und die Wählergemeinschaft Pro Selfkantein gemeinsamer Kandidat an, der aus einem regelrechten Castinghervorgegangen ist: liberal hat sich mit Jan-Frederik Kremer (FDP)unterhalten, der hauptberuflich das Regionalbüro Nordrhein-Westfalender Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit leitet.SELFKANTBundesland Nordrhein-WestfalenKreisHeinsbergHöhe69 m ü. NHNFläche 42,09 km 2Einwohner 9.993 (31.12.2013)Postleitzahl 52538Gemeindegliederung 16 OrtsteileBASISDATENNiederlandeNordrhein-WestfalenRegierungsbezirkKölnWWW.JFK2015.DEWWW.FB.ME/JFKSELFKANTEine Gemeinde castet ihren potenziellenAmtschef – ein Freier Demokrat gewinnt.INTERVIEW // BORIS EICHLERliberal: Herr Kremer, Sie wollen Bürgermeister von Selfkantwerden. Wie es dazu kam, ist eher ungewöhnlich. Liegen wirfalsch, wenn wir von einem Bürgermeister-Casting sprechen?Kremer: Absolut nicht, die Vertreter der vier beteiligten Parteienhaben per Ausschreibung und Casting nach einem geeigneten Kandidatengesucht. Sozusagen „Selfkant sucht den Bürgermeister“, nurzum Glück ohne singen zu müssen.Wie sind Sie auf die Ausschreibung aufmerksam geworden?Verschiedene Personen haben mich darauf hingewiesen, mancherieten mir, den Hut in den Ring zu werfen. Dabei hat es sicherlichnicht geschadet, dass auch die Arbeit der Friedrich-Naumann-Stiftungfür die Freiheit in NRW überparteilich ist und bei vielen Partnerneine hohe Wertschätzung genießt.Foto: privat26 4.2015 liberal


Was wussten Sie zu diesem Zeitpunkt über Selfkant?Mit der Stiftung waren wir schon vorher in Selfkant zu Gast und dieRegion ist mir gut bekannt. Selfkant ist nicht nur eine Reise wert,sondern eine sehr lebenswerte Gemeinde mit einem aktiven Vereinswesen,toller Landschaft und Menschen, die sehr offenherzig sind.und unverstellten Blick von außen haben, der unbelastet und ohnein Seilschaften gefangen zu sein die Gemeinde voranbringen kann.Aber eins ist auch klar: Wenn es mir hier nicht gefallen würde undich mir nicht vorstellen könnte, hier meinen neuen Lebensmittelpunktzu finden, hätte ich es nicht gemacht.Glückwunsch, Sie sind offenbar schon im Wahlkampfmodus.Aber im Ernst: Sie sind dort, jedenfalls noch, ein Fremder undim kommunalen Wahlkampf ist das klassische Kernargument„Einer von uns“. Der Amtsinhaber ist Eingeborener. Ein Startvorteilfür ihn. Wie machen Sie den wett?Da gebe ich Ihnen recht und das lässt sich natürlich nicht wegdiskutieren.„Einer von uns“ ist auch die einzige Kernaussage des Amtsinhabers,die er als Wahlargument anführt. Dem halten wir ein Versprechenfür die Zukunft der Gemeinde entgegen. In vielenTerminen, Gesprächen und den sozialen Medien treten wir für eineganz neue Art der Politik ein. In Zukunft sollen Transparenz, Offenheit,Mitwirkung, Fairness und moderner Sachverstand die Politik imSelfkant bestimmen. Es gibt viele Baustellen, aber noch mehr Chancen:so zum Beispiel, was Zukunftsperspektiven für junge Menschenoder eine professionelle Wirtschaftsförderung angeht. Mit Ehrlichkeitund Offenheit will ich die Selfkänter von diesen Ideen überzeugen.Sozusagen „Im Westen was Neues“.Noch einmal zurück zum Casting. Wie darf man sich das vorstellen?Ihre Bewerbungsunterlagen wurden geprüft, Sie wurdeneingeladen. Wie hat man Ihnen auf den Zahn gefühlt?Die Bewerbungsunterlagen wurden von einer Findungskommissiongeprüft und beurteilt, dann gab es ein Casting-Gespräch, bei dem inverschiedenen Kategorien Punkte verteilt wurden. Dazu gehörtenbeispielsweise „Neues kommunales Finanzmanagement“, Führungserfahrungund kommunikative Fähigkeiten. Diese Professionalitätund Seriosität des Verfahrens hat mich von Beginn an sehr beeindruckt.Das passiert leider bei der Auswahl der Kandidaten für sowichtige Wahlämter viel zu selten.Hat man Ihnen auch verraten, warum die Opposition keinenKandidaten in der Heimatgemeinde finden konnte?Ja, natürlich. Wissen Sie, eine moderne Verwaltung vom KaliberSelfkants hat die Größe und Bilanz eines mittelständischen Unternehmens,vielfältigste Aufgaben und siehtsich mit immer mehr und neuen Anforderungenkonfrontiert. Moderne Verwaltunghat sich in den letzten 15 Jahren grundlegendgewandelt und damit auch die Rolle desBürgermeisters. Den Parteien war es wichtig,hier jemanden mit der richtigen Persönlichkeit,Führungserfahrung und Kompetenz zufinden. Die Frage des Wohnortes war nichtausschlaggebend. Außerdem wollte manauch bewusst jemanden mit einem frischenZUR PERSON• Geboren am 26. April 1986 in Essen,verheiratet, ein Sohn• Studium der Geschichte und Politikwissenschaftenin Bochum, danach Wissen schaftlicherMitarbeiter und Unternehmensberater• Seit 2013 Leiter des Regionalbüros Nordrhein-Westfalen der Friedrich­ Naumann-Stiftung fürdie Freiheit in Gummersbach• Hobbys: Eishockey, American Football,Wandern, Reisen, MusikWie haben Sie von der Zusage erfahren?Wie haben Sie reagiert?Durch einen Anruf des Sprechers der Findungskommission.Danach haben wir uns direkt zu einem ersten Workshopzusammengesetzt. Ich war gerührt, habe mich sehr gefreut undauch ein wenig geehrt gefühlt.Folgt nun einer unkonventionellen Kandidatenfindungauch ein unkonventioneller Wahlkampf?In gewisser Weise schon: Neben vielen Angeboten der Mitwirkungund Diskussion wollen wir auch zeigen, dass Kommunalpolitik Spaßmachen kann, ohne dabei unseriös zu werden. Es wird hier vieleMaßnahmen und Projekte geben, die überraschen werden und zumMitmachen einladen – das kann ich jetzt schon verraten. Dazukommt eine ganz offene Form der Kommunikation.Die da wäre?Ganz banal: Jeder kann mich jederzeit anrufen unter der Nummer0176/42 11 49 21. Ich habe auch vor Ort immer ein offenes Ohr undhöre einfach zu. Auf unserer Website und bei Facebook lassen wirnicht nur über Ideen abstimmen und diskutieren, sondern bindendiese Rückmeldungen auch wirklich ein. Wir leisten volle Transparenzbei den Einnahmen und Ausgaben des Wahlkampfes.Gab es keine Schwierigkeiten mit Ihrer Herkunft aus demFDP-Stall? Immerhin arbeitet sich die Partei erst wieder inBereiche vor, in denen man sie en vogue nennen könnte ...Überhaupt nicht, weder bei der Findungskommission noch bei denMitgliedern der anderen Parteien, die mich einstimmig zu ihremKandidaten gekürt haben.Sie erwähnten den zweisprachigen Wahlkampf. Das ist vermutlichdem Umstand geschuldet, dass Selfkant mehr Grenze zuden Niederlanden als zur deutschen Nachbarschaft hat ...Absolut. Knapp 30 Prozent der EinwohnerSelfkants sind Niederländer. Wir wollenihnen ein Angebot machen, sich zu beteiligenund sie mitnehmen. Selfkant ist gelebtesEuropa und gelebte Toleranz!Wie sieht es bei Ihnen aus im Hinblickauf die Zweisprachigkeit?Ich lerne fleißig Niederländisch, das ist alsoin Arbeit. Bis dahin helfen Deutsch undEnglisch weiter. ●liberal 4.201527


FUNDSTÜCKICH DREH AM RADEine halbe Stunde mit Mutti telefonieren für 18,84 Mark? Nein, das ist nicht der Telefontarif nachScheitern des Euro, Rückkehr zur D-Mark und Hyperinflation. So viel kosteten 30 Minuten amTelefon vor gerade mal 20 Jahren – wenn Mutti mehr als 200 Kilometer entfernt wohnte. BeimTelefonieren Dauer und Entfernung des Gesprächspartners zu berücksichtigen, ist heuteinsbesondere für jüngere Handybesitzer mit Flatrate in alle Netze unvorstellbar. DieGrundgebühr kostete seinerzeit 24,60 Mark – dafür wurde der Festnetzanschluss zurVerfügung gestellt und sonst gar nichts. Inflationsbereinigt und umgerechnet gab es dasbilligste Telefonat zur Tageszeit, ein Ortsgespräch, für 10 Cent pro Minute. Da lohnte es sich,vor jedem Telefonat zu kalkulieren. Um das zu erleichtern, gab der damalige Telefonmonopolist,der Post-Nachfolger Telekom, solch drehbare Tarifrechner heraus. An denen wurde zwecksErmittlung der Gesprächskosten gedreht, erst dann die ebenfalls längst antiquierte Wählscheibeder alten Apparate. Telefonieren ist inzwischen um ein Vielfaches leichter, billiger, und damitsozialer geworden: Heute gibt es einen privatisierten und offenen Markt samt eines funktionierendenWettbewerbs.WUTPROBEZu fihle Feela// TEXT // JAN FLEISCHHAUER// ILLUSTRATION // ERNST MERHEIMIsch schraibe, wiehisch hoere ...Der scheffredaktör will, das ich ueber schraibn nach gehöaschraibä. Ich glaubä er ewatet das ich schraibä warum daskaine gute idä ist. Ich füchtä, ich mus ihn entäuschn.Angäblich habn Kindä, die schraibn nach gehöa gelärnthabn späta schwirichkaitn mit där zäichnsetsung. Es sol schülagäbn, di noch an där univärsität nicht wissen wi man spiln richtichschraibt. Aba ich finde man mus den geselschaftlichn fortschrit imauge behaltn.Aus gutm grund habn wir uns abgewönt Mänschn zu diskriminiren,nur weil si etwas nicht so gut behärschn wi andere. Wo wirkönnen, schafen wir barieren ab anstat neue zu erichtn. Was gibt esdiskrminirenders als Ortografi? Auch vile Ärwachsene , die nochnach dem alten sistem gelärnt habn, wisen nicht genau, wan manvor “und” oder “oder” ein Koma setzt oder wofüa das Semickolongut ist. Deshalb sind sie keine dümeren oder schlächterenmenschen.Der versuch, sprache zu vereinfachn, hat eine lange traditsion.Schon die Achtunsächsiger warn davon übazeugt, das RächtschraibkritikGeselschaftskritik ist. Wer gelärnt habe, dasbei „brauchen“ ein „zu“ stehn mus, wärde auch dieVertäilun des Eigntums nicht in frage stelen, proklamirteder Sprachwisenschaftlr Sigfrid Jäger 1973 auf dem GEW-Kongres“vernünfiger schreiben”. Die Hofnung das man mit dem ende derGroschräibun auch das Groskapital erledign köne, hat sich inzwischenzwa gelägt, dafür abäitn die nachfolger jetzt an einer Humanisirungder welt durch das konsekwente schleifen von Bajärn.Die Schule der Zukunft setzt auf anerkenunk statt Stigmatisirunk,um den Übagang zur wirklich integratiwn geselschaft zuschafen. Ales was schüla entmutigen könte, sol bald der Vergangnhaitangehörn. Dem Värzicht auf das diktat folgt das värbot dessitzenbläibns. Nachdem die sächs im Zeuchnis iren schrekn schonverlorn hat, denkn ainige bundesländer üba di abschafung vonnoten bis zur achten klase nach.Noch ist nich gans kla, wi sich ein land auf dauä in der Weltspitsehaltn wil, das dem wetbäwerb entsagt. Andersaits: Kan man derzaitnicht auch vil üba di Vorzüge ainer wende zum wenigär lesn? ●28 4.2015 liberal


