2015-03_pfarrbrief
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Die Frage des Pilatus<br />
Liebe Leserin, lieber Leser!<br />
Ich beginne heute mit einem paradoxen<br />
Satz: Ein Lügner will, dass seine<br />
Lüge für wahr gehalten wird. Er<br />
weiß, was wahr ist, sagt aber etwas<br />
Anderes und nützt so die Ehrlichkeit<br />
seines Gesprächspartners aus. Er<br />
macht dem anderen etwas vor; er<br />
will, dass der, den er belügt, etwas<br />
Anderes für wahr hält, als es tatsächlich<br />
ist.<br />
LÜGE<br />
Wenn auf einem Produkt eine falsche<br />
Information über die Inhaltsstoffe<br />
oder deren Zusammensetzung aufscheint,<br />
wenn bei einem Lebensmittel<br />
das Ablaufdatum nachträglich „korrigiert“<br />
wurde, wird der Käufer getäuscht,<br />
der auf die Richtigkeit der<br />
Information vertraut. Ich vertraue<br />
meiner Autowerkstätte, aber ich<br />
könnte nicht überprüfen, ob alles,<br />
was auf der Rechnung steht, wirklich<br />
durchgeführt wurde.<br />
Diese Liste von Beispielen könnte<br />
wahrscheinlich beliebig verlängert<br />
werden. Sie zeigt jedenfalls eines: Es<br />
geht bei den alltäglichsten Dingen<br />
Die erste Kreuzwegstation:<br />
„Was ist Wahrheit?“ (Joh. 18,38)<br />
nicht ohne die Wahrheit und den<br />
„Willen zur Wahrheit“, die Ehrlichkeit<br />
oder Wahrhaftigkeit.<br />
Jedes Gespräch (auch der sog. smalltalk)<br />
setzt die Wahrheit voraus. Stellen<br />
Sie sich vor, in einem Gespräch<br />
würde Ihr Gesprächspartner nach<br />
jedem Satz sagen: „Stimmt das?“ Einerseits<br />
käme darin der Wunsch nach<br />
Wahrheit zum Ausdruck, anderseits<br />
ein so grundlegender Zweifel, dass<br />
letztlich ein Gespräch unmöglich<br />
würde. Wir setzen in jedem Gespräch<br />
voraus, dass es „die Wahrheit gibt“.<br />
Die Frage des Pilatus an Jesus „Was<br />
ist Wahrheit?“ (Joh 18,38) bleibt<br />
trotzdem.<br />
HALBWAHRHEIT<br />
Im Alltag erfahren wir die bewusste,<br />
auf Täuschung des anderen angelegte<br />
Falschaussage (die Lüge). Sehr oft<br />
werden Halbwahrheiten gesagt, die<br />
der Andere für die ganze Wahrheit<br />
halten soll. Auch hier kann eine bewusste<br />
Täuschung vorliegen. Werbung<br />
und Propaganda stellen oft<br />
einen Teil der Wirklichkeit dar und<br />
machen darüber<br />
richtige Aussagen,<br />
verschweigen<br />
aber gewisse Informationen,<br />
die<br />
für den Anderen<br />
durchaus wichtig<br />
wären und erst die<br />
ganze Wahrheit<br />
ergäben.<br />
Foto: Sigrid Stadler<br />
Die Frage nach<br />
der Wahrhaftigkeit<br />
(der Ehrlichkeit)<br />
und nach der<br />
Wahrheit berührt<br />
alle Bereiche des<br />
Lebens. Entscheidungen<br />
können<br />
dann verantwortet getroffen werden,<br />
wenn eine wahrheitsgemäße Information<br />
erfolgt ist. Versprechen können<br />
gegeben werden, wenn klar ist, was<br />
genau versprochen wird. Wer ein Versprechen<br />
gibt, muss ehrlich einschätzen<br />
können, ob er das Versprechen<br />
auch halten kann. Vereinbarungen<br />
müssen klar und eindeutig sein und<br />
vom Willen getragen sein, die Vereinbarung<br />
einzuhalten.<br />
IRRTUM<br />
Neben der Lüge, der bewussten Täuschung,<br />
gibt es eine zweite Grundform<br />
der Unwahrheit, den Irrtum.<br />
Der Irrende sagt die Unwahrheit,<br />
aber er ist ehrlich. Irgendetwas beeinträchtigt<br />
seine Wahrheitserkenntnis,<br />
nicht aber den „Willen zur Wahrheit“,<br />
die Wahrhaftigkeit. Weil der irrende<br />
Mensch wahrhaftig ist, wird er seinen<br />
Irrtum korrigieren, sobald dieser ihm<br />
bewusst wird. Würde er am „Irrtum“<br />
festhalten trotz besseren Wissens,<br />
würde er zum Lügner.<br />
In diesem Pfarrbrief werden einige<br />
Aspekte von „Wahrheit“ und „Wahrhaftigkeit“<br />
besprochen. Sicher nicht<br />
alle Fragen, die sich bei diesem<br />
Thema ergeben.<br />
Für Ihren Alltag wünsche ich Ihnen<br />
einen guten Umgang mit der Wahrheit<br />
und gute, von Ehrlichkeit getragene<br />
Kommunikation.<br />
Ihr Pfarrer<br />
3<br />
Dom<strong>pfarrbrief</strong> 3/<strong>2015</strong>