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Autobiografische Körper-Geschichten : sozialer Aufstieg zwischen ...

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Figuration des Phänomens <strong>sozialer</strong> <strong>Aufstieg</strong> um 1900<br />

Berufliche Erfahrungen als Erzieherin<br />

Der „Ausflug in die Welt“ 260, der im Anschluss an diesen Einführungskurs folgte,<br />

sollte allerdings nicht allzu lange andauern. Ihre Tätigkeit als Erzieherin, in die sie<br />

anfangs noch recht hohe Erwartungen gesetzt hatte, wird sich insgesamt als falsche<br />

Wahl herausstellen. Aber die Erfahrungen, die sie in dieser Phase macht,<br />

geben ihr immerhin das Gefühl, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten<br />

alles versucht zu haben, um in einem anerkannten Berufsfeld Fuß zu<br />

fassen. Dass sie letztlich scheitert, bestätigt sie eigentlich nur in ihren früheren<br />

Intentionen und Wünschen, sich schreibend bzw. in einer sonst wie intellektuellen<br />

Beschäftigung zu verwirklichen.<br />

Die drei Stellen, die sie nacheinander bekleidete, waren recht verschieden gerahmt.<br />

Die „erste Stellung“ übernahm sie im Alter von 19 Jahren „bei einer reichen Familie<br />

in der Nähe von Dresden“. In der „prunkvolle[n] Villa“ sollte sie „zwei siebenund<br />

achtjährige[]“ Kinder betreuen, hatte allerdings eine „Französin, Mademoiselle“,<br />

vor sich, die sich von vornherein als hinderliche Konkurrentin erwies. Die<br />

„kalte Pracht“ des Umfelds stieß Christine ab, und das „hochherrschaftlich[e]“<br />

Zeremoniell des Hauses „verschüchtert[e]“ sie sogleich. Und auch den Kindern<br />

war sie nicht gewachsen. Gleich bei Christines ersten Maßregelungen „verweigerten“<br />

sie „einfach den Gehorsam“, und „es kam zu Katastrophen“. Besonders<br />

beim Vergleich mit der selbstsicheren „Mademoiselle“ fühlte sich die Protagonistin<br />

in allen Belangen unterlegen:<br />

„O diese kleine, zierliche, blonde Mademoiselle mit den anmutigen Bewegungen und der schmeichelnden<br />

Beredsamkeit! Wie linkisch und steif nahm ich langes, deutsches Landmädel [...] mich<br />

neben ihr aus! Ich mußte erröten vor ihr; ich konnte nicht, was Mademoiselle alles konnte, und die<br />

gnädige Frau sah mich darum oft geringschätzig und strafend an. Mademoiselle wusch die Haare<br />

sämtlicher Kinder des Hauses mit Kamillentee und allerhand Wässern, daß sie ihr goldiges Blond<br />

behielten, und bürstete und pflegte sie aufs liebevollste.“ 261<br />

„Alles was Mademoiselle anfaßte, hatte Geschmack und Grazie. Sie bewegte sich geräuschlos im<br />

Hause hin und her, plauderte in ihrer französischen Sprache zwitschernd wie ein Schwälbchen, hatte<br />

immer ein Lächeln um den Mund und wußte sich überall unentbehrlich zu machen. Ich kam nicht<br />

auf neben dieser gewandten, liebenswürdigen Mademoiselle.“ 262<br />

Noch in der Rückschau scheint die Autobiografin sich an dieser Französin rächen<br />

zu wollen. Trotz des ironischen Tonfalls gelingt es ihr nicht, den Schmerz und den<br />

Ärger, den sie mit dieser „Mademoiselle“ verbindet, zu verwinden. Dabei gesteht<br />

sie sich durchaus ein, dass sie mit ihrem unsicheren und ungeformten Auftreten eigentlich<br />

nicht am richtigen Platz angelangt war. Diese Unförmigkeit („linkisch und<br />

steif“) weiß sie allerdings sofort mit ihrer provinziellen Herkunft zu begründen<br />

(„Landmädel“). Ihre Verletzung reicht indes tiefer. Sie kann sie letztlich nur in<br />

einer affektgeladenen Abwehrhaltung gegenüber einer derart stilsicheren Person bear-<br />

260 Holstein 1920, S. 59.<br />

261 Holstein 1920, S. 57.<br />

262 Holstein 1920, S. 58.<br />

191

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