Al Ard Magazin Ausgabe 1
deutsch-arabisches Kulturmagazin
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- Thema/Interviews لقة أكثرات إطبعضها الصفح<br />
20 Interviews - Syrien gibt es nicht mehr!<br />
21<br />
لقاءات لم يعد هناك سوريا<br />
Syrien gibt es nicht mehr!<br />
لم يعد هناك سوريا<br />
Zivilisten, die sich weigern, ein Gewehr zu tragen, nach einer friedlichen Lösung suchen und gegen die Politik<br />
von Präsident Assad sind, werden mundtot gemacht, verfolgt, eingesperrt und gefoltert. So wie Dschigar, der in<br />
<strong>Al</strong>eppo Maschinenbau studierte. Er war Teil der studentischen Proteste und wurde schließlich bei einer Demonstration<br />
während des Arabischen Frühlings 2011 verhaftet, eingesperrt und gefoltert. Dschigar Khwin Mula<br />
Ahmad ist die Flucht aus Syrien gelungen. Er floh vor einem Krieg, den der Diktator Assad der Bevölkerung<br />
aufgezwungen hat, und berichtet uns über Flucht und Vertreibung.<br />
Interview von der <strong>Al</strong>-<strong>Ard</strong> Redaktion | Fotos von Patricia Schichl<br />
جيكار مال أحمد كان احد<br />
الناشطني السوريني, وكان<br />
يسعى للتحرير سوريا من الظلم.<br />
Dschigar Mula Ahmed<br />
berichtet über seine Zeit<br />
als Aktivist, in der er sich<br />
für mehr Freiheit im Unterdrückten<br />
Syrien eingesetzt<br />
hat..<br />
تصوير باتريسيا شيشل Fotos von Patricia Schichl<br />
Seit 2011 herrscht ein nicht enden wollender Krieg in Syrien. Der<br />
Konflikt ist auch ein ethnisch-religiöser. Zahlreiche Gruppierungen<br />
haben sich formiert, die in schier undurchschaubaren Konstellationen<br />
mit- und gegeneinander kämpfen.<br />
Ein grundsätzlicher Konflikt besteht dabei zwischen Sunniten und<br />
Schiiten, der sich bereits nach dem Tod des Religionsgründers<br />
Mohammed heraus.<br />
Der überwiegende Teil der Syrer sind Sunniten. Die Schiiten, insbesondere<br />
die Untergruppe der <strong>Al</strong>awiten, der auch Präsident Baschar<br />
al-Assad angehört, sind die Minderheit.<br />
Etwa 90 Prozent der Muslime weltweit sind Sunniten.<br />
In einigen wenigen Ländern bilden dennoch Schiiten die Mehrheit,<br />
wie im Iran (92%), Bahrain (70%), Irak (60%), und Teilen des<br />
Libanon (35-50%).<br />
Dschigar: Ich bin Sunnit und Kurde aus <strong>Al</strong>eppo. Wobei das mit uns<br />
Kurden nochmal ein spezielles Thema ist, wir sind die größte ethnische<br />
Minderheit im Land.<br />
Und mussten lange mit vielen Verboten und Einschränkungen leben.<br />
So war es uns zum Beispiel untersagt, Kurdisch zu sprechen, und in<br />
meinem syrischen Pass steht: Syrischer Araber, nicht Kurde.<br />
<strong>Al</strong>s die Revolution 2011 begann, studierte ich Maschinenbau in <br />
<strong>Al</strong>eppo.<br />
Bald darauf, als Graffitis mit den Parolen „Nieder mit dem Präsidenten“<br />
und „Du bist dran, Doktor“ an die Hauswände gesprüht wurden,<br />
die ersten Verhaftungen stattfanden und die Menschen auf die Straße<br />
gingen, begannen wir ebenfalls, uns in der Studentenbewegung zu organisieren.<br />
Wir besprachen uns über Plattformen wie Facebook, verteilten Flyer<br />
mit dem Aufruf zur friedlichen Demonstration und luden Videos auf<br />
YouTube hoch.<br />
Abends im Studentenwohnheim riefen wir aus den Fenstern: „Freiheit<br />
dem Volk, nieder mit der Regierung!“ Unsere Rufe waren in ganz<br />
<strong>Al</strong>eppo zu hören.<br />
