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SPEZIAL<br />

UNIversalis-Zeitung<br />

Für Universität und Hochschulen in Freiburg<br />

ArtMedia Verlag Freiburg Sommer 2022 32. Ausgabe / 18. Jahrgang<br />

Die Klimakatastrophe im Herzen<br />

Ein Unterstützungsangebot will Menschen helfen, die an der Klimakrise leiden<br />

W<br />

ir spüren die Klimakrise,<br />

in unserer<br />

Umwelt, aber auch<br />

in uns selbst. In der Wut vieler<br />

Protestierenden steckt auch die<br />

Angst vor einer Katastrophe, die<br />

es so noch nie gegeben hat. „Climate<br />

Overdose“ heißt ein neues<br />

Freiburger Unterstützungsangebot,<br />

das sich an alle richtet,<br />

„denen die Klimakrise über den<br />

Kopf wächst“. Ein Klimacafé<br />

und eine Gesprächsrunde laden<br />

regelmäßig zum Austausch ein<br />

und geben einer emotionalen<br />

Komponente Raum, die in der<br />

Auseinandersetzung mit dem<br />

Klima selten zur Sprache kommt.<br />

Fabian Lutz hat mit den Psychologiestudentinnen<br />

Marie Roth,<br />

Celina Würth, der Psychologin<br />

Katharina Schatte und mit Dirk<br />

Henn vom Klimaaktionsbündnis<br />

Freiburg gesprochen. Sie alle<br />

wirken hinter und innerhalb von<br />

„Climate Overdose“.<br />

UNIversalis: Wer kam bisher zu euren<br />

Formaten?<br />

Katharina Schatte: Die meisten<br />

Bezahlbare 24-Stunden-Pflege<br />

und Betreuung im eigenen<br />

Zuhause durch liebevolle<br />

polnische Pflegekräfte<br />

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Kostenfreies Angebot:<br />

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Aus dem Inhalt:<br />

Nachhaltigkeit systemisch<br />

betrachtet3<br />

Nachhaltigkeitskompetenz als<br />

gesellschaftspolitisches Ziel<br />

5<br />

Im Gespräch: Rafia Zakaria,<br />

Autorin 7<br />

Nacktmulle, Alpakas und das<br />

ewige Leben8<br />

Was heißt China auf Chinesisch?<br />

Reich der Mitte!10<br />

Horror der Mutterschaft11<br />

Leon Poliakow: „Vom Hass<br />

zum Genozid. Das Dritte Reich<br />

und die Juden“13<br />

Essen feiert Jubiläum, der<br />

Hagener Impuls bleibt 14<br />

Menschen, die zu uns kommen,<br />

sind im Klimaaktivismus tätig.<br />

Dirk Henn: Druck macht dir das<br />

Thema, wenn es dir bewusst wird.<br />

Das geht zunächst den Menschen<br />

so, die bewusst damit arbeiten, also<br />

zum Beispiel Forstwissenschaften<br />

studieren oder mit Solartechnik zu<br />

tun haben.<br />

UNIversalis: Kommen nicht auch<br />

Menschen zu euch, denen dieser<br />

Druck auch außerhalb eines Klimaaktivismus<br />

bewusst wird? Menschen,<br />

die vielleicht gerade erst auf<br />

die Angst vor einer Klimakatastrophe<br />

stoßen?<br />

Katharina Schatte: In unserer ersten<br />

Gesprächsrunde war jemand,<br />

dem das Thema an sich klar war,<br />

aber der in vielen Bereichen nicht<br />

wusste, wie er entsprechend handeln<br />

soll und deshalb eher verdrängt<br />

hat. Sonst kommen tatsächlich wenig<br />

Leute zu uns, die in einer „Umbruchphase“<br />

sind. Aber natürlich<br />

wäre es schön, wenn sich gerade<br />

solche Menschen in unserem Setting<br />

öffnen würden.<br />

Dirk Henn: Wir sprechen über<br />

eine Situation, in der wir alle stecken.<br />

Die Lebensweise, die wir seit<br />

Jahrzehnten pflegen, hat massive<br />

Folgen für Klima und Umwelt. Es<br />

macht doch keinen Sinn, sich Gedanken<br />

darüber zu machen, wer auf<br />

der einen und wer auf der anderen<br />

Seite steht. Menschen haben nur<br />

verschiedene Vorlieben, mit denen<br />

sie ökologisch über die Stränge<br />

schlagen, ob Ernährung, Mobilität<br />

oder die wunderbare, schlecht gedämmte<br />

Altbauwohnung.<br />

UNIversalis: Was wollt ihr diesen<br />

Menschen mit eurem Angebot bieten?<br />

Katharina Schatte: Wir wollen<br />

zunächst einen Raum für Gefühle<br />

und Gedanken öffnen, für die Überwältigung,<br />

die sich einstellt, wenn<br />

man sich mit der Klimakatastrophe<br />

auseinandersetzt. Diese Überwältigung<br />

kann sich bei der einen<br />

Person schon einstellen, wenn sie<br />

einen entsprechenden Artikel liest,<br />

bei der anderen nach langjährigem<br />

klimapolitischem Engagement. Wir<br />

wollen einen Raum schaffen, der<br />

zwischen Verdrängung und Lösungssuche<br />

liegt.<br />

UNIversalis: Lösungssuche klingt<br />

doch sehr produktiv.<br />

Katharina Schatte: Manche Menschen<br />

versuchen so intensiv nach<br />

Lösungen zu suchen, dass sie emotional,<br />

aber auch energetisch an ihre<br />

Grenzen kommen, bis an den Rand<br />

eines Burn-Outs. Bei uns geht es um<br />

das, was die Auseinandersetzung<br />

mit dem Menschen macht, ohne,<br />

dass wir gleich wissen müssen, wie<br />

das Ganze aufzulösen ist. Natürlich<br />

können auch Lösungen entstehen,<br />

aber das ist nicht unser Fokus.<br />

UNIversalis: Unter dem Begriff<br />

„Doomscrolling“ wird diskutiert,<br />

inwiefern Menschen im Netz von<br />

einer Schreckensnachricht zur anderen<br />

scrollen und sich so negativ<br />

überwältigen. Ist überwältigender<br />

Medienkonsum ein Thema, das euch<br />

beschäftigt?<br />

Marie Roth: Für mich hat das Thema<br />

viel mit Selbstfürsorge zu tun.<br />

News zur Klimakatastrophe sind ja<br />

Den Tod vor Augen. Sorgevoller Klimaprotest<br />

Auslagern<br />

Aufbewahren<br />

Abstellen<br />

blau = C:100 | M:20 | Y:0 | Y: 0 | K: 0<br />

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Foto: Kevin Grieve - Pexels<br />

jederzeit abrufbar. Selbstfürsorge<br />

wäre, sich zu fragen, wie oft und<br />

wie lange man sich dem aussetzt.<br />

Es ist in jedem Fall gesund zu lernen,<br />

die eigenen Grenzen ziehen zu<br />

können. Das ist ein Mittelweg zwischen<br />

dem Ansatz, sich aktiv mit<br />

der Klimakatastrophe zu beschäftigen<br />

und dem, die eigene Psyche zu<br />

schützen.<br />

Katharina Schatte: Für unsere<br />

Formate ist Selbstfürsorge ein ganz<br />

wichtiger Aspekt. Selbstfürsorge<br />

ermöglicht, in der Auseinandersetzung<br />

mit der Klimakatastrophe<br />

handlungsfähig zu bleiben. Vor<br />

einigen Wochen haben wir einmal<br />

über das Stressnotfallprogramm gesprochen.<br />

Das setzt auch ein, wenn<br />

man sich mit diesem Thema beschäftigt.<br />

Man bekommt einen Tunnelblick<br />

und ist nicht mehr wirklich<br />

aufnahmefähig. Man kann Informationen<br />

zwar noch lesen, aber nicht<br />

mehr integrieren. Das einzige Ziel<br />

ist, aus der Situation herauszukommen.<br />

Sonst überschreitet man die<br />

eigenen Grenzen und Ressourcen<br />

und kann auch nicht mehr kreativ<br />

und verbindlich Lösungen finden.<br />

UNIversalis: Was macht ihr, wenn<br />

ihr bei einem Menschen feststellt,<br />

dass sein Stressnotfallprogramm<br />

kein Ende findet? Ich nehme an, die<br />

Grenze zwischen großer Angst und<br />

psychischer Erkrankung kann bei<br />

manchen Menschen, die euch aufsuchen,<br />

bereits überschritten sein.<br />

Katharina Schatte: Den Fall hatten<br />

wir bisher noch nicht, aber<br />

natürlich haben wir uns darüber<br />

bereits intensiv ausgetauscht. Aber<br />

ich bin keine approbierte Psychotherapeutin<br />

und wir sind explizit<br />

kein therapeutisches Angebot. Wir<br />

haben aber Kontakte, auf die wir die<br />

Leute jederzeit verweisen können.<br />

Die Psychologists for Future haben<br />

beispielsweise ein Beratungsteam,<br />

das übergangsweise tätig wird.<br />

UNIversalis: Hat der Ansatz, das<br />

Befinden von Individuen während<br />

der Klimakatastrophe zu betrachten,<br />

eine längere Geschichte oder<br />

betretet ihr mit eurem Angebot<br />

Neuland?<br />

Dirk Henn: Vor vier Jahren haben<br />

britische Psycholog*innen<br />

und Therapeut*innen begonnen,<br />

darüber zu diskutieren, wie mit<br />

der Angst umzugehen ist, die viele<br />

Menschen vor dem Verlust ihrer<br />

Lebensgrundlagen empfinden. Wie<br />

begegnet man einem Problem, das<br />

so umfassend und nicht zu klären<br />

ist? Das Thema ist tabuisiert. Die<br />

Klimakatastrophe ist ein Tabu, ähnlich<br />

wie der Tod. Ein walisischer<br />

Schweizer hat vor einigen Jahren<br />

das Todescafé gegründet, um dort<br />

über das zu sprechen, über das man<br />

in unserer Kultur nicht sprechen<br />

darf. So ein Format wurde für das<br />

Thema Klimakatastrophe auch in<br />

Großbritannien gegründet. Mit<br />

dem Klimacafé hast du einen Ort,<br />

an dem du frei und offen über die<br />

Klimakatastrophe und ihre Abgründe<br />

sprechen kannst.<br />

UNIversalis: Zu diesen Abgründen<br />

gehört auch die Angst, die viele<br />

Menschen empfinden. Ist die eigentlich<br />

schon erforscht?<br />

Dirk Henn: Von dieser spezifischen<br />

Angst, genannt „Eco Anxiety“,<br />

habe ich bisher vor allem in der<br />

englischsprachigen Literatur gelesen.<br />

Sonst kenne ich außerhalb Englands<br />

nur zwei Forscher aus Wien,<br />

die auch zu diesem Phänomen arbeiten.<br />

Ich selbst bin Mitglied bei<br />

der CPA, der Climate Psychology<br />

Alliance, ein Zusammenschluss von<br />

Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen<br />

und Klimaaktivist*innen, die zu<br />

dieser Frage arbeiten. Ein weiterer<br />

wichtiger Vertreter sind die bereits<br />

erwähnten Psychologists for Future.<br />

Dass das Thema mit dieser Aufmerksamkeit<br />

begleitet wird, ist aber<br />

eher neu.<br />

UNIversalis: Mit den Initiativen<br />

kommen wir zu eurem Programm<br />

zurück und damit zum Umgang<br />

mit der Angst vor der Klimakrise.<br />

Wie nähert ihr euch dieser Angst<br />

in euren zwei Formaten an? Nutzt<br />

Nutzen Sie<br />

Ihre Zeit lieber<br />

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ihr bestimmte Techniken? Der Veranstaltungsort<br />

der Gesprächsrunde<br />

im Tibet Kailash Haus lässt an Meditation<br />

denken.<br />

Katharina Schatte: Einen konfessionellen<br />

Bezug zum Tibet<br />

Kailash Haus haben wir nicht. Die<br />

Raumsuche ging über persönliche<br />

Kontakte. In der Gesprächsrunde<br />

nutzen wir Achtsamkeitsübungen,<br />

aber ohne Bezug auf den Buddhismus.<br />

Sie dienen der Rahmung zu<br />

Anfang und Abschluss der Runde.<br />

Ansonsten ist es von den aktuell<br />

fünf Leitenden der Gesprächsrunde<br />

mit ihren unterschiedlichen Grundausbildungen<br />

abhängig, welche<br />

Techniken der Kontakt und Prozessgestaltungen<br />

genutzt werden.<br />

Einen festen Übungsplan für die<br />

Sitzungen der Gesprächsrunde gibt<br />

es nicht.<br />

UNIversalis: Und euer erstes Format,<br />

das Klimacafé, bezieht sich<br />

mehr auf das gemeinsame Sprechen?<br />

Katharina Schatte: Ja, im Klimacafé<br />

werden Themen und Fragestellungen<br />

angesprochen, die wir<br />

in der Gesprächsrunde emotional<br />

vertiefen können. Im Klimacafé soll<br />

es zudem weniger Anleitung geben.<br />

Dirk Henn: Das Klimacafé ist ein<br />

gastlicher Ort, an dem man bei Kaffee<br />

und Kuchen über seine Gefühle<br />

zum Thema der Klimakatastrophe<br />

sprechen kann. Wir bieten auch<br />

deshalb zwei Formate an, weil je<br />

nach Neigung des Menschen das<br />

eine oder andere passender sein<br />

kann. Auch die Ortstrennung ist<br />

uns wichtig. Mit dem Tibet Kailash<br />

Haus hat die Gesprächsrunde einen<br />

geschützten Ort. Für das Klimacafé<br />

haben wir mit dem Klimaaktionsbüro<br />

am Lederleplatz einen Ort mit<br />

Übergang zur Öffentlichkeit.


