The 1920s in Eastern Europe, Galerie Gmurzynska 1975

Die 20 er Jahre in Osteuropa
The 1920s in Eastem Europe
Ausstellung vom 3. Juni
bis Mitte September
galerie gmurzynska
5 köln 1 · schaafenstraße 67 · tel. 236621 /22

Index Seite Index Page
Anerkennungen
Acknowledgements
Dr. John E. Bowlt
Dr. John E. Bowlt
Die Kunst der Konstruktion 5 The Art of Construction 5
Dr. Szymon Bojko
Dr. Szymon Bojko
Wchutemas 19 Vkhutemas 19
Dr. Miroslav Lamac
Dr. Miroslav Lamac
Mit Kupka zum "anderen Ufer" 27 With Kupka to the "other side of the River" 27
A. Rodschenko A. Rodchenko
Anmerkungen zur Komposition 33 Remarks on Composition 33
Dr. John E. Bowlt
Dr. John E. Bowlt
Erklärung der Abkürzungen 37 Explanations to the Abbreviations 37
Biographien, Bibliographien und Abbildungen von
Biographies, Bibliographiesand Illustrations to
Annenkow 38 Annenkov 38
Archipenko 42 Archipenko 42
Berlewi 46 Berlewi 46
Bortnyik 50 Bortnyik 50
Chagall 56 Chagall 56
Chaschnik 58 Chashnik 58
Csaky 60 Csaky 60
Delaunay 64 Delaunay 64
Exter 68 Exter 68
Huszar 74 Huszar 74
Kadar 76 Kadar 76
Kandinsky 78 Kandinsky 78
Kassak 82 Kassak 82
Kljun 88 Klyun 88
Kluzis 90 Klutsis 90
Kobro 94 Kobro 94
Kupka 96 Kupka 96
Lissitzky 100 Lissitzky 100
Malewitsch 108 Malevieh 108
Mansouroff 112 Mansouroff 112
Matjuschin 116 Matyushin 116
Moholy-Nagy 118 Moholy-Nagy 118
Popowa 124 Popova 124
Puni 126 Puni 126
Rodschenko 128 Rodchenko 128
Rozanowa 132 Rozanova 132
Stazewski 134 Stazewski 134
Stepanowa 138 Stepanova 138
Strzeminski 140 Strzeminski 140
Suetin 144 Suetin 144
Tatlin 146 Tatlin 146
Teige 148 Teige 148
Zadkine 150 Zadkine 150
Verzeichnis der ausgestellten Werke 152 List of exhibited Works 152
3

M. Matjuschin, K. Malewitsch, Krutschenych während der Sommerferien
in Uuisikirkko (Finnland), 1913
M. Matyushin, K. Malevich, Kruchenykh during the vacation
at Uusikirkko (Finland}, 1913
4
A. Rodschenko photographiert von M. Kaufmann, 1929
A. Rodchenko photographed by M. Kaufman, 1929
I. Chaschnik (Chashnik)

Die Kunst der Konstruktion
The Art of Construction
Ein besonderes und eigentümliches Merkmal der modernen
russischen und osteuropäischen Kunst ist ihre beständige
und seltsame Nebeneinanderstellung von Intuition und Verstand,
Unlogik und Logik, dem neoplatonischen Kon zept
eines höheren Ideals und der Vorstellung von Kunst als
einer selbständigen Einheit. Dieser Wechselwirkung begegnen
wir häufig , nicht zuletzt in der Literatur und Malerei der
Symbolisten , die einerseits danach strebten, Kunst als eine
"Quelle intuitiver Erkenntnis " 1 ) zu benutzen, andererseits
ihren "mathematischen Regulator " 2 ) zu entdecken.
in der Periode der Avantgarde war dieses Nebeneinander
von Vorstellungen besonders deutlich zu erkennen bei den
Pionieren des Abstrakten - Kandinsky, Kupka, Malewitsch
und Rozanowa - und, wie ihre vielen Essays und Vorlesungen
bezeugen, strebten sie danach, diese offensichtliche
Disharmonie der Themen aufzulösen . Sergej Bobrow
zum Beispiel, der Dichter und Gelegenheitsmaler, konnte,
als er 1911 über die Werke der russischen "Puristen"
(Gontscharowa, Larionow u. a.) sprach, gleichzeitig Bezug
nehmen auf den "metaphysischen " und den "malerischen
Gehalt ihrer Kunst" 3 ). Nur wenige Jahre später ersann Malewitsch
seine rätselhafte Formel für die neue Kunst als
dem "intuitiven Verstand " 4 ); Rozanowa konnte den intuitiven
Sinn als den Torweg zur "Ära der rein künstlerischen
Ausführung" 5 ) betrachten Kupka versuchte in einer sehr
symbolitischen Weise die "falsche Realität, die gewußt
werden kann " 6 ) zu erreichen, indem er auf wissenschaftliche
Analysen zurückgriff.
Dieser scheinbare Widerspruch der Vorstellungen erfuhr
durch den provokativen Aufsatz des litauischen Künstlers
und Kritikers Wladimir Markow (Waldemar Matveis) : Die
Prinzipien der Neuen Kunst (1912) 7 ) eine bündige Darstellung
und Aufhellung. Markow erweiterte in seinem Text
die obigen Konzepte, indem er sie als die beiden grundlegenden,
aber sich entgegenlaufenden Prinzipien entsprechend
den Kunstformen, das heißt " nicht-konstruktiv" (als
Vereinigung von Intuition und Zufälligkeit) und "konstruktiv"
(als Vereinigung von Rationalität und formaler Disziplin)
identifizierte. Während er die Bevorzugung des nicht-konstruktiven
Elements erkennen läßt, das er als die ästhetische
Grundlage der östlichen und primitiven Kunst ansah, war
Markow dennoch zutiefst i.nteressiert an der strukturellen
Organisation und Anordnung des Werkes selbst - etwas,
das ihn dazu veranlaßte, detaillierte Untersuchungen anzustellen
über die der Kunst innewohnenden Qualitäten, als
da sind Farbe, Gewicht und Gewebe. Dabei ist es interessant
festzustellen, daß einige Jahre später, in ganz anderem
A distinctive and original feature of modern Russian and
East European art is its constant and curious juxtaposition
of intuition and reason, illogicality and logicality, the Neo­
Piatonic concept of a higher ideal and the idea of art as a
self-sufficient unity. We encounter this interaction numerous
times, not least in the Iiterature and painting of the Symbolists
who aspired to use art as a "source of intuitive
cognition" 1 ) on the one hand and to discover its "mathematical
regulator " 2 ) on the other. During the avant-garde
period this counterpoint of ideas was especially identifiable
with the pioneers of abstraction - Kandinsky, Kupka, Malevich
and Rozanova - and, as their many essays and
lectures testify, they strove to resolve this apparent disharmony
of themes. For example, the poet and occasional
painter, Sergei Bobrov, speaking in 1911 on the new works
of the Russian "Purists" (Goncharova, Larionov et al.) could
refer simultaneously to the "metaphysical" and to the
"painterly" essence of their art 3 ). A few years later Malevieh
devised his enigmatic but typical formula for the new
art as "intuitive reason" 4 ); Rozanova could envisage the
intuitive sense as the gateway to the "era of purely artistic
achievement " 5 ); in a very Symbolist way Kupka attempted
to transcend the "false reality that can be seen" and attain
the "true reality that can be known" 6 ) by resorting to scientific
analyses.
This ostensible contradiction of ideas received succinct
treatment and illumination in a provocative article by the
Lithuanian artist and critic Vladimir Markov (Waldemar
Matveis): The Principles of the New Art (1912 7 ). in his
text, Markov expanded the above concepts, identifying
them as the two basic but opposing principles germane to
the forms of art, i. e. "non-constructiveness" (embodying
intuition and fortuity) and "constructiveness" (embodying
rationality and formal discipline). While indicating his preference
for the non-constructive element which he saw as
the aesthetic basis of Eastern and primitive art, Markov
was, nevertheless, profoundly interested in the structural
organization and arrangement of the work itself - something
which prompted him to make detailed examinations
of the intrinsic qualities of art such as colour, weight and
texture. lt is of interest to note that several years later, in
very different contexts, both the artist Berlewi and the
Formalist critic Punin made positive references to Markov's
interpretation of texture as the "noise" emitted from the
surface of the painting 8 ). But what we find in Markov, ultimately,
is not necessarily an exclusive predilection for the
non-constructive or the constructive element, but rather a
5