AUTOREN DER FREIHEITWas macht euch Angst, ihrVäter, Brüder, Ehemänner?Was ist so bedrohlich an einer freien Frau? Warum wird sie von dereigenen Familie und der muslimischen Gesellschaft so klein gehalten?Die Schauspielerin Sibel Kekilli hat die hier gekürzt abgedruckte Rede am6. März im Berliner Schloss Bellevue auf einer von Bundespräsident JoachimGauck und der Hilfsorganisation Terre des Femmes organisierten Veranstaltunggegen Gewalt im Namen der Ehre gehalten. Die Leser von liberalwählten sie dafür im April 2015 auf libmag.de zur „Autorin der Freiheit“.ZUR PERSONSIBEL KEKILLI kam 1980 als Tochtereines eingewanderten türkischen Ehepaarsin Heilbronn zur Welt. Bekannt wurdesie durch ihre Hauptrolle in Fatih AkinsFilm „Gegen die Wand“ (2004).In der US-Serie „Game of Thrones“spielt sie die Shae.Stimmen auch Sie jeden Monat über dieAutoren der Freiheit ab unter libmag.de.Illustration: Merheim, Foto: A. DauererIch liebe meine Kultur. Auf dem Weg zu meiner Freiheithabe ich sie zu einem sehr großen Teil verloren.Für diesen Weg habe ich viel bezahlt. Er war lang,schmerzhaft und selbstzerstörend. Doch meine Visionwar immer die Freiheit, um derentwillen ich mich sogarab und zu verrannt habe. Trotzdem, ich war und binnach wie vor bereit, das alles auf mich zu nehmen.Meinen eigenen Weg zu gehen kostet mich noch immersehr viel Mut und Kraft – jeden Tag. Diese Kultur, in dieich hineingeboren wurde, ist voller Schätze, vollerWunder. Und – sie kann gnadenlos sein. Tagtäglichversuche ich, trotz Anfeindungen und Vorurteilenerhobenen Hauptes durchs Leben zu gehen. Ich habekein Kapitalverbrechen begangen, trotzdem werdenMenschen wie ich von einigen schlimmer behandelt alsMörder.Den Männern dieser Kultur möchte ich heute sagen:Wieso könnt ihr Freiheit nicht einfach als Wert füralle anerkennen? Ihr müsst mich und meineWünsche ja nicht unbedingt verstehen,sondern respektieren. Ich bin ein Individuum.Warum nur ist euch die Außenwirkung in derGesellschaft wichtiger als das glücklicheLeben eurer Tochter, Schwester oder Frau?Wie würde es euch gefallen, wenn ihrso leben müsstet, wie ihr es voneuren Frauen verlangt? Mit Zwängen,Vorschriften, unterdrücktenGefühlen, Notlügen und Ängsten?Was ist denn so bedrohlichan einer freien Frau? Warum habt ihr Angst vor einerselbstbewussten Frau? Warum versteht ihr nicht, dassFreiheit nichts Bedrohliches hat, dass sie einem nichtstut, sondern nur eine Chance auf Selbstentfaltungbedeutet. Wie könnt ihr Toleranz erwarten, wenn ihrselbst nicht zu tolerieren imstande seid?Die Familie ist mächtig, die Tradition ist nochviel mächtiger. Wer den Mut aufbringt, gegen alleWiderstände zu kämpfen und sich loszureißen, hatanschließend nicht nur die Familie, sondern auch denöffentlichen Respekt verloren und lebt fortan schutzlosin der Gesellschaft.Ist es das wert? Die eigene Identität, die Familie undden Kulturkreis einzutauschen gegen ein freies Leben?Denn genau das bedeutet es. Die bisher gelebte Identitätabzustreifen.Schon allein diese Fragestellung istschizophren. Wer zwischen diesen beidenWelten wandert, unterliegt einemfast unmenschlichen Druck. Er machteinen buckelig, traurig, depressiv. Ich willmich und andere nicht belügen undalles versteckt machen, nur damit dieFamilie und der Kulturkreis michhoffentlich irgendwie akzeptieren. Ichmöchte ein selbstbestimmtes Lebenführen, ohne mich dafür rechtfertigenzu müssen oder gesellschaftlichgeächtet zu werden. ●liberal 4.201529


ZENTRALMOTIV30 4.2015 liberal


23. August 1990Die lange Nacht des BeitrittsGerade einmal neun Monate nach dem Mauerfall hatte die Volkskammer derDDR ihre wichtigste Sitzung: Am Abend des 22. August 1990 um 21 Uhr kamendie im März erstmals frei gewählten Abgeordneten in Berlin zusammen. Dabeiging es nicht in erster Linie um die Modalitäten der WiedervereinigungDeutschlands – hier galt schon länger eine Mehrheit für einen Beitritt der DDRgemäß Artikel 23 des Grundgesetzes als gesichert. Heftig umstritten war derBeitrittstermin. Insgesamt vier Varianten standen zur Diskussion. Immer wiederwurde die Sitzung unterbrochen, damit sich die Fraktionen abstimmen konnten.Im Sommer 1990 stand die DDR kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Dasstärkte die Stimmen, die auf einen schnellen Beitritt drängten. Mitten in derNacht einigten sich die Fraktionen von CDU/DA, DSU, Die Liberalen und SPDschließlich auf den 3. Oktober 1990.Letzte Bausteine des Wiedervereinigungsprozesses waren dann die Unterzeichnungdes Einigungs- und des Zwei-Plus-Vier-Vertrages. Gregor Gysi,Parteichef der zu diesem Zeitpunkt bereits zweimal umbenannten SED – imDezember 1989 in SED-PDS, im Februar 1990 in PDS –, stellte erschüttert fest,das Parlament habe „soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergangder Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 beschlossen“.Für den weitaus größten Teil der Menschen in Ost- und Westdeutschland wardieser Beschluss Anlass zu großer Freude.Foto: picture-alliance/dpaliberal 4.201531


WIRTSCHAFT STUDIUMDu bist nicht alleinExakte Zahlen gibt es nicht, aber Zehntausende junge Menschen brechen Jahr fürJahr ihr Studium ab – ein volkswirtschaftliches Desaster. Nun reagieren einigeUniversitäten und unterstützen Abbrecher beim Neustart. // TEXT // CHRISTINE MATTAUCHWie funktioniert eigentlich ein Unternehmen?Die Frage faszinierte SusanneKreiske (Name geändert) schon währendihrer Schulzeit. Jetzt studiert sie imdritten Semester Betriebswirtschaft an der Uni Passau,aber die Erfolge bleiben aus. Das Fach ist ganz anders, alssie es sich vorstellte. Bei Prüfungen schneidet sie ziemlichschlecht ab. Wenn sie ehrlich ist, liegt ihr das ganzeStudium nicht. Aber einfach aufhören? „Ich habe michbis jetzt nicht getraut, diesen Schritt zu wagen“, schreibtdie 20-Jährige ihrem Studienberater in einer E-Mail.Es ist eine Situation, die jedes Jahr Zehntausendevon Studenten in Deutschland erleben – vielleicht sindes sogar Hunderttausende. Exakte Zahlen gibt es nicht,weil nicht zentral erfasst wird, wer wann wo aufhörtund sich vielleicht neu einschreibt. RepräsentativeStudien des Deutschen Zentrums für Hochschul- undWissenschaftsforschung (DZHW) in Hannover zeigenaber, dass 28 Prozent derjenigen, die sich für einenBachelor einschreiben, das Studium nicht vollenden.Bei den Ingenieuren schafft gar nur jeder Dritte einenAbschluss, in Mathematik scheitern fast 50 Prozent.Früher wurde das als Privatsache betrachtet, alspersönliches Versagen, Selbstüberschätzung oderschlicht Mangel an Fleiß. Inzwischen wächst in derGesellschaft die Einsicht: Wenn so viele junge Menschenscheitern, ist das auch ein wirtschaftliches Problem –eine gigantische Ressourcenverschwendung. Wie vielebleiben ihr ganzes Leben lang unter ihren Möglichkeiten,weil der erste Anlauf nicht klappte? Und was läuft eigent-32 4.2015 liberal


Fotos: N. Aksic/Getty Images; AFP/Getty Images; dpalich an den Hochschulen selbst verkehrt? „Die Universitätenhaben ein Legitimationsproblem, wenn sie diejungen Leute vom Arbeitsmarkt abziehen und ohneAbschluss wieder ausspucken“, sagt Carola Jungwirth,Professorin für Internationales Management an derUniversität Passau. Sie findet, dass die HochschulenStudienabbrecher bei der Umorientierung unterstützenund alternative Perspektiven aufzeigen sollte – etwa inder betrieblichen Ausbildung, wo qualifizierte Bewerberhäufig fehlen.Neuer Mut zur Karriere 2.0In Passau zeigen sie, dass das auch ohne Bürokratie undgroßes Budget möglich ist. Vor eineinhalb Jahren brachtenJungwirth und ihr Kollege Achim Dilling Studienberater,Vermittler der Arbeitsagentur sowie Vertreter derIndustrie- und Handelskammer (IHK) Niederbayern undder Handwerkskammer (HWK) Niederbayern/Oberpfalzan einen Tisch. Die Initiative „Neustart – Karriere 2.0“ wargeboren. Seit November 2014 fängt sie Studierende mitProblemen auf. Thomas Genosko, Leiter des BereichsBerufliche Ausbildung bei der IHK, beschreibt den Ansatzso: „Jeder macht, was er am besten kann, wir arbeitenaber viel enger zusammen als früher.“Es kostete Zeit, sich über Rollen und Erwartungen zuverständigen, aber nur wenig Geld: 1.800 Euro. Diewurden in einen Flyer investiert, auf dem alle Ansprechpartnerstehen und alle Adressen und dessen pureExistenz den jungen Leuten schon Mut macht, weil ersignalisiert: Du bist nicht allein, vielen geht es so wie dir,und wir sind darauf vorbereitet. „Auch für die Berater istes leichter, wenn sie auf einen klaren Weg verweisenkönnen“, sagt Jungwirth.Susanne Kreiske war eine der Ersten, die von demProjekt profitierte. Sie wandte sich Ende vergangenenJahres mit ihren Sorgen an Dilling. Der 41-Jährige istFachstudienberater an der WirtschaftswissenschaftlichenFakultät und häufig erste Anlaufstelle für Studenten,die sich eingestehen, dass sie die falsche Wahl getroffenhaben. „Für viele bricht damit eine Welt zusammen“,weiß Dilling. Auch Kreiske war der Verzweiflung nah. „Esist eine schwierige Zeit, wenn man merkt, dass es sonicht weitergehen kann“, sagt sie rückblickend. „Das‚Neustart‘-Projekt kam für mich wie gerufen.“ Mit Dillingbesprach sie die Alternativen, IHK und Arbeitsagenturvermittelten Kontakte zu Unternehmen. Inzwischen hatKreiske einen Ausbildungsvertrag als Industriekauffraubei einem mittelständischen Unternehmen der Metallindustrie.Im September beginnt ihre neue Karriere.Ein Idealfall, findet Genosko. Nach hauseigenenPrognosen fehlen Niederbayerns Unternehmen bis zumliberal 4.2015Kai Diekmann, geboren 1964, schrieb sich nachseiner Bundeswehrzeit 1985 an der Uni Münster ein.Sein Studium brach er ab, als er kurz daraufseine journalistische Karriere als Volontär beimAxel- Springer-Verlag in Hamburg begann.Autoverleiher Erich Sixt, geboren 1944, studierteBetriebswirtschaftslehre in München. Das Studiumbrach er ab. Begründung: Es sei für den weiterenVerlauf seines Lebens „irrelevant“.Steve Jobs, geboren 1955, hielt es 1972 nurein Semester lang am Reed College in Portlandaus. Zunächst arbeitete er bei Atari alsSpieledesigner. Im Jahr 1976 gründete erdann mit Steve Wozniak die Firma Apple.33