2 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />

UNIversalis: Kommen wir zum<br />

Schnittpunkt von Politik und Emotion,<br />

dem Verhältnis von globaler<br />

Katastrophe und persönlichem<br />

Empfinden. Auch wenn das Klimacafé<br />

im Büro des Klimaaktionsbündnisses<br />

zu finden ist, soll es dort<br />

nach eurer Ankündigung nicht um<br />

Klimadiskussionen, sondern um<br />

Gefühle gehen. Lässt sich das angesichts<br />

eines immanent politischen<br />

Themas wie das der Klimakatastrophe<br />

überhaupt trennen?<br />

Dirk Henn: Wir leben in einer Kultur,<br />

die sich der Klimakatastrophe<br />

eher rational annähert. Genau das<br />

aber ist Bestandteil des Problems.<br />

Denn wir erfahren die Klimakatastrophe<br />

in erster Linie auf der<br />

körperlichen Ebene. Es ist wichtig,<br />

einen Raum zu haben, wo ich über<br />

meine Gefühle und Körperwahrnehmungen<br />

sprechen kann. Auch<br />

im Klimacafé geht es nicht um Aktionen<br />

oder deren Beurteilung. Wir<br />

stellen die Frage, wie man einen<br />

solchen Raum halten kann, gegenüber<br />

einem Thema, das so unendlich<br />

überwältigend ist.<br />

UNIversalis: Was ist, wenn eure<br />

Teilnehmenden als Teil der bestehenden<br />

Kultur doch lieber rationalisieren<br />

wollen? Wie geht ihr damit<br />

um?<br />

Katharina Schatte: Wir treffen auf<br />

Menschen, die unsere Art des Austauschs<br />

gewöhnt sind, aber auch<br />

Menschen, die erst einmal Probleme<br />

haben, eine solche Innenschau zu<br />

praktizieren. Diese Menschen haben<br />

Schwierigkeiten, von einer rein<br />

inhaltlichen Ebene wegzukommen.<br />

Dann braucht es Strukturen und<br />

gegebenenfalls ein Eingreifen von<br />

Moderator*innenseite. Sonst würde<br />

die Begegnung schnell in inhaltliche<br />

Diskussionen abschweifen. Genügend<br />

Räume, in denen inhaltliche<br />

Diskussionen zum Thema möglich<br />

sind, gibt es ja. Zudem ermöglicht<br />

unsere Ausrichtung, dass es nicht so<br />

Celina Würth, Katharina Schatte, Dirk Henn, Marie Roth<br />

schnell zu Spaltungen kommt.<br />

UNIversalis: Wie das?<br />

Katharina Schatte: Auf einer<br />

emotionalen Ebene sind wir alle<br />

miteinander verbunden. Ob ich das<br />

Thema Klima verdränge oder sehr<br />

aktiv bin, wenn ich emotional in<br />

Kontakt komme, spüre ich Angst<br />

und Verzweiflung. Darüber können<br />

wir uns einander annähern. Auf der<br />

Diskussionsebene entstehen schnell<br />

verschiedene Fronten.<br />

UNIversalis: Mit der Spaltung<br />

sprichst du ein realgesellschaftliches<br />

Problem an. Ein lauter Teil<br />

der Bevölkerung zeigt sich mit Begriffen<br />

wie „Klimahysterie“ oder<br />

„Ökodiktatur“ weniger über die<br />

Klimakrise als über einen bevormundenden<br />

Klimaaktivismus besorgt.<br />

Hättet ihr gern auch Menschen<br />

mit solchen starken Emotionen<br />

in euren Formaten?<br />

Katharina Schatte: Auch Menschen<br />

mit solchen Emotionen sind<br />

bei uns herzlich willkommen. Es<br />

wäre schön, wenn wir auch diese<br />

Form der Spaltung überwinden<br />

könnten. Wichtig wäre nur, dass<br />

sich alle Seiten darauf einlassen.<br />

Man muss sich darauf einlassen,<br />

nicht inhaltlich zu diskutieren, sondern<br />

gemeinsam auf eine emotionale<br />

Ebene zu kommen. Ich glaube,<br />

dass man sich dabei treffen würde.<br />

Wut kann als sekundäre Emotion<br />

zum Beispiel auch Ausdruck einer<br />

Verdrängung sein.<br />

Dirk Henn: Die Ablehnung, die du<br />

beschreibst, kann auch Ausdruck<br />

von „Eco Anxiety“ sein.<br />

Katharina Schatte: Der Widerstand<br />

gegen einen Klimaaktivismus<br />

ist erst einmal eine ganz normale<br />

Reaktion. Wenn jemand vor<br />

mir steht und mich anklagt, kann es<br />

leicht passieren, dass ich erst einmal<br />

Widerstand spüre, vielleicht auch<br />

wegen einem Gefühl von Schuld.<br />

Und mit dem Widerstand und meiner<br />

Wut gehe ich dann auf die Barrikaden.<br />

Ich fühle mich nicht wohl,<br />

schiebe aber eine andere Emotion<br />

vor, um einen Umgang mit meiner<br />

Unsicherheit zu finden.<br />

UNIversalis: Ein Artikel in der taz<br />

vom 2./3. April fragt, ob die öffentlich<br />

ausgetragene Auseinandersetzung<br />

mit der eigenen Befindlichkeit<br />

in globaler Krisenzeit nicht auch<br />

„Ausdruck privilegierter Weinerlichkeit“<br />

sei. Angesichts des immensen<br />

Leids, das Menschen im globalen<br />

Süden durch den Klimawandel<br />

unmittelbar erleiden, stellt sich tatsächlich<br />

die provokante Frage, ob<br />

die öffentliche Verhandlung unseres<br />

Leidens im schönen Ländle nicht<br />

vielleicht auch sehr privilegiert ist.<br />

Dirk Henn: Von der Zerstörung<br />

dieser Erde sind alle Menschen<br />

betroffen. Dass wir in Europa und<br />

besonders in Deutschland mit unserem<br />

Handeln andere Menschen in<br />

der Welt den Folgen besonders stark<br />

aussetzen, ist Teil des Schmerzes,<br />

der Sorge und der Angst. Wenn uns<br />

bewusst wird, dass wir das Thema<br />

Klimagerechtigkeit in keinster Weise<br />

angemessen angehen und wir<br />

daran leiden, was soll dann daran<br />

falsch oder verwerflich sein?<br />

Marie Roth: Wenn man darauf hinweist,<br />

dass diese Angst und dieses<br />

Leiden nicht sein dürfen, kommen<br />

wir doch wieder zu der Tabuisierung,<br />

die Dirk angesprochen hatte.<br />

Wenn eine Person einen solchen<br />

Artikel liest und sich wegen seinen<br />

negativen Gefühlen zusätzlich<br />

schlecht fühlt, bedeutet das eine<br />

weitere Leidensebene.<br />

Katharina Schatte: Man kann sich<br />

dem Leid öffnen und sich darüber<br />

mit sich selbst und anderen Menschen<br />

verbinden, auch auf einem<br />

anderen Teil der Erde. Wenn man<br />

sich diesem Gefühl nicht öffnet,<br />

haben wir die Trennung, die du beschrieben<br />

hast, also zwischen den<br />

Menschen hier und den Menschen<br />

dort.<br />

UNIversalis: Falsch kann Fühlen<br />

nicht sein, aber eventuell lähmen<br />

– und dann käme jede Solidarität<br />

und Hilfe mit stärker Betroffenen<br />

vielleicht zu spät.<br />

Dirk Henn: Solange du die Abgründe<br />

deiner Handlungen nicht<br />

Foto: Dirk Henn<br />

wirklich annimmst, bist du kaum<br />

handlungsfähig. Deshalb haben wir<br />

auch unser Angebot gestartet. Wir<br />

sehen doch, welches unendliche<br />

Maß an Leid das Thema Klimakatastrophe<br />

verursacht. Hier wie da.<br />

Erst wenn wir dafür einen geschützten<br />

Raum halten, können wir damit<br />

arbeiten. Sonst sind wir konstant<br />

überfordert.<br />

UNIversalis: Kommen wir am Ende<br />

zu eurer Motivation hinter „Climate<br />

Overdose“. Wie viel Optimismus<br />

braucht ihr, um euch diesem Thema<br />

zu stellen?<br />

Katharina Schatte: Gar keinen.<br />

(lacht) Es geht uns ja nicht darum,<br />

optimistisch Perspektiven und Lösungen<br />

zu entwickeln, sondern mit<br />

dem zu sein, was gerade ist. Und<br />

das muss kein Optimismus sein.<br />

Aus der Öffnung darf das Leidvolle<br />

entstehen, aber auch Verbundenheit.<br />

Etwas Rosiges muss ich mir dafür<br />

nicht ausmalen.<br />

Celina Würth: Mir geben unsere<br />

Formate auch Verbundenheit.<br />

Ich fühle mich nicht mehr allein<br />

mit meinen Gefühlen. Ich weiß,<br />

dass es anderen auch so geht und<br />

fühle mich eingebettet. Ich würde<br />

es nicht Optimismus nennen, aber<br />

ich bekomme durch den Austausch<br />

wieder Kapazitäten, um ins Handeln<br />

zu kommen. Ich finde das sehr<br />

wertvoll.<br />

UNIversalis: Bekommt ihr diese<br />

Verbundenheit auch von den Teilnehmenden<br />

gespiegelt?<br />

Katharina Schatte: Ja, das Feedback<br />

bekommen wir: Nicht allein zu<br />

sein, sich verbunden zu fühlen und<br />

daraus gestärkt hervorzugehen. Und<br />

das ist in beiden Formaten, dem<br />

Klimacafé und der Gesprächsrunde<br />

der Fall. Für das Klimacafé ist auch<br />

zentral, dass niemand von außen<br />

kommt und etwas hineingibt, das<br />

allen gut tun soll, sondern es ist immer<br />

der gemeinsame Kreis.<br />

Dirk Henn: Im Klimaaktionsbündnis<br />

experimentieren wir auch<br />

mit Ansätzen, die wir bei „Climate<br />

Overdose“ anwenden. Dabei merken<br />

wir, dass wir für den ständigen<br />

Kontakt mit dem Thema Klimagerechtigkeit<br />

die Fähigkeit brauchen,<br />

für uns zu sorgen. Du kannst durch<br />

die Selbstfürsorge auch bestärkt<br />

werden, weniger, dafür aber dauerhaften<br />

Aktivismus zu praktizieren.<br />

Was du erleben kannst, und das<br />

reicht über alle unsere Angebote<br />

hinaus, ist: Auch aus dem Einlassen<br />

auf diese schwierigen Themen können<br />

Zuversicht und Verbundenheit<br />

erwachsen.<br />

Das Klimacafé findet jeden 3. Samstag<br />

im Monat, 16–17:30 Uhr im Klimaladen<br />

am Lederleplatz statt, die<br />

Climate Overdose Gesprächsrunde<br />

jeden 1. Samstag im Monat, 16–18<br />

Uhr im Tibet Kailash Haus. Das<br />

Programm ist ein Angebot der Psychologists<br />

for Future Freiburg und<br />

dem Klimaaktionsbündnis Freiburg.<br />

Du studierst –<br />

Wir machen den Rest!<br />

Das Studierendenwerk Freiburg<br />

D<br />

as Studierendenwerk Freiburg<br />

(SWFR) ist für Studierende<br />

der staatlichen<br />

Hochschulen in Freiburg,<br />

Furtwangen, Villingen-Schwenningen,<br />

Offenburg, Gengenbach,<br />

Kehl und Lörrach zuständig.<br />

Alle Studierenden dieser Hochschulen<br />

zahlen jedes Semester einen Semesterbeitrag,<br />

der sie dazu berechtigt,<br />

die Leistungen des SWFR zu<br />

nutzen:<br />

WOHNEN: Wir helfen durch unsere<br />

Zimmervermittlung ein Zimmer<br />

auf dem freien Wohnungsmarkt zu<br />

finden, bieten günstigen Wohnraum<br />

in unseren Wohnheimen und alternative<br />

Wohnprojekte wie Wohnen<br />

für Hilfe.<br />

ESSEN & TRINKEN: In unseren<br />

Mensen kochen wir täglich preisgünstige,<br />

ausgewogene Mahlzeiten<br />

aus hochwertigen Zutaten – auch<br />

vegetarisch und vegan. Fair gehandelter<br />

Kaffee und Backwaren aus<br />

der Region gibt es in unseren Cafeterien.<br />

GELD: Die finanzielle Förderung<br />

durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz<br />

(BAföG) ist eine<br />

unserer Hauptaufgaben. Unsere<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

informieren über die gesetzlichen<br />

Vorschriften und helfen beim Antragstellen.<br />

Außerdem beraten wir<br />

über weitere Finanzierungshilfen<br />

wie Studienkredite, Stipendien<br />

oder Darlehen. Und in unserer Jobvermittlung<br />

findet man studentische<br />

Nebenjobs.<br />

BERATUNG & SOZIALES: Unsere<br />

Sozialberatung hat Informationen<br />

zur Krankenversicherung,<br />

zum Ausländerrecht, zum Wohngeld<br />

oder zu Sozialleistungen. Für<br />

Studierende mit Nachwuchs bieten<br />

wir Kindertagesstätten oder helfen<br />

bei der Suche nach einem Kindergartenplatz<br />

oder anderer Betreuung.<br />

Ein Anwalt hilft bei Rechtsfragen.<br />

Und wer zwischendurch mal in eine<br />

Krise gerät, ist in unserer Psychotherapeutischen<br />

Beratungsstelle<br />

gut aufgehoben. Unsere Therapeutinnen<br />

und Therapeuten helfen bei<br />

persönlichen oder studienbedingten<br />

Problemen. Außerdem bieten wir<br />

regelmäßig Seminare und Workshops<br />

zu Stressbewältigung, Prüfungsangst<br />

oder Selbstmanagement<br />

an.<br />

Infoladen SWFR<br />

VERANSTALTUNGEN: Ebenso<br />

wichtig wie Essen, Wohnen und<br />

Finanzen ist es, andere Leute kennenzulernen.<br />

Bei unseren Sport- &<br />

Freizeitangeboten, bei den Studitours<br />

oder im Internationalen<br />

Club findet man leicht Kontakt.<br />

In unserer MensaBar im Foyer<br />

der Mensa Rempartstraße, gibt es<br />

während des Semesters ein vielfältiges<br />

Veranstaltungsprogramm<br />

mit Musik, Party, Film, Comedy,<br />

Slam, Ping Pong Club u.v.a. mehr.<br />

Und im Sommersemester findet alles<br />

open air im MensaGarten statt.<br />

Die studentische Musicalgruppe des<br />

Studierendenwerks, das MONDO<br />

Musiktheater, zeigt diesen Sommer<br />

im MensaGarten ihre 20er-<br />

Jahre-Revue CRASH,,,BANG…<br />

BOOM!!! Wer mitmachen will, ist<br />

willkommen.<br />

Unser Infoladen, unsere Broschüren<br />

und unsere Website informieren<br />

umfassend über alle Angebote und<br />

Aktivitäten. Täglich Neues gibt es<br />

auf unseren Social Media Kanälen.<br />

©Christoph Düppner<br />

Infoladen des Studierendenwerks,<br />

Basler Str. 2, 79100 Freiburg<br />

Mo - Fr 9 - 17 Uhr, Tel. 0761 2101-<br />

200, info@swfr.de<br />

www.swfr.de<br />

www.instagram.com/studierendenwerk_freiburg<br />

www.facebook.com/studierendenwerk.freiburg<br />

twitter.com/studentenwerkfr<br />

studierendenwerkfreiburg.wordpress.com


Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 3<br />

Nachhaltigkeit systemisch betrachtet<br />

Im Gespräch: Prof. Dr. Michael Pregernig, Fachmann für Nachhaltigkeit im gesellschaftspolitischen Kontext<br />

P<br />

rof. Dr. Michael Pregernig<br />

ist ausgewiesener<br />

Fachmann für Nachhaltigkeit<br />

im gesellschaftspolitischen<br />

Kontext. Wie Umweltpolitik<br />

an der Schnittstelle<br />

von Forschung, Politik und Gesellschaft<br />

funktionieren (kann),<br />

dazu hat Julian Hienstorfer ihn<br />

befragt.<br />

UNIversalis: Herr Pregernig, Sie<br />

haben den Lehrstuhl für Sustainability<br />

Governance der Universität<br />

Freiburg inne. Könnten Sie kurz<br />

skizzieren, worum es sich dabei<br />

handelt?<br />

Pregernig: In der Lehre sind wir<br />

vor allem für den internationalen<br />

Master of Science Studiengang<br />

„Environmental Governance“ –<br />

kurz MEG – zuständig, der in Freiburg<br />

bereits 2005 gegründet wurde.<br />

Studiengänge, die Umwelt und ein<br />

breiteres Spektrum an Sozialwissenschaften<br />

zusammendachten,<br />

gab es damals noch recht wenige.<br />

Es existierten lediglich solche, die<br />

entweder rein politikwissenschaftliche<br />

Zugänge zu Nachhaltigkeit<br />

und Umwelt wählten oder sich auf<br />

einen naturwissenschaftlich-technischen<br />

Zugang fokussierten. Der<br />

MEG ist dazwischen angesiedelt,<br />

er ist dezidiert interdisziplinär.<br />

UNIversalis: Inwiefern ist dieser<br />

Ansatz eine Besonderheit?<br />

Pregernig: Typischerweise sind<br />

Studiengänge noch stark an einzelne<br />

Disziplinen geknüpft – was wohl<br />

aus ihrer Verortung in disziplinär<br />

organisierten Fakultäten resultiert.<br />

Damit lassen sich viele Umweltund<br />

Nachhaltigkeitsproblematiken<br />

aber nicht ganzheitlich greifen.<br />

Die Idee unseres Studiengangs war<br />

es, ein besonderes Augenmerk auf<br />

disziplinare Offenheit zu legen, um<br />

damit integrative und querschneidende<br />

Fragestellungen adäquater<br />

angehen zu können. Mein persönliches<br />

Forschungsinteresse ist dabei<br />

die Schnittstelle zwischen Wissenschaft,<br />

Politik und Gesellschaft.<br />

Wie die wechselseitige Kommunikation<br />

gelingen kann – damit habe<br />

ich mich in den letzten Jahren viel<br />

beschäftigt.<br />

UNIversalis: Wie werden denn<br />

wissenschaftliche Erkenntnisse von<br />

der Universität in die Öffentlichkeit<br />

getragen?<br />

Pregernig: In der öffentlichen<br />

Diskussion ist bisher besonders<br />

die Schnittstelle von Wissenschaft<br />

und Politik problematisiert worden.<br />

Eine Verbreiterung der Debatte in<br />

Richtung einer Schnittstelle zwischen<br />

Wissenschaft und zivilgesellschaftlichen<br />

Akteuren – aber auch<br />

der Wirtschaft – fand erst in den<br />

letzten Jahren statt.<br />

UNIversalis: Wie können denn<br />

diese Schnittstellen nun verbessert<br />

werden?<br />

Pregernig: Ich glaube, dass man<br />

hier nicht erst am Ende der Kette,<br />

bei der Wissenschaftskommunikation,<br />

ansetzen darf, sondern dass<br />

schon bei der Frage begonnen<br />

werden muss, welche Forschung<br />

denn überhaupt gefördert wird.<br />

Da hat sich in den letzten Jahren<br />

ein starker Trend in Richtung problembezogener<br />

Forschungsprogramme<br />

gezeigt, zum Beispiel zu<br />

Biodiversität, Klimaschutz oder<br />

Kreislaufwirtschaft. Gerade aus den<br />

Fachministerien heraus kommt der<br />

Ruf nach Forschung, an deren Ende<br />

anwendbare Ergebnisse stehen. Das<br />

ist nicht immer einfach. Daneben<br />

braucht es natürlich auch weiter<br />

grundlagenorientierte Forschung.<br />

UNIversalis: Wie schätzen Sie denn<br />

den Umgang mit den wissenschaftlichen<br />

Ergebnissen ein? Pickt man<br />

sich da die Rosinen heraus oder<br />

werden auch ambivalente Ergebnisse<br />

akzeptiert?<br />

Pregernig: Es gibt dieses Cherry-<br />

Picking durchaus. Gerade in kontroversen<br />

Feldern wie der Umweltpolitik<br />

– Stichwort Kohleausstieg<br />

– ist es wenig verwunderlich, dass<br />

es kracht, wenn ökonomische, soziale<br />

und ökologische Interessen aufeinandertreffen.<br />

Da suchen sich die<br />

jeweiligen Interessensvertretungen<br />

jene wissenschaftlichen Ergebnisse<br />

heraus, die ihre Belange am besten<br />

befördern.<br />

Ein Problem sehe ich auch darin,<br />

wie man sich den Transfer von<br />

wissenschaftlichen Ergebnissen<br />

vorstellt. Wenn man hier erwartet,<br />

dass die Wissenschaft lediglich einen<br />

Bericht vorlegt und Politik und<br />

gesellschaftliche Akteure damit machen<br />

können, was sie wollen, dann<br />

überrascht es nicht, wenn nur das<br />

aus den Ergebnissen herausgelesen<br />

wird, was den jeweiligen Interessen<br />

entspricht.<br />

Diesem – meiner Meinung nach<br />

naiven –Transferbild versucht man<br />

nun auch von wissenschaftlicher<br />

Seite aus zu begegnen.<br />

UNIversalis: Wie kann man denn<br />

etwas dagegen tun?<br />

Pregernig: Ein Trend, der dem<br />

entgegenwirkt, ist der der transdisziplinären<br />

und transformativen<br />

Forschung. Darunter versteht man<br />

einen Modus von Wissenschaft,<br />

der nicht nur verschiedene wissenschaftliche<br />

Disziplinen zusammenbringt,<br />

sondern auch gesellschaftliche<br />

Akteure in den Forschungsprozess<br />

miteinbezieht.<br />

Bereits in der Phase der Formulierung<br />

von Forschungsfragen werden<br />

zivilgesellschaftliche Akteure, also<br />

Foto: privat<br />

organisierte Bürger:innenschaften<br />

eingeladen, ihre Interessen zu formulieren.<br />

Auch im Forschungsprozess<br />

selbst werden die gesellschaftlichen<br />

Akteure inkludiert. Wenn<br />

man in diesen Formaten forscht,<br />

ist die Gefahr, dass am Ende ein<br />

Cherry-Picking stattfindet, deutlich<br />

geringer, weil die verschiedenen<br />

Akteure von Beginn an involviert<br />

waren. In Baden-Württemberg<br />

wurde diese Art von Forschung zuletzt<br />

unter anderem durch die sogenannten<br />

„Reallabore“ vom Wissenschaftsministerium<br />

recht prominent<br />

gefördert.<br />

UNIversalis: Was kann man denn<br />

unter einem solchen Reallabor verstehen?<br />

Pregernig: Ein Reallabor ist ein<br />

Forschungskontext, in dem zivilgesellschaftliche<br />

Akteure, aber auch<br />

Unternehmen, politische Akteure<br />

und solche der Verwaltung zusammen<br />

mit der Wissenschaft versu-<br />

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4 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />

Der AOK Studenten-Service.<br />

Mehr dazu unter aok.de/bw/studenten<br />

AOK Baden-Württemberg<br />

Die Gesundheitskasse Südlicher Oberrhein.<br />

chen, Probleme zu benennen, zu<br />

beforschen und aus all dem etwas<br />

zu lernen. Vor ein paar Jahren hatten<br />

wir an der Universität Freiburg<br />

beispielsweise ein Reallabor im und<br />

zusammen mit dem Nationalpark<br />

Schwarzwald. Auch mit der Stadt<br />

Freiburg hat unsere Fakultät schon<br />

in zahlreichen transdisziplinären<br />

Projekten zusammengearbeitet.<br />

UNIversalis: Nun gibt es auf Bundesebene<br />

seit kurzem auch das Ministerium<br />

für Wirtschaft und Klimaschutz.<br />

Ist das Symbolpolitik oder<br />

ist die Politik auch auf dieser Ebene<br />

sensibler für das Thema Nachhaltigkeit<br />

geworden?<br />

Pregernig: Die Hoffnung, dass diese<br />

Themen in Zukunft prominenter<br />

sein werden, besteht durchaus. Da<br />

ist mittlerweile der Problemdruck<br />

zu groß geworden, um sich wegzuducken.<br />

Der Klimawandel und seine<br />

Folgen sind schlicht und ergreifend<br />

nicht mehr wegzuleugnen; ein<br />

Trockenfrühling und Hitzesommer<br />

folgt auf den nächsten. Die Politik<br />

bewegt sich, und die Grünen sind<br />

da sicherlich ein progressiverer<br />

politischer Akteur. Aber man sieht<br />

auch, dass sich konservativere,<br />

wirtschaftsorientiertere Parteien<br />

Umwelt- und Klimaschutz auf die<br />

Fahnen schreiben. Klimapolitik ist<br />

zum Mainstream geworden.<br />

UNIversalis: Aber wie viel ist denn<br />

dabei „auf die Fahnen schreiben“<br />

und wie viel ist tatsächliche Umsetzung?<br />

Pregernig: Es muss noch viel getan<br />

werden, die Probleme sind riesig<br />

und es geht mitunter doch noch in<br />

recht kleinen Schritten voran. Aber<br />

beispielsweise das neue Ministerium<br />

für Wirtschaft und Klimaschutz,<br />

von dem wir vorhin gesprochen haben,<br />

finde ich in seinem Zuschnitt<br />

spannend. Zunächst klingt es widersprüchlich,<br />

dass da ein Minister für<br />

Wirtschaft auf der einen und Klimaschutz<br />

auf der anderen Seite zuständig<br />

sein soll. Manche mögen sagen:<br />

Es ist vor allem die Wirtschaft, die<br />

den Klimaschutz infrage stellt. Ich<br />

sehe diese Verbindung aber als<br />

große Chance, weil damit nicht<br />

ein Ministerium dem anderen den<br />

schwarzen Peter zuschieben kann,<br />

sondern Widersprüche innerhalb<br />

einer Verwaltungseinheit aufgelöst<br />

werden müssen.<br />

Früher war Umweltpolitik sehr silomäßig<br />

strukturiert: Es gab ein<br />

Umweltministerium, ein Agrarministerium<br />

und ein Verkehrsministerium.<br />

Wenn man sich aber<br />

fragt, wo die Umweltprobleme<br />

denn eigentlich herkommen, dann<br />

wird deutlich, dass es beispielsweise<br />

agrarische Strukturen sind,<br />

die zu Nitrat-Problemen oder Biodiversitätsverlust<br />

führen. Es sind<br />

bestimmte Formen der Mobilität,<br />

die zu Emissionen führen. Diese<br />

Beispielreihe ließe sich fortführen.<br />

Man wäre politisch besser<br />

gefahren, wenn man bereits früher<br />

querschneidende, integrativere Verwaltungseinheiten<br />

geschaffen hätte.<br />

Jetzt gibt es mit dem neuen Ministerium<br />

aber die große Chance, Wirtschaft<br />

und Klima unter einen Hut zu<br />

bekommen. Klimaschutz kann nur<br />

dann effektiv sein, wenn er auch<br />

von der Wirtschaft betrieben wird –<br />

und er wird es auch.<br />

UNIversalis: Das ist ein interessanter<br />

Punkt. Haben Sie dafür ein<br />

Beispiel?<br />

Pregernig: Wenn Sie sich den letzten<br />

Klimagipfel in Glasgow ansehen,<br />

dann ist auf der politischen<br />

Ebene nicht allzu viel vorangegangen.<br />

Im Vorfeld der Konferenz<br />

haben aber einige große Pensionsfonds<br />

und Versicherungsunternehmen<br />

beschlossen, dass es für sie<br />

mittelfristig nicht mehr tragbar ist,<br />

in fossile Energien zu investieren.<br />

Dementsprechend werden jetzt<br />

auch ihre Portfolios umgestellt, sodass<br />

beispielsweise nur noch in Unternehmen<br />

investiert wird, die auf<br />

erneuerbare Energien setzen.<br />

UNIversalis: Die Wirtschaft wird<br />

somit also zum Triebfaktor der<br />

Nachhaltigkeit?<br />

Pregernig: Diese Unternehmen tun<br />

das nicht aus altruistischen Gründen,<br />

sondern weil das altbewährte<br />

Business-Modell zusammengebrochen<br />

ist. Es macht für sie keinen<br />

Sinn mehr, in große Öl- oder<br />

Gasunternehmen zu investieren,<br />

weil ihre Kunden das nicht akzeptieren<br />

oder weil sie damit rechnen<br />

müssen, dass die Politik in einigen<br />

Jahren Regulierungen bringen<br />

wird. Dieser Trend „raus aus den<br />

fossilen Energien“ hat sich mit dem<br />

schrecklichen russischen Angriffskrieg<br />

in der Ukraine nun nochmal<br />

beschleunigt.<br />

Zurück zu Ihrer Frage: Ja, ich sehe<br />

Wirtschaftsakteure durchaus als<br />

wichtigen Triebfaktor. Wenn große<br />

Versicherungen oder Investmentfonds<br />

beginnen umzudenken, dann<br />

lässt sich dadurch viel verändern.<br />

Das heißt aber nicht, dass es für<br />

große Transformationen nicht auch<br />

anderer gesellschaftlicher Akteure<br />

bedarf. Wirtschaftliche Sektoren<br />

haben sich ja nicht zuletzt deshalb<br />

zu bewegen begonnen, weil soziale<br />

Bewegungen dies – zum Teil lautstark<br />

auf der Straße – eingefordert<br />

haben.<br />

UNIversalis: Sie denken an Bewegungen<br />

wie Fridays for Future?<br />

Pregernig: Genau. Aber daneben<br />

gibt es auch noch eine ganze Bandbreite<br />

von Umweltverbänden: vom<br />

moderaten WWF über Greenpeace<br />

bis hin zu radikaler argumentierenden<br />

und handelnden Gruppen<br />

wie Extinction Rebellion. Ohne die<br />

wären Wirtschaftsakteure sicherlich<br />

nicht ganz so progressiv, wie sie es<br />

im Moment sind. Das Zusammenspiel<br />

von staatlicher Politik, Unternehmensstrategien,<br />

aber auch von<br />

Aktionen zivilgesellschaftlicher<br />

Akteure macht in der Summe erst<br />

erklärbar, wie und warum Umweltpolitik<br />

funktioniert – oder eben<br />

auch nicht.<br />

UNIversalis: Wie gefährlich ist es<br />

denn, bei den Themen Umwelt und<br />

Nachhaltigkeit – und vielleicht auch<br />

besonders in Freiburg – in eine intrinsischen<br />

Argumentations-Bubble<br />

zu geraten und Teile der Bevölkerung<br />

gar nicht zu erreichen?<br />

Pregernig: Vielleicht kurz vorab:<br />

Freiburg sieht und verkauft sich erfolgreich<br />

als Green City. Wenn man<br />

es historisch betrachtet, ist es sicherlich<br />

so, dass die Stadt in gewissen<br />

Themen Vorreiter war. Heute<br />

ist Freiburg in manchen Bereichen<br />

nach wie vor recht progressiv, in<br />

anderen vielleicht nur gutes Mittelfeld.<br />

Dies gilt vor allem, wenn<br />

man nicht nur auf Fragen der Umwelt,<br />

sondern auf Nachhaltigkeit<br />

schaut, wo ja neben Ökologie auch<br />

ökonomische sowie soziale Verteilungs-<br />

und Gerechtigkeitsfragen<br />

berücksichtigt werden. Besonders<br />

drastisch sieht man das in Freiburg<br />

am Beispiel der Wohnraumfrage.<br />

Ich weiß, dass Dietenbach für viele<br />

ein rotes Tuch ist, aber zu sagen,<br />

dass in Freiburg nicht gebaut werden<br />

darf, führt dazu, dass die, die<br />

es sich leisten können, in Freiburg<br />

bleiben und die, die es nicht können,<br />

in die Randlagen verdrängt<br />

werden. Das ist wiederum umweltpolitisch<br />

problematisch, weil die<br />

Flächenversiegelung dann einfach<br />

woanders stattfindet, nachhaltige<br />

Mobilitätslösungen auf dem Land<br />

schwerer realisierbar sind als in<br />

der Stadt. An diesem Beispiel zeigt<br />

sich, wie wichtig es ist, dass Probleme<br />

integrativ und systemisch<br />

betrachtet werden.<br />

UNIversalis: Da haben Sie sicherlich<br />

recht. Kann man in Freiburg<br />

also von Bubble-Verdrängungsmechanismen<br />

sprechen?<br />

Pregernig: Die Gefahr der Bubble<br />

besteht durchaus. Wir legen deshalb<br />

gerade in unserem Studiengang auf<br />

eine systemische Betrachtung großen<br />

Wert. Ernährung, Mobilität und<br />

Klima können nicht eng sektoral<br />

gedacht werden, sondern müssen<br />

als System verstanden werden.<br />

Dazu gehört auch, dass lokale Fragen<br />

global gedacht werden müssen.<br />

Ein Teil der umweltpolitischen<br />

Erfolgsgeschichte Deutschlands<br />

beruht ja darauf, dass wir negative<br />

Effekte externalisiert haben. Der<br />

Industriestandort Deutschland ist<br />

unter anderem deshalb so „sauber“,<br />

weil wir mittlerweile vieles, billig<br />

– und oft auch schmutzig – in anderen<br />

Ländern produzieren lassen. Bei<br />

uns gibt es regelmäßig einen Aufschrei,<br />

wenn wir hören, dass Rohstoffe<br />

andernorts unter umwelt- und<br />

menschenrechtlich bedenklichen<br />

Bedingungen produziert werden.<br />

Dieser Aufschrei ist legitim; aber<br />

die „moralische Last“ liegt letztendlich<br />

auch bei uns, weil es unser<br />

Konsum ist, der diese Produktionssysteme<br />

stützt.<br />

UNIversalis: Es gibt das Format<br />

der Freiburger Umweltgespräche,<br />

bei denen Sie zuletzt auch selbst<br />

einen Vortrag gehalten haben. Ist<br />

das eine Möglichkeit, gesamtgesellschaftlich<br />

in den Dialog über<br />

Nachhaltigkeit zu treten?<br />

Pregernig: Es ist zumindest ein erster<br />

Versuch. Mit dem Jazzhaus als<br />

Veranstaltungsort gelingt es auch,<br />

diversere Gruppen anzusprechen.<br />

An der Universität, an der solche<br />

Formate bisher liefen, bleibt es halt<br />

doch recht „akademisch“. Gleichzeitig<br />

sieht man selbst im Jazzhaus<br />

eine gewisse Schieflage. Bei den<br />

Umweltgesprächen sind es schon<br />

auch immer wieder die „üblichen<br />

Verdächtigen“ im Publikum: Eher<br />

die Leute, die in zivilgesellschaftlichen<br />

Initiativen aktiv sind oder<br />

sich in der Verwaltung mit diesen<br />

Themen beschäftigen. Einen wirklichen<br />

Querschnitt der Bevölkerung<br />

stellt das nicht dar.<br />

UNIversalis: Haben Sie Zuversicht,<br />

dass sich das ändern lässt?<br />

Pregernig: Im Bereich Umweltbildung<br />

wird einiges getan. Da ist<br />

die Stadt Freiburg sehr aktiv, und<br />

es gibt auch einige Umweltbildungs-Träger<br />

mit niedrigschwelligen<br />

Angeboten. Trotzdem würde<br />

ich persönlich nicht zu viel Hoffnung<br />

in die Lösung unserer Umwelt-<br />

und Nachhaltigkeitsprobleme<br />

durch eine Mobilisierung der breiten<br />

Bürger:innenschaft legen. Das<br />

klingt jetzt erstmal komisch. Was<br />

ich aber meine ist: Auch wenn es<br />

die Handlungen Einzelner sind,<br />

die zu Umweltbelastungen führen,<br />

so kommt der gestaltende Rahmen<br />

doch von der Politik. Lassen Sie<br />

mich das am Beispiel der Mobilität<br />

zeigen. Ob und wie viel mit dem<br />

Auto gefahren wird oder mit alternativen<br />

Mobilitätsformen, das entscheiden<br />

wir als Individuen. Aber<br />

wie leicht oder wie schwer uns<br />

das eine oder das andere gemacht<br />

Prof. Dr. Pegernig<br />

Foto: privat<br />

wird, das hängt von der Verkehrsinfrastruktur,<br />

vom Ausbau des öffentlichen<br />

Verkehrs und dessen<br />

Tarifgestaltung ab – und das sind<br />

alles politische Fragen. Die Verschiebung<br />

der Verantwortung auf<br />

das Individuum empfinde ich als<br />

perfide Strategie des Blame-Shifting.<br />

Daran muss sich etwas ändern.<br />

Umweltbildungsprogramme<br />

sind eine gute Sache, aber sie können<br />

nur flankierende Maßnahmen<br />

sein, damit politische Instrumente<br />

greifen. Sie dürfen der Politik nicht<br />

dazu dienen, die Verantwortung für<br />

Umweltschutz und Nachhaltigkeit<br />

allein auf die individuelle Ebene<br />

abzuschieben.<br />

UNIversalis: Ein fulminantes<br />

Schlusswort. Vielen Dank für das<br />

Gespräch, Herr Pregernig.


Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 5<br />

Nachhaltigkeitskompetenz fördern als<br />

W<br />

ie eine nachhaltige Entwicklung<br />

gestaltet werden<br />

kann und was notwendig<br />

ist, um die Klimakrise<br />

abzu-wenden, wird in der<br />

Wissenschaft viel diskutiert. Aus<br />

den Natur-, Sozial- sowie Geisteswissenschaften<br />

werden hierzu fortlaufend<br />

Erkenntnisse zur Verfügung<br />

gestellt, die für wissenschaftlichen<br />

und technologischen Fortschritt<br />

sowie gesellschaftspolitische Entscheidungsprozesse<br />

von besonderer<br />

Relevanz sind. Aufgrund eines hohen<br />

Maßes an Komplexität werden<br />

diese Befunde in größeren Teilen<br />

der Bevölkerung entweder kaum<br />

wahrgenommen oder nicht verstanden.<br />

Daher ist es ein gesellschaftspolitisches<br />

Ziel, dieses Wissen über<br />

Bildungsangebote zu vermitteln<br />

und Einstellungen sowie Verhaltensdispositionen<br />

im Sinne einer<br />

nachhaltigen Entwicklung und des<br />

Klimaschutzes zu befördern. Das<br />

neue Forschungszentrum an der Pädagogischen<br />

Hochschule Freiburg<br />

bündelt genau diese Ziele.<br />

Maßnahmen zur Umsetzung von<br />

BNE und CCE<br />

Die Bedeutung einer Bildung für<br />

nachhaltige Entwicklung (BNE)<br />

sowie Klimabildung oder Climate<br />

Change Education (CCE) wurde bereits<br />

in der Rio-Erklärung von 1992<br />

und dem dazugehörigen Aktionsprogramm,<br />

der Agenda 21, verankert<br />

und durch zahlreiche Initiativen<br />

gefördert, u. a. durch die UN-Dekade<br />

BNE (2005-2014) und durch das<br />

derzeitige UNESCO-Programm<br />

„BNE 2030“, in das CCE integriert<br />

ist. Auch Artikel 6 der UN-Klimarahmenkonvention,<br />

United Nations<br />

Framework Convention on Climate<br />

Change (UNFCCC) sowie Artikel<br />

12 des 2015 verabschiedeten Pariser<br />

Klimaabkommens nennen CCE<br />

als eine Maßnahme, den Klimawandel<br />

zu bekämpfen. Das dazugehörige<br />

Aktionsprogramm Action<br />

for Climate Em-powerment (ACE)<br />

konkretisiert dieses Ziel.<br />

Allein diese Dokumente zeigen,<br />

dass BNE und CCE schon seit Längerem<br />

auf der politischen Agenda<br />

stehen und sich zahlreiche Akteur/-<br />

innen internationaler Institutionen<br />

als auch der Bildungspraxis damit<br />

befassen, wie BNE und CCE konkret<br />

umgesetzt werden können.<br />

Entsprechend wurde und wird eine<br />

Vielzahl an Vorschlägen hierzu für<br />

Kindergärten, Schulen, Universitäten<br />

und außerschulische Lernorte<br />

entwickelt. Unbeantwortet bleibt<br />

die Frage: Sind sie wirksam? Befähigen<br />

sie die Lernenden tatsächlich,<br />

eine nachhaltige Entwicklung<br />

zu gestalten und dem Klimawandel<br />

zu begegnen?<br />

Diese Frage nach der Wirksamkeit<br />

lieferte die grundlegende Idee für<br />

ein Forschungszentrum, in welchem<br />

empirische Forschung zu Klimabildung<br />

und BNE im Mittelpunkt<br />

gesellschaftspolitisches Ziel<br />

Neues Forschungszentrum für die evidenzbasierte Weiterentwicklung von Bildung für nachhaltige<br />

Entwicklung und Klimabildung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg<br />

stehen soll, um u. a. evidenzbasiert<br />

die Wirksamkeit von Klimabildung<br />

nachzuweisen und diese zu steigern.<br />

Es existieren bereits Befunde<br />

aus der empirischen Forschung zu<br />

BNE und Klimabildung, die allerdings<br />

nur unzureichend wahrgenommen<br />

und in der pädagogischen<br />

Praxis entsprechend wenig umgesetzt<br />

werden. Zu nennen wären hier<br />

Projektergebnisse der Arbeitsgruppe<br />

BNE um Werner Rieß (Institut<br />

für Biologie und ihre Didaktik),<br />

beispielsweise der BNE-Indikator<br />

Lehrerfortbildungen (BILF) oder<br />

das BUGEN-Projekt zum Stand<br />

der Nachhaltigkeitskompetenz bei<br />

Schüler/-innen(5. - 8. Klassenstufe)<br />

in Baden-Württemberg.<br />

An der Pädagogischen Hochschule wurde das neue Forschungszentrum Research Center for Climate Change Education and Education<br />

for Sustainable Development gegründet<br />

Foto: Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

Interdisziplinäre Forschungsprojekte<br />

Ein Forschungszentrum macht solche<br />

Befunde zu BNE und Klimabildung<br />

durch erfolgreiche Wissenschaftskommunikation<br />

sichtbarer,<br />

stellt den geeigneten institutionellen<br />

Rahmen für interdisziplinäre Forschungsprojekte<br />

bereit und fördert<br />

den wissenschaftlichen Austausch.<br />

Durch die Gewinnung und Bereitstellung<br />

evidenzbasierter Erkenntnisse<br />

kann letztendlich die Wirksamkeit<br />

von BNE und Klimabildung<br />

gesteigert werden.<br />

Bestärkt wurde diese Idee durch<br />

das Angebot, an dem internationalen<br />

Forschungsprojekt The Monitoring<br />

and Evaluating Climate<br />

Communication and Education<br />

Project (MECCE) mitzuarbeiten.<br />

Dieses Forschungsprojekt bringt<br />

fast achtzig Expert/-innen und internationale<br />

Institutionen wie UN-<br />

ESCO oder UNFCCC zusammen,<br />

um die Qualität und die Quantität<br />

von Klimabildung zu verbessern.<br />

In diesem Rahmen beteiligt sich<br />

das Forschungsteam der Pädagogischen<br />

Hochschule in Kooperation<br />

mit dem Institut Futur der FU<br />

Berlin und weiteren internationalen<br />

Partner/-innen des MECCE-Projekts<br />

an der Entwicklung von CCE-<br />

Indikatoren, beispielsweise einem<br />

CCE-Indikator, der eine empirisch<br />

fundierte Basis für ein wiederkehrendes<br />

Monitoring von Lehramtsstudierenden<br />

ermöglicht.<br />

Ein weiterer Schritt auf dem Weg<br />

zum Forschungszentrum war die<br />

Gründung einer Forschungs- und<br />

Nachwuchsgruppe (ProBiKlima)<br />

an der Pädagogischen Hochschule<br />

Freiburg, unter der Gesamtleitung<br />

von Werner Rieß und der forschungsmethodischen<br />

Leitung von<br />

Josef Künsting (Institut für Psychologie).<br />

Hier soll ein Messinstrument<br />

zur Erfassung von Klimakompetenz<br />

bei Schüler/-innen am Ende der Sekundarstufe<br />

I entwickelt werden.<br />

Klimabildung kann nur interdisziplinär<br />

gedacht und umgesetzt werden.<br />

Daher gibt es bei ProBiKlima<br />

einen naturwissenschaftlich-technischen<br />

sowie einen sozial-geisteswissenschaftlichen<br />

Strang, die am<br />

Ende zusammengeführt werden,<br />

um ein holistisches Messinstrument<br />

entwickeln zu können. Das interdisziplinäre<br />

Betreuer/-innen-Team<br />

besteht aus Kolleg/-innen der Pädagogischen<br />

Hochschulen Freiburg<br />

und Ludwigsburg sowie der Westfälischen<br />

Wilhelms-Universität Münster<br />

und der Universität Luzern.<br />

In diesem Kontext nahm das Forschungszentrum<br />

mit dem Namen<br />

Research Center for Climate Change<br />

Education and Education for<br />

Sustainable Development (ReC-<br />

CE) immer mehr Gestalt an und<br />

wurde von der Pädagogischen<br />

Hochschule Freiburg inzwischen<br />

als Forschungszentrum gegründet.<br />

Werner Rieß, Astrid Carrapatoso<br />

und Jennifer Stemmann sind mit<br />

dem Aufbau betraut und arbeiten<br />

daran, das ReCCE zu einem internationalen<br />

Forschungszentrum zu<br />

entwickeln, welches ein Gütesiegel<br />

für qualitativ hochwertige, evidenzbasierte<br />

Forschung im Bereich CCE<br />

und BNE darstellt und die zentrale<br />

Ansprechstelle für u. a. Seminare<br />

für die schulpraktische Ausbildung,<br />

Lehrkräftefortbildung und Ministerien<br />

sowie deren zugehörigen Behörden<br />

werden soll.<br />

Prof. Dr. Astrid Carrapatoso, Institut<br />

für Politik- und Geschichtswissenschaft<br />

an der PH Freiburg<br />

Prof. Dr. Werner Rieß, Institut für<br />

Biologie und ihre Didaktik an der<br />

PH Freiburg<br />

Prof. Dr. Jennifer Stemmann, Institut<br />

für Chemie, Physik, Technik<br />

und ihre Didaktiken, Fachrichtung<br />

Technik, an der PH Freiburg


6 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />

Zukunftstechnologie 3D-Druck<br />

Ein Konzept zum nachhaltigen Einsatz von 3D-Drucktechnologien im Bildungsbereich<br />