6
Zusammenhang, der Künstler Berlewi und der formalistische
Kritiker Punin positive Hinweise auf Markows Interpretation
des Gewebes als des "Tones" machten, den die Oberfläche
des Gemäldes von sich gibt 8 ) . Aber was wir letztlich bei
Markow finden, ist nicht notwendig eine ausschließliche
Vorliebe für das nicht-konstruktive oder das konstruktive
Element, sondern vielmehr der Wunsch die beiden zu integrieren.
Diese Integration fand dann auch tatsächlich statt,
sei es nun in den Improvisationen von Kandinsky, in dem
luftigen Suprematismus von Malewitsch oder den architektonischen
Phantasien von Jakob Tschernikow. Insgesamt
betrachtet wurde die gleichgroße Lebensfähigkeit dieser
zwei Prinzipien ganz einfach bewiesen durch die Koexistenz
von Expressionismus/Surrealismus und Konstruktivismus
überall in Rußland und Osteuropa der Zwanziger Jahre.
Während es keinen Zweifel geben kann über die ästhetische
Vorrangigkeit des Konstruktivismus über seine mehr subjektiven
Gegenstücke, kann doch der eine nicht ohne die
anderen verstanden werden, besonders im Zusammenhang
mit Rußland und Osteuropa. Auf alle Fälle müssen wir jene
konventionellen nationalen Kategorien, die gewissen künstlerischen
Trends auferlegt wurden ("französischer" Kubismus,
"deutscher" Expressionismus, "italienischer" Futurismus,
russischer" Konstruktivismus), noch einmal prüfen
und ein einheitlicheres Bild der europäischen Tradition
entwerfen. Dies würde zum Beispiel eine lange Diskussion
der kubistischen Schule in Prag, der dadaistischen und konstruktivistischen
Bewegungen in Warschau und Budapest
und, vor allem der expressionistischen und surrealistischen
Richtungen in Rußland rechtfertigen. Wir haben uns geweigert,
historische Einteilungen aufheben zu wollen, was
zu so absurden Feststellungen geführt hat wie "L'art polonais
moderne s'est forme sans aucun doute sous l'influence
de I 'art franc;:ais" 9 ) oder "diese russische Avantgarde
[kann] abgetan [werden] als zweitrangig und Schmarotzerhaft"
10 ). Vielleicht sollten wir für einen Moment unsere
Zweifel vergessen und die Frage des russischen Expressionismus
und Surrealismus berühren.
Eine detaillierte Analyse solcher Tendenzen in der russischen
und osteuropäischen Kunst und deren Wechselwirkung
auf den Konstruktivismus würde den Rahmen dieses
Essays sprengen, aber ihr Vorhandensein muß zumindest
erkannt werden . Den Expressionismus zu definieren ist
eine schwierige Aufgabe da er nicht, wie zum Beispiel der
italienische Futurismus, eine bewußt organisierte oder gar
kollektive Bewegung war und es nie eine Deklaration der
expressionistischen Zielsetzung gegeben hat, zumindest
nicht innerhalb der visuellen Künste. So muß es genügen
zu sagen, daß der Expressionismus überall in Europa
das symbolistische Erbe wesentlich in Anspruch nahm
und daß er viel von seinem geistigen Gehalt der Umwertung
der Werte verdankt, wie sie Nietzsche, Dostojewski
und Strindberg bewirkt haben. ln bezug auf die visuellen
und literarischen Künste konzentrieren sich die Expressiodesire
to integrate them. On a practicallevel this integration
certainly did occur whether in the Improvisations and
Compositions of Kandinsky, the Aerial Suprematism of
Malevieh or the architectural fantasies of Yakov Chernikhov.
ln wider terms, the equal viability of the two principles of
non-constructiveness and constructiveness was proven
simply by the co-existence of Exp ressionism/ Surrealism
and Constructivism throughout Russia and East Europe
during the 1920s.
While there can be no doubt as to the aesthetic superiority
of Constructivism over its more subjective counterparts, the
one cannot be understood without the other especially in
the context of Russia and East Europe. ln any case, it is
incumbent upon us to re-examine those conventional national
categories imposed on certain artistic trends
("French" Cubism, "German" Exp ressionism, "ltalian" Futurism
, "Russian" Constructivism) and to present a more
synthetic picture of the European tradition. This would
justify, for example, a long discussion of the Cubist school
in Prague, of the Dadaist and Constructivist movements in
Warsaw and Budapest and, above all, of the Expressionist
and Surrealist trends in Russia. lt has been our refusal to
dispense with historical compartments which has brought
forth such absurd statements as "L'art polonais moderne
s'est forme sans aucun doute sous l'influence de l'art
franc;:ais" 9 ) or "this Russian avant-garde [can be] dismissed
as second-raters and hangerson" 10 ) . Perhaps we
might suspend our disbelief for a moment and touch on
the question of Russian Expressionism and Surrealism.
A detailed analysis of such tendencies in Russian and East
European art and their interaction with Constructivism lies
outside the scope of this essay, but their presence must,
at least, be recognized . To define Expressionism is a difficult
task since it was not a consciously organized or even
collective movement as was, for example, ltalian Futurism,
and an Express ionist declaration of intent was never issued,
at least within the context of the visual arts. Suffice it to say
that Expressionism throughout Europe drew substantially
on the Symbolist heritage and that it owed much of its
spiritual essence to the transvaluation of values wrought
by Nietzsche, Dostoevsky and Strindberg. ln visual and
literary terms the Expressionists came to concentrate on
the problern of emotional relationships at their highest
points of tension and distorted concrete reality in order to
express a sensitory or psychological content. As Hermann
Bahr affirmed in 1916: "Without destroying the overall composition,
Expressionism intensifies and exaggerates specific
features in the individual qualities ofthat object in nature
which we are experiencing" 11 ). Although this kind of statement
contributed to a valid although general elucidation of
Exp ress ionism and was favoured by many German observers
at that time, it is important to reali ze that Russian Symbolist
critics had been employing a similar terminology
several years before. Andrei Bely, for example, writing in

nisten auf das Problem der emotionalen Beziehungen auf
den Höhepunkten ihrer Spannung, und verzerrten die kon ­
krete Wirklichkeit, um einen sensuellEm oder psychologischen
Inhalt ausuzdrücken. Wie Hermann Bahr 1916
versicherte: "Ohne die Gesamtkomposition zerstören zu
wollen intensiviert und übertreibt der Expressionismus spezifische
Züge innerhalb der individuellen Qualitäten eines
natürlichen Objekts, das wir gerade erfahren" 11 ). Obgleich
diese Art von Feststellung zu einer gültigen, wenn auch
allgemeinen 1\ufklärung über den Expressionismus beitrug
und von vielen deutschen Beobachtern der damaligen
Zeit bevorzugt wurde, ist es doch wichtig zu erkennen, daß
russische symbolistische Kritiker die gleiche Terminologie
schon einige Jahre vorher angewandt hatten. Andrej Belyj
zum Beispiel hatte schon 1902 eine sehr ähnliche Auffassung
über die Malerei geäußert: "Es ist nicht das Gemälde
selbst, das in den Vordergrund treten soll, sondern die
Wahrhaftigkeit der Gefühle und Stimmungen, die erlebt
werden ... " 12 . Wenn auch der Begriff Expressionismus
erst um 1920 herum zum Allgemeingut in Rußland wurde,
und zwar als Beschreibung für eine spezifische russische
Kunstbewegung, waren doch seine hervorspringenden
Merkmale fraglos schon in der russischen Malerei und
Theorie nach 1910 gegenwärtig und in den Werken so
wichtiger Künstler wie Jelena Guro (der Frau von Matjuschin),
Jawlensky, Kandinsky, N. Kulbin und Matjuschin
erkennbar.
Ein zentrales, einheimisches Phänomen, das die Entwicklung
einer russischen expressionistischen Tendenz in der
Malerei anregte, war, wenn auch nur kurzfristig, die dynamische
Bewegung des Neoprimitivismus, die von David
Burljuk, Gontscharowa, Larionow, Malewitsch u. a. nach
1907 angeführt wurde. Wie die Fauves in Frankreich, so
fühlten auch die russischen Neoprimitivisten, daß die
konventionelle, akademische Kunst geschwächt und überholt
war und wandten sich folgerichtig " nicht-konstruktiven"
Kunstformen zu, wie zum Beispiel den Ikonen, den
Lubok und den Ladenaushängeschildern, weil sie sich
von ihnen als den reineren, mehr spontanen Medien Inspiration
erhofften. Mit der Entdeckung lebhafter Farben,
vorsätzlicher, aber funktionaler Verzerrung, umgekehrter
Perspektive und einflächiger Komposition in der naiven
Kunst gelang es den Neoprimitivisten "aus einem Alptraum
des Materialismus [zu erwachen]" 13 ), um Kandinsky
zu zitieren. Es ist deshalb bezeichnend, daß 1909 Kandinsky
und Jawlensky ein spezifisches Interesse an primitiver
bayrischer Glasmalerei bezeigten - denn damit erhielten
sie das Interesse der russischen Neoprimitivisten an speziellen
Formen bäuerlicher Kunst aufrecht. Wenn wir an
den deutschen Vorkriegsexpressionismus denken, fallen
uns prompt Namen wie Jawlensky, Kandinsky und Werefkin
ein. Wenn wir dann die Zusammensetzung der beiden
wichtigen Protagonisten des deutschen Expressionismus,
1902, had voiced a very similar conception of painting:
"lt is not the painting itself which should come to the
foreground, but the veracity of the emotions and moods
being experienced .. ." 12 ). Even though the term Expressionism
did not become common currency in Russia
until ca. 1920, i.e. as the description of a specifically
Russian art movement, its salient features were unquestionably
present in Russian painting and theory after 1910
and were identifiable with the work of such important
figures as Elena Guro (wife of Matyushin), Jawlensky,
Kandinsky, Nikolai Kulbin and Matyushin.
A central indigenous phenomenon which stimulated the development
of a Russian Expressionist tendency in painting
was the dynamic, although short-lived movement of
Neo-primitivism led by David Burliuk, Goncharova, Larionov,
Malevieh et al after 1907. Like the Fauves in
France, the Russian Neo-primitivists feit that conventional,
academic and Realist art was enervated and outmoded
and, consequently, they turned for inspiration to "nonconstructive"
forms of art such as the icon, the lubok
and the shop-signboard regarding them as purer, more
spontaneaus media. in their discovery of vivid colours,
deliberate, but functional distortion, inverted perspective
and monoplanar composition in naive art, the Neoprimitivists
were, to paraphrase Kandinsky, "awakening
from a nightmare of materialism" 13 ). lt is significant,
therefore, that in 1909 Kandinsky and Jawlensky should
have expressed a specific interest in primitive Bavarian
glass painting - for in this they were maintaining the
Russian Neo-primitivist concern with specific forms of
peasant art. When we think of German Expressionism
before the Great War, names such as Jawlensky, Kandinsky
and Werefkin come to mind very readily. Furthermore,
when we come to examine the composition of the
two important protagonists of German Expressionism,
namely Die Neue Künstlervereinigung and Der Blaue
Reiter, we find that Russian names form over a third of
the contributors. Moreover, these exhibition societies did
not include names such as Chagall, Kupka, Segall and
Soutine, all of whom are often relegated to Central
European Expressionism, but all of whom were of Slavic
extraction. This preponderance of Russian and East
European artists within the framework of German Expressionism
allows us to raise the question as to whether
Expressionism really was a Teutonic or as Nordic as
historians would have us believe.
Expressionism as it emerged through German exhibitions
before and after the Great War was concerned above all
with transmitting highly personal, emotional moments of
climax. in the same way as Van Gogh, in a still life, for
example, had endeavoured to express the essence of
his conception of a flower or a vase, so members of Der
Blaue Reiter or Der Sturm strove to communicate the
"inner necessity" 14 ) of reality through their own emotional
7