WIRTSCHAFT STUDIUMINTERVIEW„STUDIENABBRUCHIST KEINE KRANKHEIT“„Wir brauchenhervorragendausgebildeteLeute, die in derLage sind, denAnforderungendes Fachsgerecht zuwerden.“LIBERAL: Mehr als ein Viertel der jungen Leute,die sich für ein Bachelor-Studium einschreiben,verlassen die Hochschule ohne Abschluss.Muss sich Deutschland Sorgen machen?ULRICH HEUBLEIN: International gesehengibt es Länder mit einer beträchtlich höherenStudienabbruchsquote, etwa Schweden oder dieNiederlande, und es gibt welche mit einer deutlichniedrigeren – in Asien oder auch in England.Allerdings sind die Bildungssysteme schwermiteinander vergleichbar. In England trägt jederStudent mit einer erheblichen Gebühr zurHochschulfinanzierung bei. Es ist klar, dass daserfolgserhöhend wirkt.Studienabbruch ist in einem offenen Bildungssystemjedenfalls nichts Ungewöhnliches – keine Krankheit,die man ausmerzen könnte oder müsste. Gerade ineiner Lebensphase des Heranwachsens müssenFehlentscheidungen und Umorientierungen möglichsein. Aber wenn die jungen Leute zu einem großenAnteil scheitern – weil sie sich selbst im Wegestehen, weil sie nicht genügend Unterstützungerhalten, weil sie die Finanzierung nicht packen,dann haben wir ein Problem.Was läuft verkehrt? Brauchen wirpädagogische Schulung für Dozenten?So schlicht kann man die Sache leider nicht greifen.Ich versuche einmal am Leistungsproblem dieKomplexität darzustellen: Für die betroffenenStudierenden ist es bezeichnend, dass sie mitungenügenden Voraussetzungen an die Hochschulekommen. Das Kernproblem dabei lautet Mathematik.Es gelingt uns als Gesellschaft nicht, dass Schule undHochschule so miteinander kommunizieren, dassStandards und Anforderungen klar definiert sind.Hinzu kommt, dass sich Studierende in technischenFächern stärker von extrinsischen Motiven in ihrerStudienwahl leiten lassen ...... es geht ihnen mehr umSicherheit oder Karriere?Ja, und es ist ihnen weniger wichtig, mit welchenInhalten sie sich beschäftigen. Wer so darangeht, hatimmer die schwächere Motivation, eine schwierigePhase durchzuhalten und Defizite aufzuholen.Die andere Seite ist, dass die Institution Hochschuleoft zu wenig tut, um den jungen Leuten eineIdentifikation zu vermitteln. Die Lehrenden sind dieentscheidenden Agenten der Fachkultur, ob siewollen oder nicht. Ob sie sich hinstellen und sagen:In fünf Jahren fahren Sie Taxi, oder ob sie sagen: Siehaben das tollste Fach gewählt, das es überhauptgibt.Was halten Sie von Initiativen,die Studienabbrechern helfen wollen?Das ist vom Ansatz her nicht verkehrt. Es darfallerdings nicht mit der Hoffnung verknüpft sein,dass Zehntausende junger Leute als Reserve für diebetriebliche Ausbildung bereitstehen. Das hieße ja,dass die früher Probleme gehabt hätten, unterzukommen.Das ist aber nicht der Fall. Wir beobachtenein halbes Jahr nach Studienabbruch keineüberdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit, dasheißt, die Leute finden irgendwas – auch wenn esnicht immer optimal sein mag.Eins muss bei aller Diskussion klar sein: Unakzeptabelwäre, wenn das Niveau des Studiums nachlassenwürde. Wir brauchen hervorragend ausgebildeteLeute, die in der Lage sind, den Anforderungen desFachs gerecht zu werden.ZUR PERSONUlrich Heublein,Leiter des ProjektbereichsStudienabbruch/Studienerfolgbeim Deutschen Zentrum fürHochschul- und Wissenschaftsforschungin Hannover überdie Gründe fürs Scheitern,fehlende Bildungsstandardsund Lehrende als Agentender FachkulturFotos: Guy Corbishley; privat34 4.2015 liberal


Jahr 2020 etwa 9.000 Fachkräfte. „Studienabbrechersind eine von mehreren Gruppen, die helfen können, dieLücke zu schließen“, sagt Genosko. Auch das Handwerkumwirbt die verhinderten Akademiker – allein in Niederbayernund der Oberpfalz suchen innerhalb der nächstenzehn Jahre rund 10.000 Betriebe einen Nachfolger.„Vom Campus in den Chefsessel – das ist die Perspektive,die das Handwerk bietet“, sagt Kurt Negele, der bei derHWK die Abteilung Berufliche Bildung leitet.Geht es nicht weit über die Aufgaben der Hochschulehinaus, sich um die zu kümmern, die gehen wollen?Jungwirth hat darauf eine klare Antwort: „Die Universitätsollte den Begabtesten vorbehalten sein. Wir tun unskeinen Gefallen, wenn wir unsere Ressourcen auf etwasanderes konzentrieren als auf die Spitzenausbildung.“Wenn es gelinge, die „Inspirierten von den Unmotiviertenzu trennen“, dann nutze das auch der Alma Mater selbst.Mit „Switch“ in die AusbildungAuch an anderen Hochschulen gibt es Versuche, Studierendebei der Neuorientierung zu begleiten. In Trier zumBeispiel unterzeichneten in diesem Januar Uni, Arbeitsagentur,HWK und IHK eine Kooperationsvereinbarung.In Aachen wiederum, einem Mega-Hochschulstandortmit 56.000 Studenten, wurde 2011 die städtische Wirtschaftsförderungaktiv. Sie gründete die Agentur„Switch“. Die bietet Studienabbrechern verkürzte Ausbildungen,etwa zum Fachinformatiker, an und vermitteltauch gleich an Unternehmen. 170 Exstudenten absolviertenbislang über Switch eine Lehre – kein einzigersprang ab.Eine andere Frage ist, ob Reformen möglich sind, dievon vornherein verhindern, dass so viele junge Menschenihr Studium abbrechen. Das ist nicht einfach,denn Studienabbruch ist ein komplexes Phänomen mitvielen Ursachen (siehe Interview links). Doch Weitermachenwie bisher ist auch keine gute Lösung – für diebetroffenen Studenten nicht und auch nicht für denWirtschaftsstandort Deutschland.In Baden-Württemberg erproben derzeit mehrereHochschulen flexible Studienprogramme, die individuellauf unterschiedliche Bedürfnisse zugeschnitten werden.In Esslingen etwa können angehende Ingenieure denersten Studienabschnitt mit Grundlagenfächern wieMathe, Physik und Elektrotechnik verlängern. Es gibtTutorien, E-Learning und Coaching. An der Hochschulefür Technik, Wirtschaft und Informatik in Heilbronnsprechen Fach- und Lernberater gezielt Risikostudentenan und schließen mit ihnen eine Lernvereinbarung ab.Einen anderen Ansatz hat der Verband DeutscherMaschinen- und Anlagenbau (VDMA) mit seinem ProjektJulian Assange, geboren 1971, studierte dieFächer Physik und Mathematik in Melbourne –ohne jedoch einen Abschluss zu erlangen. Seit2006 ist er für WikiLeaks aktiv – unentgeltlich.Nach eigener Aussage hat er „im Internet Geldverdient“.„Maschinenhaus“: Verbandsexperten entwickelten fürdie Fachrichtungen Maschinenbau und Elektrotechnikein Referenzmodell zur Verbesserung der Studienergebnisse.„Mehr Erfolg im Ingenieurstudium ist machbar“,ist VDMA-Präsident Reinhold Festge überzeugt. Dass sichein Wirtschaftsverband so massiv in den Studienbetriebeinbringt, ist neu und zeigt, wie groß die Sorge um denNachwuchsmangel in technischen Berufen ist. DieVDMA-Experten helfen den Hochschulen auch, dasKonzept in die Praxis umzusetzen. Seit 2013 haben sie31 Fakultäten beraten. Es gibt eine kostenlose „Toolbox“und einen mit 100.000 Euro dotierten Preis für guteLehrkonzepte.Der VDMA rührt damit auch an ein Tabu: die fehlendepädagogische Qualifikation von Hochschuldozenten.Dass Professoren, die unterrichten, ihren Stoff didaktischversiert und persönlich engagiert vermitteln, ist nochimmer eher die Ausnahme als die Regel. Im Vergleichzur Forschung wird die Lehre im Wissenschaftsbetriebmeist unterbewertet. Das ist auch Susanne Kreiske inErinnerung geblieben. „Manche Professoren rissen dieTheorie einfach nur runter, gaben nicht einmal Beispiele“,sagt sie im Rückblick. „Wie soll man sich da miteinem Fach identifizieren?“ ●CHRISTINE MATTAUCH, freie Journalistin inMünchen, spielte während ihres VWL-Studiumsangesichts überfüllter Hörsäle und arroganterProfessoren öfter mit dem Gedanken,abzubrechen. Sie verbrachte so wenig Zeit wiemöglich an der Hochschule. Für einen Abschlussreichte es am Ende trotzdem.redaktion@libmag.deliberal 4.201535


WIRTSCHAFT BUNDESLIGABROT UND SPIELEDie fußballfreie Zeit ist zu Ende, die Bundesliga startet in eine neue Saison.Doch das wirtschaftliche Fundament der Eliteklasse ist im Vergleich zu anderenNationen dünn. Damit ist das Ende des deutschen Sonderwegs in Sicht.// TEXT // RALF KALSCHEUR // ILLUSTRATION // ERNST MERHEIMDie Fans des englischen Fußball-Erstligisten Hull City AFCsind Kummer gewohnt. Ihr Verein ist nicht erfolgreich,ihre Stadt nach deutschen Bombardements im ZweitenWeltkrieg wahrlich nicht schön: „Hull is dull“. Wenn der„Tigers“ gerufenen Elf ein Tor gelingt, singen die Fans in den Rängen„You’re getting mauled by the Tigers“ zur Melodie von „Guantanamera“.Dabei formen sie ihre Finger zu Krallen und kratzen vor sich inder Luft herum. Einige fletschen beim Singen sogar katzenhaft dieVorderzähne. Die Posen erinnern zugleich an Bauerntheater undKinderschminken. Im Macho-Kontext der stiernackigen britischenFußballfankultur entfaltet das ungewöhnliche Fangebaren zumRumbarhythmus eine ganz besondere Komik. Es gibt YouTube-Videos davon mit Hunderttausenden Aufrufen.Assem Allam, ein britischer Geschäftsmann, der in der Gegendum die Mündung des Humbers zu Wohlstand gekommen ist, übernahmden Verein 2010. Der gebürtige Ägypter will aus Hull City AFCeine internationale Fußballmarke formen, eine ernstzunehmendePremier-League-Macht. Doch Fans, die stolz das AFC-Trikot tragen,blieben ein seltener Anblick in Asien und anderswo außerhalb derStadtgrenzen Hulls. Da hatte Allam eine Idee: Der Begriff „City“ seimiserabel und gewöhnlich, sagte der 75-Jährige, der Mangel an Zuneigungfür Hull in der Welt daher kein Wunder. Um die Vermarktungseines Produkts zu optimieren, beantragte Allam 2013 beim nationalenFußballverband FA eine Namensänderung. Aus Hull City solltendie Hull Tigers werden.1904 wurde der Hull City AFC gegründet. Dass man auf der Inselzuweilen über sie lacht, mochten die Fans noch ertragen, aber nunstand die Identität ihres traditionsreichen Clubs auf dem Spiel. DieFanbewegung „City Till We Die“ organisierte heftige Proteste an denSpieltagen und Märsche durch die Stadt. Der englische Fußballverband(FA) lehnte die Namensänderung im April 2014 schließlich ab.Verärgert stellte Assem Allam sein Fußballunternehmen über Nachtzum Verkauf, klagte jedoch gleichzeitig gegen das Urteil der FA. ImSeptember 2014 wurde ein Schiedsgerichtsverfahren in der Sacheeröffnet. Allam ist noch nicht am Ende – und ebenso wenig derAlbtraum für Fußballfans in Kingston upon Hull.Englische Verhältnisse führen zu MondpreisenEs sind abschreckende Beispiele wie dieses aus England, auf die dieChefs der Mehrheit der 36 Profivereine der ersten und zweitenBundesliga mahnend verweisen, wenn es um die Aufweichung der50-plus-1-Regelung geht (siehe Kasten). In Deutschland gehört derFußball noch den Fans: Die Mehrheit der Anteile am Profibetriebmuss beim Mutterverein bleiben. Und in dem haben die Mitgliederdas letzte Wort. Die Klubs haben sich verpflichtet, die Ticketpreisesozialverträglich zu gestalten, damit auch einkommensschwacheGruppen ihren Platz im Stadion behalten können. Die gefürchteten„englischen Verhältnisse“ hingegen haben in der Premier League zuMondpreisen geführt. Die Dauerkarte bei Arsenal London kostetmehr als 1.200 Euro, bei Bayern München ist sie ab 140 Euro zuhaben. Viele Premier-League-Clubs brauchen die Ticketerlöse, denndie Gehälter ihrer kickenden Topstars sind pro Kopf auf bis zu20 Millionen Euro angestiegen. Zum Vergleich: Mit einer ähnlichenSumme wird der Bundesliga-Aufsteiger Darmstadt 98 in der neuenSaison seine gesamte Mannschaft finanzieren.Die Stars sorgen für die internationale Vermarktbarkeit derPremier League. Die Offenheit für Investoren hat überdies dafürgesorgt, dass mehrere Spitzenclubs um den Titel spielen können.Befürworter des englischen Systems belächeln die „FC-Bayern-Liga“und vergleichen den recht vorhersehbaren Meisterschaftsausgang36 4.2015 liberal