U<br />

nterschiedlichste Anwendungen<br />

der 3D-<br />

Drucktechnologie<br />

führten in den letzten<br />

Jahren in vielen Bereichen der Industrie<br />

und Forschung zu enormen<br />

Fortschritten. Die stetige Weiterentwicklung<br />

zukünftiger Anwendungsmöglichkeiten<br />

wie beispielsweise<br />

der 3D-Druck von Häusern oder<br />

das sogenannte Bioprinting (der<br />

Druck von Gewebe strukturen oder<br />

Organen) lässt darauf schließen,<br />

dass die Bedeutung des 3D-Drucks<br />

in Industrie und Forschung auch<br />

weiterhin stark zunehmen wird.<br />

Häufig werden 3D-Drucktechnologien<br />

in Bereichen eingesetzt,<br />

in denen Bauteile mit komplexen<br />

Geometrien verwendet oder kleine<br />

Stückzahlen produziert werden.<br />

Bereits jetzt verwenden namhafte<br />

Hersteller im Fahrzeug- und Flugzeugbau<br />

3D-Drucktechnologien in<br />

der Serienfertigung zur Erzeugung<br />

besonders leichter und stabiler Bauteile.<br />

In der Medizin werden erste<br />

Prototypen menschlicher Organe<br />

(z. B. die Miniaturversion einer<br />

Bauchspeicheldrüse) erzeugt, mit<br />

deren Hilfe Medikamententests an<br />

Menschen und Tieren zukünftig<br />

vermieden werden könnten. In der<br />

Medizinindustrie können durch<br />

3D-Druck Arm- und Beinprothesen<br />

passgenau und kostengünstig hergestellt<br />

werden.<br />

Diese Vielzahl an Anwendungsbeispielen<br />

verdeutlicht nicht nur die<br />

Bedeutung der Technologie und<br />

damit deren gesellschaftliche Relevanz,<br />

sondern zeigt auch, dass 3D-<br />

Druck in immer mehr Berufen, auch<br />

außerhalb des MINT-Bereichs (Mathematik,<br />

Informatik, Naturwissenschaften,<br />

Technik), eine zunehmend<br />

wichtige Rolle spielt.<br />

3D-Druck im Bildungsbereich<br />

Vor dem Hintergrund einer immer<br />

komplexer werdenden und zunehmend<br />

technisierten Gesellschaft<br />

werden Medienbildung und digitales<br />

Lernen auch im Bildungsbereich<br />

unabdingbar. Es gibt mehr<br />

und mehr hochspezialisierte Berufsbilder,<br />

für welche Kompetenzen<br />

wie digitale Affinität, vernetztes<br />

Denken und Problemlösefähigkeit<br />

eine zentrale Rolle spielen. Gleichzeitig<br />

ist im Hinblick auf aktuelle<br />

gesamtgesellschaftliche Themen<br />

und Probleme, wie beispielsweise<br />

den Klimawandel oder die aktuelle<br />

Covid-19-Pandemie, ein interdisziplinäres,<br />

vernetztes Denken und<br />

Arbeiten notwendig geworden. Ziel<br />

der Schulen und Bildungseinrichtungen<br />

muss es daher sein, genau<br />

hier anzusetzen, um Schüler/-innen<br />

auf neue Herausforderungen in der<br />

Berufs- und Lebenswelt vorzubereiten.<br />

Seit der Verfügbarkeit von erschwinglichen<br />

und unkompliziert<br />

einsetzbaren 3D-Druckern kann die<br />

Implementierung des 3D-Drucks<br />

auch im Bildungsbereich eine entscheidende<br />

methodische Bereicherung<br />

darstellen. Der 3D-Druck ist<br />

hier eine innovative Möglichkeit,<br />

wichtige Fähigkeiten wie räumliches<br />

Denken und Problemlösestrategien<br />

zu fördern und bietet<br />

durch seine Anschaulichkeit einen<br />

großen Mehrwert. Wichtig dabei<br />

ist, dass er, wie alle neuen Medien,<br />

kein Selbstzweck bleibt, sondern als<br />

neues Werkzeug im Lerngeschehen<br />

in ein pädagogisches Konzept eingebettet<br />

ist.<br />

Praktische Umsetzung im Schulalltag<br />

Die 3D-Drucktechnologie als<br />

Lern- und Anschauungsmethode<br />

kann – mit Fokus auf das Thema<br />

Abb.: Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

Nachhaltigkeit – in der Leitperspektive<br />

Bildung für nachhaltige<br />

Entwicklung (BNE) der Bildungspläne<br />

fächerübergreifend eingesetzt<br />

werden. Wie durch den 3D-Druck<br />

dabei die Themen Nachhaltigkeit<br />

und Umweltschutz handlungs- und<br />

lösungsorientiert veranschaulicht<br />

werden könnten, zeigen verschiedene<br />

Einsatzbeispiele:<br />

Mathematik: Kantenmodelle geometrischer<br />

Körper darstellen, z. B.<br />

zur Modellierung von verschiedenen<br />

Verpackungen → Hier kann<br />

dann thematisiert werden, welche<br />

Verpackungen die beste Ökobilanz<br />

aufweisen.<br />

Geographie: dreidimensionale<br />

Karte, welche das Bruttoinlandsprodukt<br />

verschiedener Länder visualisiert<br />

→ Hier kann der Genuine<br />

Progress Indicator (GPI) angesprochen<br />

werden, welcher nicht nur<br />

wirtschaftliche Aspekte berücksichtigt,<br />

sondern auch soziale und<br />

ökologische.<br />

Biologie: Kleinlebewesen anschaulich<br />

darstellen → Hier kann auf die<br />

Notwendigkeit von Biodiversität<br />

Bezug genommen werden.<br />

Chemie: räumliche Struktur von<br />

Molekülen veranschaulichen →<br />

Hier können beispielsweise alternative<br />

nachhaltige Ressourcen behandelt<br />

werden.<br />

Kunst: Übertrag von zweidimensionalen<br />

Kunstwerken in 3D, um<br />

neue Zugänge zur Kunst für blinde<br />

Menschen zu schaffen → Hier<br />

kann das Konzept der Teilhabe als<br />

wichtiger Aspekt der Nachhaltigkeit<br />

thematisiert werden.<br />

Deutsch:→ Texte im Braille-Alphabet<br />

erstellen.<br />

Für Schüler/-innen ist neben den<br />

inhaltlichen und technischen Aspekten<br />

die Möglichkeit stark motivierend,<br />

eine Fragestellung von der<br />

Planung bis zur Realisierung zu begleiten.<br />

Kreativität sowie multiperspektivische<br />

Herangehensweisen<br />

werden durch offene Zusammenarbeit<br />

am 3D-Modell gefördert, und<br />

vielfältige Problemlösestrategien<br />

bieten dann wiederum die Möglichkeit,<br />

einen konstruktiven Umgang<br />

mit Fehlern zu schulen. Allerdings<br />

lassen sich entsprechende<br />

Lernumgebungen z. B. aufgrund<br />

einer Druckdauer von mitunter<br />

mehreren Stunden nicht immer<br />

einfach realisieren. Wichtig beim<br />

Einsatz der 3D-Drucktechnologie<br />

im Bildungskontext ist außerdem,<br />

dass insbesondere bei komplexen<br />

Leitperspektiven wie Bildung für<br />

nachhaltige Entwicklung nicht nur<br />

technische Aspekte, sondern auch<br />

Faktoren wie Interdisziplinarität sowie<br />

Berufs- und Alltagsbezug pädagogisch<br />

und didaktisch mitgedacht<br />

werden, sodass eine nachhaltige Implementierung<br />

gelingen kann.<br />

Didaktisches Resümee<br />

Der 3D-Druck kann bei entsprechender<br />

didaktischer Begleitung gewinnbringend<br />

in die MINT-Ausbildung<br />

integriert werden. Gesamtgesellschaftlich<br />

aktuelle Themen wie<br />

Nachhaltigkeit und Umweltschutz<br />

können auf diese Weise handlungsund<br />

lösungsorientiert bearbeitet und<br />

Lernende zu kritisch reflektierten<br />

und verantwortungsvollen Entscheidungen<br />

befähigt werden. So<br />

lässt sich beispielsweise durch die<br />

eigenständige Herstellung von Ersatzteilen<br />

auch das Konsumverhalten<br />

junger Menschen beeinflussen<br />

oder es können durch die Thematisierung<br />

von 3D-gedrucktem Fleisch<br />

ethische Fragestellungen aufgeworfen<br />

werden. Gleichzeitig sollte stets<br />

ein Bewusstsein für einen sinnvollen<br />

Einsatz der Technologie, einen<br />

ressourcenschonenden Umgang<br />

und die Wahrnehmung der Druckreste<br />

als Wertstoffe geschaffen werden,<br />

die bestmöglich zu verwerten<br />

sind. Das bedeutet insbesondere,<br />

dass sowohl Druckverfahren als<br />

auch -materialien gewählt werden<br />

müssen, welche für die Nutzung<br />

durch Kinder und Jugendliche geeignet<br />

sind, und Druckabfälle sortenrein<br />

gelagert sowie professionell<br />

aufbereitet werden.<br />

An der Pädagogischen Hochschule<br />

Freiburg wurde im Rahmen des International<br />

Centrefor STEM Education<br />

im Herbst 2021 das 3D-Drucklabor<br />

„3Druckraum“ eröffnet. Hier<br />

finden regelmäßig offene Mitmachangebote<br />

und Familiennachmittage<br />

nach dem Konzept der „Makerspaces“<br />

statt. Das offene Angebot<br />

steht sowohl Schüler/-innen, Studierenden<br />

und Familien zur Verfügung,<br />

als auch interessierten Lehrkräften,<br />

welche die Technologie<br />

3D-Druck hautnah erleben wollen.<br />

Informationen zu 3D-Druckworkshops<br />

für Schüler/-innen und Lehrkräfte<br />

in der Region:<br />

https://icse.ph-freiburg.de/mint4life-projekt-uc/<br />

Prof. Dr. Katja Maaß, Direktor International<br />

Centre of STEM Education<br />

ICSE an der PH Freiburg<br />

Dr. Oliver Straser, Assistant Director<br />

Aileen Fahrländer, Programme<br />

Specialist


Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 7<br />

Machtdynamiken eines weißen Feminismus<br />

Die Autorin Rafia Zakaria im Gespräch<br />

F<br />

eminismus muss nicht<br />

zwingend die Gleichberechtigung<br />

aller Menschen<br />

bedeuten. Wer solche<br />

Äußerungen ausschließlich<br />

rechten Männern zuschreibt,<br />

übersieht die Perspektive des<br />

kritischen nicht-weißen Feminismus.<br />

Die US-pakistanische<br />

Anwältin und Journalistin Rafia<br />

Zakaria beschreibt in ihrem Buch<br />

„Against White Feminism“, wie<br />

diskriminierend ein Feminismus<br />

wirken kann, der seine weißen<br />

Privilegien nicht kritisch reflektiert.<br />

Ihr Buch ist ein bisweilen<br />

schockierender Blick auf die<br />

Nähe des „weißen Feminismus“<br />

zu Kapitalismus, Imperialismus<br />

und Kolonialismus. Fabian Lutz<br />

hat die Autorin, die am 26. März<br />

auch im Literaturhaus Freiburg<br />

zu Gast war, zum Gespräch getroffen.<br />

UNIversalis: Sind alle weißen<br />

Feminist*innen zum„weißen Feminismus“<br />

verdammt, wie Sie ihn in<br />

Ihrem Buch kritisieren?<br />

Rafia Zakaria: Mit dem Begriff<br />

„weißer Feminismus“ möchte ich<br />

nicht aussagen, dass jede weiße<br />

Frau, die Feministin ist, eine weiße<br />

Feministin ist. Man kann auch<br />

nicht-weiß sein und die Haltung<br />

eines weißen Feminismus vertreten.<br />

Weißsein ist für mich eine Kategorie,<br />

die durch Privilegien gekennzeichnet<br />

ist. Weißsein verleiht<br />

Macht, andere zu dominieren. Menschen,<br />

die einen weißen Feminismus<br />

praktizieren, sind nicht bereit,<br />

die Konsequenzen zu reflektieren,<br />

die aus ihren Privilegien resultieren.<br />

Das betrifft sowohl gegenwärtige<br />

als auch historische Privilegien.<br />

UNIversalis: Gibt es einen Ausweg<br />

aus dem weißen Feminismus, möglicherweise<br />

über die Reflexion dieser<br />

Privilegien?<br />

Rafia Zakaria: Ich möchte mit<br />

meiner Arbeit eine Änderung im<br />

Denken von weißen und auch nichtweißen<br />

Frauen bewirken. Ich will<br />

sie ermutigen, ihre eigene Teilhabe<br />

an diskriminierenden Machtstrukturen<br />

aber auch diskriminierendem<br />

Verhalten zu reflektieren und so die<br />

etablierten Normen herauszufordern,<br />

wie sie vor allem in weißen<br />

westlichen Gesellschaften vorherrschen.<br />

Diese kritische Perspektive<br />

brauchen wir für einen Feminismus,<br />

der möglichst viele Menschen<br />

miteinschließt, also inklusiv ist.<br />

UNIversalis: In Ihrem Buch<br />

Rafia Zakaria<br />

schreiben Sie über die Auseinandersetzungen<br />

zwischen weißen<br />

und nicht-weißen Feminist*innen.<br />

Immer wenn der weiße Feminismus<br />

kritisiert wird, werden deren<br />

Vertreter*innen aggressiv oder<br />

ignorieren ihre nicht-weißen Gegenüber.<br />

Warum diese harschen<br />

Reaktionen? Sind Feminist*innen<br />

nicht generell liberale, weltoffene<br />

Menschen?<br />

Rafia Zakaria: Lassen Sie mich<br />

zunächst mit einem Beispiel antworten.<br />

Bei einer von Annalena<br />

Baerbocks Auslandsreisen wurde<br />

ein Foto gemacht, das die Außenpolitikerin<br />

dabei zeigt, wie sie sich zu<br />

nicht-weißen Kindern niederbeugt<br />

und Dinge verteilt. Weiße Frauen<br />

sehen in dieser Darstellung oft kein<br />

Problem. Bei mir als nicht-weiße<br />

Frau löst das Bild unangenehme<br />

Gefühle aus. Ich sehe auf diesem<br />

Bild die problematische Inszenierung<br />

einer weißen Frau, die nichtweiße<br />

Menschen rettet. Ein solches<br />

Selbstbild ist elementar für den weißen<br />

Feminismus.<br />

UNIversalis: Für mich klingt Ihre<br />

Kritik eingängig. Warum dennoch<br />

die ablehnende Reaktion gerade<br />

weißer Feminist*innen?<br />

Rafia Zakaria: Die harsche Reaktion<br />

weißer Frauen auf eine Kritik<br />

an solchen Bildern basiert meiner<br />

Beobachtung nach auf zwei<br />

Dingen: Erstens sehen sich weiße<br />

Frauen selbst als Betroffene von<br />

Machtstrukturen, die sie ausschließen.<br />

Diesen Frauen fällt es schwer,<br />

die Kritik anzunehmen, sie selbst<br />

seien Teil von Machtstrukturen, die<br />

wiederum nicht-weiße Frauen ausschließen.<br />

Der zweite Grund liegt in<br />

einem kapitalistischen Denken, das<br />

nur individuellen Erfolg als Erfolg<br />

akzeptiert. Nach diesem Denken<br />

können Bewegungen, die auf einen<br />

gemeinsamen kollektiven Erfolg<br />

verweisen nur schwer akzeptiert<br />

werden.<br />

UNIversalis: Und eine solche Bewegung<br />

wünschen Sie sich?<br />

Rafia Zakaria: Ja, ich wünsche mir<br />

den Feminismus als inklusive Bewegung.<br />

Ich glaube an einen universellen<br />

Feminismus, auf den sich<br />

alle Menschen einigen können und<br />

den sie als Basis nutzen können,<br />

Foto Jeremy Hogan<br />

um sich global in Bewegungen zu<br />

engagieren.<br />

UNIversalis: Ihr Buch arbeitet<br />

nicht nur detailliert die Probleme<br />

historischer wie gegenwärtiger<br />

feministischer Repräsentation heraus,<br />

sondern bringt auch Ihre persönlichen<br />

Erlebnisse als nicht-weiße<br />

Frau mit ein. Welchen Stellwert<br />

haben diese für Sie?<br />

Rafia Zakaria: Wenn Menschen,<br />

die nicht von weißen Privilegien<br />

profitieren, kein Raum zur Aussprache<br />

eingeräumt wird, wird man<br />

diese Problematiken innerhalb von<br />

Machtstrukturen nicht erkennen.<br />

Genau deshalb integriere ich auch<br />

meine persönlichen Erfahrungen in<br />

das Buch – damit Menschen sehen,<br />

wie sich diese Machtstrukturen auf<br />

nicht-weiße Menschen konkret auswirken.<br />

UNIversalis: Gehen wir mit Ihrem<br />

Buch etwas tiefer in die Geschichte<br />

des weißen Feminismus zurück, gelangen<br />

wir schnell zur Verbindung<br />

von Feminismus und Kolonialismus.<br />

Britische Frauen fanden etwa<br />

in den Kolonien plötzlich zur Emanzipation,<br />

natürlich auf Kosten der<br />

kolonisierten Völker. Sie erzählen<br />

mit Getrude Bell von einer dieser<br />

historischen weißen Feministinnen.<br />

Rafia Zakaria: Getrude Bell war<br />

eine gut vernetzte Aristokratin der<br />

britischen Gesellschaft. Bekannt ist<br />

sie für ihre Reisen und Abenteurer,<br />

aber auch für ihre tragende Rolle<br />

als Vermittlerin in diplomatischen<br />

Angelegenheiten. Bei ihrem Aufenthalt<br />

in Jerusalem, zu ihrer Zeit<br />

ein britisches Protektorat, schreibt<br />

sie, dass sie an diesem Ort endlich<br />

eine Person sei. In der weißen britischen<br />

Gesellschaft waren Frauen<br />

den Männern immer ungeordnet.<br />

Innerhalb der Kolonie ist Getrude<br />

Bell zwar weiterhin eine Frau, als<br />

weiße Frau aber über alle nicht-weißen<br />

Menschen jeden Geschlechts<br />

gestellt. Darüber, dass Getrude Bell<br />

auf ihrer Reise ein weißes Privileg<br />

genießen konnte, wird bis heute<br />

nicht viel gesprochen. Dabei waren<br />

viele Fortschritte, die britische<br />

Frauen erzielten, durch den britischen<br />

Imperialismus bedingt. Britische<br />

Frauen, die in die Kolonien<br />

gingen, konnten ihr weißes Privileg<br />

genießen und es sich zunutze machen.<br />

UNIversalis: Für mich war diese<br />

Verbindung tatsächlich neu. Wie<br />

haben Ihre Lesenden auf diese kritische<br />

Auseinandersetzung mit einer<br />

weißen feministischen Geschichtsschreibung<br />

reagiert?<br />

Rafia Zakaria: Ich hatte gehofft,<br />

dass zumindest dieser Abschnitt<br />

meines Buchs nicht so kontrovers<br />

aufgenommen würde. Kolonialismuskritische<br />

Ansätze sind im<br />

akademischen Diskurs nicht ungewöhnlich.<br />

Aber oh, mein Gott.<br />

(lacht) Ich musste erleben, dass<br />

dieser kritische Blick gerade für<br />

Brit*innen immer noch sehr kontrovers<br />

ist. Im akademischen Bereich<br />

wird mein Ansatz einer Neuerzählung<br />

der Geschichte einigermaßen<br />

akzeptiert, aber kaum dass ich ihn<br />

in die öffentliche Debatte bringe,<br />

treffe ich auf starken Widerstand.<br />

Gerade, weil ich mich gegen historische<br />

Figuren wende, die als<br />

Held*innen verehrt werden.<br />

UNIversalis: Großbritannien sieht<br />

sich mittlerweile als Commonwealth<br />

of Nations. Statt Aggression und<br />

Eroberung stehen nun Mitgefühl<br />

und Unterstützung ehemaliger Kolonien<br />

und ihrer Bewohner*innen<br />

an. Mich wundert nach Ihren Ausführungen<br />

nicht, dass Sie in Ihrem<br />

Buch hier und in vielen anderen Bereichen<br />

rassistische Kontinuitäten<br />

sehen, gerade was die Sorge weißer<br />

Menschen gegenüber nicht-weißen<br />

Menschen betrifft.<br />

Rafia Zakaria: Zunächst muss ich<br />

betonen, dass ich weißen Menschen<br />

ihr ehrliches Mitgefühl für nichtweiße<br />

Menschen nicht absprechen<br />

will. Mir geht es in meiner Arbeit<br />

vielmehr darum, die dem zugrundeliegenden<br />

Machtstrukturen zu<br />

untersuchen, gerade solche, die oft<br />

als unpolitisch bewertet werden. Zu<br />

reisen, um zu helfen, ins Ausland zu<br />

gehen, um in einem nepalesischen<br />

Waisenhaus zu arbeiten – solche<br />

Fälle sind Beispiele für die Selbstdarstellungen<br />

weißer Helfer*innen,<br />

die vor allem von ihrem Erstaunen<br />

über die Bedürftigkeit nicht-weißer<br />

Menschen erzählen. In meinen Augen<br />

übersehen solche Darstellungen<br />

die Machtdynamiken, die diesen Interaktionen<br />

zugrunde liegen. Diese<br />

Machtdynamiken möchte ich offenlegen.<br />

UNIversalis: Wie radikal muss eine<br />

solche Offenlegung sein – und geht<br />

sie mit einer direkten Zerschlagung<br />

dieser Dynamiken einher?<br />

Rafia Zakaria: Mir geht es zunächst<br />

nicht darum, diese Interaktionen<br />

zu verbieten, sondern ein<br />

Bewusstsein dafür zu schaffen, dass<br />

dabei Ungleichheiten bestehen. Indem<br />

wir die Machtdynamiken sichtbar<br />

und formulierbar machen, können<br />

wir sie auflösen oder es zumindest<br />

versuchen. Mir ist wichtig, hier<br />

nicht vehement „Nein“ zu sagen<br />

und defensiv zu werden. Ich will<br />

das Gute in den Menschen nicht<br />

verleugnen, sondern nur aufzeigen,<br />

dass sich dieses Gute auch in eine<br />

Sprache der Macht und des weißen<br />

Privilegs übersetzen lässt. Leider.<br />

UNIversalis: Sie sprechen von<br />

einem Bedauern. Wie erschöpfend<br />

ist es, ein so kontroverses Buch zu<br />

schreiben – und wie befreiend?<br />

Rafia Zakaria: Nicht-weiße Menschen<br />

empfinden oft eine große Erschöpfung<br />

dabei, sich immer wieder<br />

mit diesen Problematiken auseinanderzusetzen.<br />

Und Bücher, die versuchen,<br />

die Wahrnehmung und das<br />

Denken der Menschen zu ändern,<br />

bedeuten immer Risiken.Es war<br />

tatsächlich anstrengend, das Buch<br />

herauszubringen, angesichts der negativen<br />

Reaktionen und angesichts<br />

der Versuche einiger Menschen, das<br />

Buch niederzumachen oder zu ignorieren.<br />

Gleichzeitig bekomme ich<br />

viele Briefe und Komplimente. Die<br />

Menschen, die mein Buch verstanden<br />

haben, mochten es und stellten<br />

sehr vehement die wichtige Rolle<br />

heraus, die es spielt. Dafür bin ich<br />

sehr dankbar. Auch bin ich dankbar<br />

dafür, dass es genügend Aufsehen<br />

erregt hat, um nun in vielen Bildungseinrichtungen<br />

auf der ganzen<br />

Welt gelesen zu werden. Ich hoffe,<br />

das wird die Basis dafür legen, dass<br />

wir diese Gespräche weiter führen<br />

werden und ein Wandel stattfinden<br />

kann.<br />

Das Gespräch wurde in englischer<br />

Sprache geführt, Übersetzung ins<br />

Deutsche durch Fabian Lutz. Die<br />

Begriffe „weiß“ und „nicht-weiß“<br />

dienen hier nicht der Beschreibung<br />

einer tatsächlichen Hautfarbe, sondern<br />

sollen als gemachte soziale,<br />

gesellschaftliche Konstrukte verstanden<br />

werden.<br />

Rafia Zakaria: „Against White Feminism.<br />

Wie weißer Feminismus<br />

Gleichberechtigung verhindert“,<br />

aus dem Englischen von Simoné<br />

Goldschmidt-Lechner, hanserblau<br />

2022.