8
nämlich Die Neue Künstlervereinigung und Der Blaue Reiter
untersuchen, finden wir, daß russische Namen über ein
Drittel der Mitarbeiter ausmachen. Überdies enthielten diese
Ausstellungsgemeinschaften keine Namen wie Chagall,
Kupka, Lasar, Segall und Soutine, die zwar oft alle dem
mitteleuropäischen Expressionismus zugerechnet wurden,
dabei aber slavischer Herkunft waren. Dieses Übergewicht
von russischen und osteuropäischen Künstlern im Rahmen
des deutschen Expressionismus erlaubt uns die Frage
aufzuwerfen , ob der Expressionismus wirklich so teutonischen
oder nordischen Ursprungs war wie die Historiker
uns glauben machen wollen.
Der Expressionismus, so wie er sich aus den deutschen
Ausstellungen vor dem zweiten Weltkrieg ergab, war in der
Hauptsache daran interessiert, zutiefst persönliche, emotionale
Momente der Steigerung zu übermitteln. Genau wie
Van Gogh in einem Stilleben zum Beispiel versucht hatte,
das Wesen seiner Auffassung von einer Blume oder einer
Vase auszudrücken, so mühten sich die Mitglieder von
Der Blaue Reiter oder Der Sturm die "innere Notwendigkeit''
14 ) der Realität durch ihre eigene emotionale Brechung
von Farbe und Linie mitzuteilen. Es ist genau diese
Suche nach dem geistigen Inhalt oder, wie Archipenko
einmal sagte, "das Abwesende in Wirklichkeit zu verwan ­
deln" 15 ), was wir ganz unerwartet häufig in der russischen
und osteuropäischen Kunst der Zwanziger Jahre finden
können . Um das Jahr 1920 begann die großartige Rhetorik
der revolutionären Periode ihre Wirkung zu verlieren
und viele Künstler, besonders junge Studenten und Akademiker,
wandten sich lyrischen, subjektiven Kunstformen zu
und nicht mehr dem entstehenden industriellen Konstruktivismus
oder dem didaktischen Realismus. Es geschah
tatsächlich in diesem Jahr, daß Boris Zemenkow, der Führer
der Moskauer ,Nothingisten' (siehe unten) Künstler
dazu anregte, den "Querpunkt zwischen Physikalischem
und Astralem" 16 ) zu erreichen , und keine " konstruktive"
Weltschau zu unterstützen. Viele Künstler folgten diesem
Ruf, unter ihnen so gefeierte Namen wie Deineka, Gontscharow
und Pimenow. Darüber hinaus bildeten sie durch
ihre Behandlung beliebter Themen des Expressionismus -
Schmerz, Krankheit, Tod, Erotik - eine lebensfähige Alternative
zu den formalistischen und konstruktivistischen Bewegungen,
obgleich der Radikalismus der letzteren dazu
neigte, die Errungenschaften der anderen zu verdunkeln.
Der Hinweis auf die gerade genannten Namen und auf die
"nicht-konstruktive" Tendenz, die diese förderten, führt
uns in unmittelbarer Linie zur Frage des Dadaismus und
Surrealismus im osteuropäischen Raum. Obgleich dies
keine überraschende Verbindung ist (wir alle kennen die
dadaistischen Experimente von Kassak, Moholy-Nagy, Tei ­
ge und natürlich von Tzara selbst), so bilden doch die
Gegenwart des Dadaismus und Surrealismus unmittelbar
UNIZM
W M ALARSTWIE
WLADYSLAW
STRZEMINSKI
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W. Strze minski, " Uni sm in der Malerei " , Praese ns Library,
Warschau, 1928
W. Strzeminski, " Uni sm in painting", Praesens Library" , Warsaw, 1924

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W. Strzeminski, Typographie für das Magazin "Biok", Nr. 2, Seite 7,
Warschau, 1924
W. Strzeminski, typographical design for the magazine "Blok",
No. 2, p. 7, Warsaw, 1924
REVUE INTERI\'ATIONAlE D'AVANGARDE
Umschlag des Magazins "Biok", Nr. 6- 7, Warschau, 1924
Cover of the magazine "Biok", No. 6- 7, Warsaw, 1924
dem Konstruktivismus gegenüber ein ungewöhnliches und
stimulierendes Forschungsfeld.
Während der Dadaismus, das heißt der Sprößling der Dada-Gruppe,
die Tzara und Arp 1916 in Zürich gründeten,
sehr schnell in Budapest, Warschau und Prag bekannt
wurden, erreichte er Rußland oder zumindest Georgien
nicht vor 1920- falls wir den Erirnerungen des Schriftstellers
llja Zdanewitsch 17 ) glauben können. in Zürich entstand
der Dadaismus natürlich aus Protest gegen alle sozialen
und politischen Fronten und .. als Manifestation von
beinahe wahnsinniger Verzweifelung" 18 ) hätte er auf die
russischen und polnischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts
wirken können. Einige Künstler aus Ungarn, Polen
und der Tschechoslowakei spielten in der Dada-Bewegung
eine Schlüsselrolle: Berlewi, Kassak, Moholy-Nagy
und Teige zum Beispiel wandten bald die Prinzipien der
Verrückung, der absurden Nebeneinanderstellung und der
Superobjektivität für Photomontagen und typographische
Gestaltung mit höchst erregenden Ergebnissen an, und das
Journal MA (Budapest/Wien 1915- 1926) brachte einige
der packendsten Beispiele für dadaistische verbale und
visuelle Sprache. Andererseits spielten russische Künstler
und Intellektuelle in den dadaistischen Bemühungen als
solche keine Rolle, und das obwohl Zürich 1916 voll von
zeitweiligen und permanenten Emigranten war (Lenin eingeschlossen)
. Dennoch hatten die russischen Kubo-Futu-
While Dadaism, i.e. the outgrowth of the Dada group
founded in Zürich by Tzara and Arp in 1916 became known
very quickly in Budapest, Warsaw and Prague, it did not
reach Russia or at least Georgia until 1920 - if we can
believe the reminiscences of the writer llya Zdanevich 17 ).
in Zürich, of course, Dadaism arose as a protest against
all social and political fronts, and "as a manifestation of
almost lunatic despair" 18 ), it might have appealed to the
nineteenth century Russian and Polish intelligentsia. Some
artists from Hungary, Poland and Czechoslovakia played a
key role in the Dada movement: Berlewi, Kassak, Moholy­
Nagy and Teige, for example, were soon applying the
principles of displacement, absurd juxtaposition and superobjectivity
to photomantage and typographical design with
most exciting results, and the journal MA (Budapest/
Vienna, 1916- 26) carried some of the most arresting
examples of Dada verbal and visual language. On the
other hand, Russian artists and intellectuals played no
role in the Dadaist endeavour as such even though Zürich
in 1916 was full of temporary and permanent emigres
(including Lenin) . Nevertheless, the Russian Cubo-futurists
at home, in the persans of David Burliuk, Malevich, Mayakovsky
and Puni, had already anticipated some of the
Dadaists' crazy antics by resorting to outlandish dress or
by superimposing illogical objects such as a wooden spoon
(Malevich) or a hammer (Puni) on the surface of the
9

