7. sinnliche urbanität schaffen - Kassel gewinnt
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<strong>7.</strong>1. baukultur<br />
auf dem weg zur kulturhauptstadt mit architektur<br />
und baukultur<br />
Die Stadt <strong>Kassel</strong>, insbesondere ihre Alt- und Innenstadt, wurde am 23. Oktober 1943 weitgehend zerstört. Das Besondere<br />
an <strong>Kassel</strong> ist, dass hier die Zerstörung durch die Bomben mit der Abrissbirne fortgesetzt wurde. Der Wiederaufbau hat<br />
nahezu alles Historische im Stadtzentrum beseitigt. Und das betrifft nicht nur die Bauten. Es betrifft vor allem den Stadtgrundriss,<br />
von dem sich der Wiederaufbau abgekehrt hat, um der modernen, der autogerechten Stadt im wahrsten Sinne<br />
den Boden zu bereiten. Dabei hat es einen Wettbewerb zur Wiederaufbauplanung gegeben, dessen erster Preis sich der<br />
Geschichte verpflichtet fühlte. Es mag manches für die Abkehr verständlich sein: man wollte den engen Gassen und den<br />
unwürdigen Lebensverhältnissen entkommen. Man wollte den Krieg nicht durch „Heilen“ aus dem Gedächtnis löschen,<br />
sondern durch Brüche die Erinnerung daran wach halten. Aber man hat damit ausgelöscht, dass es auch vor dem Krieg<br />
schon eine Geschichte gab. Einige wenige Namen klingen nach, aber lösen vor Ort nicht ein, was sie versprechen: Altmarkt,<br />
Seidenes Strümpfchen, Ständeplatz.<br />
<strong>Kassel</strong> ist eine Stadt der Umbrüche, sie war Residenzstadt und preußische Provinzhauptstadt, später Industriestadt, dann<br />
der bereits erwähnte schmerzlichste Umbruch, die Zerstörung, die aber – wendet man es positiv – zu einem Aufbruch, dem<br />
radikalen Wiederaufbau führte, der damals jedenfalls auch viel Anerkennung fand. Dieser radikale Aufbruch hat <strong>Kassel</strong> zu<br />
einer Stadt der Moderne gemacht, und sie ist allein dadurch bereits etwas Besonderes, ob nun alles schön ist oder nicht.<br />
Zum Zweiten hat <strong>Kassel</strong> eine weitere Besonderheit, die es seiner topographischen Lage zu verdanken hat und die es zu nutzen<br />
wusste: Die gebaute steinerne Stadt öffnete sich über den Friedrichsplatz in die Weite der Landschaft.<br />
Zum Dritten: Zwar wirkt durch die Zerstörung und den radikalen Wiederaufbau <strong>Kassel</strong> – die Innenstadt – wie aus einem<br />
Guss. Denn 50 Jahre sind im Städtebau so gut wie nichts – vergleicht man sie mit der fast 1000jährigen Geschichte, die<br />
<strong>Kassel</strong> vor der Zerstörung aufzuweisen hat. Nach Zerstörung und Abrissbirne folgte zudem keine gute Zeit, die siebziger<br />
und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben fast nirgendwo gute Architektur in nennenswertem Umfang hervorgebracht.<br />
Aber das hat sich geändert – auch in <strong>Kassel</strong>. Und hier hat die Universität mit ihrer Architekten-, Stadtplanerund<br />
Landschaftsplanerausbildung segensreich in die Stadt und die Region hineingewirkt. Viele der heute in <strong>Kassel</strong> erfolgreich<br />
arbeitenden Architekten, Stadtplaner, Landschaftsarchitekten sind unmittelbare – manche auch mittelbare – Früchte<br />
der Universität, und mit ihnen kam Qualität. <strong>Kassel</strong> kann eine Vorreiterrolle in Sachen „Konversion“ für sich in Anspruch<br />
nehmen. Überall leiden die Städte unter dem demographischen Wandel, Bevölkerungsrückgang, unter zu viel statt zu<br />
wenig Fläche, indem Bahnflächen, Militär- und Industriestandorte brachgefallen sind. Man spricht bereits von der „perforierten“<br />
Stadt. Dieser Entwicklung setzte <strong>Kassel</strong> mit dem Wohngebiet an der Hasenhecke, dem Neubau der Universität auf<br />
dem ehemaligen Henschelgelände, der Umwandlung des Bundeswehrstandortes auf der Marbachshöhe und dem<br />
Wiederaufbau der Unterneustadt bereits beispielhafte städtebauliche Konzepte entgegen.<br />
Der eingeschlagene Weg ist richtig und Vorbild. Es heißt, ihn weiter zu gehen. Zum einen muss die Innenverdichtung weiter<br />
betrieben werden, dabei gilt es nach Konzepten zu suchen, die das städtische Flächenangebot mit Wohnbedürfnissen überein<br />
bringen. Einfamilienhauskonzepte, der Wunsch nach einem Garten müssen in der Stadt erfüllt und nicht durch Erschließung<br />
immer neuer Wohngebiete beantwortet werden.<br />
Zum zweiten gilt es, Potenziale zu nutzen. Wann immer ein neues Projekt ansteht, muss der Weiterbau der Stadt wenn möglich<br />
an die verschütteten Stadtstrukturen anknüpfen. Der alte Stadtgrundriss sollte wie ein Schnittmuster über der Stadt<br />
liegen und wieder sichtbar gemacht werden. Diese Methode erlaubt, die Stadt wie sie ist, als Ausgangsbasis zu akzeptieren<br />
und ihre Brüche zu wahren.<br />
Zum Dritten muss die Besonderheit der Stadt am Fluss und ihre Lage als Terrasse, als Balkon zur Landschaft ausgebaut<br />
werden. <strong>Kassel</strong> hat das große Glück, dass sich an dieser Kante zugleich eine Fülle kultureller Einrichtungen wie an einer Perlenschnur<br />
aufreiht: Museum für Sepulkralkultur, Weinberg, Neue Galerie, Brüder Grimm, Friedrichsplatz mit Fridericianum,<br />
Ottoneum, Theater, documenta-Halle, Brüderkirche usw. Hier gilt es, Möglichkeiten für Eingriffe, Korrekturen, Potenziale<br />
aufzuzeigen und Investitionen dorthin zu lenken. An die bauliche Umsetzung müssen – nicht nur dort, sondern generell,<br />
höchste Ansprüche gestellt werden, damit eine „Neue <strong>Kassel</strong>er Baukultur“ zum Wohle der Stadt verbindlicher Maßstab wird.<br />
Unter dem Arbeitstitel „Panoramaweg und Stadtterrassen“ konzentriert sich eine Gruppe <strong>Kassel</strong>er Architekten des Bundes<br />
Deutscher Architekten (BDA) derzeit auf die Stärkung dieser besonderen Stadtsituation: die Weiterentwicklung des<br />
Auehanges und der Schönen Aussicht vom Weinberg bis zum Walzenwehr zu einem kulturellen und topographisch erlebnisreichen<br />
Panoramaweg. Dabei soll eine Folge von Stadtterrassen entlang des Auehanges entstehen, auf denen die topographischen<br />
Besonderheiten <strong>Kassel</strong>s intensiv wahrgenommen werden können. Das soll durch bauliche, künstlerische und freiraumplanerische<br />
Maßnahmen erreicht werden, daneben sollen die Ideen anderer Bürger einbezogen werden, die im<br />
Kulturhauptstadtbewerbungsprozess engagiert sind.<br />
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