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Scheidegger & Spiess International New Titles Autumn 2023

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The Zurich Concretists: from difficult<br />

beginnings and struggles to<br />

triumphs and arrival in Switzerland’s<br />

art establishment<br />

Skandal<br />

«Popanz Bill?» Rekonstruktion eines Streitfalls<br />

140<br />

141<br />

166<br />

167<br />

Ein Bill-Katalog, der ohne Bills Text<br />

erscheint, ein Bill-Antipode, der im<br />

Zorn die eigenen Bilder zerstört, und<br />

Proteste gegen Bills «Geschmacksdiktatur»<br />

markieren 1970 den<br />

Höhepunkt im Showdown zwischen<br />

konkreter und figurativer Kunst.<br />

Von Dora Imhof<br />

Am 29. November 1970<br />

betrat der Maler Varlin das Helmhaus in<br />

Zürich. Wie jedes Jahr um diese Zeit hatte<br />

an der Limmat gerade die Weihnachtsausstellung<br />

eröffnet. Varlin war darin mit drei<br />

Gemälden vertreten. Zu sehen waren sein<br />

Porträt von Leida Feldpausch, der Inhaberin<br />

des gleichnamigen Modehauses, ein Bildnis<br />

des früheren Zürcher Stadtpräsidenten Emil<br />

Landolt sowie eines des Friedensaktivisten<br />

Max Daetwyler. Doch war Varlin nicht nach<br />

Feiern zumute. Im Gegenteil: Er schlitzte die<br />

Leinwand seiner Bildnisse von Feldpausch<br />

und Landolt mit einer Rasierklinge auf. Nur<br />

das Gemälde des Pazifisten Daetwyler liess<br />

er intakt.<br />

Der Vorfall im Helmhaus ist als Zürcher<br />

Kunstskandal in die Annalen eingegangen.<br />

Varlins Tat, bei der er sich an der Hand<br />

verletzte hatte und blutend heimkehrte,<br />

erscheint bizarr: Welcher Künstler bei Sinnen<br />

beschädigt mutwillig seine eigenen Werke?<br />

Doch betrachtet man die näheren Umstände,<br />

wird sein Handeln nachvollziehbar.<br />

Und dann geht es um mehr als einen<br />

Akt der Zerstörung oder eine Lokalposse.<br />

Bei Varlins Sachbeschädigung in eigener<br />

Sache und den Debatten, die auf sie folgten,<br />

geht es um grundsätzliche Auffassungen<br />

von Kunst, von ihrer Rolle in der Gesellschaft,<br />

um Modernität, Verantwortung – und nicht<br />

zuletzt um Macht. Der Mächtige ist hier<br />

Max Bill. Er steht im Helmhaus quasi hinter<br />

den Bildern, gegen ihn richtete sich Varlins<br />

Zorn.<br />

Es war bereits die dritte Weihnachtsausstellung,<br />

bei der Max Bill den Juryvorsitz<br />

innehatte, und er war ihr Kurator. 1968 hatte<br />

er eine Ausstellung zur abstrakten Kunst<br />

zusammengestellt; 1969 folgte Konkrete<br />

und Phantastische Kunstrichtungen. Darin<br />

präsentierte Bill beide Malereitendenzen<br />

nebeneinander. 1970 war die Schau ganz<br />

der figurativen Malerei gewidmet. Dass der<br />

Konkrete Max Bill ihr eine eigene Ausstellung<br />

ausrichtete, könnte als grosszügige Geste<br />

interpretiert werden. Wäre da nicht sein Vorwort<br />

gewesen. 1969 hatte Bill in der Katalogeinleitung<br />

die beiden Kunstrichtungen noch<br />

ziemlich neutral beschrieben. 1970 verschärfte<br />

sich sein Ton: Figurative Kunst sei rückwärtsgewandt,<br />

selbstzufrieden und provinziell. Und<br />

er stellte ältere sowie jüngere Künstlerinnen<br />

und Künstler gleichermassen in den Senkel:<br />

«Von ihnen [der älteren Generation] hatte<br />

sicher niemand erwartet, dass sie ihr bewährtes,<br />

die Tradition hochhaltendes Schaffen in<br />

neue Bahnen lenken würden. Erstaunlich<br />

jedoch ist es, dass die junge Generation<br />

diese, an einer noch heilen Welt orientierte<br />

Kunst übernimmt, ohne sie mit den Elementen<br />

der Gegenwart zu konfrontieren. Es fehlt fast<br />

jede Andeutung auf die spezifischen Merkmale<br />

unserer Zeit, die Welt der Wissenschaft,<br />

der Technik, des Bauens, des Verkehrs.» 1<br />

Namentlich erwähnt wurde neben einer<br />

Skulptur von Alfred Huber auch ein Gemälde<br />

Varlins. Bills harscher Kommentar: «Das<br />

Portrait des Friedensapostels Max Daetwyler<br />

Streitschrift<br />

Unendliche Schleife des reinen Ausdrucks<br />

Martin Heller, damaliger Direktor des<br />

Zürcher Museums für Gestaltung,<br />

Postern und Industrieprodukten. Sie hat den<br />

Retter der Landesausstellung Expo 0.2<br />

Schweizer Lebensraum durchwirkt, hat sich<br />

und Kulturunternehmer, rechnete 1995<br />

die Wände der Grossraumbüros in Banken<br />

mit den Konkreten ab. Seine Polemik und Versicherungen ebenso erobert wie den<br />

war Höhepunkt einer Kritik, die mit den Versandhandel, die Stuben der Aufgeklärten<br />