10
risten daheim durch David Burljuk, Malewitsch, Majakowsky
und Puni schon einige der verrückten dadaistischen
Possen vorweggenommen. So hatten sie zum Beispiel ihre
Zuflucht zu ausländischer Kleidung genommen oder unlogische
Objekte wie einen Holzlöffel (Malewitsch) oder
einen Hammer (Puni) auf der Oberfläche der Leinwand
befestigt. Aber solche übertriebenen Gesten waren eher
belebt von dem Bestreben zu schaffen als vom Wunsch
zu zerstören, eher vom Streben zu bestätigen als alle
Normen zu leugnen. Tatsächlich muß die Beschuldigung,
daß sie hätten zerstören wollen , die so oft gegen die
russischen Kuba-Futuristen gerichtet wurde, ernsthaft näher
erläutert werden. Trotz solcher Proklamationen wie
"Werft Puschkin, Dostojewski, Tolstoi etc. von Bord des
Schiffes der Moderne" 19 ) waren die Russen im Grunde
ihrer Herzen zu mystisch, zu zurückgezogen, als daß sie
eine Philosophie der permanenten und mechanischen Zerstörung
aufgegriffen hätten.
Es gab zwar keine wirksame und zusammenhängende
Dada-Bewegung in Rußland, dennoch aber waren einige
der dadaistischen und auch surrealistischen Merkmale der
einheimischen russischen Kultur eigentümlich. Für die
russischen Kuba-Futuristen waren die grundlegenden Konzepte
von Spontanität, Automatismus und Intuition von lebenswichtiger
Bedeutung und trugen natürlich zu dem
zaum (übersinn) oder allogischen Werk von Krutschenych,
Malewitsch, Rozanowa u. a. einerseits und zu der "Bergsonschen"
Kunst solch subjektiver Maler wie Filonow,
Kandinsky und Matjuschin andererseits bei. ln beiden
Fällen kann diese schwierige Entwicklung zurückverfolgt
werden bis zu dem Interesse der russischen Symbolisten
an Steiners "Bewußtsein durch lntuition" 20 ) - einer Lehre,
die die philosophische Atmosphäre in Mittel- und Osteuropa
in den späten 1900er Jahren belastet hatte und von
der so verschiedene Künstler wie Archipenko und Kandinsky,
Kupka und Malewitsch wesentlich beeinflußt waren.
Die Beschwörung einer künstlerischen Vision, unbeschwert
von den Einschränkungen einer konkreten, vorbestimmten
Regel konnte, bezeichnenderweise, Larionow schon im
Jahre 1914 veranlassen von einer "super-realen" oder
"surrealen" Kunst zu sprechen und somit Apollinairs Gebrauch
dieses Begriffes im Jahre 1917 21 vorwegzunehmen.
Die Vorstellung von einerneuen "alogischen" Regel wurde
von den Moskauer ,Nothingisten' unter der Anführung von
Zemenkow 1920 aufgegriffen und erlaubte ihnen, solche
Behauptungen wie "Lest nichts, schreibt nichst, veröffentlicht
nichts" 22 herauszubringen, die so stark an Tzaras
frühere Erklärung "Keine Blicke mehr! Keine Wörter mehr!
Keine Manifeste mehr! Hört auf zu sehen! Hört auf zu sprechen!"
23 ) erinnerte. Wenn wir ferner gewisse Behauptungen
von Breton aus dem surrealistischen Manifest von
1924 untersuchen, finden wir erstaunliche Parallelen in den
Vorstellungen : Bretons Umschreibung von Freud im Hincanvas.
But such exaggerated gestures were stimulated
by the sense to create, rather than to destroy, to affirm,
rather than to deny all norms. lndeed, the charge of
destruction levelled so often at the Russian Cubo-futurists
has to be seriously qualified. Despite such proclamations
as "Throw Pushkin, Dostoevsky, Tolstoy, etc. overboard
from the Ship of Modernity" 19 ) the Russians were at heart
too mystical, too withdrawn to embrace a philosophy of
persistent and mechanical destruction.
Although an effective and cohesive Dada movement did
not exist in Russia, certain of the Dadaist and, in turn,
Surrealist features were peculiar to indigenous Russian
culture. For the Russian Cubo-futurists the basic concepts
of spontaneity, automatism and intuition were of vital
importance and, of course, contributed to the zaum
(transrational) or alogical work of Kruchenykh, Malevich,
Rozanova et al. on the one hand and to the "Bergsonian"
art of such subjective painters as Filonov, Kandinsky and
Matyushin on the other. ln both cases one can trace this
intricate development back to the Russian Symbolists'
concern with Steiner's "consciousness through intuition" 20 )
- a doctrine which had charged the philosophical
atmosphere of Central and Eastern Europe in the late
1900s and on which such diverse artists as Archipenko
and Kandinsky, Kupka and Malevieh had drawn substantially.
The evocation of an artistic vision uneluttered by
the restrictions of a concrete, predetermined order could,
very significantly, urge Larionov to speak of a "superreal"
or "surreal" art as early as 1914, hence anticipating
Apollinaire's use of the term in 1917 21 ). The idea of a new,
"illogical "order was taken up by the Moscow Nothingists
led by Zemenkov in 1920, allowing them to issue such
statements as "Read nothing, write nothing, publish
nothing" 22 ) so reminiscent of Tzara's earlier declaration
"No More Looks' No More Words! No More Manifestoes.
Stop looking! Stop talking" 23 )! Furthermore, if we examine
certain of Breton's statements from the Surrealist manifesto
of 1924 we find striking parallels of ideas: Breton's
paraphrase of Freud to the effect that experience "revolves
in a cage from which it becomes more and more difficult
to release it" seemed to echo Matyushin's reference to
the "annoying bars of a cage in which the human spirit
is imprisoned" 24 ) made a decade before; in addition,
Breton's assertion that "childhood is nearest to the
'true' life" and that the "world must be replaced by the
world of apparition" was repeating what the Russian
Symbolists and Neo-primitivists had been saying many
years before. Above all, Breton's conception of Surrealism
as a total world-view and hence as a condition relevant
to all problems of life recalled the Russian Symbolists'
concern with Symbolism as a universal, theurgic force
capable of transcending mere "form" and of altering existing
ideological and social structures.
ln the light of the above, it is not surprising to discover

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27
Umschl ag und Seite 27 des Kunstmagazins "Abstraction Creation
Art Non Fi guratif", Nr. 2, Paris, 1933
Cover and page 27 of the magazine "Abstraction Creation Art Non
Figuratif", No. 2, Paris, 1933
blick darauf, daß sich Erfahrung .. in einem Käfig dreht, aus
dem es immer schwieriger wird sie zu entlassen " schien
ein Echo auf Matjuschins Anspielung auf die .,ärgerlichen
Käfigstangen" zu sei n .. in denen der menschliche Geist
gefangen ist" 24 , die er ein Jahrzehnt zuvor gemacht hatte;
ferner noch wiederholte Bretons Versi cherung, daß die
.. Kindheit dem ,wahren ' Leben am nächsten " kommt und
daß .. die Weit durch eine Weit der Erscheinungen ersetzt"
werden muß das, was die die russischen Symbolisten und
Neoprimitivisten schon viele Jahre vorher gesagt hatten.
Vor allem erinnerte Bretons Auffassung des Surrealismus
als einer totalen Weltschau und folglich einer Beschaffenheit,
die relevant für alle Probleme des Lebens sei, an das
Interesse der russischen Symbolisten am Symbolismus als
einer universellen, heilsamen Kraft, die in der Lage ist, die
bloße ,Form' zu transzendieren und schon bestehende
ideologische und soziale Strukturen zu verändern.
that side by side with industrial Constructivism in Russia
in the 1920s, there also exi sted very pronounced Surrealist
(and Expressionist) tendencies, particularly within the Moscow
groups Makovets and OST. Many younger artists who
had attented the restructured art schools (i .e. the Vkhutemas)
25 ) such as Barto, Luchishkin and Tyshler reacted
consciously against the materialist and rationalist interpretation
of real ity and pursued surrealistic visions. Their
interests were paralleled by a renewed concern with Freud
and Freudian analysis in Russia and by an upsurge of
interest in children 's art, culminating in the international
exhibition of ch ildren's art in Moscow in 1934. ln the case
of Expressionism matters were helped by the renewal of
contact with Germany particularly after 1921: indeed, the
close association between Russia and Berlin at this time
deserves wider reccignition. The momentaus presence in
Berlin of Russian artists and writers such as Altman, Bely,
11

