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VON VERTEUFELTEN

BÜCHERN UND JENEN,

DIE SIE SCHREIBEN

Katharina Tiwald

Der 15. November ist der Gedenktag für Schriftstellerinnen

und Schriftsteller, die ihrer Werke wegen inhaftiert

sind. Manche sitzen zwar nicht hinter Gittern, sind aber

auf andere Weise „gefangen“, stehen unter Polizeischutz

oder werden Opfer von Mordanschlägen, wie im August

dieses Jahres Salman Rushdie.

Am 12. August stürmte ein junger Mann eine Bühne im US-Bundesstaat

New York. Mehrere Male stach er zu: in den Hals, in den

Bauch, in die Beine. Sein Opfer, das schwer verletzt überlebt hat,

ist Salman Rushdie, indischstämmiger Autor des Romans „Die

satanischen Verse“.

Dieser Roman und sein Autor haben ihren weltweiten Ruhm leider

nicht nur der unbestritten hohen literarischen Qualität zu

verdanken, sondern der Tatsache, dass der iranische Revolutionsführer

Ayatollah Khomeini 1989 eine Fatwa erließ. Eine Fatwa ist

eigentlich eine Rechtsmeinung; diese konkrete forderte Muslime

weltweit auf, Rushdie (und alle, die an der Publikation des Buches

beteiligt waren) zu töten. Warum? Er habe, so Khomeini, „den

heiligen Glauben des Islam beleidigt“.

Schlägt man das inkriminierte Buch auf, findet man sich in einer

Geschichte wieder, die in ihrer Machart an Bücher wie „100 Jahre

Einsamkeit“ von Gabriel García Marquez oder „Das Geisterhaus“

von Isabel Allende erinnern: Magischer Realismus ist der Überbegriff

für diese literarische Richtung. Hier schwappt das Wunderbare

ins Reale über, bei Rushdie sind es gleich zu Beginn zwei

Figuren, die einen Flugzeugabsturz überleben.

Es handelt sich – wie übrigens bei Rushdie selbst – um zwei Inder,

einer ein Bollywoodstar, der andere ein Schauspieler, der, höchst

assimiliert und trotzdem diskriminiert, seine Karriere in England

verfolgt. Nach ihrer Landung an der Küste Englands bemerken sie

wundersame Transformationen an sich: Der Bollywoodstar, Gibreel,

entwickelt einen Heiligenschein, der andere, Saladin, Hörner

und Hufe. Gut versus

Böse – aber so

einfach ist die Sache

nicht.

Gibreel beginnt zu träumen, träumt Geschichten von Pilgern, die

von einer Wolke aus Schmetterlingen begleitet werden, von einem

radikalen Imam, der in London mit Bodyguards unterwegs

ist – oder von einem Propheten, der auf einem Berg die Botschaft

Gottes erhält, vermittelt durch den Erzengel Gabriel, der auf Arabisch

eben Gibreel heißt.

Rushdie gelingt es in fabelhaften Volten, dieses Geschehen der

Prophezeiung in poetischer Dichte zu schildern, wenn der Träumende

gleichzeitig Engel und Prophet ist und die beiden ineinander

zu verschmelzen scheinen – eine wohl treffende Beschreibung

mystischer Erfahrung. Aber da gibt es auch eine andere Seite:

nämlich das historische Setting. In einem der Traumsequenzen

beobachtet Gibreel die gealterten Anhänger des Propheten. Einer

davon hat aufgemuckt und äußert sein Unbehagen darin, wie

wirtschaftlich und regelhaft die göttlichen Botschaften lauten –

und wie sehr ihn das daran erinnere, dass der Prophet selbst ein

Händler gewesen sei. Wie passgenau der Engel sich äußere bei

jedem Disput – und zwar nach dessen Ausbruch.

Es dürften diese historisierenden Passagen gewesen sein – wie

auch jene über den Imam –, die Khomeinis Zorn geweckt haben.

Leider sind Fundamentalisten unfähig, Mehrdeutigkeit zu ertragen;

in der Literatur ist gerade sie ein Merkmal davon, dass jemand sein

Handwerk versteht. Auch die Historisierung der Offenbarung ist in

diesem Milieu blasphemisch. Der deutsche islamische Theologe

Mahound Khorchide, der seit 2012, nach der Publikation seines Buches

„Islam ist Barmherzigkeit“ Morddrohungen erhält, erinnert an

den sudanesischen Gelehrten Mahmoud Mohammed Taha. Wegen

Tahas Aufforderung, den Koran historisch-kritisch zu lesen, wurde

er zum „Apostaten“ erklärt, also zum Abtrünnigen vom Glauben.

Vor dreitausend Zuschauern wurde er gehängt – das war 1985.

Historisch belegt sind auch Erzählungen, die in den ältesten Biografien

des Propheten Mohammed, also im 9. Jahrhundert, fest-

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