8 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />

Forscher:innen des Max-Planck-<br />

Instituts untersuchten in Folge der<br />

Corona Krise die Immunresistenz<br />

von drei weiblichen Alpakas, indem<br />

sie den Tieren Spikeproteine<br />

induzierten - im Blut der Tiere fand<br />

man keine Infektion mit dem Virus,<br />

sondern einen reichlichen Gehalt<br />

an Nanobodies und dadurch eine<br />

äußerst starke Resistenz gegenüber<br />

dem Corona Virus<br />

Foto: Pixabay<br />

Nacktmulle, Alpakas und das ewige Leben<br />

Ein Appell zwischen Arterhalt und der Ausnutzung tierischer Potentiale. Renè Anours Buch „Das Arche<br />

Noah Prinzip”<br />

W<br />

ieviel können wir der<br />

Natur noch abverlangen?<br />

Und wieviel<br />

könnte man aus der<br />

Natur noch potentiell nutzen?<br />

Diesen Spagat versucht Renè Anour<br />

in seinem Buch „Das Arche<br />

Noah Prinzip. Heilung aus dem<br />

Tierreich” seinen Leser:innen<br />

näher zu bringen. Aber ist dies<br />

überhaupt möglich?<br />

Noch so ein Artikel zur Aufklärung<br />

von Zoonosen, den Verlust der Biodiversität<br />

und der nicht artgerechten<br />

Haltung von Masttieren, denken sie<br />

jetzt. Doch es ist nicht ganz wie es<br />

scheint.<br />

„Das Arche Noah Prinzip” ermöglicht<br />

den Leser:innen einen einfachen<br />

und emotionalen Einstieg<br />

in ein Thema, welches auch die<br />

Verschwörungstheoretiker:innen<br />

unter Ihnen aufhorchen lassen<br />

wird. Wie ermöglicht uns die Tierwelt<br />

die Tumorbekämpfung, die<br />

Krebsheilung oder gar das ewige<br />

Leben. Laut Anour gibt es nämlich<br />

bereits seit längerer Zeit Forschungen<br />

zu außergewöhnlichen Tieren,<br />

deren Eigenschaften von höchstem<br />

Interesse für eben diese Ziele sind.<br />

Und das alles ohne Jungfrauenoder<br />

Kinderblut. Ob mit dem Gen<br />

Kloth, Hydren, arktischen Tiefseeschwämmen<br />

oder dem nicht zu<br />

unterschätzenden Nacktmull, um<br />

den laut Anour ein ganzes Buch<br />

hätte geschrieben werden können.<br />

Sie alle haben außergewöhnliche<br />

Fähigkeiten, die wir mit unserem<br />

bisherigen Forschungsstand schwer<br />

einordnen können, aber verzweifelt<br />

gerne würden. Insgesamt ist das<br />

Buch ein weit gefasster Überblick<br />

über die Möglichkeiten, ob bereits<br />

entdeckt oder noch unentdeckt,<br />

die die Vielfalt der Natur uns bieten<br />

kann. Durch viele verschiedene<br />

wissenschaftliche Beispiele und<br />

persönliche Geschichten hangelt<br />

sich Renè Anour in 200 Seiten von<br />

Tier zu Tier und zeigt so die Potentiale<br />

der Problem- und Krankheitsbekämpfungen,<br />

welche sich durch<br />

diese ergeben auf. Auch wenn diese<br />

Themenfelder komplex klingen<br />

mögen, „Das Arche Noah Prinzip”<br />

ist wie ein Schulbuch, mit kursiven<br />

zusammengefassten Wissensständen<br />

am Ende jedes Kapitels, sei es<br />

noch so kurz, sehr gut bekömmlich.<br />

Biblische Wahrheit?<br />

Warum aber der Name Arche Noah<br />

Prinzip? In einer anfänglichen Geschichte<br />

beschreibt der Autor die<br />

Geschichte Noahs, wie er eine Taube<br />

auf den Weg für die Suche nach<br />

Land geschickt haben soll. Nach<br />

einer Ausführung warum genau<br />

die Taube durch ihre Muskelkraft<br />

der beste Vogel für diese Aufgabe<br />

ist, endet die Geschichte mit einem<br />

wiedergebrachten Olivenzweig im<br />

Schnabel des Tieres. Der Olivenzweig<br />

stellt in der biblischen Geschichte<br />

das nahende Land dar. In<br />

unserer Geschichte allerdings soll<br />

er sinnbildlich sein für die nicht zu<br />

unterschätzenden Potentiale, die<br />

die Tierwelt immer noch für uns<br />

bereithält. So gab es beispielsweise<br />

auch bei der Suche nach einem<br />

Heilmittel für den Corona Virus<br />

eine erstaunliche Wiederentdeckung<br />

der Antikörper von Kamelen.<br />

Im Gegensatz zu menschlichen<br />

Antikörpern, sind diese viel kleiner<br />

und leichter und erhielten deswegen<br />

den Namen Nanobodies. Trotz<br />

ihrer Größe und ihres Gewichts<br />

haben sie die gleiche Wirksamkeit<br />

und Forschende vermuten, dass<br />

sie sogar die Blut-Hirn-Schranke<br />

überwinden könnten. Nanobodies<br />

könnten also auch in der Heilung<br />

von Hirntumoren eine größere Rolle<br />

spielen. Einige Forscher:innen<br />

des Max-Planck-Instituts brachten<br />

die 1989 entdeckten, doch lange<br />

beiseite gelegten Antikörper wieder<br />

ans Tageslicht. Ihr Ziel war es<br />

in Folge der Corona Krise die Immunresistenz<br />

von drei weiblichen<br />

Alpakas zu untersuchen. Dafür induzierten<br />

sie den Tieren Spikeproteine<br />

und nahmen wenig später eine<br />

Blutprobe. In dieser fand man nicht<br />

etwa eine Infektion mit dem Virus,<br />

sondern einen reichlichen Gehalt<br />

an Nanobodies und dadurch eine<br />

äußerst starke Resistenz gegenüber<br />

dem Corona Virus. Diese Erkenntnis<br />

führt heute zu vielen weiteren<br />

Forschungen an diesen ganz besonderen<br />

und vielversprechenden<br />

Antikörpern.<br />

Das Geheimnis der Nacktmulle<br />

Aber auch in anderen, existenziellen<br />

Bereichen hält die Tierwelt<br />

etwas für uns bereit. Beispielsweise<br />

ist ja relativ bekannt, dass wir alle<br />

einmal sterben werden. Manche<br />

Lebewesen früher, manche später.<br />

Das liegt, wie auch Dr. René Anour<br />

beschreibt, an der Stoffwechselrate<br />

eines jeden Lebewesens. Ist diese<br />

hoch, also schlägt das Herz pro<br />

Minute öfter, so hat man eine geringere<br />

Lebenserwartung. Während<br />

beispielsweise Blauwale mit sechs<br />

Herzschlägen pro Minute auskommen<br />

und bekanntlich recht alt werden,<br />

hat die Etruskerspitzmaus mit<br />

tausend Herzschlägen in der Minute<br />

nur wenige Jahre zu leben. Ein<br />

besonderes Säugetier macht dieser<br />

These aber einen Strich durch die<br />

Rechnung: der Nacktmull. Die<br />

Erforschung dieses kleinen Tiers<br />

wird heute bereits von Megakonzernen<br />

gesponsert. Und dabei traf<br />

man auf ganz erstaunliche Erkenntnisse.<br />

Während bei uns Menschen<br />

im Erwachsenenalter das Risiko zu<br />

sterben exponentiell steigt, ist das<br />

Sterberisiko für einen sechsjährigen<br />

Nacktmull genauso hoch wie das<br />

für einen zwanzigjährigen Nacktmull.<br />

Also verständlicher ausgedrückt<br />

hätte der Nacktmull in Menschenalter<br />

umgerechnet im Alter<br />

von sechzig noch die gleiche Agilität<br />

wie mit zwanzig Jahren. Und<br />

sogar die Fruchtbarkeit des Nackmulls<br />

nimmt mit dessen Lebenszeit<br />

eher zu. Das größte Potential aber,<br />

dass die Nacktmulle bereithalten,<br />

ist ihre Resistenz gegenüber Tumoren.<br />

Nacktmulle bekommen<br />

keinen Krebs und das macht sie als<br />

Säugetiere weitgehend einzigartig.<br />

Ganz konkret hat dieses Phänomen<br />

mit Hyaluronsäure zu tun, von der<br />

ein Gramm bereits 6 Liter Wasser<br />

binden kann. Dies hat viele positive<br />

Vorteile, wie zum Beispiel unsere<br />

Zellen vor Druckeinwirkungen zu<br />

schützen oder Immunzellen leichter<br />

durch den Körper bewegen zu<br />

lassen. Damit der Nacktmulll in<br />

seinem Bau in den engen Gängen<br />

an Artgenosse:innen vorbeikommt<br />

braucht er für die Flexibilität und<br />

Elastizität seines Körpers eben das:<br />

Hyaluronsäure. Und diese wird<br />

sogar schon in der Wissenschaft<br />

ganz unverhohlen als Super-Hyaluronsäre<br />

bezeichnet. Der Zauberstoff<br />

der Nacktmulle schützt nämlich<br />

nicht nur die Zellen vor Stress und<br />

Zelltod, sondern aktiviert auch ein<br />

Frühwarnsystem vor Tumoren, welche<br />

dann sogleich auch bekämpft<br />

werden. Und das beste ist: Sie<br />

funktioniert auch bei menschlichen<br />

Zellen. Erneut also eine mögliche<br />

Lösung für ein Problem, das die<br />

Menschheit schon lange umtreibt.<br />

Nicht aus dem Labor, sondern von<br />

Lebewesen wortwörtlich direkt zu<br />

unseren Füßen. Tragisch dabei ist<br />

nur, dass Menschen anscheinend<br />

erst solche Selbsterhaltungsnutzen<br />

erfahren müssen, um den Erhalt der<br />

Vielfalt gewährleisten oder umsetzen<br />

zu wollen. Nicht etwa der Vielfalt<br />

wegen, sondern des Nutzens<br />

für die Menschheit wegen. Aber so<br />

ist der Mensch leider nun mal, behauptet<br />

auch Anour. Erst wenn etwas<br />

in nächster Nähe sichtbar wird,<br />

können wir damit umgehen. Wenn<br />

die Menschheit es schon nicht<br />

schafft, in den eigenen Reihen auf<br />

Diskriminierung, Vertreibung oder<br />

sogar Genozid zu verzichten, wie<br />

sollen wir dann andere Arten vor<br />

uns schützen? Um diesem Problem<br />

entgegenzuwirken betont Anour,<br />

wie wichtig es ist, sich mit der<br />

Artenvielfalt auseinanderzusetzen<br />

oder wie er schreibt: „sie zu erleben,<br />

so oft es geht.”. Und das muss,<br />

laut Anour nicht in der Savanne bei<br />

einer Safaritour in Südafrika sein,<br />

sondern kann bereits im Vorgarten<br />

beginnen. Vögel, Ameisen, Marienkäfer,<br />

Bienen und Hummeln. So<br />

einiges ist da direkt vor der Haustür<br />

zu finden. Aber auch wenn Sie


Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 9<br />

Durch Streicheleinheiten wird das<br />

sogenannte Kuschelhormon Oxytocin<br />

ausgeschüttet<br />

Foto: pixabay<br />

keinen Vorgarten haben, können<br />

uns die dem Menschen vertrautesten<br />

Tiere, laut Anour, wieder mit<br />

der Natur in Einklang bringen: Die<br />

Haustiere.<br />

Stetige Begleiter<br />

Mein Freund und ich sind uns<br />

beim Thema Katzen eher uneinig.<br />

Während er auf der Seite der<br />

Katzenfreund:innen ist, denke ich<br />

immerzu an die Vögel die jährlich<br />

von den Hauskatzen weiter determiniert<br />

werden. „Das Arche Noah<br />

Prinzip” allerdings liefert einige<br />

nachgewiesene Argumente, die für<br />

die Anschaffung eines Haustiers<br />

sprechen. Durch Streicheleinheiten<br />

dieser wird beispielsweise, das sogenannte<br />

Kuschelhormon Oxytocin<br />

ausgeschüttet. Das gleiche Hormon,<br />

dass bei der Berührung oder beim<br />

berührt werden des/der Partner:in<br />

gebildet wird. Man erfährt dadurch<br />

Wohlbefinden und Entspannung.<br />

Durch den Umgang mit den uns<br />

freundschaftlich engen Tieren kann<br />

unsere psychische Gesundheit<br />

verbessert werden, im Falle eines<br />

Hundes sogar die körperliche Fitness<br />

durch viele Spaziergänge. Und<br />

manche Forscher:innen behaupten<br />

sogar, dass sich das Schnurren einer<br />

Katze positiv auf die menschliche<br />

Knochenheilung auswirken<br />

könnte. Wenn Sie liebe(r) Leser:in<br />

nun ein Haustier haben, ist also der<br />

Schritt zu einem allumfassenden<br />

und wertschätzenden Blick auf die<br />

Welt nicht mehr weit. Schließlich<br />

beeinflusst Sie die Tierwelt, laut<br />

Anour, bereits täglich. Dies sollte<br />

aber natürlich keinesfalls ein Appell<br />

sein, sich einer schnellen Naturverbundenheit<br />

wegen unüberlegt ein<br />

Haustier anzuschaffen. Auch Anour<br />

stellt dies klar in den Vordergrund.<br />

Schließlich geht es ja nicht um eine<br />

neue Hüpfburg im Garten, sondern<br />

ein fühlendes und auch leidensfähiges<br />

Lebewesen. Und wo wir<br />

gerade dabei sind. Fernab von den<br />

Haustieren, haben wir noch eine<br />

ganz andere Maschinerie am laufen.<br />

Masthühner werden zu über 18<br />

Stück auf einem Quadratmeter zum<br />

Schlachten „angezüchtet”. Schweine,<br />

die ja bekanntlich zu den intelligenteren<br />

Tieren gehören, werden<br />

nach nur sechs Monaten ohne Bewegungsfreiheit<br />

betäubt und per<br />

Fließbandarbeit in Rekordzeit in<br />

ihre Einzelteile zerlegt. Ironischerweise<br />

ist zumindest durch diesen<br />

kruden Fleischkonsum der Erhalt<br />

dieser speziellen Arten gewährleistet.<br />

Nicht zuletzt haben wir durch<br />

einen solchen Umgang mit unseren<br />

Mitlebewesen seit 2020 ein globales<br />

Problem. Und auch andere, noch<br />

nicht überwundene Krankheiten,<br />

wie beispielsweise Aids, entsprangen<br />

einer Zoonose.<br />

Und was jetzt?<br />

Traurigerweise gilt hier der einzig<br />

mögliche Appell wieder dem Menschen.<br />

MENSCH du kannst dich<br />

für Krankheiten, die dich plagen<br />

einfach mal bei den Lösungsstrategien<br />

der anderen erdbewohnenden<br />

Lebewesen umschauen. MENSCH<br />

du kannst aber auch Pandemien und<br />

bislang unheilbare Krankheiten auslösen,<br />

die auch für dich gefährlich<br />

sein können, wenn du andere Arten<br />

quälst. Ganz schön primitiv oder?<br />

Ganz so hart geht Anour auf sein lesendes<br />

Publikum nicht ein. Die letzten<br />

Kapitel sind sogar Alltagstipps<br />

gewidmet. Das Buch ist also eher<br />

ein individueller Einstieg in globale<br />

Probleme. Es zeigt diese auf,<br />

gibt uns aber zu verstehen, dass es<br />

noch Hoffnung gibt, wenn wir beispielsweise<br />

eine Bienenwiese in unseren<br />

Vorgarten pflanzen. Und das<br />

ist doch auch ganz schön zu hören,<br />

oder? Aber seien wir mal ehrlich.<br />

Was würde passieren, könnten wir<br />

entsprechende und teils beschriebene<br />

Tiere in ihrem Genom und ihrer<br />

Lebensweise so erforschen, dass<br />

auch bald für uns, vielleicht nicht<br />

ewiges Leben, aber die Umsetzung<br />

der Midlifecrisis mit 90 entdeckt<br />

wäre. Natürlich könnte das positive<br />

Effekte auf unser Umwelt und Ökosysteme<br />

haben. Niemand könnte<br />

sich mehr mit einem baldigen Tod<br />

oder einem früh-genug-Tod aus der<br />

Affaire ziehen. Auf der anderen Seite,<br />

wären diese Behandlungen mit<br />

großer Voraussicht zumindest erst<br />

einmal nur eine Möglichkeit der<br />

Reichen und Superreichen. Ob eine<br />

Vielfalt der Natur, nie sterbenden<br />

Milliardär:innen gewachsen ist, ist<br />

eine Frage, die man schon heute mit<br />

sterbenden Milliardär:innen gut beantworten<br />

kann. Und auch aus sozialer<br />

oder politischer Sicht könnte<br />

man eine Entwicklung zum ewigen<br />

oder stark verlängerten Leben kritisch<br />

sehen. Mögliche Resultate wären<br />

unter anderem ein Trump, der<br />

alle vier Jahre wieder zur Wahl antreten<br />

würde. Und das für immer…<br />

Dr. Renè Anour: „Das Arche Noah<br />

Prinzip. Heilung aus dem Tierreich”<br />

edition a 2021.<br />

Pauline Ebert


10 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />

Was heißt auf Chinesisch China?<br />

– Reich der Mitte!<br />

„Wild wie ein Tiger“<br />

Die chinesische Schrift gibt es seit weit über 3000 Jahren. Sie ist das älteste Schriftsystem, das heute noch<br />