12
Im Lichte des oben Gesagten ist es nicht verwunderlich,
wenn man entdeckt, daß neben dem industriellen Konstruktivismus
im Rußland der Zwanziger Jahre auch ausgesprochen
surrealistische (und expressionistische) Tendenzen,
speziell innerhalb der Moskauer Gruppen Makovets und
OST bestanden. Viele jüngere Künstler, die an der wiedererbauten
Kunstschule (d. h. der Wchutemas) 25 ) gewesen
waren, wie Barto, Luchinschkin und Tyschler, wirkten bewußt
der materialistischen und nationalistischen Interpretation
der Realität entgegen und verfolgten surrealistische
Visionen. Ihre Bestrebungen liefen parallel zu einem erneuerten
Interesse an Freud und Freudscher Analyse in
Rußland und einem Aufschwung des Interesses an kindlicher
Kunst, der in einer internationalen Ausstellung von
kindlicher Kunst 1934 in Moskau seinen Höhepunkt fand.
Dem Expressionismus wurde durch eine Erneuerung der
Kontakte mit Deutschland, speziell nach 1921 geholfen :
tatsächlich verdient die enge Verbindung zwischen Rußland
und Berlin zu dieser Zeit größere Anerkennung. Die bedeutsame
Gegenwart von russischen Künstlern und Schriftstellern
in Berlin, wie Altman, Belyj, Lissitzky, Puni und
Schklowsky, die Veröffentlichung von Ehrenburgs und Lissitzkys
radikalem Magazin Weschtsch/Gegenstand/Objet,
die gegenseitige Sympathie zwischen den neuen sozialistischen
Regierungen Rußlands und der Weimarer Republik,
die beiden Ausstellungen moderner deutscher Kunst in
Moskau 1924 und 1925 und die vielen sowjetischen Ausstellungen
in Berlin und anderen Städten während der frühen
und mittleren Zwanziger Jahre halfen die gegenseitige
Befruchtung künstlerischer Ideen zu pflegen, denen die
vor- und nachrevolutionären Perioden so viel verdanken.
Und unter diesen Ideen, das ergab sich mit verwirrender
Ironie gegen das Mythische, war die "nicht-konstruktive"
Tradition Mittel- und Osteuropas - der Konstruktivismus.
Es war eine befremdliche Laune der Geschichte, daß Kandinsky,
vielleicht der am meisten expressionistische und
"innerliche" von allen Künstlern des Zwanzigsten Jahrhunderts
(mit den möglichen Ausnahmen von Kupka und
Malewitsch) unter den Gründungsmitgliedern des Moskauer
Instituts für künstlerische Kultur (lnchuk) im Mai 1920 26 )
sein sollte und dessen erstes Programm zusammenstellen.
Die Ironie liegt in der Tatsache, daß es in lnchuk und
Wchutemas/Wchutein waren, die so viel zur Geburt und
Entwicklung des Konstruktivismus beitrugen, Ideen ausarbeiteten
und exportierten, die wir jetzt nur zu leicht dem
Bauhaus zuschreiben. Kandinskys Plan für lnchuk war kompl
iziert. Trotz seines echten Interesses an den "formalen"
Charakteristika eines Kunstwerkes (er hatte schon 1919
Aufsätze über "Punkt" und "Linie" veröffentlicht) verriet
seine These seine tiefe Anteilnahme an subjektiver Erwiderung,
psychologischem Gehalt und sogar an "der Wissenschaft
des Okkulten, wo wir viele wertvolle Richtlinien in
bezug auf übersinnliche Erlebnisse finden können" 27 ) .
Lissitzky, Puni and Shklovsky, the publication of Ehrenburg's
and Lissitzky's radical magazine Veshch/Gegenstand/Objet,
the mutual sympathy between the new Socialist governments
of Russia and the Weimar Republic, the two exhibitions
of modern German art in Moscow in 1924 and 1925
and the many Soviet exhibitions in Berlin and other cities
during the early and mid-1920s helped to foster that crossfertilization
of artistic ideas to which the pre- and post­
Revolutionary periods owed so much. And among those
ideas, appearing with bewildering irony against the mystical
, "non-constructive" tradition of Central and Eastern
Europa was - Constructivism.
lt was a strange grimace of history that Kandinsky, perhaps
the most Expressionist and "internal" of all twentieth
century artists (with the possible exceptions of Kupka and
Malevich), should have been among the founding members
of the Moscow Institute of Artistic Culture (lnkhuk) in May,
1920 26 ) and that he should have compiled its first programme.
The irony lies in the fact that it was lnkhuk and
Vkhutemas/Vkhutein which contributed so much to the birth
and evolution of Constructivism, elaborating and exporting
ideas which we tend now to associate too freely with the
Bauhaus. Kandinsky's plan for lnkhuk was a complicated
one. Despite Kandinsky's genuine concern with the "formal"
characteristics of the work of art (he had already
published on "point" and "line" in 1919), his theses betrayed
his deep interest in subjective response, psychological
meaning and even in the "sciene of the occult where
we can find many valuable guidelines vis-8.-vis Supersensitory
experiences" 27 ) . Such ideas were a curious disharmony
in an atmosphere already resonant with the call
for the industrialization and mechanization of art : already
by mid 1920 the Visual Arts Section of the People's Commissariats
for Enlightenment (IZO NKP) had stated that its
aims were " . . . the study of the form and material of constructive
tasks .. . the creation of a contigent of Ieaders for
industrial art . .. " 28 ) . lt was not surprising, therefore, that
critics should object strongly to the subjective orientation
of Kandinsky's programme and, ultimately, refuse it. Con ­
versely, they welcomed the substitute plan, compiled by
the sculptor and teacher Babichev, which advocated the
scientific analysis of form and defined the emotional aspect
of art as peripheral to its ultimate value.
The history of lnkhuk, of its influence and of its legacy
cannot be related here. Suffice it to say that as a Iabaratory
of the new art, lnkhuk and its affiliations in Petersburg and
Vitebsk witnessed most of the early points of transition
within the early Constructivist movement. lt was at the
Moscow lnkhuk, for example, that Tarabukin declared the
last picture to have been painted (August, 1921 ), that Lissitzky
lectured on his Prouns (September, 1921 ), that the
German Altred Kemeny talked on the "Constructive Works
of Obmokhu" (December, 1921), that Stepanova explained
her understanding of industrial Constructivism (December,

IX. EVF. 6-7. SZAM SZERK.: KASSAK LAJOS
Umschlag der Zeitschrift "MA", Nr. 6-7, Wien, 1924
Cover of the magazine "MA", No. 6-7, Vienna, 1924
Solche Ideen waren eine seltsame Disharmonie in einer
Atmosphäre, die schon widerhallte von dem Ruf nach der
Industrialisierung und Mechanisierung der Kunst: schon
Mitte der Zwanziger Jahre hatte die Abteilung der schönen
Künste des Kommissariats für Volkserziehung (IZO NKP)
festgestellt, daß ihre Ziele " ... das Studium der Form und
des Materials von konstruktiven Aufgaben ... die Erschaffung
eines Kontingents von Führern für industrielle
Kunst .. . " 28 ) sei. Es konnte deshalb nicht verwundern, daß
Kritiker der subjektiven Ordnung des Programms von Kandinsky
heftig widersprachen urid es letztlich ablehnten.
Dagegen hießen sie den Ersatzplan, der von dem Bildhauer
und Lehrer Babitschew aufgestellt wurde willkommen, der
die wissenschaftliche Analyse der Form verteidigte und
dem emotionalen Aspekt der Kunst im Hinblick auf ihren
letzendlichen Wert nur eine Randstellung zuwies.
Die Geschichte der lnchuk, von ihrem Einfluß und ihrem
Vermächtnis kann hier nicht wiedergegeben werden. Es
muß genügen festzustellen, daß lnchuk und ihre Zweigstellen
in Petersburg und Witebsk als ein Labor für die neue Kunst
die meisten der frühen Stationen des Übergangs innerhalb
der frühen konstruktivistischen Bewegung miterlebten. An
der Moskauer lnchuk zum Beispiel erklärte Tarabukin, daß
das letze Bild gemalt sei (August 1921) , hielt Lissitzky Vorlesungen
über seine Prouns (September 1921), sprach der
Deutsche Altred Kemeny über die "konstruktiven Werke
von Obmolchu" (Dezember 1921 ), erklärte Stepanowa ihre
Auffassung von industriellem Konstruktivismus (Dezember
1921), unmittelbar nachdem sie und einige Kollegen der
Umschlag der Zeitschrift "MA", Wie n 1922, entworfen von Moholy-Nagy
Cover of the magazine "MA", No. 5-6, Vienna, 1922,
designed by Moholy-Nagy
1921) just after she and several colleagues had renounced
easel art and had turned to industrial design, and that
Popova analyzed her Constructivist designs for Meierkhold
's Magnanimous Cuckold (April, 1922). Above all, it was
within the framework of lnkhuk that the Formalist critics
Punin and Tarabukin evolved a new critical and aesthetic
system and that Matyushin and his students began to formulate
an entirely new optical perception. ln contradistinction
to Kandinsky, the Formalists and Constructivists attempted
to regard the work of art as an organized and
rational whole. Punin could state in 1919 that:
" . .. any contemporary judgement on art must once and
for all finish with those arbitrary, individual and often
capricious impressions which spectatores receive from
a work of art. Modern man ... must approach the work
by studying and analyzing it by means of scientific
method" 29 ) .
Tarabukin echoed similar arguments in 1923:
"The form of a work of art is composed of two basic elements:
material (paints, sonds, words) and construction,
thanks to which the material is organized into a complete
whole - one which acquires its artistic logic and inner
meaning" 30 ).
Such radical ideas carried great potentiality and it is fortunate,
indeed, that they travelled beyond the frontiers of
Soviet Russia: through Lissitzky, for example, lnkhuk was
in contact with the Berlin Veshch and the Paris L'Esprit
nouveau groups, through Varvara Bubnova with various
Tokyo artists, through Bela Uitz wit the MA fraternity (by
13