50PLUS1-REGELUNGDeutsche Besonderheit: Der DFB und die DFL schreibenin ihren Satzungen vor, dass der Mutterverein „50 Prozentzuzüglich mindestens eines weiteren Stimmanteils in derVersammlung der Anteilseigner“ halten muss, um sich fürdie Bundesligalizenz zu qualifizieren. Die Regelung istweltweit einzigartig und soll verhindern, dass Spekulantenund ausländische Investoren die Mehrheit der Anteile anden in Kapitalgesellschaften ausgelagerten Profiabteilungender Klubs erwerben können.Eine Ausnahmeregel gilt für die beiden WerksklubsBayer Leverkusen und VfL Wolfsburg, traditionellhundertprozentige Töchter der Bayer AG beziehungsweiseder Volkswagen AG. Die Stichtagsregelung besagte:„Über Ausnahmen in solchen Fällen, in denen einWirtschaftsunternehmen seit mehr als zwanzig Jahren vor1999 den Fußballsport des Muttervereins ununterbrochenund erheblich gefördert hat, entscheidet der Vorstand desVerbandes.“Hannover 96 klagte vor dem DFB-Schiedsgericht aufChancengleichheit mit den Werksklubs und erwirkte2011 den Wegfall der Stichtagsregelung „vor 1999“.Die 20-Jahre-Sperrfrist läuft für Martin Kind, der denProfifußball bei Hannover 96 seit 1997 fördert, zurSaison 2017/2018 ab. Im Fall des BundesligistenTSG Hoffenheim hat die DFL bereits eine Ausnahmevon der 50-plus-1-Regelung genehmigt. Dietmar Hoppübernahm zum 1. Juli 2015 die Mehrheit an derHoffenheimer Fußball-Spielbetriebs GmbH.für die übermächtigen Münchner mit der schottischen Ein-Team-Liga. Die erste englische Liga wird weltweit von mehr Menschengesehen als die Bundesliga, die spanische Primera Divisón und dieitalienische Seria A zusammen. Triumphierend meldete das Boulevardblatt„Daily Mail“ im vergangenen Jahr, dass das abgestiegeneSchlusslicht der Premier League, Cardiff City, in der Vorsaison doppeltso hohe Einnahmen aus dem nationalen TV-Geschäft erzielthabe wie Bayern München. Ein Etappensieg.Das englische Fußballprodukt ist global so begehrt, dass bei derneuerlichen Ausschreibung der TV-Rechte ein Bieterwettstreit zwischenden Sendern British Telecommunications und Sky ausbrach.Heraus kam im Februar ein Rekord-Deal, der sogar die Premier-League-Bosse baff machte. Für die drei Spielzeiten 2016 bis 2019 wirddie Liga 6,9 Milliarden Euro von den beiden TV-Anstalten kassieren– allein für die Live-Übertragungen in Großbritannien. Die Auslandsvermarktungsoll zusätzlich 2,6 Milliarden Euro einbringen – Einnahmendurch Bewegtbilder im Internet und Zusammenfassungenexklusive. In der Liste der 40 weltweit reichsten Clubs fehlt ab 2016wohl keiner der 20 englischen Erstligisten. Der deutsche Profifußballgerät in diesem ungleichen Wettbewerb immer weiter ins Hintertreffen.Für die Spielzeit 2016/17 erwartet die Bundesliga 835 MillionenEuro. Gerade mal 75 Millionen Euro davon bringt die Auslandsvermarktungder Liga des amtierenden Weltmeisters ein.Die Financial-Fairplay-Regelung (FFP), die von der Uefa zu Beginnder Saison 2013/2014 eingeführt wurde, soll dabei helfen, denfairen Wettbewerb wiederherzustellen und eine Überschuldung derVereine zu verhindern. In einer Übergangsphase dürfen die Ausgabendie Einnahmen nicht um mehr als 45 Millionen Euro übersteigen.Eignern wie Roman Abramowitsch in Chelsea oder Scheichs wieMansour bin Zayed Al Nahyan in Manchester City, die bislangliberal 4.201537


WIRTSCHAFT BUNDESLIGAINTERVIEWKULTUR BEWAHRENDer Unternehmer Martin Kind hat erstritten, dass Investoren Bundesligavereineübernehmen dürfen. Zur Saison 2017/18 wird der Profifußball in Hannover einerGesellschaftergruppe mit Kind an der Spitze gehören. Dietmar Hopp hat bereitsvon der Ausnahmeregelung profitiert und die TSG Hoffenheim übernommen.Die Fans fürchten den Ausverkauf des deutschen Fußballs. Zu Recht?ist eine deutsche Besonderheit, die man international sonicht kennt. Diese Rechtslage erschwert deutlich dieKapitalbeschaffung.Spendabel: Martin Kind (rechts) hat den Erfolg von Hannover 96,Dietmar Hopp (links) den der TSG Hoffenheim ermöglicht.Liberal: Herr Kind, Sie haben jahrelang allein undletztlich erfolgreich für eine Änderung der deutschenSonderregelung „50-plus-1“ gekämpft. Sind Sie etwakein Fußballromantiker?MARTIN KIND: Ich habe großen Respekt vor denZuschauern und den Fans und akzeptiere auch dieunterschiedlichen Sichtweisen. Ich bin jedoch verantwortlichfür ein Fußballunternehmen und muss mich an dieSpielregeln halten, die der Markt entwickelt hat. Auch dieZuschauer und Fans mögen keinen Misserfolg.Was gefiel Ihnen denn nicht an derSperrklausel „50-plus-1“?Die Vorgeschichte ist, dass der Deutsche Fußball-Bund(DFB) den Ligaverband und die Deutsche Fußball Liga(DFL) gegründet hat. Die DFL ist eine eigenständigeGmbH – also eine Kapitalgesellschaft. Die Gesellschaftersind die Vereine der Ersten und Zweiten Bundesliga.Parallel zu dieser Entscheidung wurde es auch denBundesligavereinen ermöglicht, die steuerpflichtigenProfiabteilungen in die Rechtsform eines Wirtschaftsunternehmensauszugliedern. Verbandsrechtlich wurdeadditiv die 50-plus-1-Regelung beschlossen. Diesebesagt, dass die Mehrheit der Anteile an den Profiabteilungenbeim Mutterverein bleiben muss. Diese RegelungIn Ihrer Amtszeit als Präsident hat sich Hannover 96innerhalb von rund zehn Jahren aus der Drittklassigkeitzu einem etablierten Bundesligisten mit Ambition aufdie europäischen Plätze emporgearbeitet. Nun könnteman meinen, dass die Investorenbeschränkung durchdie DFL gar nicht so tragisch ist …Wir sind mit der Entwicklung zufrieden. Erlauben Sie mirjedoch den Hinweis, dass bei Hannover 96 schon deutlichKapital zugeführt wurde. Der Fußballmarkt entwickeltsich permanent weiter. Um unsere Wettbewerbsfähigkeitfür die Zukunft sicherzustellen, war die Modifikation der50-plus-1-Regel notwendig. Wesentliche Kapitalgeberwollen Einfluss nehmen auf die Besetzung derGeschäftsführung, die Genehmigung des Haushalts unddie Genehmigung der Investitionen. Sie wollen keinenEinfluss auf operative Entscheidungen.Dietmar Hopp beispielsweise fördert die TSG 1899Hoffenheim schon seit weit mehr als 20 Jahrengroßzügig. 240 Millionen Euro sollen bereits geflossensein. Dafür wurde der Milliardär in manchen Stadienunflätig beschimpft. Viele Fans fürchten durch IhreInitiative den Einzug „englischer Verhältnisse“, denAusverkauf des Sports an Scheichs und Spekulanten.Eine berechtigte Sorge oder German Angst?Die öffentliche Diskussion über „böse Investoren“ istunglücklich. Es ist doch so: Der Verein hält die Anteileund es liegt in seiner Verantwortung, an wen er dieseAnteile veräußert. Im Gesellschaftervertrag vonHannover 96 sind alle diese Fragestellungen geregelt. InHannover sind ausschließlich Personen und Unternehmenaus der Stadt und der Region Hannover engagiert.Weitere Entscheidungen sind nicht geplant. Für dieZuschauer und die Fans ändert sich gar nichts. Wirspielen in einer attraktiven Fußballarena. Wir spielen inder Ersten Bundesliga. Das Ticketpreisniveau ist moderat.Diese Kultur wollen wir bewahren.Fotos: picture alliance/augenklick/fi; privat38 4.2015 liberal


Sie haben einen Präzedenzfall geschaffen und die50-plus-1-Regelung quasi mit einem Verfallsdatumversehen. Warum haben Sie sich damit zufriedengegeben?Experten sehen in der Investorenbeschränkungeinen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit.Das Urteil ist ein gutes Urteil, ein Kompromiss. DFB, DFLund die Vereine können auch künftig Veränderungengemeinsam gestalten.Was hindert Sie und andere Investoren daran, IhreAnteile nach der Übernahme meistbietend weiterzuverkaufen?Sollte es überhaupt Regeln geben, die diesverhindern?Die deutsche Fußballkultur unterscheidet sich von derenglischen und anderen. Aus diesem Grunde empfehle ichder DFL, eine Regelungstiefe zu definieren, wie etwa eineHaltefrist von zum Beispiel zehn Jahren. Damit ist jeglicheSpekulation ausgeschlossen.ZUR PERSONDER AUFSTEIGERMartin Kind, 70, ist Gründer und Eigentümer derKindgruppe, ein Mischunternehmen mitZentralsitz in Großburgwedel bei Hannover, das weltweit2.400 Mitarbeiter beschäftigt. Der Hörgeräte-Akustik-Meister und Kaufmann entwickelte 1970 aus demelterlichen Hörgeräte-Fachgeschäft ein Filialunternehmenmit heute 570 Standorten in Deutschland und100 weiteren weltweit. 1997 übernahm Martin Kind alsPräsident die Verantwortung bei Hannover 96. Der Vereinspielte damals drittklassig und war praktisch bankrott.Kind professionalisierte die Strukturen, förderte den Klubüber sein Unternehmen finanziell und führte Hannover 96zurück in die Erste Bundesliga. In seiner Amtszeit, die miteiner einjährigen Unterbrechung bis heute andauert,wurde das alte Niedersachsenstadion zur modernenWM-Arena umgebaut. In der Saison 2010/11 qualifiziertensich die Roten erstmals seit 1993 wieder für eineneuropäischen Wettbewerb.zusammen fast zwei Milliarden Euro in Spieler investiert haben, istes nicht erlaubt, die Verluste aus der eigenen Tasche auszugleichen.Kritiker behaupten, dass die milliardenschweren Eigner ihre Klubsüber Umwege weiterhin päppeln werden, indem sie ihr Geld denSponsoren zufließen lassen. Die finanziell überwiegend gesundeBundesliga begrüßt FFP als Schritt in die richtige Richtung, dochmehr Geld bringt ihr die Regelung, die zunächst bis 2018 erprobtwird, auch nicht ein.Fußballvereine stehen unter ZugzwangDem Volkssport Fußball wird in Deutschland eine hohe gesellschaftlicheVerantwortung aufgebürdet. Und das hat ordnungspolitischeKonsequenzen. Nach dem Debakel der Nationalmannschaft bei derEuropameisterschaft 2000 schrieb der Deutsche Fußball-Bund(DFB) den 18 Erstligisten vor, zur Saison 2001/2002 Leistungszentrenfür den kickenden Nachwuchs einzurichten. Alle Clubs wurden imZuge des Lizenzierungsverfahrens dazu gezwungen, hauptamtlicheJugendtrainer einzustellen und Infrastrukturen für die Jugendförderungzu schaffen – vom Rasenplatz mit Flutlicht bis zum Massageraum.Ein Jahr später galten ähnliche Verpflichtungen auch für dieFußballunternehmen der Zweiten Bundesliga.Der Eingriff in die Investitionsentscheidungen der Clubs hatdazu geführt, dass die Profiabteilungen vergleichsweise weniger Geldfür die Kaderplanung ausgeben konnten als die internationale Konkurrenz.Langfristig hat vor allem die Nationalmannschaft von denMaßnahmen profitiert, die sich heute zahlreicher gut ausgebildeterTalente bedienen kann. Die Vereine sind verpflichtet, ihre Spieler fürinternationale Einsätze abzustellen.Doch das Gesicht der Bundesliga wird sich verändern. Das Endedes deutschen Sonderwegs „50-plus-1“ kommt langsam, aber sicherin Sicht (siehe Interview). Schlecht muss das nichtsein, außer vielleicht für die Nationalmannschaft.Investoren sind am Erfolg ihresFußballunternehmens interessiert, undnicht zuvorderst daran, deutschenJungkickern Spielminuten zu verschaffen.Die DFL wird dann Regeln definierenmüssen, die die Traditionspflege derMarken gewährleistet. Kein Verein musssich verkaufen. Doch das Geld von Audi inIngolstadt, von Dietmar Hopp in Hoffenheimoder von Dietrich Mateschitz in Leipzig wird allzuleicht von denen verachtet, die schon einen Platz inder Liga der Fans haben. ●RALF KALSCHEUR ist freier Autor und lebt in Berlin.Der Bayern-Anhänger freut sich über jeden Titel für dieMünchner. Er meint aber, die Bundesliga sollte es bessernicht zur Gewohnheit werden lassen, die Meisterschaftschon mehrere Spieltage vor Schluss abzuschenken.kalscheur@ktgb.deliberal 4.201539


