27.09.2022 Views

22_09_OHO_Blattwerk_Magazin_NEU_web

You also want an ePaper? Increase the reach of your titles

YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.

Clemens Berger

Liebe Amalia,

als du geboren wurdest, stand der Amazonas in

Flammen. Während wir im Krankenhaus waren,

verbrannte ein gigantisches Stück grüne Lunge

dieses Planeten. Selbst vom Weltall aus war

der Rauch zu beobachten. Wir sahen Bilder der

Apokalypse, andere erlebten die Apokalypse

hautnah: Tiere, Pflanzen und jene Menschen,

die Jahrhunderte auf diesem und von diesem

Land gelebt hatten, ehe man es ihnen wegnahm,

um es in Eigentum zu verwandeln und

dieses zum Zweck der Verwertung auszubeuten.

Als ich geboren wurde, vierzig Jahre vor dir, warnte ein Bericht die Regierung

der Vereinigten Staaten, die weitere Verbrennung fossiler Stoffe

könnte innerhalb zweier oder dreier Jahrzehnte die globale Atmosphäre

bedrohlich verändern. Die Warnung fand allmählich Verbreitung. Und die

großen Industrien, die für den größten Teil der globalen Emissionen verantwortlich

sind, investierten ungeheure Summen an Geld – aber nicht in

die Entwicklung erneuerbarer Energien, sondern in eine Desinformationskampagne

unheimlichen Ausmaßes, um Zweifel am menschengemachten

Klimawandel zu streuen und Politiker zu kaufen. In den drei Jahrzehnten

seit dem Fall der Berliner Mauer wurde mehr CO 2

in die Atmosphäre gepumpt

als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor.

Der einzige Grund dafür ist die Vermehrung eines Reichtums, der unter

sehr wenigen Menschen aufgeteilt wird. Natürlich sollte man diese vor

ein globales Gericht stellen. Vor diesem muss aber in erster Linie das

Wirtschaftssystem stehen. Wäre es nicht auf Profite ausgerichtet, hätten

Berichte über den Grund der Zerstörung unserer Atmosphäre ganz andere

Entscheidungen bewirkt. Jetzt darauf zu hoffen, dass diese Industrien die

grüne Revolution ausriefen, wäre absurd: Dann profitierten jene, die die

Krise verursacht und irrsinnig daran verdient haben, vom Versuch, sie zu

beheben. Die weltzerstörenden Industrien müssen in die Kontrolle der

Gesellschaften überführt werden, damit alle gemeinsam darüber beratschlagen

können, wie diese Welt gerettet werden kann: die Menschen in

der Wissenschaft, die Menschen, die am stärksten unter der Klimakrise

leiden und leiden werden, in erster Linie die Armen und Armgemachten,

und die Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen, um an der Zerstörung

des Planeten mitzuwirken.

Auf deiner ersten Demonstration warst du etwas über einen Monat alt.

Beim Earth Strike! war es laut, wir hielten uns am Rand auf. Auf dem Burgtor

rollten Aktivisten ein Banner mit der Aufschrift CAPITALISM KILLS OUR

FUTURE aus. Kurz darauf tauchten Polizisten einer Sondereinheit auf dem

Tor auf, um das Banner zu entfernen.

Zu Silvester feiern die Menschen in der Hoffnung, im nächsten Jahr werde

alles besser. Ein paar Tage vor dem Jahreswechsel fiel mir in der Sauna

ein, dass ich zum ersten Mal seit Langem nicht dachte, es sei gut, wenn

endlich ein neues Jahr anbreche. Das vergangene war schön gewesen, ich

freute mich aufs neue. Weil ich mich jeden Abend freue, wenn ich dich

vorm Schlafengehen ansehe. Weil ich mich jeden Morgen freue, wenn ich

dir in die Augen blicke. Und weil wir uns selbst in der Nacht freuen, wenn

auf einmal La Le Lu erklingt, weil du an deiner Spieluhr gezogen hast. Zuerst

wollten wir dich damit in den Schlaf bringen; jetzt willst du uns damit

offenbar weiterschlafen lassen. Wenn wir wach sind, wünschen wir uns,

dass du in einer Welt leben kannst, in der man leben kann und leben will.

Als dein erstes Neujahr anbrach, brannte Australien. In einem einzigen

Bundesstaat soll bislang eine halbe Milliarde Tiere verbrannt sein.

Dein Papa

42

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!