in Benutzung ist.<br />

W<br />

as macht China zu<br />

China?<br />

Wenige Länder auf diesem<br />

Planeten haben so<br />

viele Gesichter wie China… Seine<br />

Gesichter sind zahlreich und oft<br />

auch zutiefst widersprüchlich…<br />

Das Land blickt auf eine fünftausend-jährige<br />

bewegte Geschichte<br />

zurück. China, das ist konfuzianische<br />

Ethik, China kann für Buddhismus<br />

stehen, für die berühmten<br />

36 Strategeme, für Taoismus, China<br />

ist Kommunismus, China ist Kapitalismus<br />

und noch viel, viel mehr.<br />

Das Land verfolgt ambitionierte<br />

Pläne. Das „Reich der Mitte“ ist<br />

im Brennpunkt des internationalen<br />

Fokus wie nie zuvor! Lassen Sie<br />

uns jetzt aber ein paar Jahrhunderte<br />

zurückschauen...<br />

„Zheng He qi-xia xi-yang,“ kann<br />

Ihnen jedes chinesische Schulkind<br />

aufsagen. Der berühmte Eunuch<br />

Zheng He sticht sieben Mal in See.<br />

Das war im Zeitraum von 1405-<br />

1433. Die Zeit der großen chinesischen<br />

Entdeckungsfahrten, der<br />

großen Überseeexpeditionen. Viele<br />

sagen, China wäre damals für die<br />

Weltherrschaft gewappnet gewesen.<br />

Seine Dschunken waren viel größer,<br />

als die Schiffe mit denen Christopher<br />

Columbus, über ein halbes<br />

Jahrhundert später, in Amerika landete.<br />

Die Chinesen, so scheint es, wären<br />

damals im Stande gewesen die<br />

„halbe Welt“ zu kolonialisieren und<br />

auch Amerika zu entdecken… Doch<br />

1433 war es auf einmal vorbei. Keine<br />

weiteren Übersee Expeditionen<br />

wurden mehr unternommen. Grund<br />

dafür waren mitunter Naturkatastrophen<br />

in China. Manche sagen, dem<br />

Reich fehlten zwischenzeitlich die<br />

Mittel, Zheng He`s gewaltige Flotte<br />

zu finanzieren. Viele behaupten<br />

aber, dass das nicht der einzige<br />

Grund gewesen ist. Wie dem auch<br />

sei… China blieb eine bedeutende<br />

Seehandelsmacht in Ostasien, doch<br />

die Ära von Zheng He und seinen<br />

großen Entdeckungsfahrten, sollte<br />

nie wiederkehren.<br />

Die Rolle ferne Weltgegenden zu<br />

kolonialisieren sollten andere spielen.<br />

Und das waren dann wir Europäer.<br />

Nur wir Europäer hatten damals<br />

die Ambition die „halbe Welt“<br />

zu kolonialisieren.<br />

Dieses Denken war allen anderen<br />

Kulturen, z.B. auch Arabern und<br />

Osmanen, zumindest in diesem<br />

Ausmaß fremd. Wo könnten die<br />

Ursachen dafür liegen? Natürlich<br />

existiert Geschichte nicht in einem<br />

Vakuum. In Europa hatte zuvor, die<br />

Renaissance, neben vielen anderen<br />

Faktoren, zu dieser bis dahin nie dagewesenen,<br />

neuartigen Art zu denken<br />

beigetragen.<br />

Aber in ein paar Jahrhunderten<br />

kann sich vieles ändern. Und es<br />

hat sich auch vieles geändert wie<br />

wir im Rückblick sehen können.<br />

Inzwischen hat China nicht nur den<br />

Anschluss an die westliche Welt gefunden,<br />

es hat den Westen in vielerlei<br />

Hinsicht überholt. Seine Politik<br />

folgt einem ganz anderen Trend, als<br />

die der Ming Dynastie um 1433.<br />

China... aktuell eine kommunistisch,<br />

kapitalistische, expandierende<br />

Supermacht!<br />

Was sollen die vielen Zeichen?<br />

Die chinesischen Zeichen sind<br />

Bildzeichen, Logogramme. Anders<br />

als unsere Sprachen bilden sie nicht<br />

die Phonetik ab, sondern den Begriff<br />

selber.<br />

Interessanterweise gibt es in China<br />

nicht nur eine, sondern verschiedene<br />

chinesische Sprachen. Außer<br />

Mandarin-Chinesisch gibt es noch<br />

5-8 weitere Sprachen. (Je nach Einteilung).<br />

Die drei sprecherreisten<br />

Foto: Nowak<br />

sind Min, Wu und Kantonesisch.<br />

Den großen Teil der langen chinesischen<br />

Geschichte, hatte Mandarin-<br />

Chinesisch keinen offiziellen Status.<br />

Man sprach und verstand nur seine<br />

eigene chinesische Muttersprache.<br />

Und was hat ganz China zusammengehalten?<br />

Die chinesische Schrift.<br />

Denn anders als unsere Schrift, bilden<br />

die chinesischen Zeichen nicht<br />

die Phonetik der Wörter ab, sondern<br />

die Dinge selber.<br />

Ganz gleich um welche chinesische<br />

Sprache es sich handelte, war etwa<br />

das Zeichen für „Baum“ immer dasselbe.<br />

Aber je nach Sprache wurde<br />

es natürlich unterschiedlich ausgesprochen.<br />

Der Satzbau unterschied<br />

sich von Sprache zu Sprache und<br />

es gab auch andere Abweichungen.<br />

Auf jeden Fall hat die chinesische<br />

Schrift, durch die Geschichte hindurch,<br />

das Land zusammengeschweißt.<br />

Qin Shi Huang, der erste Kaiser Chinas<br />

Heutzutage, wo die allermeisten<br />

Leute in China Mandarin-Chinesisch<br />

sprechen, oder zumindest<br />

verstehen, schreibt man auch fast<br />

ausschließlich auf Mandarin. Seine<br />

eigene chinesische Muttersprache,<br />

wenn diese dann nicht Mandarin ist,<br />

verwendet man mündlich, im Umgang<br />

mit andern Muttersprachlern.<br />

Die chinesische Schrift gibt es übrigens<br />

schon seit weit über 3000<br />

Jahren.<br />

Damit ist sie das älteste Schriftsystem<br />

heute noch in Benutzung.<br />

Aber man hat überall in China<br />

anders geschrieben. Die Zeichen<br />

waren nicht vereinheitlicht. Und<br />

das hat das Ganze nicht unbedingt<br />

leichter gemacht.<br />

221 v. Chr. heißt das magische<br />

Jahr: Da hat der erste Kaiser Chinas<br />

(Chinesisch: Qin Shi-huang-di) die<br />

Schrift vereinheitlicht. Dem haben<br />

wir also das Ganze zu verdanken.<br />

Erst mal vereinheitlicht, hat die chinesische<br />

Schrift von dieser Zeit an,<br />

China richtig zusammengeschweißt,<br />

den Chinesen sozusagen zu einer<br />

gemeinsamen Identität verholfen<br />

und die relative Geschlossenheit<br />

des chinesischen Kulturraums erst<br />

ermöglicht.<br />

Apropos der erste Kaiser. Natürlich<br />

war er nicht der erste Herrscher in<br />

China. Aber er war der erste der<br />

tian-xia (chinesisch für „alles unter<br />

dem Himmel“) vereint hat. Er hat<br />

also zum ersten Mal „ganz China“,<br />

wenn man so will, vereint und alle<br />

anderen sechs Reiche die es damals<br />

gab, seinem Reich einverleibt.<br />

Sprache oder Dialekt?<br />

Gerade war die Rede von den chinesischen<br />

Sprachen. Hierzu noch<br />

ein interessanter Punkt: In China<br />

spricht man oft von den chinesischen<br />

Sprachen als von chinesischen<br />

Dialekten. Streng linguistisch<br />

gesehen, haben wir es hier<br />

allerdings mit unterschiedlichen<br />

Sprachen zu tun.<br />

Natürlich gibt es Dialekte in China,<br />

aber das sind Dialekte innerhalb<br />

dieser chinesischen Sprachen. Sie<br />

selber sind keine Dialekte. Wieso<br />

redet man dann also gerne von Dialekten?<br />

In China hat nur Mandarin-<br />

Chinesisch einen offiziellen Status.<br />

(Mandarin ist nicht zu verwechseln<br />

mit akzentfreiem Hochchinesisch,<br />

sondern gliedert sich seinerseits<br />

in verschiedene leichte Dialekte).<br />

Streng genommen, hat also nur<br />

Mandarin einen offiziellen Status.<br />

Die anderen Sprachen werden eher<br />

in informellen Situationen gesprochen<br />

und übrigens auch fast nie<br />

geschrieben. Außer Kantonesisch<br />

in Honkong! Zum Schluss noch<br />

ein Zugeständnis: Natürlich sind<br />

sich auch die Linguisten nicht immer<br />

einig, wo genau eine Sprache<br />

anfängt und wo ein Dialekt aufhört.<br />

Das betrifft auch die chinesischen<br />

Sprachen.<br />

Sind Chinesisch und Japanisch<br />

ähnlich?<br />

Die Antwort muss sein: Ja und nein.<br />

Zunächst einmal: Von den im Westen<br />

gelernten ost- und südostasiatischen<br />

Sprachen, ist Japanisch die<br />

mit Abstand meistgelernte!<br />

Die Faszination, die der Inselstaat<br />

und seine Kultur auf viele von uns<br />

auslöst, ist groß. Samurai, Kirschblüten,<br />

Geishas…<br />

Aber zurück zum Thema: Die Ähnlichkeit<br />

zwischen Chinesisch und<br />

Japanisch. Die beiden Sprachen<br />

gehören nicht der gleichen Sprachfamilie<br />

an und sind damit nicht<br />

verwandt. Es gibt aber etwas, was<br />

es einem Chinesen erleichtert Japanisch<br />

zu lernen und umgekehrt. Und<br />

das ist die chinesische Schrift. Wie<br />

kann das sein, wo die beiden Sprachen<br />

doch nicht verwandt sind? Die<br />

Antwort ist schlicht und ergreifend:<br />

Chinesisch ist eine Bildzeichenschrift.<br />

In ihrer Schrift kombinieren die<br />

Japaner drei Schriftsysteme. Wenn<br />

Sie jetzt die Stirn runzeln, dann<br />

denken Sie doch einfach daran,<br />

dass in einem deutschen Text auch<br />

arabische oder sogar römische<br />

Zahlzeichen vorkommen können.<br />

Die gehören ja auch nicht zu unserem<br />

Alphabet. Wir kombinieren<br />

also auch verschiedene „Schriftsysteme“,<br />

wenn man so will.<br />

Die Japaner machen das nur etwas<br />

extremer...<br />

Im Japanischen werden in ein und<br />

demselben Text zwei verschiedene<br />

phonetische Schriftsysteme verwendet.<br />

(Genauer gesagt handelt es sich<br />

um Silbenschrift).<br />

Und dann steht hier und da, mitten<br />

drin ein „Chinesisches Schriftzeichen“,<br />

was im Japanischen „Kanji“<br />

heißt. Wenn ein Chinese ohne Japanisch-Kenntnisse<br />

so einen Text anschaut,<br />

kann er ihn nicht direkt verstehen,<br />

aber er weiß dann, es geht<br />

um Katzen und Fische beispielsweise.<br />

Und wie ist das möglich? Die<br />

Antwort ist wieder einmal schlicht<br />

und ergreifend: Bildzeichenschrift!<br />

Fazit: Obwohl die beiden Sprachen<br />

nicht verwandt sind, können Sie<br />

durch Kenntnisse der einen beim<br />

Erlernen der anderen profitieren.<br />

Macht das dem ein oder anderen<br />

Mut?!<br />

Schon immer hat China die umliegenden<br />

Kulturen beeinflusst. Die<br />

Koreaner haben ihre Sprache lange<br />

nur in chinesischen Schriftzeichen<br />

geschrieben. 1444 sollte sich das<br />

aber ändern… in diesem Jahr wurde<br />

die koreanische Schrift eingeführt<br />

und das war dann die Schrift, die<br />

man in Korea bis heute benutzt.<br />

Auch Vietnamesisch, was man heutzutage<br />

mit lateinischen Buchstaben<br />

schreibt, hat man lange in chinesischen<br />

Schriftzeichen geschrieben.<br />

Wie war das möglich, wo beide<br />

Sprachen doch nicht verwandt sind?<br />

– Chinesisch ist eine Bildzeichenschrift!<br />

Monosyllabisch – das macht es<br />

spritzig!<br />

Chinesisch ist eine monosyllabische<br />

Sprache, das heißt jede Silbe hat<br />

eine Eigenbedeutung. Will sagen:<br />

Jede Silbe ist bereits ein Wort!<br />

„Das ist im Deutschen doch auch<br />

so,“ sagen Sie jetzt: „Haus, Tisch,<br />

Ball. Das sind doch alles einsilbige<br />

Wörter“. Ja es gibt einsilbige Wörter,<br />

aber auch welche, die mehrsilbig<br />

und gleichzeitig nicht zusammengesetzt<br />

sind (z.B. Chinesisch,<br />

lernen, China). Bei diesen Wörtern<br />

hat nicht jede Silbe eine Eigenbedeutung.<br />

Im Chinesischen aber<br />

schon. Ja Herr im Himmel, dann<br />

ist das halt so... Na und? Nicht so<br />

schnell, nicht so schnell… lesen Sie<br />

mal weiter, es wird noch spritzig.<br />

Als wir Europäer in anderen Weltgegenden<br />

Dinge kennengelernt<br />

haben, für die wir noch kein Wort<br />

hatten, z.B. exotische Tiere, haben<br />

wir oft die Bezeichnung aus der<br />

jeweiligen Sprache dort übernommen.<br />

„Zebra“ etwa kommt aus einer<br />

afrikanischen Sprache.<br />

Die Chinesen haben in solchen Situ-<br />

„Glück“ auf Chinesisch<br />

ationen dann eher ein eigenes Wort<br />

erfunden. „Zebra“ etwa heißt auf<br />

Chinesisch „Streifenpferd“. Darunter<br />

kann man sich doch gleich was<br />

vorstellen. Und die Monosyllabizität<br />

des Chinesischen begünstigt<br />

solche Wortschöpfungen. Sie sind<br />

aussagekräftig und trotzdem kurz.<br />

Bei zwei und mehrsilbigen Wörtern<br />

hat dann jede Silbe eine Eigenbedeutung.<br />

Und man kommt auch<br />

meist mit weniger Silben aus, als in<br />

unseren Sprachen.<br />

Um noch mal auf die Tiere zurückzukommen:<br />

Kinder können<br />

sich unter einem „Streifenpferd“<br />

doch viel mehr vorstellen als unter<br />

einem „Zebra“. Also jetzt wird es<br />

aber lächerlich, sagen Sie sich. Als<br />

ob unsere deutschen Kinder nicht<br />

wüssten, was mit „Zebra“ gemeint<br />

ist. Ja… Bei „Zebra“ schon, aber<br />

nehmen wir doch mal die drei nur<br />

auf Madagaskar vertretenen Katta,<br />

Indri und Vari, oder den Ara<br />

Papagei. Wissen alle Kinder wie<br />

diese Tiere aussehen? Hier haben<br />

es die chinesischen Kinder leichter!<br />

„Katta“ heißt auf Chinesisch<br />

„Ring-Schwanz-Halbaffe“ (Ringe<br />

sind in dem Kontext Streifen). Da<br />

kann sich doch so ein Kind viel besser<br />

was drunter vorstellen, als unter<br />

einem „Katta“.<br />

Man sieht also, Chinesisch ist eine<br />

bildhafte Sprache. Und jetzt wissen<br />

Sie auch, warum eine monosyllabische<br />

Sprache so „spritzig“<br />

sein kann. Zu solchen monosyllabischen<br />

Sprachen zählen übrigens<br />

auch Vietnamesisch, Thai, Laotisch<br />

und viele weitere!<br />

Es kann richtig Spaß machen so<br />

eine monosyllabische Sprache zu<br />

lernen. Das kann nicht nur ich Ihnen<br />

bestätigen, sondern auch viele<br />

meiner Chinesisch-Schüler!<br />

David Nowak<br />

David Nowak beschäftigt sich seit<br />

2004 intensiv mit der chinesischen<br />

Sprache und Kultur. Er beherrscht<br />

Chinesisch in Wort und Schrift.<br />

2010-2016 hat er in Peking gelebt<br />

und dort an verschiedenen Sprachschulen<br />

Deutsch unterrichtet. Während<br />

seiner Zeit als Deutschlehrer<br />

in China konnte er das „Reich der<br />

Mitte“, seine Menschen und seine<br />

Kultur gut kennenlernen.<br />

Als erfahrener Chinesischlehrer<br />

gibt David Nowak seine Kenntnisse<br />

der chinesischen Sprache und seine<br />

Erfahrungen mit der chinesischen<br />

Kultur an seine Schüler weiter.<br />

Kontakt: david.nowak1988@web.<br />

de<br />

Foto: Nowak


Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 11<br />

Horror der Mutterschaft<br />

Jessica Linds fantastischer Roman „Mama“ erzählt von der Angst im Kinderwunsch<br />