MIERSCHS MYTHENLESEÜber Natürliches// TEXT // MICHAEL MIERSCH // ILLUSTRATIONEN // BERND ZELLERAlle lieben die Natur. Doch die wenigsten kennen sie. Eineeinseitige Liebe. Die Natur jedoch nicht zu lieben ist gemäßdem Zeitgeist des frühen 21. Jahrhunderts moralischnicht akzeptabel. So ist aus der Natur etwas Ähnlichesgeworden wie aus dem Frieden und der Gerechtigkeit. Jeder ist dafür,aber jeder stellt sich etwas anderes darunter vor.Die Inanspruchnahme der Natur als Bezugspunkt ist heuteverbreiteter denn je. Kosmetik, Nahrungsmittel, Medizin, Reisen,Kleidung und zahlreiche andere Produkte werden mit dem Verkaufsargumentangepriesen, sie seien besonders natürlich. Wer in öffentlichenDebatten irgendetwas in ein schlechtes Licht rücken will, mussnur behaupten, es sei unnatürlich oder gar „gegen die Natur“.Pflanzengentechnik sei unnatürlich, kann man immer wiederlesen. Deutschland ist mittlerweile eine gentechnikfreie Zone. Vonden Grünen bis zur CSU, vom bayerischen Dorfpfarrer bis zur BerlinerSzeneköchin sind sich alle einig, dass die Gentechnik gegen dieNatur sei. Doch wer sich ein wenig mit Biologie befasst, weiß, dassauch die herkömmliche Pflanzenzüchtung eine Kulturtechnik ist,von menschlichem Geist ersonnen, um Wildpflanzen in Lebensmittelumzuwandeln.Die Unterstellung, eine neue Methode sei unnatürlich, kam beider Gentechnik nicht zum ersten Mal auf. Auch die Pasteurisierungvon Milch stieß anfangs auf Ablehnung, weil sie unnatürlich sei. Esgab Zeiten, da galt es als wider die Natur, dass Frauen Fahrrad fahren,studieren oder einen Beruf ausüben.Besonders im Bereich der Sexualität wurde von jeher mit derNatur argumentiert. 1968 veröffentlicht Papst Pius VI. seine Enzyklika„Humane Vitae“, die als Pillen-Enzyklika bis heute berühmt ist. Erverurteilt darin die Empfängnisverhütung und bezieht sich dabeiausdrücklich auf die Natur. Das „gesamte Sittengesetz“, heißt es in derHumane Vitae, spreche gegen Familienplanung. Dieses ungeschriebeneGesetz sei „natürlich“.Bei einem Papst könnte man annehmen, dass er das „Sittengesetz“für „göttlich“ erklärt statt für „natürlich“. Aber das ist für vieleMenschen schon fast das Gleiche. Die Natur ist gut. Nur der Menschist schlecht. Selbst Naturkatastrophen werden nicht mehr der Naturangelastet, sondern gelten als Folge menschlichen Frevels.Dieses Muster zeigt sich mit steter Regelmäßigkeit, wenn Stürmeoder Überschwemmungen reflexhaft mit der menschengemachtenKlimaerwärmung erklärt werden. Obwohl die historischen Datenüber solche Unwetter gar keine Verschlimmerung belegen und imGegenteil ähnliche oder noch schlimmere Ereignisse aus der Vergangenheitdokumentiert sind.Typisch für solche Idealisierung der Natur ist die aktuelle Debatteum die Rückkehr der Wölfe. Es hat sich eine Sichtweise durchgesetzt,die kaum weniger irrational ist als das altbekannte Märchen vom404.2015 liberal


ösen Wolf. Vor dem muss uns der heldenhafte Jäger schützen, damitwir nicht alle gefressen werden.Der aktuelle Zeitgeist stellt Wölfe dagegen als vollkommenharmlose Tiere dar, die grundsätzlich Menschen meiden und sichhöchstens irrtümlich mal an Weidetieren vergreifen. Dass sie jedochlängst nicht so menschenscheu sind wie behauptet, konnte manbereits in einer BBC-Naturdokumentation aus den 1990er-Jahrensehen: Sie zeigte, wie Wölfe nachts so lässig durch rumänische Großstädtetrotten wie die Füchse durch Berlin.Natürlich stimmt es, dass die Gefahr, die von Wölfen oderanderen wilden Tieren ausgeht, gering ist. Verglichen mit demStraßenverkehr oder anderen Alltagsrisiken, an die wir uns gewöhnthaben. Doch auch die Gefahr, durch einen Bombenanschlag umsLeben zu kommen, ist in Europa klein. Dennoch ist es sinnvoll,potenzielle Terroristen im Auge zu behalten und genau aufzupassen,was sie tun.Ich finde es gut, wenn wir uns in Deutschland an die Koexistenzmit großen Tieren, auch Raubtieren gewöhnen. Schließlich belehrenwir gern andere, dass sie es tun sollen. Wie Afrikaner mit Elefanten,Norweger mit Walen oder Kanadier mit Robben umgehen sollten,wissen manche Deutsche immer ganz besonders gut. Es ist durchausmöglich, in einem dicht besiedelten Land mit Wölfen, Luchsen,Elchen und anderen Großtieren zu leben. Die BevölkerungsdichteWestdeutschlands entspricht der Indiens, ein Land, in dem wildeElefanten und Tiger akzeptiert werden.Beim Wolfs-Management geht es nicht um die Tiere, sondern umdie Menschen. Damit die sich sicher fühlen, müssen die Wölfe scheubleiben. Scheu bleiben sie, wenn man die, die sich zu nah an Menschenwagen, vorsichtshalber abschießt.Der Verweis auf die Natur hilft da nicht weiter. Ein Wolf verhältsich vollkommen natürlich, wenn er Weidetiere reißt. Die Natur taugtfür uns Menschen weder als Vorbild noch als Maßstab. Wir verhaltenuns widernatürlich, wenn wir Wölfe schützen, Energie sparen oderVerhütungsmittel benutzen. Und das ist gut so. ●MICHAEL MIERSCH ist seit November 2014 Geschäftsführerbeim „Forum Bildung Natur“ des Bildungszweiges der DeutschenWildtier-Stiftung. Zuvor war der Autor, Dokumentar filmerund Mitbegründer des Autorenblogs Die Achse des GutenRessortleiter Forschung beim Magazin Focus.Website: www.miersch.media miersch@libmag.deBERND ZELLER arbeitet als Cartoonist, Autor, Satiriker undMaler vorzugsweise in Jena. Während des Jura-Studiumshat er sich mit der rechtsstaatlichen Verfassung und derAufklärung angefreundet. zeller@libmag.deliberal 4.201541


BÜCHERBELESENDIE LIBERAL-REDAKTION EMPFIEHLTWie keine andere Auseinandersetzungbeschäftigt der NahostkonfliktMedien und deren Rezipientenin Deutschland und Europa. Dabei stehtdie Vehemenz der vertretenen Meinung oftin auffälliger Korrelation zum Mangel anInformation über diesen uralten, hochkomplexenund von gänzlich widersprüchlichenNarrativen geprägten Konflikt. Der Büroleiterder Friedrich-Naumann-Stiftung für dieFreiheit in Jerusalem hat in diesem kompaktenWerk den Versuch unternommen, dieaktuell häufigsten Fragen konkret zu beantwortenund die letzten Eskalationsrundenhistorisch sowie völkerrechtlich einzuordnen.Dabei gelingt es ihm, schwierigeRecherchen, zum Beispiel zur Frage derWasser verteilung oder zur internationalenFinanzierung der PalästinensischenAutonomie behörde, auf kurze, maximalinformative und verständliche Kapitel herunterzudestillieren.Eine Pflichtlektüre für jedeninteressierten Tagesschau-Zuschauer undOberstufenschüler, aus der auch einigeNahostkorrespondenten noch lernenkönnten. David HarnaschWALTER KLITZHinter den Schlagzeilen –die vergessenen Fakten zumisraelisch-palästinensischen KonfliktFriedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit2015, 79 S., kostenfrei, nur als E-Book inverschiedenen Formaten erhältlichWarum verlässt einer seine Wertüberzeugungen,wenn sie ihmdoch bisher Orientierung undHalt im Leben gegeben haben? RainerHank war, wie er schreibt, mal „links“. Erstellt in diesem beeindruckenden Buchseine „Gewissensbisse“ bei seiner Konversionvon einem Linken zu einem Liberalendar. Das bringt ihn dazu, seinen heutigenliberalen Standpunkt ausgesprochen klarzu formulieren und zu begründen. Hanksieht die Unterscheidung der politischenDenkrichtungen als weiterhin wichtig an.Er stellt aber die Frage, ob denn die Politikder „Linken“ im Lande heute tatsächlichnoch linken Idealen entspricht. Sein Fazit:„Meine liberale Weltanschauung meintheute, dass sie die linken Ziele von damalsbesser retten und bewahren kann als dieLinken.“ Er habe sich allerdings, so Hank,„auf dem Weg vom Linken zum Liberaleneher radikalisiert“ und vermisse im politischorganisierten Liberalismus die„staatskritische, antiautoritäre, anarchischeSeite“ und das „ungestüme Freiheitspathosdes linken Aufbruchs der siebzigerund achtziger Jahre“. Eindeutige Leseempfehlungfür Noch-Linke und Noch-nicht-Liberale, aber auch für Bereits-Liberale –mit dem Hinweis: Achtung, dieses Buchkann Ihr Bewusstsein verändern … Thomas VolkmannRAINER HANKLinks, wo das Herz schlägt.Inventur einer politischen IdeeAlbrecht Knaus Verlag,München 2015; gebunden,256 S. (mit Anm.), 19,99 EURFoto: Sebastian Iwon; Presse424.2015 liberal


GESELLSCHAFT CROWDFUNDING44 4.2015 liberal


Wer Gutes tun will, kann sich das Kapital heute imInternet besorgen. Die Netzgemeinde belohnt sozialeProjekte und spornt die Eigeninitiative an. Erreichtbürgerschaftliches Engagement eine neue Dimension?// TEXT // CHRISTINE MATTAUCHIllustration: E. Merheim; iStock; Foto: Place2HelpRaphael Draeger dankte seinen Investoren:„Ihr seid wunderbar.“ 10. 920 Euro warenzusammengekommen – eine schöne StangeGeld für einen 18 Jahre alten Schüler. Diehatte Draeger nicht per Spendenbüchse in der Fußgängerzonegesammelt, sondern im Internet.Auf einer Plattform namens Startnext hatte derjunge Münchner beschrieben, was er und sein MitstreiterThomas Schmidt sich ausgedacht hatten: In derganzen Stadt soll es Lastenräder geben, die sich Nutzerkostenlos ausleihen können, um Koffer, Kästen oderauch Kinder zu transportieren. 183 Leser fanden dasgut, spendeten zwischen acht und 850 Euro underhielten im Gegenzug kleine Belohnungen, zumBeispiel Fahrradklingeln. Ein klassischer Fall vonCrowdfunding (Schwarmfinanzierung). „Damit kannman wirklich etwas bewegen“, schwärmt Draeger.Bisher hat dieses Modell in Deutschland vor allemdann von sich reden gemacht, wenn sich Start-up-Firmen erfolgreich Kapital beschafften. Die Idee wirdjedoch auch bei sozialen Projekten immer populärer:Da gibt es die Lehrerin aus Bremen, die für 20 Skateboardssammelt, die Flüchtlingskinder selbst bemalensollen. Oder die drei Bottroper, die einen „Inklusions-ErlebnisBus“ für Menschen mit Behinderungen ausstattenwollen.Nach einer Delphi-Studie wächst nicht nur derCrowdfunding-Markt in Deutschland rasant – bis 2020jedes Jahr um rund 30 Prozent, auf 360 Millionen Euro.Auch der Anteil altruistischer Projekte steigt: von sechsauf neun Prozent. Und immer neue Plattformen werdengegründet. Sie heißen Socialfunders.org oderRespekt.net.Diesen Sommer geht „Place2Help“ an den Start,eine Plattform, die lokale Bürgerprojekte anregen will.„Du hast eine Idee, die Deiner Stadt und ihren Menschenzugutekommt – im Großen wie im Kleinen?Dann bist Du hier genau richtig“, werben die GründerAlexandra Partale und Dennis Darko, die zuvor schonandere Projekte auf die Beine gestellt haben. Pilotstadtist München, wo die beiden unter anderem die Sparda-Bankund den Software-Entwickler BörseGo alsSponsoren gewonnen haben.„Es gibt ein wachsendes Interesse an Projekten, dieals gesellschaftlich wertvoll angesehen werden“, sagtauch Anna Theil, inhaltliche Leiterin von Startnext. DasBerliner Jungunternehmen, gegründet 2010, richtete indiesem Januar die Rubrik „Social Business“ neu ein, inAlexandra Partale undDennis Darko: Mit ihrer neugegründeten Plattform„Place2Help“ wollen siein München lokaleBürgerprojekte aufden Weg bringen.liberal 4.201545