14
Staffeleikunst entsagt und sich dem industriellen Gestalten
zugewandt hatten, analysierte Popowa ihre konstruktivistischen
Gestaltungen für Meyerholds Der großmütige Hahnrei
(April 1922). Vor allem geschah es im Rahmen der ln ­
chuk, daß die formalistischen Kritiker Punin und Tarabukin
ein neues kritisches und ästhetisches System entwickelten
und daß Matjuschin und seine Studenten eine völl ig neue
optische Anschauung zu formulieren begannen. ln Abhebung
von Kandinsky versuchten die Formalisten und
Konstruktivisten ein Kunstwerk als ein rationales und organisiertes
Ganzes zu betrachten. Punin konnte 1919 behaupten,
daß:
" . . . jegliche zeitgenössische Beurteilung von Kunst ein
für alle Male Schluß machen muß mit jene willkürlichen,
individuellen und oft kapriziösen Eindrücken, die die Betrachter
von einem Kunstwerk erhalten. Der moderne
Mensch . . . muß sich einem Kunstwerk durch Studieren
und Analysieren unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Methoden
annähern" 29 ).
Tarabukin sprach 1923 die gleichen Argumente nach:
"Die Form eines Kunstwerkes setzt sich aus zwei grundlegenden
Elementen zusammen : aus dem Material (Farben,
Tönen, Wörtern) und der Konstruktion, dank derer das
Material in ein komplettes Ganzes organisiert wird - ein
Ganzes, das seine künstlerische und innere Bedeutung
erreicht" 30 ).
Solche radikalen Vorstellungen bargen große Möglichkeiten
in sich, und es war wahrhaftig ein Glück, daß sie über die
Grenzen Rußlands hinausreichten : durch Lissitzky zum
Beispiel war die lnchuk in Kontakt mit dem Berliner
Weschtsch und den Pariser L'Esprit nouveau-Gruppen,
durch Vervara Bubnova mit verschiedenen Künstlern in
Tokio, durch Bela Uitz mit der MA-Brüderschaft (damals
in Wien), etc. Darüber hinaus hatten einige polnische und
ungarische Künstler in Rußland gelebt oder lebten noch
dort, nicht zuletzt Kobra, Strzeminski und Uitz und viele
Mitglieder der russischen Avantgarde reisten während der
Zwanziger Jahre in den Westen, einige von ihnen trugen
entweder mit Aufsätzen oder Reproduktionen zu westlichen
Magazinen bei.
Wie gut auch immer die Idee des Neoplatizismus um 1922
herum außerhalb Rußlands entwickelt war (besonders in
Holland), so hatten doch nur wenige westliche Künstler die
Reinheit der Form erreicht, die Rodschenko geschaffen
hatte, die Farbkomposition von Exter, die bemerkenswerten
architektionischen Gemälde von Popowa oder die
Prouns von Lissitzky. Dennoch war das wesentliche Merkmal
des russischen Konstruktivismus paradoxerweise nicht
seine .,Reinheit", sondern vielmehr seine Elemente des
"geistigen Spiels", seine eigenartige Brechung von Sequenzen
und semantischen Ebenen - seine Theatralik. Die
besten Werke des russischen (ungarischen) Konstruktivismus,
als Beispiele mögen Lissitzky, Kassak und Moholy-
H. Berlewi, bei se iner Ausstellung der Mechano- Faktur in dem
Austro-Daimler Salon, Warschau, 1924
H. Berl ewi at hi s Exhibition of Mechano-Faktur in the
Austro-Daimler Salon, Warsaw, 1924
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then in Vienna) , etc. Moreover, several Polish and Hungarian
artists had been or were living in Russia, not least
Kobra, Strzeminski and Uitz, and many of the Russian avantgarde
travelled in the West during the 1920s and several of
them contributed to Western magazines either by ward or by
reproduction.
However weil developed the idea of neo-plasticity outside
of Russia (particularly in Holland) by ca. 1922, few Western
artists had attained the purity of forms created by Rodchenko,
the colour compositions of Exter, the remarkable
architectonic paintings of Popova or the Prouns
of Lissitzky. Even so, the hall-mark of Russian Construcw
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Umschlag des "Katalog Wystawy Nowej Sztuki "
(Ausstellung Neuer Kunst), Wilna, 1923
Cover of "Katalog Wystawy Nowej Sztuki"
(Exhibiti on of New Art), Wilno, 1923

Nagy dienen , zeichn en sich durch eben dies Element von
Irrationalität aus. Wir brauchen uns nur an Lissitzkys Zeichnungen
für Sieg über die Sonne (1923) oder an seine
Prouns für die Kestnermappe (1923) zu erinnern, um ihre
künstlerische Spielhaftigkeit zu erfassen . Der alte Mann mit
seinem Kopf zwei Schritte zurück oder das dritte Proun in
der Kestnermappe (mit ihrer frustierenden Kombination
von Fallen und Schweben) illustrieren die dem zaum ähn ­
liche Grundlage des russischen Konstruktivitismus. Vielleicht
war es dies Element der Irrationalität, das Rodschen ­
ke befähigte, so leicht von seinen Konstruktionen zur Re ­
klame für Babypuppen (1923) überzuwechseln, oder Malewitsch
vom Suprematismus zu seinen Köpfen (ab Ende
der Zwanziger Jahre), die denende Chiricos so ähneln.
Während die russischen Künstler eine außerordentliche
Anregung gaben, entwickelten sie selbst doch nicht voll
das, was, wie sich herausstellte, ein unerhörter Anstoß für
das Fortschreiten der europäischen und amerikanischen
Kunst war. Die Ungarn und Polen absorbierten in erstaunlichem
Maße gewisse Ideen von ihnen und führten sie bis
zu den äußeren Grenzen fort. Natürlich ist es gefährlich,
spezifisch russische Einflüsse in den Arbeiten von Berlewi,
Kassak, Moholy-Nagy etc. feststellen zu wollen . Die ungarischen
und polnischen Avantgardisten waren sich durchaus
französischer, deutscher und italienischer Richtungen bewußt
(viel mehr als ihre russischen Kollegen) und machten
unbefangen von deren Prinzipien Gebrauch, zumindest bis
ca. 1921 . Zu diesem Zeitpunkt dehnte sich jedoch plötzlich
der Konstruktivismus auf diese Kreuzung der lokalen Stile
aus: Berlewi wandte sich von seiner kubistischen und dadaistischen
Malerei ab und seinen Mechano-Faktur-Arbeiten
zu; Bortnyik schaltete vom synthtischen Kubismus um
auf typographisches Gestalten; .Kadar bewegte sich von
seinen futuristischen Gemälden zu mehr kalkulierten, geometrischen
Kompositionen. Wenn wir generalisieren sollen,
dann würde sich herausstellen, daß von den Polen,
Tschechen und Ungarn die letzteren dem exzentrischen
Geist des russischen Konstruktivismus am nächsten waren.
Nehmen wir zum Beispiel Kassaks Serie Bildarchitektur,
dann stellen wir fest, daß der Künstler vorsätzlich jegliche
Farbe oder formale Sequenz gebrochen hat : während er
die Illusion von geometrischer Genauigkeit durch die An ­
wendung geometrischer Formen schafft, beobachtet er
doch nicht strikt die mathematische Progression. Die gleich
e Trennung ist in Kassaks Titelzeichnung für MA von
1923 zu finden, wo die Richtigkeit des Formats zerstört
wird durch den diagonalen Stoß von der unteren Ecke ins
Zentrum - eine Methode, die an die Lissitzkys erinnert,
die er in seinem berühmten Poster Schlagt die Weißen
mit dem roten Keil (1919) verwendet. "Okkulte" Symmetrie
war ein grundlegendes Prinzip für Moholy-Nagys Werk und
die Parallelen zwischen ihm und Lissitzky sind augenfällig:
tivi sm, paradoxically, lay not in its "purity", but, rather, in
its element of "cerebral play ", in its curious fracture of
sequences and semantic Ievels - in its theatricality. The
best works of Russian (and Hungarian) Constructivism,
exemplified by Lissitzky, Kassak and Moholy-Nagy are distinguished
by this very element of irrationality. We have but
to recall Lissitzky's designs for Victory Over the Sun (1923)
or his Prouns for the Kestnermappe (1923) to grasp their
artistic playfulness. The Old Man with His Head Two Steps
Behind or the third Proun in the Kestnermappe (with its
frustrating combination of descent and levitation) illustrate
weil the zaum-like basis of Russian Constructivism. Perhaps
it was this element of irrationality which enabled Rodehenke
to move so easily from his constructions to an advertisement
for babies' dummies in 1923 or Malevieh from
Suprematism to his de Chirico-like heads of the late 1920s
onwards.
While the Russian artists provided an extraordinary stimulus,
they themselves did not develop fully what proved
to have tremendous impact on the subsequent progression
of European and American art. To a considerable extent it
was the Hungarians and the Poles who absorbed certain
of their ideas and expanded them to extreme Iimits. Of
course, it is hazardous to try to pinpoint specific, Russian
influences in the works of Berlewi, Kassak, Moholy-Nagy,
etc. Both the Hungarian and the Polish avant-gardes were
weil aware of French, German and ltalian trends (more so
than their Russian colleagues) and drew liberally on their
principles, at least until ca. 1921 . lt was at that moment,
however, that Constructivism suddenly imposed itself
on that hybrid of local styles: Berlewi turned from
his Cubist and Dadaist painting to his Mechano­
Faktur work; Bortnyik switched from synthetic-Cubism
to typographical design; Kadar moved from
his Futurist drawings to more calculated, geometrical
compositions. lf we are to generalize, then it would appear
that of the Poles, Czechs and Hungarians, the latter were
nearer to the eccentric spirit of Russian Constructivism. lf
we take Kassak's Bildarchitektur series, for example, we
find that the artist has deliberately broken any colour or
formal sequence: while he creates the illusion of geometric
accuracy by his use of geometric shapes, he observes no
strict mathematical progression. A similar disjunction is
found in Kassak's cover design for MA of 1923 in which the
propriety of the format is destroyed by the diagonal thrust
from the bottom corner into the centre - a method reminiscent
of Lissitzky' in his famous poster Beat the
Whites with the Red Wedge (1919), "Occult" symmetry
was a basic principle of Moholy-Nagy's work also and the
parallels between him and Lissitzky are obvious: an inspection
of the excellent examples of his work at this exhibition
bears witness to this ..
ln 1924 Berlewi published his manifesto on Mechano-Faktur
in which he stated that the modern artist could rely
15