Der Wald als Ort einer unheimlichen Schwangerschaft<br />

Foto: Fez Brook / Pexels<br />

E<br />

in Paar geht in den<br />

Wald, um ein Kind zu<br />

zeugen und geht verloren.<br />

Dazwischen Beziehungsängste,<br />

unheimliche<br />

Begegnungen mit der Natur und<br />

Zeitsprünge. Jessica Linds Roman<br />

gestaltet Mutterschaft zum<br />

leisen Horror, aber auch zur archaischen<br />

Einheit – und streift<br />

damit zeitgenössische Debatten<br />

um Schwangerschaftsangst und<br />

schwierige Mutterrollen.<br />

„Dann fängt Josef an, über ihre<br />

Zukunft zu reden. Über das Kind,<br />

das er Raupe nennt. Immer, wenn<br />

er das sagt, hat sie einen Parasiten<br />

vor Augen, der an ihr nagt und von<br />

ihr zehrt, bis er groß genug ist,<br />

sich zu verpuppen und aus ihr herauszubrechen<br />

wie aus einem Kokon.“<br />

Amira fürchtet ihre Schwangerschaft<br />

und die Geburt ihres<br />

Kindes. Zunächst noch treibende<br />

Kraft hinter der Entscheidung, mit<br />

ihrem Mann Josef endlich ein Kind<br />

zu haben, bekommt sie kurz vor<br />

der Geburt kalte Füße. Im urigen<br />

Waldhaus, das beide für die Zeugung<br />

des Kindes und während der<br />

Schwangerschaftszeit beziehen,<br />

wird das süße Baby zum Para-<br />

siten, der eigene Körper wandelt<br />

sich vom warmen Nest zum Wirtskörper.<br />

Tokophobie, Schwangerschaftsphobie<br />

nennt die Weltgesundheitsorganisation<br />

die Angst,<br />

die Amira vor ihrer Geburt erlebt.<br />

Und dann das Trauma. Plötzlich<br />

steht Amira, im einen Moment<br />

noch schwanger, ihrer kleinen<br />

Tochter auf einer Lichtung gegenüber.<br />

An eine Geburt, an keine<br />

noch so erschreckende, kann sich<br />

Amira nicht erinnern. Das Erleben<br />

einer erfolgten Geburt als traumatisch<br />

gehört zu den Symptomen der<br />

Tokophobie. Plötzlich ist da das<br />

„fremde Mädchen“ auf Josefs Arm.<br />

Zwischen Amiras Schwangerschaft<br />

und der Existenz des Kleinkinds<br />

scheinen nur Momente vergangen<br />

zu sein. Traumata hinterlassen Lücken.<br />

Und aus der Lücke schlüpft<br />

ein Kind.<br />

Regretting Motherhood<br />

Unter dem Titel „Regretting Motherhood“<br />

veröffentlichte der beliebte,<br />

öffentlich-rechtlich finanzierte<br />

YouTube-Kanal „Die Frage“<br />

am 26. Mai 2020 ein Gespräch mit<br />

Sabrina. Sabrina bereut, ein Kind<br />

bekommen zu haben. Wie für Amira<br />

war Sabrinas Kind zunächst<br />

Wunschkind. Als das Kind aber<br />

endlich auf der Welt war, fehlten<br />

jegliche „Muttergefühle“. Zwar<br />

liebt Sabrina ihr Kind, will aber<br />

keine Sorgefunktion übernehmen.<br />

Die Frau erscheint im Video anonymisiert,<br />

auch ist Sabrina nicht<br />

ihr wirklicher Name. Erkannt werden<br />

möchte sie nicht. Zu groß ist<br />

der Erwartungsdruck gegenüber<br />

Müttern, ihre Kinder zu lieben<br />

und aufopferungsvoll für sie da zu<br />

sein, zu groß das Stigma der „Rabenmutter“.<br />

Liest man einige der Kommentare<br />

unter dem Video, das über eine<br />

halbe Millionen Aufrufe hat, sieht<br />

man, wie emotional aufgeladen<br />

das Thema ist – und wie befreiend<br />

die Aussprache Sabrinas für viele<br />

wirkt. Eine Person muss „kotzen“<br />

angesichts der mütterlichen Selbstaufgabe,<br />

die sie als sexistische Erwartung<br />

gegenüber Frauen liest:<br />

das Kinderbekommen, die bedingungslose<br />

Liebe zum Kind, das<br />

Ignorieren der Schmerzen. Auch<br />

die Protagonistin von Jessica Linds<br />

Roman kann den Mutmachsprüchen<br />

ihrer Hebamme Carina nicht<br />

vertrauen. Das tiefe Vertrauen, das


12 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />

Carina dem weiblichen Körper<br />

zuspricht, hat Amira nicht, nicht<br />

gegenüber einem Körper, „der sie<br />

ständig im Stich lässt, der überhaupt<br />

nicht mehr so funktioniert,<br />

wie sie es gewohnt ist.“<br />

Ihrem Mann Josef kann sich Amira<br />

auch nicht anvertrauen. Josef<br />

nennt ihr parasitär gewordenes<br />

Kind ohne Zynismus eine „Raupe<br />

Nimmersatt“, Josef streicht<br />

das Kinderzimmer rosa und denkt<br />

sich ihre gemeinsame Zukunft<br />

„in bunten Farben“. Unter dem<br />

Video „Regretting Motherhood“<br />

empört sich ein Mann darüber,<br />

dass Frauen in solchen Situationen<br />

nicht beigestanden werde. Ein<br />

„richtig ekelhafter Shitstorm“ entstünde,<br />

wenn eine Frau über ihre<br />

ungewollte Mutterrolle spreche.<br />

Am Ende stellt der Kommentator,<br />

der auch Podcaster ist, die Frage:<br />

„Ist es denn so verwerflich, dass es<br />

Menschen gibt, die sich gegen das<br />

Gesetz der Natur stellen?“<br />

Man könnte überlegen, ob Amira<br />

tatsächlich ein „Gesetz der Natur“<br />

bricht. Die Natur schließlich, ihr<br />

Körper und der Wald um sie herum,<br />

scheinen sich ihrer Kontrolle<br />

zu entziehen. Im Wald trifft Amira<br />

auf einen seltsamen Wanderer,<br />

der ihr auch aufzulauern scheint.<br />

Sie trifft eine Hündin, die sie verfolgt<br />

und bald attackiert. Und der<br />

Wald selbst ist für Amira weniger<br />

der sinnbildliche Schoß der Natur<br />

als ein undurchdringliches, auch<br />

lebensfeindliches Geflecht. Giftpflanzen,<br />

Wege, die Irrwege sind.<br />

Bereits zu Beginn steht Amiras Unwohlsein<br />

mit der Natur: „Überall<br />

karge Stämme, die dichten Wipfel<br />

lassen kaum Licht herein.“ Kargheit<br />

und Dunkelheit. Die Lesenden<br />

wissen, dass es mit Amira und ihrem<br />

anfänglichen Kinderwunsch<br />

nicht gut kommen wird.<br />

Mutterschaft ohne Vater<br />

Sind weder der Körper noch der<br />

Wald sichere Rückzugsräume, ist<br />

es auch die Hütte nicht, die das<br />

Paar bezieht. Das idyllisch-urige<br />

Holzhaus gehörte einmal Josefs<br />

Vater. Der starb im Wald, als Josef<br />

noch ein Kind war. Ein Trauma,<br />

das über der Hütte hängt und den<br />

Wald noch ein Stückchen dunkler<br />

werden lässt, für Amira und<br />

für Josef. Denn Josef scheint mit<br />

seiner Vergangenheit weniger versöhnt<br />

zu sein, als Amira anfänglich<br />

zu glauben scheint. Der fehlende<br />

Vater ist Josefs traumatische Leerstelle,<br />

ein Ort, an dem Amira ihren<br />

Mann nicht erreicht. Eine Lücke<br />

verbleibt, die ihre Partnerschaft<br />

aufzubrechen droht.<br />

Josefs Trauma besteht nicht bloß<br />

darin, dass sein Vater eines Tages<br />

plötzlich verschwand, sondern<br />

auch darin, dass er bereits zuvor<br />

nicht anwesend war:<br />

„Ich will nicht so ein Vater sein<br />

wie er“, sagt er.<br />

„Was war er denn für ein Vater?“<br />

„Er wollte überhaupt kein Vater<br />

sein.“<br />

In der Kommentarspalte unter dem<br />

Video „Regretting Motherhood“<br />

berichtet eine Person davon, als<br />

„bereutes Kind“ in eine Familie<br />

voller unterdrückter Traumata geboren<br />

worden zu sein. Als Kind<br />

sollte sie die Probleme der Familie<br />

kompensieren. Selbst schwanger<br />

zu werden sei für sie ein „persönlicher<br />

Albtraum“. Auch im Kontext<br />

der Schwangerschaftsphobie wird<br />

von einer möglichen Vererbung der<br />

Problematik berichtet.<br />

Mit der unverhofften Geburt des<br />

Kleinkinds aus dem Nichts akzeptiert<br />

Amira das „Gesetz der Natur“<br />

und damit ihre Tochter Luise. Das<br />

Trauma scheint überkommen und<br />

die Einheit zwischen Mutter und<br />

Kind erreicht. Mutterschaft ist im<br />

Blick Amiras wieder jener archaische,<br />

körperliche Wunsch: „Amira<br />

hat nicht geahnt, wie sehr sie sich<br />

eins wünscht, bis sie vermutete,<br />

schwanger zu sein.“ Die Vorstellung<br />

vom Parasiten ist verschwunden,<br />

ebenso die Konkurrenz zu<br />

Josef, der die Vatergefühle mehr<br />

genossen zu haben schien als Amira<br />

ihre Schwangerschaft. Im Rückblick<br />

wirkt die schwierige Schwangerschaft<br />

als notwendiger Schritt<br />

zu einem festen Bund zwischen<br />

Mutter und Kind. Ein Bund, der<br />

dem Mann schließlich nicht mehr<br />

zugänglich ist: „Luise ist in Amira<br />

gewachsen. Josef wird niemals Teil<br />

dieser Einheit sein.“<br />

Wer die Bibel kennt, weiß, welche<br />

Leihvaterfunktion Josef einnimmt.<br />

Nach der unbefleckten Empfängnis<br />

bleibt er zwar Mann Marias, ist jedoch<br />

nicht Vater des Gottessohns.<br />

In Linds Roman tritt an die Stelle<br />

Gottes die Natur. Wann genau<br />

Amira, deren Namensähnlichkeit<br />

zu Maria in diesem Kontext sicher<br />

nicht zufällig ist, schwanger wird,<br />

ist nicht klar, jedoch findet sie ihr<br />

plötzliches Kind im Wald auf, als<br />

sei es eine Gabe der Natur.<br />

Eine erzählerische Vorausdeutung<br />

dieser Ereignisse erlaubt sich der<br />

Roman auch. In der Hütte fin-<br />

det Amira ein Märchenbuch, das<br />

Josefs Vater geschrieben hat. Dort<br />

erzählt er von einer Mutter und<br />

ihrem Kind. Beide leben in einer<br />

Hütte, von einem Vater ist nicht<br />

die Rede. Das Kind hat der Wald<br />

geschenkt – wenn auch zu einem<br />

Preis: Beide dürfen den Ort nicht<br />

verlassen. Das Märchen reicht<br />

jedoch vorauseilend ein Happy<br />

End nach: „So waren sie vergessen<br />

von der Welt und es war gut,<br />

denn sie brauchten zu ihrem Glück<br />

nichts als einander.“ Und siehe, es<br />

war gut: Wie ein Bibelautor setzt<br />

Josefs Vater eine Welt, die ihn, den<br />

menschlichen Vater nicht braucht.<br />

Eine Welt, die sein Sohn nicht akzeptieren<br />

will – aber muss. Denn,<br />

so viel sei auch hier vorausgegriffen,<br />

Amira, ihr Kind und der Wald<br />

gehen eine Beziehung ein, die intensiver<br />

ist, als sich das Josef mit<br />

seinen Vateransprüchen nur wünschen<br />

kann.<br />

Mutterschaft im Wald<br />

„Mama“ ist kein Buch, das bloß<br />

von den Problemen der Mutterschaft<br />

erzählt. Mama sucht Orte,<br />

Bilder und Symbole, um der emotionalen<br />

Verwirrung seiner Protagonistin<br />

Amira Ausdruck zu verleihen.<br />

Dafür ist der Wald als Handlungsort<br />

und Symbol ideal. Wie<br />

einige Orte der Natur wird auch<br />

er in der westeuropäischen Kultur<br />

äußerst ambivalent gewertet. Mal<br />

gilt er als Schoß der Natur, mal als<br />

Kirche Satans, mal als undurchdringliches<br />

Dickicht, Erholungsort,<br />

romantisch verklärtes Idyll,<br />

Labyrinth oder Rückzugsort. Von<br />

seinen Zuschreibungen zu trennen,<br />

ist der Wald in keinem Fall, ebenso<br />

wenig von der Protagonistin des<br />

Romans. Ihre widersprüchlichen<br />

Gefühle zur Schwangerschaft und<br />

Mutterschaft spiegeln sich in der<br />

mal behütenden, mal gefährlichen<br />

Umgebung.<br />

Als Amira die Figur des mysteriösen<br />

Wanderers zum ersten Mal<br />

trifft, ist er eine klassische Schreckgestalt,<br />

die den verängstigten Menschen<br />

geisterhaft verfolgt. Akzentuiert<br />

wird dieser Charakter durch<br />

die Ähnlichkeit des Wanderers zu<br />

Josefs verstorbenem Vater, der<br />

ebenfalls als uriger Naturbursche<br />

beschrieben wird und seit seinem<br />

Tod im Wald um die Hütte zu geistern<br />

scheint. Die Figur des Wanderers<br />

erschöpft sich jedoch nicht<br />

als Horrormotiv. Der seltsame<br />

Alte führt Amira auch durch den<br />

unheimlichen Wald, wortkarg und<br />

wenig zugänglich, aber voller Sicherheit<br />

und Vertrauen in die Natur.<br />

Sein Spiegelbild, Josefs Vater,<br />

hat Amira und ihrem Kind ein Märchen<br />

vorgeschrieben, eins mit Happy<br />

End im Wald. Oder zumindest<br />

ein halbes Happy End, denn auch<br />

hier steckt der Widerspruch: Zwar<br />

hält der Wald beide Figuren gefangen,<br />

lässt sie so aber auch erst auf<br />

ihr Glück stoßen.<br />

So viel sei ein letztes Mal vorweggenommen:<br />

Von einem ungebrochenen<br />

Mutter-Kind-Friede<br />

wird „Mama“ nicht erzählen. Die<br />

Ängste einer Mutterschaft bleiben<br />

erhalten und auch die kleine Luisa<br />

wird für Amira kein Engel bleiben<br />

– ebenso wenig wie Amira ihrem<br />

eigenen Körper oder ihrem Mann<br />

Josef letztlich voll vertrauen kann.<br />

Jessica Lind findet in ihrem Roman<br />

klare, eindringliche Bilder, um die<br />

verworrene Gefühlslage einer Frau<br />

darzustellen. Traumata werden zu<br />

erzählerischen Leerstellen, Widersprüche<br />

zu skurrilen Bildern. Und<br />

am Ende bleibt eine feministische<br />

Botschaft. Mutterschaft ist etwas,<br />

das nur die Mutter selbst bewerten<br />

kann, dem nur sie sich widmen<br />

und dem nur sie entkommen kann.<br />

Dass der Roman in dieser Erkundung<br />

viele unangenehme, tabuisierte<br />

Bereiche streift, macht ihn<br />

nur ehrlicher. „Mama“ zeigt vor<br />

dem Abenteuer Kind einen tiefen<br />

Respekt. Und hat Respekt je einem<br />

Menschen geschadet?<br />

Jessica Lind: „Mama“, Kremayr<br />

& Scheriau 2021.<br />

Fabian Lutz<br />

Literatur auf Socken<br />

Ein Bericht zu Lea Draegers Lesung im Rahmen der Lesungsreihe Zwischen/miete des Deutschen<br />

Seminars der Universität Freiburg<br />

Die Luft ist lau an diesem Abend<br />

im grünen Innenhof des Jos Fritz<br />

Cafés. Auf bunten Gartenstühlen<br />

und kleinen Bänken sitzen 20 bis<br />

30 Leute. Es wird geraucht, getrunken<br />

und gelacht. In den Ästen<br />

der großen Kastanie, deren Zweige<br />

den Innenhof teilweise überwölben,<br />

zwitschern die Vögel. Dann beginnt<br />

Lea Draeger auf der kleinen Bühne<br />

zu lesen und malt mit sonorer<br />

Stimme einprägsame Bilder an die<br />

Hauswände des Innenhofs.<br />

Ihre Sprache ist gnadenlos direkt,<br />

hart und gleichzeitig fragil.<br />

Schonungslos ehrlich berichtet sie<br />

in zarten Bildern von harten, unschönen<br />

Themen. Lea Draeger liest<br />

eine Geschichte über die Frauen<br />

mehrerer Generationen einer Familie<br />

– die Großmutter, die Mutter und<br />

die 13-jährige Ich-Erzählerin, die in<br />

eine Psychiatrie eingewiesen wird,<br />

weil sie aufgehört hat zu sprechen<br />

und zu essen. Es sind Passagen aus<br />

ihrem Debütroman „Wenn ich euch<br />

verraten könnte“, der im Januar<br />

2022 bei Hanserblau erschien.<br />

Je tiefer man in die Welt der namenlos<br />

bleibenden Protagonistin<br />

eintaucht oder gesogen wird, desto<br />

mehr kann man diese Entscheidung<br />

der Verweigerung verstehen. Es ist<br />

eine Welt, in der es nur Schreien<br />

gibt oder Stille, nur Heilige oder<br />

Huren, unerreichbare Ideale und<br />

Rollen, aus denen nicht ausgebrochen<br />

werden kann. Die großen Themen<br />

des Romans sind patriarchale<br />

Strukturen, Gewalt und Ohnmacht,<br />

Schuld und Verlust.<br />

Dadurch, dass die Figuren nicht<br />

durchpsychologisiert sind und diese<br />

Außenperspektive konsequent<br />

durchgehalten wird, wirken sie hart<br />

und fremd. Die männlichen Figuren<br />

beispielsweise werden mit Ausnahme<br />

des Vaters Jürgen lediglich bei<br />

ihrer Familienrolle benannt. Fremd<br />

bleiben sich nämlich auch die Familienmitglieder<br />

der Erzählerin, gewissermaßen<br />

auf das Korsett ihrer<br />

Rolle beschränkt. Für Solidarität ist<br />

da wenig Raum. Die Familie kam<br />

1968 aus der Tschechoslowakei<br />

nach Deutschland. Warum, weiß<br />

niemand. Darüber wird geschwiegen.<br />

Dieses Schweigen wird zu<br />

etwas wie dem Zentralmotiv des<br />

Romans.<br />

Es sind mehrere Textstellen, die Lea<br />

Draeger vorbereitet hat. Nach jeder<br />

vorgelesenen Passage wird die Lesung<br />

durch ein Gespräch von Moderatorin<br />

und Autorin aufgelockert.<br />

Hier lässt sich Spannendes über den<br />

Schreibprozess der Autorin und den<br />

Roman an sich erfahren.<br />

Lea Draeger, die für den Abend<br />

extra aus Berlin angereist ist, berichtet<br />

unter anderem, dass sie über<br />

die letzten Jahre hinweg damit<br />

begonnen hatte, themenbezogene<br />

Fragmente zu schreiben. Zunächst<br />

im Kontext des Zeichnens von<br />

Marien-Ikonen, zu denen sie diese<br />

Szenen verfasste. Lea Draeger ist<br />

nämlich auch bildende Künstlerin.<br />

Schon bald wurde ihr aber bewusst,<br />

dass sie aus den Skizzen ein zusammenhängendes,<br />

rein textliches<br />

Werk schaffen wollte. Erst im Corona-Lockdown<br />

2020 kam sie dann<br />

dazu, sich länger hinzusetzen und<br />

strukturiert an ihrem Debütroman<br />

zu arbeiten. Bevorzugt schrieb sie<br />

dabei nachts, gegen Ende des Prozesses<br />

dann auch im Zug oder hinter<br />

der Bühne – denn, ach ja: Theaterschauspielerin<br />

im Ensemble des<br />

Berliner Maxim Gorki Theaters ist<br />

Lea Draeger auch. Und nun Autorin.<br />

Darüber sagt sie: „Wenn ich eine<br />

Rolle spiele, ist es oft so, dass ich<br />

sehr viel von mir in die Rolle gebe<br />

und sie so fülle. Das findet aber<br />

immer nur über einen recht kurzen<br />

Zeitraum statt und dann kommt das<br />

nächste Stück. Ein Buch hingegen<br />

wächst über Jahre in einem. Auch<br />

die Unabhängigkeit beim Schreiben<br />

hat mir gut gefallen.“<br />

An diesem Abend sind es die leisen<br />

Töne, die die tiefsten Spuren hinterlassen.<br />

Die Tochter, die die Muttersprache<br />

wortwörtlich wie metaphorisch<br />

nicht mehr verstehen kann, verfällt<br />

ins Schweigen.<br />

„Wenn ich euch verraten könnte“<br />

ist auch ein Buch über diese Unzugänglichkeit,<br />

die Einsamkeit, die<br />

gegenseitige Verletzung, die Scham,<br />

die Ohnmacht im Angesicht des<br />

Erbes des Schmerzes, des Traumas,<br />

des „Seelenkrebs“, der von Generation<br />

zu Generation weitergegeben<br />

wird. Und doch ist der Roman nicht<br />

trostlos, beginnt doch die Erzählerin<br />

in der Psychiatrie in einem karierten<br />

Buch die Geschichte der Frauen ihrer<br />

Familie zu erzählen. Einerseits<br />

wird somit die Geschichte des Mädchens<br />

in der Psychiatrie erzählt,<br />

andererseits auch ihre Familiengeschichte<br />

durch die subjektive Linse<br />

der Jugendlichen porträtiert. Aus<br />

Fragmenten und Rückblenden setzt<br />

sich immer mehr ein ganzheitliches<br />

Mosaik zusammen. Es ist ein Mosaik<br />

der Wut als Werkzeug gegen die<br />

Apathie. Die Protagonistin findet zu<br />

ihrer eigenen Stimme. Sie verfasst<br />

ihre eigene Geschichte.<br />

Das Team der Zwischen/miete, das<br />

die Lesungen organisiert, besteht<br />

ausschließlich aus Studierenden<br />

und wechselt immer wieder. Entstanden<br />

ist die Lesungsreihe aus einer<br />

Übung des Deutschen Seminars<br />

der Universität Freiburg. Sie findet<br />

bereits seit 2010 statt. Unterstützt<br />

und finanziert wird das Ganze vom<br />

Literaturhaus Freiburg. Nichtsdestotrotz<br />

ist das Team bei der Auswahl<br />

der eingeladenen Autor:innen<br />

völlig frei. Sie berichten über die<br />

Lea Draeger liest aus ihrem Debütroman „Wenn ich euch verraten könnte“<br />

(Hanserblau, 2022)<br />

Auswahl der Gäste: „Wir bekommen<br />

viele noch unveröffentlichte<br />

Werke – meistens Debüts – von<br />

jungen Autor:innen, die wir dann<br />

erstmal lesen. Dann werden die<br />

Texte gemeinsam diskutiert und wir<br />

einigen uns auf den Text, der uns<br />

am besten gefällt.“ Genretechnisch<br />

decken die Organisator:innen dabei<br />

Romane, Lyrik und Erzählungen ab<br />

– sogar eine GraphicNovel gab es<br />

schon.<br />

Normalerweise finden die Lesungen<br />

der „Zwischen/miete“-Reihe in privaten<br />

Wohngemeinschaften statt<br />

– daher auch der Name. Die Literatur<br />

auf Socken schafft dabei einen<br />

intimen Rahmen, in dem auch<br />

die Grenze zwischen Autor:in und<br />

Publikum zunehmend verschwindet<br />

und in einen Dialog getreten<br />

werden kann. Da coronabedingt<br />

nun schon länger Hygienekonzepte<br />

notwendig sind, sei die Lese-Reihe<br />

in letzter Zeit leider nicht mehr in<br />

Wohngemeinschaften möglich gewesen,<br />

berichtet eine der Organisatorinnen.<br />

Das Café POW oder eben<br />

Foto: Shiqi Yu<br />

das Jos Fritz Café waren Ausweichlocations.<br />

Für die nächste Lesung<br />

im Juli besteht aber die Hoffnung<br />

einer Rückkehr des Formats in eine<br />

WG. Dafür wird momentan noch<br />

eine passende gesucht – Wenn ihr<br />

also in einer großen WG lebt und<br />

Lust habt, sie für eine Lesung bereitzustellen,<br />

dann meldet euch gerne<br />

beim Literaturhaus!<br />

Julian Hienstorfer


Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 13<br />

„Es wäre der größte Irrtum zu meinen, diese Gräuel seien eine Sache der Vergangenheit. Konzentrations- und Vernichtungslager sind die neuesten<br />

und bedeutsamsten Werkzeuge aller totalitären Herrschaftsformen.“ Hannah Arendt<br />

Léon Poliakov: „Vom Hass zum Genozid.<br />

Das Dritte Reich und die Juden“<br />

Bedeutendes Werk der frühen Holocaustforschung<br />

„L<br />

éon Poliakovs Buch<br />

über das Dritte Reich<br />

und die Juden ist das<br />

erste, das die späten<br />

Phasen des Nazi-Regimes strikt<br />

auf der Grundlage von Primärquellen<br />

darstellt. Er hat einen<br />

Blick für das Wesentliche und<br />

verfügt über eine vollständige<br />

und intime Kenntnis der komplizierten<br />

Verwaltungsmaschinerie<br />

Nazi-Deutschlands“, schrieb<br />

Hannah Arendt in ihrer Rezension<br />

des Buches „Breviaire de la<br />

haine. Le III Reich et les Juifs“.<br />

Bald nach der französischen<br />

Originalausgabe 1951 wurde es<br />

in mehrere Sprachen übersetzt,<br />

doch mussten siebzig Jahre vergehen,<br />

bis es nun unter dem Titel<br />

„Vom Hass zum Genozid. Das<br />

Dritte Reich und die Juden“ auf<br />

Deutsch vorliegt. Bewältigt hat<br />

diese Herkulesarbeit der Historiker<br />

und Politologe Ahlrich Meyer<br />

(*1941), emeritierter Professor<br />

der Universität Oldenburg, dem<br />

wir auch die Übertragung von<br />

Serge Klarsfelds bahnbrechender<br />

Recherche „Vichy-Auschwitz“<br />

(1989) verdanken sowie eigene<br />

Forschungen zum Thema, darunter<br />

„Die deutsche Besatzung<br />

in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung<br />

und Judenverfolgung“.<br />

Schon 1943 hat Léon Poliakov<br />

(1910–1997) begonnen, für sein<br />

Buch zu recherchieren; damals war<br />

er gemeinsam mit Isaac Schneersohn<br />

in der französischen Résistance<br />

aktiv und beteiligte sich mit<br />

rund vierzig anderen Personen an<br />

der sukzessiven Sicherung von Dokumenten<br />

zur NS-Verfolgung. Auf<br />

diese Weise wurde das Centre de<br />

Documentation Juive Contemporaine<br />

(CDJC) in Paris begründet,<br />

das heute Teil der zentralen französischen<br />

Gedenkstätte und Forschungseinrichtung<br />

Mémorial de la<br />

Shoah ist.<br />

Für seine Studie hat Poliakov über<br />

200.000 Dokumente ausgewertet,<br />

darunter Aktenmaterial des „Judenreferats“<br />

der Gestapo, das die NS-<br />

Besatzung 1944 beim Rückzug aus<br />

Paris zurückgelassen hatte, sowie<br />

Dokumente der Parallelinstitution<br />

des Vichy-Regimes, der „Commissariat<br />

Général aux Questions<br />

Juives“ (CGQJ); wichtige Unterstützung<br />

erhielt er durch seinen<br />

SPEZIAL<br />

UNIversalis-Zeitung<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgeber:<br />