GESELLSCHAFT CROWDFUNDINGsich öffentlich dazu und sorgen so für einen Schneeballeffekt.„Wir haben sogar Fans in Namibia undAustralien“, berichtet Draeger.Die Sponsoren wiederum können sich am Bildschirmin Ruhe informieren. „Man merkt es einerProjektseite an, wenn ein Team wirklich begeistert ist“,sagt Popp. Attraktiv sind für viele auch die Belohnungen,wenn sie kreativ und lustig sind. Bei der Lastenräder-Initiativeetwa gab es für 30 Euro die „CO 2 -freieLieferung einer Kiste gekühlten Biers“ – ein Angebot,das sich größter Beliebtheit erfreute.Digital „Gutes tun“ liegt voll im TrendLängst ist rund um das Thema „Gutes tun“ ein digitalerKosmos entstanden. Vergleichsweise etabliert ist dassogenannte Crowd Donating, bei dem zum Beispieljemand zugunsten einer Hilfsaktion für Erdbebenopfereinen Marathon läuft. Die Aktion Deutschland Hilft(ADH), ein Verbund renommierter Hilfsorganisationenwie Arbeiter-Samariter-Bund und Johanniter-Unfall-Hilfe, entschied 2010, auf ihrer Website eineSoftware einzubauen, die Privatleute für solche Aktionennutzen können. Thilo Reichenbach, Leiter Media& Online bei ADH, erinnert sich an die Zweifel, ob dasetwas bringt. „Heute ist es ein wichtiger Kanal, und wirsind sicher, dass er weiter an Relevanz gewinnt.“ AuchBetterplace.org, eine 2007 in Berlin gegründete Spendenplattform,zeigt den Aufschwung des Sektors: Siebrauchte sechs Jahre, um zehn Millionen Euro zusammeln. Die nächsten zehn Millionen kamen innerhalbvon 18 Monaten zusammen.Es gibt Plattformen für Mikrokredite an Unternehmerin der Dritten Welt (Crowdlending) und solche,mit deren Hilfe im Freundeskreis gesammelt wird,etwa für einen kranken Verwandten (Friendfunding).Junge Firmen wie Elefunds entwickeln Software, mitder die Einkäufer in Online-Shops nebenbei Gutes tunkönnen. Und neben traditionellen Unternehmenlassen sich über Crowdfunding neuerdings auchGründer mit einem sozialen Anspruch finanzieren –ein Konzept, das in den USA bereits sehr populär ist.Wer ein Crowdfunding-Projekt aufsetzt, musseinige Fallstricke vermeiden. Rechtlich handelt es sich,auch wenn es um eine gute Sache geht, um einenKaufvertrag. Die Beiträge werden steuerlich als Einnahmenbetrachtet, die Belohnungen als Ausgaben. Gewinnmuss gegebenenfalls versteuert werden. AuchUmsatzsteuer kann anfallen. Liegt der Fall kompliziert,wie bei gemeinnützigen Vereinen ohne Zweckbetrieb,kann es sinnvoll sein, wenn an seiner Stelle eine Privatpersondas Projekt startet. Weil das Konzept inRadelnd zum Erfolg:Raphael Draeger (r.) undThomas Schmidt verleihenin München Lastenräderzum Nulltarif. Das Gelddafür haben die beiden perCrowdfunding im Internetgesammelt.der auch Draeger für sein Lastenrad-Projekt warb. Beider Visionbakery in Leipzig versteht sich fast jedesfünfte Vorhaben als sozial. Tendenz steigend, bestätigtGeschäftsführer Stephan Popp: „Gerade diese Projektehaben eine hohe Erfolgsquote.“Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil dieDeutschen – anders als Amerikaner – eher als Nationgelten, die bei Problemen nach dem Staat ruft, anstattselbst die Ärmel hochzukrempeln. Die wachsendeBeliebtheit des „Civic Crowdfunding“ signalisiert eineWende in puncto bürgerschaftliches Engagement,meint Netzexperte Karsten Wenzlaff (siehe Interview).Besonders ausgeprägt ist die digitale Einsatzfreudebei jungen Leuten, die ihre Umwelt und damit auchdie eigene Zukunft gestalten möchten. So wie Draegermit seinen Lastenrädern: „Wir wollen München etwasGutes tun. Der Grundgedanke ist, den Kohlendioxidausstoßdurch Mobilität zu reduzieren.“ Wer seineSprudelkästen per Lastenrad vom Getränkemarkt holt,lässt das Auto stehen. Draegers Vision: In jedem Viertelsteht ein Lasten-Drahtesel. Das über Crowdfundinggesammelte Kapital reicht dafür zwar noch nicht, aberdie nächsten Räder, da ist er zuversichtlich, werdensich mithilfe von Werbepartnern finanzieren. Draeger:„Wir haben viele Ideen für Marketingaktionen.“Für soziale Projekte, die Geld brauchen, bietetCrowdfunding eine neue Qualität: Die Idee lässt sichgut über soziale Medien wie Facebook und Twitterkommunizieren. Auf den Plattformen finden sie vonvornherein ein aufgeschlossenes Publikum. VieleUnterstützer sind stolz auf ihr Engagement, bekennenFotos: F. Norden/Lastenradler; P. Scheller; privat46 4.2015 liberal


INTERVIEWBürgerschaftlichesRevival mit SpaßfaktorInterview mit Karsten Wenzlaff,Koordinator des DeutschenCrowdsourcing Verbandesund Geschäftsführer des BerlinerInstituts für Kommunikationin sozialen Medien (ikosom)Wenn heute jemand Gutes tun möchte, welchen Weg empfehlen Sie:einen Verein gründen? Oder eine Crowdfunding-Aktion starten?Das ist doch kein Gegensatz. Die Schwarmfinanzierung wird oft von Gruppengenutzt, die manchmal lose, manchmal formal organisiert sind. Ohnehinfunktioniert Crowdfunding am besten im Team. Die Rechtsform ist wenigerbedeutend. Wichtig ist, dass es Spaß macht.Deutsche galten, anders als Angelsachsen, bisher als wenig motivierbarfür soziale Eigeninitiativen. Ändert sich das durch Crowdfunding?Ja, das sieht man eindeutig an der Resonanz auf Projekte und die wachsendeZahl von Angeboten.Warum wird das jetzt populär?Viele Formen des Bürgerengagements erfordern einen langfristigen Einsatz. ÜberCrowdfunding lässt sich schnell, punktuell und mit einem geringen Betrag einkonkretes Projekt unterstützen. Die Hürden sind also viel niedriger.Zusätzlich sehen wir historische Zyklen. Mitte des 19. Jahrhunderts war schoneinmal eine Periode, in der Bürger stark in die städtische Infrastruktur eingriffenund sie teilweise auch selbst finanzierten. Dann änderte sich der Zeitgeist undman glaubte stärker an zentrale Steuerung. Im 20. Jahrhundert lief die Gestaltungviel stärker von oben herab, über Verwaltungen und Behörden, die auch glaubten,ein Recht zu haben, über die Gestaltung der Umwelt zu bestimmen.Durch die digitalen Medien schwingt das Pendel zurück?Ja, es gibt ein bürgerschaftliches Revival. Die Bürger möchten mitreden, als aktiveCitoyens wahrgenommen werden. Und sie haben genügend Geld, um Projektevoranzubringen, die sie für relevant halten. Es kann auch für Parteien spannendsein, diese Strömung aufzugreifen und im vorpolitischen Raum mit den Bürgernzu arbeiten, sich von ihnen inspirieren zu lassen. In Portugal haben Kandidaten beiKommunalwahlen sogar Wahlversprechen über Crowdfunding abgesichert.Eignet sich Civic Crowdfunding nicht eher für kleine Projekte?Keineswegs. In Rotterdam entwickelten Bürger die Idee, eine Brücke über einegroße Schnellstraße zu bauen und dadurch zwei räumlich getrennte Viertel zuverbinden. Ein Architekturbüro startete dann eine Crowdfunding-Kampagne.Interessant ist, dass damit auch eine Diskussion über die Frage in Gang kommt:Was soll eine Kommune an Dienstleistungen bereitstellen? Was wollen wir selbstfinanzieren?Deutschland noch ziemlich neu ist, sind zuweilensowohl Steuerberater wie auch Finanzämter mit derMaterie überfordert. Die Plattformbetreiber jedochkennen sich aus und beraten.Scheitern als Lernerfolg verstehenInsbesondere für Vereine sei das Konzept noch gewöhnungsbedürftig,sagt Visionbakery-Chef Popp.Deren größte Sorge ist, dass ein Konzept nicht genügendUnterstützer findet, denn dann wird es in derRegel aufgelöst, und wer etwas eingezahlt hat, bekommtsein Geld zurück. Öffentlich zu scheitern – mitdieser Vorstellung haben viele Projektinitiatoren einProblem. Eine typisch deutsche und ganz falscheHaltung, findet Popp: „Man sollte das als Lernerfolgsehen und überlegen, was man beim nächsten Malverbessern kann.“Stephan Popp:Mit seiner Visionbakeryin Leipzig sieht er beisozialen Projekten„hohe Erfolgsquoten“und setzt auf denAustausch mitder Community.Meist ist das die Kommunikation. Die Netzgemeindeerwartet von einem engagierten Projektbetreiber,dass er bloggt, postet und twittert, was das Zeug hält.„Der Zeitbedarf wird oft unterschätzt“, sagt Popp.Zumal digitale Kommunikation keine Einbahnstraßeist – die Community will sich austauschen. Manbraucht nur einen Blick auf die digitale Pinnwand derLastenradler zu werfen: Jemand schlägt Standorte fürdie Fahrräder vor, ein anderer will sich an der Wartungbeteiligen, ein Dritter fragt, ob, wenn er „mehrere30-Euro-Bierkisten erstehe“, diese auch an verschiedeneAdressen geliefert würden. Und Ernesto teilt mit,dass er schon 246 E-Mails versendet habe, um für dasProjekt zu werben. Die Initiatoren freuten sich undschrieben ihm zurück: „Du bist ein Held.“ ●CHRISTINE MATTAUCH, freiberuflicheWirtschaftsjournalistin, lebt in München. Dortbeeinflusst der Trend zum Bürgerengagementoffenbar auch die Berufswahl. In der S-Bahnhörte sie einen Lehrer über seine Schüler sagen:„Vor zehn Jahren wollten alle in die Medien.Heute wollen alle helfen.“redaktion@libmag.deliberal 4.201547


GESELLSCHAFT JUSTIZJustitia wird weiblichWährend Deutschland über Quoten diskutiert, bilden Richterinnen und Staatsanwältinnen bald dieMehrheit im Gerichtssaal. Kein Wunder: Wegen der guten Vereinbarkeit von Familie und Beruf arbeitenFrauen gerne im Staatsdienst. Die Folge: Der Justiz gehen die Männer aus. // TEXT // GISELA FRIEDRICHSENAngeklagt war der Hausmeister einer Wohnanlage amTegernsee, wo vorwiegend Pensionäre ihren Lebensabendverbrachten. Mit kleinen Gefälligkeiten verdienteer sich etwas Taschengeld: Er erledigte Einkäufe, trugschwere Taschen und half Gehbehinderten. Einer 87 Jahre altenWitwe wusch er die Wäsche, fuhr sie zum Friseur und begleitete siezum Arzt. Stand ein Klinikaufenthalt an, chauffierte er die Frau dorthinund holte sie auch wieder ab. So auch im Oktober 2008, als sie aneiner Darmentzündung litt. Daher brachte sie aus dem Krankenhauseine Tüte voller verkoteter Wäsche mit nach Hause.Am Tag ihrer Rückkehr aus der Klinik stürzte die Frau kopfüberin die halb gefüllte Badewanne und ertrank. Der Hausmeister wurdeangeklagt, da er möglicherweise als Letzter in der Wohnung der altenDame gewesen war. Eine ausschließlich mit Männern besetzte Strafkammerverurteilte ihn zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, weilman als Tatmotiv einen Streit unterstellte, für den es allerdingskeinerlei Anhaltspunkte gab. Viele Fragen blieben offen.Wegen eines Rechtsfehlers hob der Bundesgerichtshof das Urteilauf und verwies die Sache an eine andere Strafkammer. Nun saßenausschließlich Frauen zu Gericht. Die Anklage vertrat zwar ein Staatsanwalt,es hätte aber ebenso gut eine Staatsanwältin sein können.Wer nun gedacht hatte, drei Frauen würden an den Fall mit mehrEinfühlungsvermögen herangehen, sah sich enttäuscht. Ein neuer,engagierter Verteidiger argumentierte, es sei nicht auszuschließen,dass die alte Dame ihre verschmutzte Wäsche in der Badewannehabe vorreinigen wollen, ehe sie sie aus der Hand gab. Dabei sei ihrmöglicherweise schwindlig geworden, wie auch früher häufig, sodasssie das Gleichgewicht verlor und unglücklich in die Wanne stürzte.Aber auch im zweiten Verfahren hielt das Gericht an dem ominösenStreit als Motiv fest, der darin gegipfelt haben soll, dass der Hausmeisterdie alte Dame in die Wanne stieß, um sie zu töten.Die gleichen Gesetze und die gleichen FehlerDieser Fall belegt exemplarisch, dass die Sicht weiblicher Richternicht unbedingt eine andere ist als die von Männern. Beide Geschlechtersind zwar an das gleiche Recht und das gleiche Gesetzgebunden, beiden unterlaufen aber auch Fehler, bisweilen sogar diegleichen. Frauen irren weder seltener noch öfter als Männer.Der Fall wirft auch ein Schlaglicht auf neue Verhältnisse in derJustiz. Denn während ganz Deutschland über die Quote diskutiert,befinden sich Frauen in der Verwaltung und in der Justiz fast unbemerktauf dem Weg, die Mehrheit zu erobern. Die Zahlen sprechen inden meisten Bundesländern für sich: In Nordrhein-Westfalen etwastieg der Anteil von Frauen im höheren Dienst und in der Justiz inden vergangenen fünf Jahren kontinuierlich von 41,2 Prozent auf47, 7 Prozent. In Hamburg liegt ihr Anteil bereits bei mehr als50 Prozent. Jura ist also längst keine Männerdomäne mehr.Die Justiz wird eindeutig weiblicher.Junge ambitionierte Männer mit guten Examensnoten strebennach dem Studium häufig in große Anwaltskanzleien, die mit hohenFotos: ddp images/dapd; Getty Images/Image Source; privat48 4.2015 liberal