68ern einsetzte. Beispielhaft steht sein und die Regale der Warenhäuser mit Geschmack.<br />

Aus dem Nichts geformt bzw. aus<br />

Text für eine spezifisch zürcherische<br />

Abneigung, die härter, eleganter und der Endlosigkeit des mathematischen Raums<br />

böser nie formuliert wurde und zur<br />

ins Leben gerufen, ist die Konkrete Kunst<br />

Wirkungsgeschichte gehört.<br />

das mittlerweile mehrheitsfähigste Projekt der<br />

Schweizer Kunstgeschichte. [...] 3<br />

Natürlich war dem nicht immer so. Auch<br />

diese Laufbahn hat einmal anfangen müssen.<br />

«[E]benso wie die klaren, sauberen musikalischen<br />

Formen dem Hörenden angenehm<br />

sind, dem Wissenden in ihrem Aufbau Freude<br />

bereiten, sollen die reinen, klaren Formen und<br />

Farben den Betrachter optisch erfreuen […]»,<br />

schrieb Bill im Katalog zur Ausstellung Zeit-<br />

Von Martin Heller<br />

probleme in der Schweizer Malerei und Plastik. 4<br />

Sein Wunsch darf als werbende Rhetorik<br />

einem Publikum gegenüber gelesen werden,<br />

Das Projekt<br />

das für das geistige Anliegen solcher Konkretion<br />

noch nicht reif schien und deshalb einer<br />

Die Schweiz, so lesen wir in der einschlägigen<br />

Literatur sinngemäss, sei das Land der artis - harmlos griffigeren, irgendwie sinnlicheren<br />

tischen Individualistinnen und Eigen brötler. Sinngebung bedurfte. Zumal Sache und Begriff<br />

(Harald Szeemanns selbstlos eigen willige und auch in der Fachwelt Verwirrung stifteten. Zur<br />

hartnäckige Arbeit am Mythos der Individuellen Ausstellung der «Allianz. Vereinigung moderner<br />

Mythologien nährt diese Interpretation durch Schweizer Künstler» – Bill hatte hier im Katalogpassende<br />

Manifeste in Ausstellungsform. 1 ) vorwort kategorisch zwischen «konkreter» und<br />

Darüber hinaus aber, so lesen wir weiter, «abstrakter» Kunst unterschieden – monierte<br />

habe unser Land der internationalen Kunst ein Kritiker: «Von was ist blosse Form und<br />

ein einzigartiges Geschenk gemacht: die Farbenauftrag noch Abstraktion? […] Keine<br />

Konkrete Kunst. Oder familiärer: die Kunst der noch so ‹konkrete Gestaltung› wird mehr als<br />

Zürcher Konkreten.<br />

ein Artisten-Schnickschnack sein, wenn sie<br />

Was ist damit gemeint? Entlastet durch bloss zerebrale Konstruktion ist […]»<br />

allerlei gewichtige und kompetente Definitions- Der übliche Vorwurf konservativer Verstocktheit<br />

trifft hier nicht. Dafür ist das<br />

versuche 2 erlaube ich mir einen zumindest für<br />

die folgenden Überlegungen dienlichen Misstrauen zu präzise. Der Konkreten Kunst<br />

Vorschlag: Die Kunst der Zürcher Konkreten wird ihre reduktionistische Rationalität vorbis<br />

ins dritte oder vierte Glied ist jene Kunst, gehalten, ihre perfekt anonymisierte Machart,<br />

die es verstanden hat, ihr ästhetisches ihre egoistische Kälte und Künstlichkeit, die<br />

Programm samt Ideologie zum potenziellen vom gelebten Leben nichts wissen will. Knapp<br />

Reduit aller werden zu lassen, die da unsicher sechzig Jahre später schildert Erwin Leiser<br />

sind und beladen. Oder kürzer: Diese Kunst als Filmemacher und Freund im Blick rundum<br />

ist ein sicherer Wert.<br />

positivere Erfahrungen. Fast wörtlich bestätigt<br />

Materialisiert hat sie sich seit den dreissiger seine Causerie die einstige frohe Botschaft.<br />

Jahren in einem kontinuierlichen Strom von Bill erfreue «sich und sein Publikum, indem er<br />

Gemälden, Skulpturen, Serigrafien, Multiples, das nach präzisen Strukturen geordnete<br />

Mark Divo & Sonja Vectomov: Nie wieder Max Bill, 20x25cm. Foto auf Alu. Sammlung Haemmerli

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