Art Media Verlagsgesellschaft mbH<br />

Auerstr. 2 • 79108 Freiburg<br />

Telefon: 07 61 / 72 072<br />

e-mail: redaktion@kulturjoker.de<br />

Redaktionsleitung<br />

(V.i.S.d.P):<br />

Christel Jockers<br />

Mitstreiter Joseph Billig. Des Weiteren<br />

verfügte Léon Poliakov über<br />

die kompletten Ermittlungsakten<br />

der Nürnberger Prozesse, da er als<br />

Sachverständiger der französischen<br />

Delegation 1946 bis 1948 beim<br />

Internationalen Gerichtshof der<br />

Alliierten gegen die NS-Führung<br />

mitwirkte. Poliakovs Quellenmaterial<br />

ist mittlerweile vollständig archiviert.<br />

Ahlrich Meyer hat für die<br />

deutsche Ausgabe des Buches zahlreiche<br />

Originale ausgegraben, um<br />

Rückübersetzungen aus dem Französischen<br />

zu vermeiden; auch hat<br />

er in Fußnoten neuere Forschungsergebnisse<br />

und Korrekturen eingearbeitet.<br />

Eine editorische Notiz gibt<br />

zusätzliche Auskünfte, z.B. zu den<br />

Begrifflichkeiten, die sich seit den<br />

Fünfzigerjahren verändert haben;<br />

damals bezeichnete man etwa die<br />

Ermordung der Juden als Genozid,<br />

die Termini Holocaust oder Shoáh<br />

waren noch nicht gebräuchlich.<br />

Léon Poliakov antizipierte die später<br />

von Hans Mommsen formulierte<br />

These von der „kumulativen Radikalisierung“,<br />

als er schrieb: „Es<br />

wäre sicher ein Irrtum anzunehmen,<br />

den Prophezeiungen Hitlers hätten<br />

Für Universität und Hochschulen in Freiburg<br />

Autor*innen dieser Ausgabe:<br />

Pauline Ebert<br />

Dr. Martin Flashar<br />

Dr. Cornelia Frenkel<br />

Julian Hienstorfer<br />

Fabian Lutz<br />

u.a.<br />

Satz/Gestaltung:<br />

Art Media Verlagsgesellschaft mbH<br />

Druck:<br />

Rheinpfalz Verlag und Druckerei<br />

GmbH & Co. KG, Ludwigshafen<br />

Der Nachdruck von Texten und den vom<br />

Verlag gestalteten Anzeigen nur mit ausdrücklicher<br />

Genehmigung des Verlags.<br />

ein genauer Plan und im Voraus<br />

gefasste Entschlüsse zugrunde gelegen.“<br />

Poliakov betont die Prozesshaftigkeit<br />

des Geschehens, hebt als<br />

Antrieb für den antisemitischen<br />

Verfolgungs- und Vernichtungsprozesses<br />

ökonomische Aspekte sowie<br />

den rassistisch und christlich motivierten<br />

Judenhass hervor. Nicht nur<br />

Hitlers Führungsriege und abgerichtete<br />

Psychopathen, die Massaker<br />

im Osten begangen haben, sah<br />

er verantwortlich, sondern die gesamte<br />

deutsche Gesellschaft. „Was<br />

mir damals keine Ruhe ließ“, so<br />

Poliakov, „und sicherlich nicht nur<br />

mir, das (…) waren die Umstände,<br />

unter welchen die Führungsebene<br />

des Dritten Reichs beschlossen hatte,<br />

mich zu töten, ebenso wie Millionen<br />

andere menschliche Wesen.“<br />

Wie kam es zu dieser kaltblütigen<br />

Vernichtungsabsicht? Poliakov versucht<br />

den Zivilisationsbruch greifbar<br />

zu machen, indem er Raub,<br />

Versklavung, Ghettoisierung, Deportationen<br />

und schließlich die<br />

Einrichtung von „Todesfabriken“<br />

chronologisch rekonstruiert. Die<br />

Verbindung zwischen Massenmord<br />

und „Euthanasie“ thematisiert er<br />

ebenso wie das stillschweigende<br />

Einverständnis der Bevölkerung<br />

und die enge Zusammenarbeit deutscher<br />

Dienststellen und NS-Tätergruppen.<br />

Zudem widmet Poliakov<br />

dem jüdischen Widerstand, der von<br />

vielen Historikern bestritten wurde,<br />

ein eigenes Kapitel; dieses ist ebenso<br />

beeindruckend wie das Kapitel<br />

„Vichy-Frankreich als Sonderfall“,<br />

das mit Originaldokumenten – insbesondere<br />

dem Protokoll, das Heinz<br />

Röthke von seiner Unterredung mit<br />

Pierre Laval 1943 (15.8.) anfertigte<br />

– beleuchtet, wie das Gesetz „über<br />

die Aberkennung der französischen<br />

Staatsangehörigkeit“ an Pétain und<br />

Laval scheiterte und der SS-Mann<br />

Röthke feststellen musste, dass für<br />

das Projekt der „Endlösung“ die<br />

ablehnende Haltung der Italiener<br />

zum Hindernis wird und vor allem:<br />

„Die französische Regierung will in<br />

der Judenfrage nicht mehr mitziehen“.<br />

Dies machte die großen Pläne<br />

des Reichssicherheitshauptamts<br />

(RSHA), u.a. in Person von Röthke<br />

und Alois Brunner, nach und nach<br />

zunichte; trotzdem war die Verfolgung<br />

nicht beendet, die Besatzer<br />

setzten sie fort, teils unterstützt von<br />

der „Milice française“, die aber<br />

in der französischen Bevölkerung<br />

weder eine breite Basis hatte, noch<br />

eine antisemitische Hysterie auslösen<br />

konnte.<br />

„Vom Haß zum Genozid“ ist ein<br />

Buch, das der Ideologieproduktion<br />

entgegenwirkt, indem es die Vorgänge<br />

genau darlegt und u.a. zeigt,<br />

wie wenig es angebracht ist, in unserer<br />

Beziehung zur Vergangenheit<br />

nur das zu beachten, was auf den<br />

ersten Blick sichtbar ist, nämlich<br />

die Deportationen. Denn in dem<br />

von den Nazis besetzten Europa ist<br />

Frankreich das Land, in dem die<br />

jüdische Bevölkerung proportional<br />

am wenigsten Verluste erlitten hat.<br />

Auch Poliakovs Mitstreiter Isaac<br />

Schneersohn, Gründer des Centre<br />

de documentation Juive Contemporaine<br />

(CDJC), hat am Ende des<br />

Krieges festgehalten: „Nach Beurteilung<br />

des Archivmaterials, das<br />

wir gesichert haben, aber auch ausgehend<br />

von unserer persönlichen<br />

Erfahrung, können wir sagen, dass<br />

die französische Bevölkerung zwei<br />

Drittel der Juden in Frankreich gerettet<br />

hat.“ Die Grauenhaftigkeit<br />

der Shoah darf die Erinnerung an<br />

den (Rettungs-)Widerstand und die<br />

komplexen Machtkämpfe zwischen<br />

Besatzern, Kollaborations-Regime<br />

und Bevölkerung nicht ausgrenzen,<br />

damit die Gesamtzusammenhänge<br />

erkennbar bleiben; Poliakov leistet<br />

dazu einen wichtigen Beitrag. Er<br />

scheint prädestiniert gewesen zu<br />

sein, die historischen Ereignisse<br />

nicht einseitig wahrzunehmen; als<br />

Kind war er 1920 mit seinen Eltern<br />

dem sowjetrussischen Machtbereich<br />

entflohen und aus St. Petersburg<br />

nach Paris gelangt, im Zuge<br />

der NS-Besatzung Frankreichs sah<br />

er sich erneut auf der Flucht. Einzelheiten<br />

dazu enthalten seine autobiographischen<br />

Aufzeichnungen<br />

„St. Petersburg – Berlin – Paris:<br />

Memoiren eines Davongekommenen“.<br />

Wichtig bleibt zu erwähnen,<br />

dass Poliakov, gemeinsam mit<br />

dem Holocaustüberlebenden Joseph<br />

Wulf (1912-1974), der in West-Berlin<br />

lebte, zwischen 1955 und 1958<br />

drei Dokumentenbände zu NS-<br />

Tätergruppen veröffentlicht hat. In<br />

puncto Erinnerungsarbeit bot sich<br />

für Wulf jedoch in Deutschland ein<br />

vergleichsweise wenig günstiges<br />

Forschungsklima; in Frankreich<br />

waren Überlebende und NS-Gegner<br />

besser vernetzt und konnten, wie<br />

Poliakov, schon gegen Kriegsende<br />

eine Aufarbeitung der Verbrechen<br />

beginnen.<br />

• Léon Poliakov. Vom Hass zum<br />

Genozid. Das Dritte Reich und<br />

die Juden. Aus dem Französischen<br />

übersetzt, herausgegeben und<br />

mit einem Nachwort von Ahlrich<br />

Meyer. 599 S. Ed. Tiamat 2021<br />

• Ders. St. Petersburg – Berlin – Paris:<br />

Memoiren eines Davongekommenen.<br />

Ed. Tiamat. Berlin 2019<br />

Weiterführende Literatur<br />

• Meyer, Ahlrich (Hg.). Der Blick<br />

des Besatzers. Propaganda-Photographie<br />

der Wehrmacht aus Marseille<br />

1942-1944. Vorwort Serge<br />

Klarsfeld. Ed. Temmen 1999<br />

• ders. Die deutsche Besatzung<br />

in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung<br />

und Judenverfolgung.<br />

WB. Darmstadt 2000<br />

• ders. Täter im Verhör. Die „Endlösung“<br />

der Judenfrage in Frankreich<br />

1940-1944. Darmstadt 2005<br />

• ders. Täter und Opfer der „Endlösung“<br />

in Westeuropa. Paderborn<br />

2010<br />

• Meinen, Insa/Meyer, Ahlrich. Verfolgt<br />

von Land zu Land. Jüdische<br />

Flüchtlinge in Westeuropa 1938-<br />

1944. Unter Mitarbeit von Jörg<br />

Paulsen. Ferdinand Schöningh Verlag.<br />

Paderborn 2013<br />

Cornelia Frenkel


14 UNIversalis-Zeitung Sommer 2022<br />

Hohenhof, Ansicht von Westen<br />

Foto: Tobias Roch<br />

Essen feiert Jubiläum, der Hagener Impuls<br />

bleibt<br />

Karl Ernst Osthaus: Gelderbe, Sammler, Mäzen – und Motor der Moderne<br />

W<br />

er kennt nicht das Museum<br />

Folkwang in Essen!<br />

Gegründet vor 100 Jahren,<br />

im Oktober 1922,<br />

erhielt es internationale Aufmerksamkeit<br />

durch den zum Kulturhauptstadtjahr<br />

„Ruhr 2010“ realisierten<br />

Neubau des britischen Architekten<br />

David Chipperfield. Finanziert hatte<br />

das Projekt die Alfried Krupp von<br />

Bohlen und Halbach Stiftung, nachdem<br />

deren langjähriger Chef Bertold<br />

Beitz auf einer spektakulären Pressekonferenz<br />

am 24. August 2006 die<br />

finanzielle Förderung von55 Mio.<br />

Euro zugesagt hatte. Doch das Haus<br />

besitzt eine kunst- und kulturhistorisch<br />

nicht unbedeutsame Vorgeschichte.<br />

Karl Ernst Osthaus, geboren 1874<br />

in Hagen nahe der Ruhr, gleichsam<br />

schon in Sichtweite der großen Industriestädte<br />

Dortmund, Bochum<br />

und Essen, spielte die Schlüsselrolle.<br />

Durch Familie und Erbschaft kam<br />

er zu Geld. Eine historische Quelle<br />

ersten Ranges ist die mehrere Seiten<br />

umfassende autobiografische Notiz,<br />

die Osthaus seiner späten Dissertation<br />

„Grundzüge der Stilentwicklung“<br />

(erschienen 1918) beigab, drei Jahre<br />

vor seinem Tod. Darin schildert er<br />

wesentliche Etappen seiner Vita:<br />

„Mein Vater war der Bankier Ernst<br />

Osthaus, meine Mutter, Selma, die<br />

Tochter des Großindustriellen Wilhelm<br />

Funcke, dem Deutschland die<br />

Blüte seiner Holzschrauben-Industrie<br />

verdankt.“ Der Schwiegervaterführte<br />

in der zweiten Generation<br />

das industrielle Großunternehmen<br />

Funke & Hueck, mit zeitweilig bis<br />

zu 1.500 Beschäftigten. Finanzielle<br />

Unabhängigkeit war also gewährleistet,<br />

mehr noch: die Basis allen späteren<br />

mäzenatischen Wirkens.<br />

Im Frühjahr 1893 begann Osthaus,<br />

Literatur und Philosophie in Kiel<br />

zu studieren. „Ein Pfingstbesuch<br />

in Kopenhagen lenkte mein Interesse<br />

so stark auf die Gegenstände<br />

der bildenden Kunst, dass ich mich<br />

entschloss, das literarische Studium<br />

mit dem kunstgeschichtlichen und<br />

die Kieler Universität mit der Münchener<br />

zu vertauschen.“ In der Folge<br />

schrieb er sich der Reihe nach an<br />

den Universitäten Berlin, Straßburg,<br />

Wien und Bonn ein – und konnte es<br />

sich leisten.<br />

Wanderjahre mit abruptem<br />

Ende<br />

Die Vielfalt der Hochschullehrer,<br />

ihrer Ansätze und Methoden, weiteten<br />

Bildung und Interessen des<br />

großbürgerlichen Eleven hin auf<br />

eine kulturhistorische Sicht, auf<br />

Grundfragen der menschlichen Kultur.<br />

Zwischenzeitlich gerät Osthaus<br />

durch das Straßburger und Wiener<br />

Verbindungsleben auf politisch eingleisige<br />

Pfade: ein „Alldeutsches<br />

Reich“ schwebte ihm vor, bald wurde<br />

Foto: Martin Flas-<br />

Henri Matisse, „Nymphe und Satyr“, bemalte Keramikfliese, Detail aus einem Triptychon im Wintergarten des Hohenhofs, 1906–1908<br />

har<br />

er eines Besseren belehrt und, so die<br />

eigene Darstellung, „infolge eines zu<br />

intimen Verkehrs mit den Deutschnationalen<br />

in Österreich des Landes<br />

verwiesen“, im Juli 1896. Zeitweilig<br />

findet sich auch Antisemitisches in<br />

seinem Schrifttum. Daheim in Hagen<br />

war man nicht begeistert über<br />

die Eskapaden des Weltenbummlers.<br />

Wenige Monate später verstarben<br />

beide Großeltern Funcke und<br />

hinterließen ihm die beträchtliche<br />

Erbschaft von drei Millionen Mark<br />

(heutiger Wert: gut das Zehnfache<br />

in Euro). Zwei Drittel davon will<br />

Osthaus dem Allgemeinwohl widmen.<br />

Er scheint nun, politisch endlich<br />

geerdet, rückbezogen auf Bildungs-<br />

und Kulturprojekte in seiner<br />

Heimat: der Industriestadt Hagen.<br />

Und die Reisen nehmen zu. Es ging<br />

„in den Atlas und die Sahara“, auf<br />

den Balkan und in den Orient: „Ich<br />

besuchte Ungarn, Rumänien, die<br />

Türkei, Griechenland, Kleinasien<br />

und Aegypten. Die Reise machte<br />

mich zum Sammler von Kunstwerken,<br />

und als ich im Frühjahr 1899<br />

nach Hagen zurückkehrte, war das<br />

Problem der Aufstellung meiner<br />

Kunstsammlungen bereits dringend<br />

geworden.“ Im selben Jahr heiratet<br />

Osthaus, fünf Kinder werden in der<br />

Folge geboren.<br />

Eigene Kunstsammlung, eigenes<br />

Museum<br />

Die, befördert durch die Reisetätigkeit,<br />

angelegte beachtliche<br />

Sammlung bedurfte einer Heimat.<br />

1898 wurde der Grundstein für das<br />

Museum im Zentrum der Stadt gesetzt.<br />

Angedacht waren als Kern<br />

des Hauses: Naturkunde, dann die<br />

Gemäldeabteilung sowie außereuropäisches<br />

Kunstgewerbe. Es gab<br />

den Entwurf im späthistoristischen<br />

Neo-Renaissancestil, von der Hand<br />

des Berliner Architekten und königlichen<br />

Baurats Carl Gérard, der<br />

schon für den Vater gebaut hatte.<br />

Dann der Umschwung, der Konvention<br />

folgten formale Innovation und<br />

Avantgarde: „Mich berührte das<br />

Schaffen des Vlamen Henry van de<br />

Velde. Ein kurzer Entschluss machte<br />

ihn am 1. Mai 1900 zum Nachfolger<br />

meines Museumsarchitekten; leider<br />

stand der Rohbau damals fertig,<br />

und die Gestaltung des Künstlers,<br />

der alsbald seinen Wohnsitz von<br />

Brüssel nach Deutschland verlegte,<br />

konnte sich nur noch auf die Innenausstattung<br />

beziehen. So kam es,<br />

dass der als naturwissenschaftliche<br />

Anstalt projektierte Bau ein Programmwerk<br />

des modernen Stils in<br />

Deutschland wurde.“ Und van de<br />

Velde bewunderte das Engagement:<br />

„In weniger als einem Jahr hatte er<br />

Werke von Manet, Renoir, Seurat,<br />

Signac, Cross, van Gogh, Gauguin,<br />

und Skulpturen von Minne, Rodin,<br />

und Constantin Meunier erworben.<br />

Bevor die Freundschaft zwischen<br />

uns entstand.“ Im Sommer 1902 öffnete<br />

das Museum. Aktuelle Kunst<br />

war nun die Domäne. In Ausstellungen<br />

zeigte man hernach Werke<br />

der „Brücke“, Kirchner, Nolde, dann<br />

Archipenko und vor allem Christian<br />

Rohlfs, der durch die ‚Säuberungen‘<br />

der NS-Zeit wieder entfernt wurde.<br />

Die Kunsthistorikerin Birgit Schulte,<br />

langjährige Osthaus-Forscherin und<br />

stellvertretende Direktorin des Museums,<br />

konstatiert: „Das Folkwang<br />

erlangte schon bald den Ruf als das<br />

bedeutendste Museum für zeitgenössische<br />

Kunst.“ Osthaus notierte als<br />

Credo: „Das große Problem der Zeit<br />

war die Zurückführung der Kunst<br />

ins Leben, und dieser Aufgabe hat<br />

das Museum sich seither zu widmen<br />

versucht.“<br />

Ganz nebenbei zeugt von der<br />

persönlichen Historie der Kollektion<br />

auch das Osthaus-Bildnis von<br />

Ida Gerhardi, einer umtriebigen<br />

Hagener Kunstmalerin, zwölf Jahre<br />

älter als Osthaus. Sie beriet den<br />

Sammler bei Ankäufen, führte ihn<br />

in die Pariser Szene ein, bei Auguste<br />

Rodin und Aristide Maillol. Ihr Öl-<br />

Porträt zeigt den 29-jährigen jungen<br />

Gelehrten im Arbeitszimmer: angespannt,<br />

konzentrierten Blicks, mit<br />

der Linken eine Stuhllehne fassend,<br />

in der rechten Hand ein Schreibstift,<br />

im Hintergrund das Bücherregal und<br />

rechts eine Staffelei mit gerahmten<br />

Bildern –vorn auf dem Desk, deutlich<br />

sichtbar, steht eine antike Vase,<br />

ein Salbgefäß (Lekythos) der attischrotfigurigen<br />

Produktion des 5. Jahrhunderts<br />

vor Christus aus Athen. Die<br />

griechische Klassikzählte mit zum<br />

Weltkunsthorizont von Osthaus –<br />

und wurde also inszeniert.<br />

Was bedeutet die Folkwang-<br />

Idee?<br />

Folkwang ist ein Begriff, den wir<br />

heute nurmehr durch das Essener<br />

Museum kennen. Osthaus fand ihn<br />

in der nordischen Mythologie und<br />

entwickelte das zugehörige Lebenskonzept.<br />

Fólkvangr, das ‚Volksfeld‘,<br />

ist Territorium der Göttin Freya und<br />

mythischer Ort der Wiederkehr verstorbener<br />

Heldenfiguren in Walhall.<br />

Zugleich eben: Treffpunkt der Gemeinschaft.<br />

Osthaus reklamierte die<br />

Bezeichnung für sein Hagener Museum.<br />

Die gedankliche und terminologische<br />

Wurzel gründete in den jugendlichen<br />

Gespinsten, geprägt von<br />

germanisch-nordischer Saga. Doch<br />

mittlerweile hatte sich der Blick verändert,<br />

der Name implizierte ihm<br />

mehr: „Als Zentrum der schönen<br />

Künste der Welt sollte es zugleich<br />

ein Ort der Bildung und Volkserzie-


Sommer 2022 UNIversalis-Zeitung 15<br />

hung sein“ (Birgit Schulte). Deshalb<br />

erscheint auch eine zweite Gründung<br />

1909 nur konsequent: das „Deutsche<br />

Museum für Kunst und Gewerbe“,<br />

die Motivation steht in engem Zusammenhang<br />

mit Osthaus‘ Engagement<br />

im „Deutschen Werkbund“,<br />

dessen Vorstand er seit 1910 angehörte.Modernes<br />

Design ist hier das<br />

Thema, ein zunächst virtuelles Museum,<br />

eine Art „Zentrale für Wanderausstellungen,<br />

die den Umlauf<br />

des gewerblichen Ausstellungswesens<br />

zu erleichtern bestimmt war.<br />

Das Deutsche Museum erwirbt Objekte<br />

des modernen Kunstgewerbes,<br />

stellt sie zu Ausstellungen zusammen<br />

und verleiht sie an öffentliche Institute<br />

gegen eine Leihgebühr.“<br />

Künstlersiedlung am Hohenhof<br />

Um die Jahrhundertwende besaßen<br />

Künstlerkolonien, in schöner Natur<br />

meist und frei von den Zwängen<br />

staatlicher Akademien, Konjunktur:<br />

Worpswede im Teufelsmoor (seit<br />

1889), die Darmstädter Mathildenhöhe<br />

(seit 1899), der „Blaue Reiter“<br />

in Murnau am Staffelsee (seit 1908).<br />

Der legendäre Monte Verità bei Ascona<br />

am Lago Maggiore (seit 1900)<br />

zeigte vielleicht am deutlichsten den<br />

Drang zur praktischen Erprobung<br />

neuer Lebensformen: die Verbindung<br />

von Kunst mit der eigenen<br />

Daseinsgestaltung, Naturheilkunde,<br />

Vegetarismus, Nudismus.<br />

In diesen Kontext gehört die Aktivität<br />

von Osthaus: „Ich erwarb 1906<br />

ein Areal von 100 Morgen, entwarf<br />

mit Peter Behrens den Bebauungsplan<br />

und verteilte die Baublöcke<br />

und Straßen unter verschiedene<br />

Künstler.“ Es geht um die großzügig<br />

angelegte Gartenvorstand Hohenhagen,<br />

ein idyllischer Hügel etwa<br />

zwei Kilometer östlich des Stadtzentrums.<br />

Zuerst entstand 1908 der<br />

„Hohenhof“, das Wohnhaus für die<br />

Ida Gerhardi (1862–1927), Porträt von Karl Ernst Osthaus, 1903, Öl auf Leinwand, Osthaus Museum Hagen /<br />

Inv.-Nr. K 425<br />

Foto: Achim Kukulies<br />

Familie Osthaus, gebaut von Henry<br />

van de Velde. Dies „Gesamtkunstwerk<br />

des Jugendstils“ ist auch im<br />

Interieur bis ins Letzte durchkomponiert<br />

– und längst als eigenes Museum<br />

zugänglich. Es empfängt den<br />

Besucher ein monumentales Wandgemälde<br />

von Ferdinand Hodler, das<br />

Mobiliar großenteils von van de<br />

Velde selbst entworfen, Glasmalerei<br />

des Niederländers Jan Thorn Prikker<br />

– nicht zuletzt die Keramikfliesen im<br />

Wintergarten von Henry Matisse.<br />

Drei Villen nach Entwurf von Peter<br />

Behrens, der wenige Jahre zuvor als<br />

Architekt der im Sommer 2021 zum<br />

Unesco-Welterbe erklärten Mathildenhöhe<br />

wirkte, und elf weitere des<br />

Theosophen Jan Mathieu Lauweriks<br />

kamen noch hinzu, ehe der Erste<br />

Weltkrieg dem Großprojekt ein vorzeitiges<br />

Ende setzte.<br />

Ohne Osthaus kein Bauhaus<br />

Die nur scheinbar provokante<br />

Aussage trifft den Kern der Sache.<br />

Denn Osthaus hat, so die Quellenlage,<br />

Walter Gropius den „Werkbund“<br />

nahegebracht. Anfang Juni 1908<br />

besuchte Gropius erstmals das Hagener<br />

Museum.In der Rückerinnerung<br />

bestätigt Gropius brieflich im<br />

Mai 1968 die Schlüsselrolle von Osthaus<br />

bei der Gründung der „Weimar<br />

Arts and Crafts School“ 1919 – das<br />

Bauhaus wäre ohne das Netzwerk<br />

und die Initiative von Osthaus wohl<br />

nicht zustande gekommen. Wenige<br />

Monate vor dessen Gründung hatte<br />

Gropius an Osthaus geschrieben:<br />

„Ich bin dabei, etwas ganz anderes<br />

ins Werk zu setzen – eine Bauhütte!<br />

Mit einigen wesensverwandten<br />

Künstlern. Ich bitte Dich, darüber<br />

Schweigen zu bewahren.“ Die Vertrautheit<br />

dieser Zeilen gründet auf<br />

der engen Verbindung beider, sowie<br />

besonders der vorangegangenen Förderung,<br />

die Gropius durch Osthaus<br />

erhalten hatte: Netzwerk und Kontakte,<br />

Arbeitsaufträge.<br />

Der im Nachhinein geprägte Begriff<br />

vom „Hagener Impuls“ zur<br />

Charakterisierung dieses Reformwillens<br />

kurz vor dem Ersten Weltkrieg<br />

hat sich in der Forschung<br />

durchgesetzt.<br />

Ende und Verbleib der Sammlungen<br />

Karl Ernst Osthaus verstarb am<br />

Ostersonntag (27. März) 1921 in<br />

Meran, wo er sich zur Heilung einer<br />

Kehlkopftuberkulose aufhielt. Der<br />

Kunsthistoriker Walter Cohen formulierte<br />

in seinem Nachruf: „Osthaus<br />

war eine schöpferische Natur,<br />

dazu ein Maecen von ganz großem<br />

Wuchse; aber ich weiß nicht, ob es<br />

möglich ist, nun da er tot ist und wir<br />

uns nicht mehr wärmen können an<br />

dem Feuer seiner Augen, der aufrechten<br />

Mannhaftigkeit seines Wesens,<br />

seine Hauptschöpfung, den<br />

Folkwang, so zu bewahren, dass<br />

Gefahren vermieden werden, denen<br />

selbst der Begründer nicht immer<br />

aus dem Wege gehen konnte.“ Was<br />

Cohen mit dieser etwas düsteren<br />

Prognose meinte, bleibt zunächst offen.<br />

Kaum ist eine Kritik an Osthaus<br />

formuliert, den Cohen stets ehrte.<br />

Vermutlich liegt in dem Satz eine<br />

Vorahnung bezüglich des Erbes.Im<br />

Herbst 1922 wurde die Sammlung an<br />

die Stadt Essen verkauft, finanziert<br />

durch Mittel der Ruhrkohle AG. Die<br />

Bestände des Kunst- und Gewerbemuseums<br />

landeten 1923 im Kaiser-<br />

Wilhelm-Museum in Krefeld. Die<br />

Baukultur verblieb in Hagen. Das<br />

dortige Osthaus- Museum verwahrt<br />

auch das über 100.000 Dokumente<br />

umfassende Archiv seines Gründers.<br />

Martin Flashar


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