16
eine Besichtigung der exzellenten Beispiele seines Werkes
in der Ausstellung legt Zeugnis davon ab.
1924 veröffentlichte Berlewi sein Manifest über Mechano­
Faktur, in dem er behauptete, daß der moderne Künstler
sich nur verlassen könne auf "mechanische Technologie,
die den industriellen Methoden nachgebildet sei, d. h. unabhängig
von individuellen Launen und basierend auf dem
strikten und präzisen Funktionieren einer Maschine" 31 .
Lissitzky verpflichtet, dehnt Berlewis Arbeit jedoch dessen
eigene Theorien aus und ermangelt jener "Zufälligkeit",
Ironie und intuitiver Empfindung, die wir bei Kassak, Lissitzky
und Mohoi-Nagy feststellen. Zweifellos waren auch
Kobro, Stazewski und Strzeminski sehr interessiert an der
totalen Rationalisierung des künstlerischen Prozesses -
obgleich Strzeminski in seiner Theorie des Unismus (1928)
noch immer behaupten konnte, das "Kalkulation Hand in
Hand mit Intuition" 32 ) gehen muß. Die Rationalisierung der
Kunst, die so sehr das Interesse der polnischen Konstruktivisten
erweckte (viel mehr als das ihrer russischen und
ungarischen Kollegen), führte jedoch nicht zur Aufhebung
der Kunst, denn, wie Strzeminski bemerkte, ein Kunstwerk
"lebt allein aus sich heraus" 33 ) und bleibt deshalb ein
ästhetisches Objekt. Die großen Unterschiede des Zugangs
zwischen Berlewi und Stazewski, Kobro und Strzeminski
zeigten an, daß persönliche Launenhaftigkeit noch
immer eine Schlüsselrolle spielte und daß ihr Konstruktivismus,
wie jede andere Kunstform, noch immer beides enthielt,
nämlich Wissen und Erkenntnis, Wissenschaft und
Intuition. ln dieser Hinsicht ist es verlockend, die Konstruktivisten
sowohl Rußlands als auch Osteuropas als die wahren
Vorläufer unserer zeitgenössischen kreativen Errungenschaften
zu betrachten - was sich nicht in der Gläsernheit
des Photo-Realismus oder der rührenden Süßigkeit der
Pop Art finden läßt, sondern in der künstlerischen Phantasterei
wissenschaftlicher Erfindung. Die Ost-West-Begegnung
von Raumschiffen im Kosmos, die unheimlichen metallischen
Formen, die sich mühelos in Richtung Mars und
Venus bewegen - diese Dinge dehnen den konstruktivistischen
Traum aus. Jetzt, da wir den aufsteigenden Stoß von
Archipenkos Penche (191 0) oder von Wladimir Stenbergs
räumlichen Konstruktionen (1919) erleben, den Taumel von
Malewitschs luftigem Suprematismus oder von Moholys
räumlichen Formen, erkennen wir, daß der Konstruktivismus
in Rußland und Osteuropa als Kunst anfing und endete:
er blieb ,.nicht-konstruktiv" und konnte es auch nur
bleiben.
John E. Bowlt
Umschlag des Magazins
"RED", Nr. 8, 1929, Prag,
entworfen von K. Teige
Cover page of the magazine
"RED", No. 8, 1929, Prag,
designed by K. Teige
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film
typo
only on "mechanistic technology, modelled after the industrial
methods as independent from individual whims and
based upon a strict and precise functioning of a machine"
31 ). lndebted to Lissitzky, Berlewi's work does, however,
extend his own theory and Iacks that "accidentality",
irony and intuitive sense which we identify with Kassak,
Lissitzky or Moholy-Nagy. There is no doubt that Kobro,
Stazewski and Strzeminski were also very interested in the
total rationalization of the artistic process - although in
his theory of Unism (1928) Strzeminski could still assert
that "Calculation must go tagether with intuition" 32 ) . The
rationalization of art which so intriqued the Polish Constructivists
(much more than their Russian and Hungarian colleagues)
did not Iead to the elimination of art for, as Strzeminski
realized, a work of art "exists all by itself" 33 ) and
hence remains an aesthetic object. The wide differences
of approach between Berlewi and Stazewski, Kobro and
Strzeminski indicated that personal caprice still played a
key role and that their Constructivism, like any other art
form, still contained both knowledge and cognition, both
science and intuition. ln this respect, it is tempting to regard
the Constructivists both of Russia and of Eastern Europe
as the true precursors of our contemporary creative
achievement - found not in the vitrescence of Photo­
Realism or the tauehing sweetness of Pop Art, but in the
artistic fantasy of scientific invention. The East-West encounter
of spaceships in the cosmos, the weird metallic
forms moving effortlessly towards Mars and Venus -
these things extend the Constructivist dream. As we experience
the ascending thrust of Archipenko's Penche (191 0)
or of Vladimir Stenberg's spatial constructions (1919), as
we experience the vertigo of Malevich's Aerial Suprematism
or of Moholy's spatial forms, we realize that Constructivism
in Russia and Eastern !=urope began and ended as art:
it remained and could only remain "non-constructive".
John E. Bowlt

