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Scheidegger & Spiess International New Titles Autumn 2023

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28 Route du Simplon, Kaltwassergallerie<br />

sich das Kräfteverhältnis zwischen Mensch und Pass<br />

um; allerdings verloren auch zwei Arbeiter dabei ihr<br />

Leben. Doch zum ersten Mal hatte der Mensch die Mittel,<br />

das Herzstück des Berges zu erobern und ihm seine<br />

Route aufzuzwingen. Das berühmte «Urnerloch» – 64<br />

Meter lang, 2 Meter breit und 2,50 Meter hoch – erlaubte<br />

es, sich endgültig von der zu schmalen und wartungsaufwändigen<br />

Twärrenbrücke abzuwenden. Zwar<br />

stellte sie nach wie vor eine beachtliche Neuerung dar,<br />

aber der Maultierpfad an den steilen Hängen war veraltet.<br />

Zwischen 1827 und 1830 entwarf der Schweizer<br />

Ingenieur Francesco Meschini (1762-1840) die Pläne<br />

für eine moderne Strasse durch die Schöllenenschlucht<br />

unterhalb des Urnerlochs. Er baute eine neue, breitere<br />

und höhere Teufelsbrücke sowie einen zwischen der<br />

Brücke und Göschenen in den Felsen gehauenen Fahrweg.<br />

Zudem liess er den Hospental-Weg, der sich zwischen<br />

den Felsblöcken bis zur Passhöhe schlängelt und<br />

die Tremola-Strasse am Südhang ausbauen. Letztere ist<br />

zu Recht legendär, überwindet sie doch auf einer Länge<br />

von vier Kilometern in 24 Haarnadelkurven – von denen<br />

jede einen Namen trägt und von bis zu acht Meter hohen<br />

Mauern abgestützt wird – insgesamt 300 Höhenmeter.<br />

Dank der Herkulesarbeit konnte das senkrechte Fundament<br />

der in den engsten Kurven gerade einmal sieben<br />

Meter breiten Fahrbahn – und damit auch die Sicherheit<br />

der auf ihr verkehrenden Gespanne – gewährleistet werden.<br />

Die Chaussee verdankt ihre Festigkeit und Langlebigkeit<br />

dem bis heute erhaltenen Granitpflaster.<br />

Dank der neuen Infrastrukturen konnten im Sommer<br />

ein täglicher Postkutschendienst und im Winter ein regelmässiger<br />

Postschlittendienst betrieben werden. Mit<br />

dem Durchbruch der Axenstrasse im Jahr 1865 war<br />

die Erschliessung des Gotthards von Norden her abgeschlossen.<br />

Bei diesen gigantischen Arbeiten wurde<br />

für die Baslerstrasse ein Weg durch den Felsen entlang<br />

des Vierwaldstättersees gebahnt. Im gleichen Jahrzehnt<br />

wurden auch die Furka- und die Oberalpstrasse modernisiert.<br />

Dadurch entwickelte sich der Gotthard nicht nur<br />

zu einem Kreuzungspunkt der Schweiz, sondern ganz<br />

Europas. Ab 1870 überquerten bis zur Eröffnung des<br />

Eisenbahntunnels jährlich etwa 70’000 Passagiere und<br />

20’000 Tonnen Güter den Pass. Legt man die Anzahl<br />

Überfahrten und die national und international wesentliche<br />

Transit-Art als Kriterien zugrunde, so bildete dieser<br />

kurze Zeitabschnitt vor der Moderne die Glanzzeit<br />

der Alpenpässe.<br />

Von 1860-1880 spielten Pässe die Rolle, die sie seit Urzeiten<br />

gespielt hatten, in einem neuen Ausmass und sie<br />

liessen im kollektiven Gedächtnis der Schweizer eine<br />

regelrechte Pässe-Kultur entstehen. Doch wie oft folgt<br />

der Niedergang kurz nach dem Höhepunkt.<br />

Die 1850er-Jahre markieren eine Wende in der Geschichte<br />

Europas. Nach dem «Frühling der Völker»<br />