Anfangsgehältern Absolventen locken. Sie wollen nicht Amtsrichterin Gelnhausen oder Dippoldiswalde werden – das überlassen sie denFrauen. Haben die Männer es einmal geschafft, bei Hengeler Muelleroder Hogan Lovells unterzukommen, tritt oft Ernüchterung ein.Denn dort besteht die Hauptaufgabe zunächst einmal darin, denGewinn der Kanzlei durch eine möglichst hohe, dem Kunden inRechnung zu stellende Zahl von Arbeitsstunden zu steigern. Weraber regelmäßig erst nach Mitternacht heimkommt, wer um 7 Uhrfrüh schon wieder im Büro zu sein hat, weil von ihm 80 bis 100 Wochenstundenerwartet werden, und wer darüber hinaus kaum einfreies Wochenende hat, der kennt kein Privatleben mehr. DessenChancen stehen auch bei der Partnersuche schlecht. Familie, Kinder,also ein Leben jenseits der Kanzlei – Fehlanzeige.Junge Frauen hingegen entscheiden sich oft anders. Und dies,obwohl ihre Examensnoten im Schnitt besser sind als die der männlichenAbsolventen. Sie scheinen auch klüger mit ihren Ressourcenumzugehen: Sie genießen die richterliche Freiheit und entscheidensich für die Möglichkeit, oft zu Hause arbeiten zu können. Vielen vonihnen kommt es darauf an, Familie und Beruf zu vereinbaren. Mutterschutz,Elternzeit, Rückkehr in den Beruf, Teilzeit, strukturierteArbeitsformen – in der Justiz ist das kein Problem.Mehr Arbeit, mehr Anwesenheit und lange WegeBis 1922 durften Frauen nicht als Anwältinnen tätig sein. Von 1933 anließen die Nazis sie nicht mehr zu. Erst nach dem Zweiten Weltkriegeroberten sie Schritt für Schritt die Justiz. Allerdings: Wer im höherenJustizdienst Karriere machen will, hat auch heute noch Barrieren zuüberwinden. Er – oder sie – muss Präsidialrichter, Pressesprecheroder Referendarausbilder werden, sich ans Ministerium oder an einOberlandesgericht abordnen lassen. Das heißt: mehr Arbeit, mehrAnwesenheit, bisweilen lange Fahrwege. Frauen mit kleinen Kindern,die mit ihrem Arbeitseinsatz haushalten müssen, tun sich da schwer.Und sie stellen die ordentliche Gerichtsbarkeit vor Probleme. WennRichterinnen nur halbtags arbeiten oder Elternzeit nehmen, mussein höherer Personalschlüssel diese Ausfälle, die sonst zulasten derRechtsuchenden gingen, ausgleichen. In Zeiten, in denen vor allemam Personal gespart wird, ist das nicht einfach.Die Wiederaufnahme des Hausmeisterfalls vom Tegernsee betreibtübrigens eine Frau: Diese Rechtsanwältin ist eine furchtloseKämpferin, manche Richter nennen sie aufsässig. In deren Reihenwäre sie fehl am Platz. Gewohnt, die Zähne zusammenzubeißen,bekommt sie Beruf und Familie auf die Reihe. Alles eine Frage derOrganisation und der Leidenschaft für den Beruf. Daran wird sichwohl auch künftig nichts ändern. ●GISELA FRIEDRICHSEN arbeitet seit 1989 alsGerichtsreporterin beim NachrichtenmagazinSpiegel. Als Nachfolgerin von Gerhard Mauzhat sie in dieser Zeit alle großen Strafverfahrenin Deutschland beobachtet.redaktion@libmag.deDer Frauenanteil im höheren Justizdienstnimmt stetig zu. In den kommenden Jahrendürften in nahezu allen Bundesländern mehrFrauen als Männer in Richter- undStaatsanwaltschaft arbeiten. In Hamburgund Berlin ist das schon Realität.Frauenanteil im höheren Justizdienst:Bundesland 2013Hamburg 51,7Berlin 50,2Sachsen-Anhalt 47,0Schleswig-Holstein 47,0Nordrhein-Westfalen 46,1Hessen 45,9Brandenburg 45,5Niedersachsen 44,4Bremen 44,0Thüringen 43,8Sachsen 43,4Bayern 43,1Rheinland-Pfalz 42,0Saarland 41,9Baden-Württemberg 40,9Mecklenburg-Vorpommern 39,9Daten: eigene Erhebung, Zahlen für Bremen aus 2011,für Mecklenburg-Vorpommern aus 2015, Angaben inProzentFrauenanteil an den Neueinstellungenim höheren Justizdienst:Bundesland 2010 2012 2014Sachsen-Anhalt 73,0 67,0 75,0Brandenburg 72,0 50,0 69,2Saarland 76,5 35,7 66,7Sachsen 50,0 54,5 64,5Nordrhein-Westfalen 59,3 54,2 63,1Schleswig-Holstein 71,0 58,0 63,0Hessen 59,9 56,8 62,7Thüringen 37,5 37,5 62,5Bayern 60,5 67,3 60,8Berlin 54,3 47,0 60,6Hamburg 55,2 64,5 57,6Rheinland-Pfalz 51,0 64,0 54,0Baden-Württemberg 46,8 50,0 51,0Mecklenburg-Vorpommern 52,6 20,0 50,0Bremen 46,0 46,0 46,0Daten: eigene Erhebung, aus Niedersachsen lagenkeine Daten vor, Angaben in Prozentliberal 4.201549


GESELLSCHAFT PREDICTIVE POLICINGMIT BIG DATAAUF STREIFEDen Verbrecher schon vor der Tat am Tatort in Empfang nehmen?Traum eines jeden Polizisten. Und inzwischen dank Informationstechnikeine realistische Perspektive, die jedoch den Datenhungerder Sicherheitsbehörden steigern wird. // TEXT // ANDREAS SPIEGELHAUEREin Überwachungsstaat, wie ihn George Orwell in seinemRoman „1984“ beschreibt? Karl Geyer schüttelt den Kopf:„Big Brother? Da will ich nicht hin.“ Und doch sitzt derKriminaldirektor aus Mittelfranken an der Quelle, Kritikersagen: vor der Büchse der Pandora. Gemeint ist damit die computergestützte„vorausschauende Polizeiarbeit“, mithilfe derer die Polizeibald in ganz Bayern auf Einbrecherjagd gehen soll. Der Clou daran:Die Software „precobs“ rechnet für Geyers Team aus, wo und wannder nächste Einbruch passieren wird – zumindest aller Wahrscheinlichkeitnach. Entsprechend der Vorhersage werden gegebenenfallsverstärkt Streifen – in Zivil oder in Uniform – ins Zielgebiet geschickt.Zur reinen Abschreckung oder gar um die Täter auf frischer Tat zuertappen. Für Law-and-Order-Fans klingt das verlockend. Datenschützerfürchten dagegen den PC-gesteuerten Überwachungsstaat.Fakt ist: Seit die Ermittler in Mittelfranken und in München vorgut einem Jahr ein Pilotprojekt für das Predictive Policing aufgelegthaben, wird das Thema in Deutschland immer wichtiger. So will diePolizei im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalennoch in diesem Jahr in Duisburg und in Köln mit der Software einerIBM-Tochter testen, ob sich so Einbrüche vorhersagen lassen. DasLandeskriminalamt Niedersachsen bestätigt, dass in Hannover überdie Methode „voraussehende Polizeiarbeit per Software“ nachgedachtwird. Auch Hamburg und Berlin stehen offenbar längst in denStartlöchern.Die deutschen Ermittler pochen aber unisono darauf, dass siekeinerlei personenbezogene Daten verwenden: „Nur“ Tatort, Tatzeit,Tatwerkzeug und Tathergang gelten als Parameter für die polizeilicheComputerrecherche der Zukunft. Uwe Jacob, LKA-Direktor in NRW,sagte schon Ende des vergangenen Jahres: „Vorratsdatenspeicherungund Datenschutz – das ist für mich kein Widerspruch. Und auchPredictive Policing und Datenschutz nicht.“ Doch wer kontrolliert,dass es nicht zum Missbrauch kommt? Frank Scheulen, Sprecher desLKA Düsseldorf: „Wir haben uns natürlich bei unserem Datenschutzbeauftragtenund dem des Landes NRW rückversichert.“Fotos: INTERFOTO/MNG Collection; R. Schulze/BdK; A. Meissner50 4.2015 liberal


Tom Cruise hat esschon 2002 im Film„Minority Report“vorgemacht: Diedigitale Netzwelt eignetsich auch zurMenschenjagd. NurScience-Fiction? Nein.Weniger spektakulär,aber ganz real will diePolizei in Deutschlandmit algorithmischerDatenanalyseVerhaltensmustererkennen, so Straftatenvorhersagenund verhindern.So richtig greifbar ist das nicht. Kein Wunder, dass immer wiederdas böse Wort von der Rasterfahndung und dem gläsernen Bundesbürgerdie Runde macht. Zumal Predictive Policing aus den USAstammt. Und dort werden seit Jahren die Polizeicomputer eben auchmit personenbezogenen Daten gefüttert – etwa Vorstrafenregister,Nummernschilder und Chats auf Social-Media-Plattformen. Festnahmen,die angeblich auf die Software-Fahndung zurückgehen, werdengerne und groß in den US-Medien gefeiert.Kritiker fürchten, dass diese Big-Data-Welle nach Deutschlandschwappt. LKA-Mann Scheulen schüttelt den Kopf: „Niemand mussAngst haben, dass wir wie ein Staubsauger Daten über Bürger sammeln.“Das NRW-Projekt werde zudem wissenschaftlich begleitet.Grund: Noch kann niemand einen kausalen Zusammenhang zwischender PC-gestützten Fahndung und den immer wieder schwankendenFallzahlen herstellen. Die NRW-Fahnder wollen das ändern.Und sie erweitern das Spektrum der Parameter: So werden nebenden polizeilichen Falldaten auch andere Komponenten in den Computereingespeist: Jahres- und Ferienzeiten, Wetterdaten und Großveranstaltungenin der Stadt. Bekanntlich nutzen gut organisierteEinbrecherbanden beispielsweise die viel zitierte „dunkle Jahreszeit“in den Herbst- und Wintermonaten für ihre Beutezüge.Klingt kriminologisch logisch. Zumal die professionellen Täternicht nur für die Opfer ein Albtraum sind. Sie haben auch schon somancher Polizeibehörde die Statistik verdorben. Der Mix aus hohenFallzahlen und schlechten Aufklärungsquoten stört das Sicherheitsempfindender Deutschen empfindlich. Vor allem weil die Klauprofisoffensichtlich bestens vernetzt sind, sich hervorragend auskennenund jede Form der modernen Kommunikation nutzen, um effizientBeute zu machen. Also ran an den Computer? KriminaldirektorGeyer sagt: „Die Entscheidung trifft letztlich der Mensch. Und dieSoftware ersetzt die polizeiliche Ermittlungsarbeit nicht.“Thomas Schweer sieht die Angst vor dem Missbrauch von BigData gelassen. Vor mehr als zehn Jahren hat der Sozialwissenschaftleraus Oberhausen die Software „precobs“ entwickelt: „Wir warenunserer Zeit voraus“, sagt er heute. Nach dem Test in Bayern stehendie endgültigen Auswertungen zwar noch aus, aber KriminaldirektorGeyer ist optimistisch: „Precobs hat das Potenzial, Polizeiarbeit effektiverzu machen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.“Schweer stimmt dem zu: „In zehn Jahren werden solche Computerprogrammeallgegenwärtig und völlig normal sein.“ Und derMensch? „Technik ist verführerisch. Dass sich die Gesellschaft undauch die Wissenschaft kritisch mit dem Thema auseinandersetzen,ist deshalb zu begrüßen“, warnt Schweer. Und der Software-Entwicklerfordert: „Wir haben datenrechtliche Bestimmungen, und diemüssen eingehalten werden.“ ●ANDREAS SPIEGELHAUER schreibt seit mehr als 15 Jahrenals Redakteur über Polizei- und Justizthemen. Der gebürtigeKölner und Wahl-Wuppertaler wurde vor vielen Jahren selbstOpfer eines Einbruchs. Trotz der schlaflosen Nächte danachsagt er: „Zu viel Überwachung nimmt uns die Freiheit.“redaktion@libmag.de„Die Lösungen sind bislangnicht überzeugend“Als Vorsitzender des BundesDeutscher Kriminalbeamter(BDK) vertritt André Schulz dieInteressen der Kriminalpolizeiin Bund und den Ländern. Ersieht beim Predictive PolicingFallstricke beim Datenschutz.Außerdem fehle bislang derNachweis der Effektivität.Wie steht der BDK zur der neuenMethode?Wir sind grundsätzlich offen für neueTechnologien. Ich habe mir persönlichin der Theorie und Praxis ein Bilddavon gemacht. Offen gesagt: Auchwenn die Idee dahinter richtig ist,finde ich die bisherigen Lösungennicht wirklich überzeugend.Was beurteilt der BDK kritisch?Hauptknackpunkt ist außer der nochzu beweisenden Funktionsfähigkeitder Datenschutz. Die rechtlichenVerhältnisse in Deutschland sind abermit denen des Predictive-Policing-Ansatzes in den USA überhaupt nichtvergleichbar.Welche Chancen sieht der BDK?Zuweilen wird argumentiert, dassvorausschauende Polizeiarbeit perSoftware Personal spart. Ich sehe dasanders. Wenn das richtig funktionierensoll, werden wir sogar deutlichmehr Kriminalbeamte und operativePolizeikräfte benötigen.liberal 4.201551