Anmerkungen zum Text:
Notes to the text.
1. W. Jvanow: Borozdy i mezhi, Moskau 1916, S. 132.
2. Turkestan. 11 seriya risunkov P. Kuznetsova, Moskau-Petrograd,
1923.
3. S. Bobrow: "Osnovy novoi russkoi zhivopisi" in Trudy Vserossiiskogo
sezda khudozhnikov v Petragrade dek. 1911 - yanv. 1912,
Petrograd, 1914, Bd. 1, S. 42.
4. K. Malewitsch: Ot kubizma i futurizma k suprematizmu. Novyi
zhivokisinyi realizm, Moskau 1916, S. 22.
5. 0. Rozanowa: "Osnovy novogo tvorchestva i prichiny ego neponimaniya"
in Soyuz molodezhi, St. Petersburg 1913, Nr. 3, S. 20.
6. Zitiert aus J. Gassou und D. Fedit: Frank Kupka, London, Thames
und Hudson 1965, S. 19.
7. W. Markow: "Printsipy novogo iskusstva" in Soyuz molodezhi, St.
Petersburg 1912, Nr. 1, S. 5-14, Nr. 2, S. 5-18.
8. Markow schrieb über Gewege in seiner Broschüre Printsipy tvorchestva
v plastike. Faktura, St. Petersburg 1914. Punin bezog sich
in seinem Tsikl lektsii, Petragrad 1920, S. 18 darauf; Berlewi in
seiner Brosch üre Mechano-Faktura, Warschau 1924 (wieder abgedruckt
im Ausstellungskatalog Konstruktivismus in Polen 1923-1936
BLOK Praesens a.r, [Folkwangmuseum Essen und Reichsmuseum
Kröller-Müller Otterlo, 1973], Lodz 1973, S. 72-74; der Hinweis auf
Markow erscheint da aufS. 72) .
9. G. Aronson: Art Polonais Moderne, Paris. Editions Bonaparte
1929, S. 7.
10. J. Ganaday: "The Revolution That Gouldn't in a Show That Doesn't"
in The New York Times, New York 1971, Juni 27,
11. H. Bahr: Expressionismus, München 1916, S. 19.
12. H. Bugaew (A. Belyj): "Formy iskusstva" in Mir iskusstva, St. Petersburg
1902, Nr. 2, S. 351.
13. W. Kandinsky: "0 dukhovnom v iskusstve" in Trudy, a.a.O., Bd. 1,
S. 47.
14. Der Ausdruck stammt natürlich von Kandinsky. Ein Hinweis erschien
zuerst in seinem Essay "Soderzhanie i forma" im Katalog
zum V. Salon von lzdebsky. Mezhdunarodnaya khudozhestvennaya
vystavka (Odessa und andere Städte, 1910-11 ). Odessa 1910,
S. 14-16.
15. Zitiert aus F. Wight: "Aiexander Archipenko, Life and Work" im
Katalog zu Alexander Archipenko. A Memorial Exhibition, 1967 bis
1969, Los Angeles, Universität von Kalifornien 1967, S. 18.
16. B. Zemenkow: Koryto umozaklyuchenii, Moskau 1920, S. 5.
17. V. Markow: Russian Futur/sm, Berkeley, Universität von Kalifornien
1968, S. 417, Anmerkung 136.
18. D. Gascoyne: A Short History of Surrealism, England, Gobden­
Sandersen 1935, S. 24.
19. D. Burljuk u. a.: Poshchechina obshchestvennomu vkusu, Moskau
1912, S. 3.
20. R. Steiner: Philosophy of Spiritual Activity (Übersetzung seiner
Philosophie der Freiheit), London 1922, S. 148.
21. M. Larionov: " Le rayonisme pictural" in Montioie!, Paris 1914, Nr.
4/5/6, S. 15. Apollinaire gebrauchte das Wort "sur-realisme" zuerst
im Programm des Bailets Parade, das am 18. Mai 1917 aufgeführt
wurde.
22. Zitiert aus der französischen Übersetzung des Manifestes der
,Nothingisten' in B. Goriely: "Dada en Russie" in Cahiers Dada
Surrealisme, Paris 1966, Nr. 1, S. 39.
23. T. Tzara: "Seven Dada Manifestoes" in The Dada Painters and
Poets: An Anthology (herausgegeben von R. Motherwell), New York,
Wittenborn 1951, S. 84.
1. V. Jvanov: Borozdy I mezhi, Moscow, 1916, p. 132.
2. Turkestan. 11 seriya risunkov P. Kuznetsova, Moscow-Petrograd,
1923.
3. S. Bobrov: "Osnovy novoi russkoi zhivopis" in Trudy Vserossiiskogo
sezda khudozhnikov v Petragrade dek. 1911 - yanv. 1912, Petrograd,
1914, vo l. 1, p. 42.
4. K. Malevich: Ot kubizma I futurizma k suprematizmu. Novyi zhivopisnyi
realizm, Moscow, 1916, p. 22.
5. 0. Rozanova: "Osnovy dovogo tvorchestva i prichiny ego neponimaniya"
in Soyuz molodezhi, St. Petersburg, 1913, no. 3, p. 20.
6. Quated from J. Gassou and D. Fedit: Frank Kupka, London, Thames
and Hudson, 1965, p. 19.
7. V. Markov: " Printsipy novogo iskusstva" in Soyuz molodezhi, St.
Petersburg, 1912, no. 1, pp. 5-14; no. 2, pp. 5-18.
8. Markov wrote on texture in his booklet Printsipy tvorchestva v
plastike. Faktura, St. Petersburg, 1914. Punin referred to it in his
Tsikl lektsii, Petrog rad, 1920, p. 18; Berlewi in his booklet Mechano-Faktura,
Warsaw, 1924 (reprinted in the catalogue to the
exhibition Constructivism in Poland 1923-1936 BLOK Praesens
a.r. [Museum Folkwang Essen and Rijksmuseum Kröller-Müller
Otterlo, 1973], Lodz, 1973, pp. 72-74; the reference to Markov
appears there on p. 72).
9. G. Aronson: Art Po Ionais Moderne, Paris, Editions Bonaparte,
1929, p. 7.
10. J. Canaday: "The Revolution That Gouldn't in a Show Thai Doesn't"
in The New York Times, New York, 1971, June 27.
11. H. Bahr: Expressionismus, Munich, 1916, p. 19.
12. B. Bugaev (A. Bely): "Formy iskusstva" in Mir iskusstva, St.
Petersburg, 1902, no. 2, p. 351
13. V. Kandinsky: "0 dukhovnom v iskusstve" in Trudy, op. eil., vol. 1,
p. 47.
14. The term is, of course, Kandinsky's. His reference to it first appeared
in his essay "Soderzhanie i forma" in the catalogue to
V. lzdebsky's Salon. Mezhdunarodnaya khudozhestvennaya vystavka
(Odessa and other cities, 1910-11), Odessa, 1910, pp. 14-16.
15. Quated from F. Wight: "Aiexander Archipenko, Life and Work" in
the catalogue to Alexander Archipenko. A Memorial Exhibition,
1967-1969, Los Angeles, University of California, 1967, p. 18.
16. B. Zemenkov: Koryto umozaklyuchenii, Moscow, 1920, p. 5.
17. V. Markov: Russian Futurism, Berkeley, University of Galifornia,
1968, p. 417, note 136.
18. D. Gascoyne: A. Short History of Surrealism, England , Cobden­
Sandersen, 1935, p. 24.
19. D. Burliuk et al.: Poshchechina obshchestvennomu vkusu, Moscow,
1912, p. 3.
20. R. Steiner: Philosophy of Spiritual Activity (translation of his
Philosophie der Freiheit), London, 1922, p. 148.
21. M. Larionov: "Le rayonisme pictural" in Montioie!, Paris, 1914,
no. 4/5/6, p. 15. Apollinaire used the ward "sur-realisme" for the
first time in the programme for the ballet Parade which was performed
on 18th May, 1917.
22. Quated from the French Iranslaiion of the Nothingist manifesto in
B. Goriely: "Dada en Russie" in Cahiers Dada Surrealisme, Paris,
1966, no. 1, p. 39.
23. T. Tzara: "Seven Dada Manifestoes" in The Dada Painters and
Poets: An Anthology (edited by R. Motherwell), New York, Wittenborn,
1951, p. 84.
17

24. M. Matjuschin: Preface to Troe, St. Petersburg 1913. Zitiert nach
Markow, a.a. O., S. 125.
25. Wchutemas, das sind die Höheren Staatlichen Kunst- und Techni
schen Studios, die 1920 in Moskau und anderen Städten erri
chtet wurden. 1926 wurde der Name zu Wchutein umgeändert
(Höh eres Staatliches Kunst- und Technisches Institut). ln den ersten
Jahren war fast die gesamte Avantgarde mit diesen neuen Kunstschulen
ve rbunden.
26. Über einige Details zur lnchuk vgl. Matsa u. a. (Herausgeber):
Sovetskoe iskusstvo za 15 Iet, Moskau-Leningrad 1933, S. 126-43.
Vgl. auch D. Sarabjanow: Aleksej 8abitschew - khudozhnik, teoretik,
Moskau 1974, S. 82.
27. W. Kandinsky: "Programma lnstituta khudozhestvennoi kultury" in
Matsa, a.a.O., S. 129.
28. Spravochnik Otdela lzo Nar. K. po Pr., Moskau 1920, Ausgabe 1,
S. 44-45.
29. N. Punin: Tsikllektsii, a.a.O., S. 54.
30. Tarabukin: Opyt teorii zjhivopisi, Moskau 1923, S. 12.
31 . N. Berlewi, a.a.O., S. 74.
32. W. Strzeminski : Unizm w malarstwie, Warschau 1926. Zitiert aus
Constructivism in Poland, a.a.O. , S. 94.
33. W. Strzeminski : "To co sie prawnie nazywa Nowa Sztuka ... " in
81ok, Warschau 1924, Nr. 2. Zitiert aus Constructivism in Poland,
a.a.O., S. 75.
24. M. Matyushin: Preface to Troe, SI. Petersburg, 1913. Quated from
Markov, op. cit., p. 125.
25. Vkhutemas, i.e. the Higher State Art-Technical Studios organized
in Moscow and other cities in 1920. ln 1926 the title was changed
to Vkhutein (Higher State Art-Technical Institute). ln the early years
most of the avant-garde were associated with these new art
schools.
26. For some details on lnkhuk see I. Matsa et al. (editors) : Sovetskoe
iskusstvo za 15 Iet, Moscow-Leningrad, 1933, pp. 126-43. Also
see D. Sarabyanov: Aleksei 8abichev - khudozhnik, teoretik,
Moscow, 1974, p. 82 et seq.
27. V. Kandinsky: "Programma Institut

Annenkow
Archipenko
Berlewi
Bortnyik
Chagall
Chaschnik
Csaky
Delaunay
Exter
Huszar
Kadar
Kandinsky
Kassak
Kljun
Kluzis
Kobro
Kupka
Lissitzky
Malewitsch
Mansouroff ·
Matjuschin
Moholy-Nagy
Popowa
Puni
Rodschenko
Rozanowa
Stazewski
Stepanowa
Strzeminski
Suetin
Tatlin
Teige
Zadkine