(1848) hält der Wirtschaftsliberalismus allmählich Einzug.<br />

Die industrielle Revolution ist in vollem Schwung,<br />

wird aber dadurch gehemmt, dass der Eisenbahnverkehr<br />

erst ansatzweise entwickelt ist. Der Schienentransport<br />

wird in ganz Europa zu einer Priorität, um beispielsweise<br />

Kohle und Stahl in die aufstrebenden Wirtschaftszentren<br />

zu befördern.<br />

Bereits zu Beginn des Jahrzehnts zeigt sich für alle die<br />

deutliche Notwendigkeit einer alpenquerenden Eisenbahnverbindung.<br />

Das erste Projekt über den Gotthard<br />

wird ab 1851 realisiert. Die Passstrassen werden zwar<br />

weiter modernisiert, doch weitsichtige Planer halten<br />

sie grundsätzlich bereits für veraltet, weil sie nur von<br />

Pferdewagen befahren werden können. Alfred Escher<br />

(1819-1882) hatte dies deutlicher erkannt als alle anderen:<br />

Langsam aber sicher baute er das «System Escher»<br />

auf, das wichtige Ämter und Funktionen, Politik und<br />

Wirtschaft zusammenschloss. Mit der Bohrung des ersten<br />

alpenquerenden Eisenbahntunnels unter dem Gotthardpass<br />

verwirklichte er zudem eine alpenquerende<br />

Verbindung – die Gotthardbahn war in der Folge die<br />

erste wintersichere Verbindung durch die Schweizer<br />

Alpen.<br />

Alfred Escher, ein Angehöriger des Zürcher Grossbürgertums,<br />

war zunächst ein herausragender Politiker auf<br />

Kantons- und Bundesebene. Sein Projekt geht über die<br />

Errichtung einer Eisenbahnlinie hinaus. Er beabsichtigte,<br />

diese Mammutarbeiten als Faktor für die wirtschaftliche<br />

und technische Entwicklung der Schweiz zu nutzen.<br />

Tatsächlich wies die Schweiz einen grossen Nachholbedarf<br />

auf. Escher war Mitbegründer der Schweizerischen<br />

Kreditanstalt und der ersten Versicherungsgesellschaft<br />

von landesweiter Bedeutung (spätere Swiss Life). Er<br />

nahm persönlich die Präsidentschaft und die Aufsicht<br />

über beide Institutionen wahr. 1857 wurden in Frankreich<br />

die Tunnelbauarbeiten am Mont Cenis in Angriff<br />

genommen. Escher erkannte, dass der Schweizer Tunnel<br />

östlich davon verlaufen und zunächst Deutschland<br />

mit Italien verbinden musste. Er hatte massgeblichen<br />

Anteil an der Gründung der Eidgenössischen Technischen<br />

Hochschule Zürich, heute kurz ETH Zürich. Er<br />

leitete die grösste Eisenbahngesellschaft des Landes und<br />

gründete die Vereinigten Schweizerbahnen, die sämtli-<br />

29<br />

36 TCS-Ausfahrt bei Gletsch, unterhalb der Furka-Passhöhe Furkapass, Rhonegletscher<br />

37<br />

Maison des Cantonniers et des Douanes - Stelvio Pass, Italien<br />

En compagnie de Cairns - San Bernardino-Pass (GR)<br />

The Swiss Alpine passes:<br />

international transit routes,<br />

places of encounter, and<br />

a core part of Switzerland’s<br />

national identity<br />

Premiers flocons - Oberalppass (GR)<br />

San Bernardino - San Bernardino-Pass (GR)<br />

189<br />

Sieg über den Pass:<br />

Alfred Escher und sein Werk<br />

Mémorial au conflit 1914-1918 - Umbrailpass (GR)<br />

193<br />

6 Vue sur le Grimsel avec Finsteraarhorn (4274 m) - Furkapass (VS)<br />

87<br />

Piz Bernina mit Biancograt - Bernina Passstrasse (GR)<br />

109

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