WOLFGANG GERHARDT// TEXT // WOLFGANG GERHARDTZUM MORALSTANDORT DEUTSCHLANDBlickt man zurück, dann ist Deutschland aus dergrößten Katastrophe seiner Geschichte durch Marktwirtschaftund sozialen Ausgleich, durch europäischeZusammenarbeit und transatlantisches Bündnis,durch technische Höchstleistungsfähigkeit sowie durchQualifizierung und Bildung, das heißt den Willen zum Lernenherausgekommen.Bei der Bündnisfähigkeit hat sich seit einiger Zeit eine Artvon selbstgerechter Moral in Deutschland entwickelt, die sohoch ist und so ohne Empathie für andere Gesellschaften, diesich bedroht fühlen, dass sie nicht mehr ausreichend mit Willenzum Frieden beschrieben werden kann, sondern mehr undmehr auch von ernsthaften Beobachtern als „Wohlstandschauvinismus“bewertet wird.Hierzulande wird vergessen, dass sich die „alte“ BundesrepublikDeutschland bei Mauer und Stacheldraht natürlich aufSicherheitsgarantien der kollektiven Verteidigung verlassen hat.Das galt im Übrigen in besonderer Weise für das „frühere“West-Berlin. Es trägt gewaltige Züge des Egoismus, das Bedrohungsempfindenanderer derart schnöde zu bewerten, wie daskürzlich in einer Umfrage deutlich wurde, nach der eine Mehrheitder Deutschen anderen, selbst NATO-Partnern, im Falle derBedrohung nicht zu Hilfe eilen will.Hätten wir – und solche Bestrebungen gab es ja auch – Polen,Litauen, Estland, Lettland sagen sollen, dass wir sie nicht in derNATO haben wollten, weil Russland sie als Interessensphäreansieht? Nach dem Motto: „Habt euch nicht so, wir wissen besser,wie ihr euch zu fühlen habt“?In vielen Diskussionen trifft man auf eine Art von Selbstgerechtigkeitund Doppelmoral, die einen fassungslos macht. Wirnehmen gerne Sicherheit von anderen, wir haben aber Probleme,sie selbst zu „spenden“. Wir betrachten uns als Zivilmacht,vergessen aber, dass diplomatische Mittel in kritischen Situationenohne Wirkung bleiben, sofern sie nicht im Ernstfall auchdurch militärische Möglichkeiten gestützt werden. Am liebstenmöchten wir uns mit der Bemerkung, man müsste doch etwastun, oder warum geschieht denn nichts, aus allem heraushalten.Eine solche Haltung dürfte für das eigene Seelenheil dereinstaber nicht genügen.Albert Einstein hat den Satz geprägt, dass die Welt nicht nurvon jenen bedroht wird, die böse sind, sondern auch von denen,die das Böse zulassen.Fotos: iStockphoto; FNF52 4.2015 liberal


ZUR MYTHEN<strong>BILDUNG</strong> IN DEUTSCHLANDWir leben gut in einem geliehenen Aufschwung. DieZinsen liegen dank einer etwas lockeren Geldpolitikder EZB bei null, der Euro liegt gegenüber demDollar fast 20 Prozent niedriger als vor einem Jahr,der Ölpreis sogar mehr als 40 Prozent. Die prognostizierteWachstumsrate von knapp zwei Prozent in diesem Jahr ist beisolchen Voraussetzungen aber eher mager. Vor diesem Hintergrundgäbe es einiges zu tun.Wer aber darauf verweist, dass man jetzt die Wachstumskräftestärken müsste, wird erst einmal zum Feind desMenschen erklärt. Es gehe doch zuallererst darum, die zerstörerischenKräfte des Marktes abzufedern, wird einementgegengehalten. Am besten gehe es im Übrigen ohne denMarkt, sagen nicht wenige.Das haben wir anschaulich am Zusammenbruch der DDRsehen können, die ja so erfolgreich ohne Marktwirtschaft gewesensein soll und rhetorisch nur so vor sozialer Gerechtigkeit strotzte.Wer noch immer davon überzeugt ist, dass nicht die Staatswirtschaftder DDR, sondern die Treuhand die Betriebe vernichtethat, dem sei die Lektüre der spannenden Protokolle derSitzungen des Zentralkomitees der SED aus dem Jahre 1989empfohlen. Sie sollten Pflichtlektüre sein, bevor man sich ingeschmäcklerischer Manier über die soziale Marktwirtschafthermacht. Es wäre auch nicht schlecht, wenn sie im Unterrichtverwendet würden. Quellenstudium schadet nicht. Damitendlich einmal die Mythenbildung aufhört. Denn die DDR wareigentlich, wie man dort nachlesen kann, schon seit 1982/1983pleite. Und das aus eigenem Verschulden, wie das selbst Mitgliederdes Zentralkomitees der SED zugeben mussten.Literaturhinweis: Hertle/Stephan (Hrsg.): Das Ende der SED. Die letztenTage des Zentralkomitees. Ch. Links Verlag, 4. Auflage,Berlin 1999ZUR URTEILSFÄHIGKEIT IN DEUTSCHLANDNeulich hat in einer Partei ein Umzug stattgefunden. DieWohngemeinschaft im Erdgeschoss hat die Wohngemeinschaftaus Ökonomieprofessoren, die bisher imersten Stock gewohnt hatte, verdrängt. Auslöser warenNachbarschaftsstreitigkeiten, angeblich.Das alles konnten die bisherigen Beletage-Bewohner nichtso recht erkennen, obwohl sie sich doch für so weitsichtighielten und alles so genau wussten. Sie haben anscheinend alleihre Arbeit unter eher klinischen Bedingungen erledigt, vorimmer gleichem Publikum und nicht im wirklichen politischenLeben.Nun hatten die Parteigründer so einige Steckenpferdreiterangezogen, die alle aus ihren Ställen gekommen sind und rechtaggressiv sowie unbarmherzig rechthaberisch auftreten nachdem Motto „Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht?“. Daist keine liberale Partei auf die Beine gestellt worden, wie dasdem Verfasser dieser Zeilen geradezu jeden Tag geweissagtwurde, da hat sich eine ganz andere Truppe aufgestellt, von dernichts Gutes ausgeht.Wer von Vorurteilen leben will, der scheitert an der Realitätvon Veränderungsprozessen. Wer Verschwörungstheorienglaubt, der bildet keinen bürgerlichen Resonanzboden vonToleranz und von Antworten, sondern von Frust und Ärger.Das Ganze ist eine Art von politischer Apotheke, mit Medikamenten,die keinen Test bestanden haben, ohne Beipackzettelmit Hinweis auf Verfallsdaten und Nebenwirkungen. Hinter demVerkaufstisch steht kein Apotheker, sondern das Ressentimentpersönlich. Damit lässt sich kein Staat machen. ●DR. WOLFGANG GERHARDTist Vorsitzender des Vorstandsder Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit undHerausgeber von liberal.redaktion@libmag.deliberal 4.2015 53


ZITATE DER FREIHEIT„DIE ÄUSSERE FREIHEIT DES GEISTES ISTDER HUMOR, ER IST IMMER SOUVERÄN.“LUDWIG BÖRNEDass ich hier und heute zu Ihnen sprecheoder an Sie schreibe, hat auch und vor allemmit dem Wort zu tun, das ich gleich nennenwerde und das mit meiner frühesten Kindheitzu tun hat. Es ist ein Wort, das in unserer Familieso häufig fiel wie diese Namensworte, die mir, obgleichich nichts mit ihnen anfangen konnte, so vertrautwaren, dass sie es noch heute sind, etwa „Mischnick“,„Thomas Dehler“, „Walter Scheel“, „Erich Mende“ und„Hans-Dietrich Genscher“. Klangworte so vertraut wiedie Worte Weihnachtsbaum, der große DKW, derkleine DKW, Tick, Trick und Track oder Bambi. Unddieses zentrale Wort in unserer Familie war: „Friedrich-Naumann-Stiftung“.Damit hatte mein Vater viel zutun. Er war Landesvorsitzender der FDP in Niederbayernund ein großer Verfechter der Freiheit.Daran will ich gerne anknüpfen. In dem vorangestelltenZitat Ludwig Börnes geht es um die Kraft desHumors. Womit wir blitzschnell bei Charlie Hebdowären. Aber dazu ist in diesem Jahr schon genuggeäußert worden. Eigentlich. Ich will es dennochversuchen. Angenommen, ein Karikaturist dieserZeitschrift hätte eine muslimische Freundin. Sie würdeihn lieben, trotz seines seltsamen Berufes, der all ihreVerwandten und Freunde verschreckt. Bei familiärenFesten ist er zwar dabei, aber niemand mag ihn odersucht das Gespräch mit ihm. Auch er liebt sie, weil sieso reinen Herzens ist, anders als die atheistischenFrauen seines Milieus.Was soll er tun? Welche Entscheidungsfreiheit hater? Bleibt ihm der Humor im Halse stecken?Gedankensprung. Dass alle Menschen gleich sind,ist wohl der zentrale Glaubenssatz aller aufgeklärtenMenschen. Deswegen müssen wir uns um afrikanischeFlüchtlinge genauso kümmern wie um osteuropäische.Jene Millionen, die aus der DDR flüchteten, waren unsgenauso willkommen, wie es die fast Ertrunkenen ausLibyen oder die Schiiten aus dem Jemen sein sollten.Später werden diese Völker in neuen Banlieues rundum unsere Metropolen dahinvegetieren, abgetrennt,chancenlos und aggressiv. Sie werden mit unseremKulturkreis so wenig zu tun haben wie vor der ganzenVölkerwanderung. Und sollten die geretteten Flüchtlingenoch dankbar sein, so bestimmt nicht ihre Kinder.Sie werden von faschistischen, als Religion getarntenIdeologien eingefangen werden und uns hassen.Aber das darf niemand sagen. Das ist ein Tabu.Zurück zum Zeichner und seiner Freundin. Wassoll er tun? Weiter zeichnen? Das ist gefährlich. Überträteer stattdessen das Tabu, folgte der Ausschluss ausdem aufgeklärten Milieu. Dann hätte er schon zweifeindliche Freundeskreise, ihren und seinen. Manwürde ihn als ‚Sarrazin‘ beschimpfen, aber am Lebenlassen. Das wird ihn kaum trösten, denn jeder Menschwill wenigstens ein bisschen gemocht werden. Also?Die Antwort ist ganz einfach. Er sollte das Themaverdrängen. Es ist eine Entscheidung, die ihm vielleichtnicht leichtfällt, aber es wäre immerhin seineeigene. Diese Freiheit bleibt ihm! Ich bin sicher, dassFriedrich Naumann, lebte er heute, sich zu dieserEntscheidung durchgerungen hätte. Ludwig Börnewohl nicht. ●Mehr Freiheitszitate: www.freiheit.org/zitateJoachim Lottmann gilt als Erfinder der deutschenPopliteratur. 2010 nahm er den Wolfgang-Koeppen-Preis entgegen und sorgte zuletzt mit „EndlichKokain“ (2014) und „Happy End“ (2015, Haffmans &Tolkemitt) für Aufsehen. Der Autor schreibt unteranderem für taz, FAS und Welt und lebt in Wien.redaktion@libmag.deFoto: T. Draschan54 4.2015 liberal


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