Warum waren die Menschen so unzufrieden, dass sie gegen ihren<br />
Präsidenten auf die Straße gingen? Wie kam es dazu?<br />
Dchigar: Dazu müssen wir ein wenig in der Geschichte zurückgehen.<br />
Zu Regierungszeiten von Baschar al-Assads Vater Hafiz al-Assad, der<br />
im November 1970 an die Macht kam, lebten die Menschen unter<br />
dem totalitären Regime der Baath-Partei. Sie kontrollierte die Bevölkerung<br />
durch Zensur, besetzte militärische und geheimdienstliche Posten<br />
und übte Gewalt gegen alle Kritiker aus.<br />
Die Assad-Familie gehört den <strong>Al</strong>awiten an, die rund zehn Prozent der<br />
syrischen Bevölkerung ausmacht.<br />
Durch den Putsch und die Machtergreifung Hafiz al-Assads bekam<br />
diese ursprüngliche „Minderheit“ die Oberhand und ging gnadenlos<br />
gegen die sunnitische Opposition und andere Regimegegner vor. Dies<br />
gipfelte schließlich unter Hafiz al-Assad 1982 in einem Massaker, als er<br />
die Islamisten-Hochburg Hama bombardierte und innerhalb weniger<br />
Tage 30.000 Menschen ums Leben kamen.<br />
Nach Hafiz al-Assads Tod im Jahr 2000 kam sein Sohn Baschar an die<br />
Macht.<br />
Baschar war studierter Augenarzt und ursprünglich nicht für den Präsidenten-Posten<br />
vorgesehen. Erst nach dem Tod seines älteren Bruders<br />
Basil 1994 kam er als Präsident in Frage.<br />
Obwohl Baschar al-Assad den totalitären Kurs seines Vaters beibehielt,<br />
gab er der syrischen Bevölkerung anfangs die Hoffnung auf politische<br />
Veränderung. Er versprach, neue Reformen einzuführen. Intellektuelle,<br />
die unter Hafiz mundtot gemacht worden waren, konnten auf einmal<br />
frei reden.<br />
Doch als die Rufe nach demokratischen Reformen und der Freilassung<br />
politischer Gefangener lauter wurden, ruderte Baschar 2001 zurück. Es<br />
kam erneut zu Verhaftungen von Regimekritikern, die Überwachung<br />
wurde allgegenwärtig. Große Teile der Bevölkerung lebten fortan in<br />
einem Klima der Angst, Unterdrückung und Resignation.<br />
Dies erreichte während des Arabischen Frühlings 2011 seinen Höhepunkt,<br />
als der 15-jährige Bashir Abazed in der Stadt Daraa das Graffiti<br />
„Nieder mit dem Präsidenten“ an die Wand sprühte und verhaftet wurde.<br />
Das zündete in der Bevölkerung den Funken und wie ein Lauffeuer<br />
schlossen sich immer mehr Menschen in verschiedenen Städten den<br />
Demonstrationen an.<br />
In dieser Zeit gründete sich auch die Freie Syrische Armee (FSA), bestehend<br />
aus Überläufern der Syrischen Armee und Zivilisten. Ihr Ziel<br />
war es, für den Schutz der Zivilbevölkerung zu sorgen und das Assad-Regime<br />
zu stürzen.<br />
Ich war auch einer von<br />
“<br />
denen, die einfach<br />
„»verschwunden« sind.<br />
Wie ging es dann im Studentenprotest weiter? Was waren Ihre<br />
Ziele?<br />
Dschigar: Wir demonstrierten friedlich gegen Assad, für Demokratie<br />
und eine neue Verfassung. Aber die Regierung und auch studentische<br />
Assad-Sympathisanten begegneten uns aggressiv, mit Waffengewalt,<br />
und versuchten so, die Proteste mit aller Gewalt zu zerschlagen.<br />
Jeden Tag gab es Tote, Verletzte, unzählige Verhaftungen, Menschen<br />
verschwanden von einem Tag auf den anderen spurlos und niemand<br />
war mehr sicher vor der Gewalt und Kontrolle der Regierung.<br />
<strong>Al</strong> <strong>Ard</strong> - 01/2016 01/2016 - <strong>Al</strong> <strong>Ard</strong>