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Autobiografische Körper-Geschichten : sozialer Aufstieg zwischen ...

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82<br />

Teil 1<br />

Ein wesentliches Element dieser Lebenswelt stellt – wie sich schon beim Lesestoff<br />

zeigt – die Religion dar. Diese wirkt auch auf einer pragmatisch-reelleren Ebene<br />

direkt auf den jungen Ulrich ein. Denn schon als etwa Fünfjähriger wird er von<br />

seiner Großmutter zu „Zusammenkünften“ von sektiererisch-pietistischen Glaubenseiferern<br />

in der Nachbarschaft mitgenommen. Der strikte Verhaltenskodex dieser<br />

Gemeinschaft („Ich mußte sitzen oder gar knien. Dann gab’s unaufhörliche<br />

Ermahnungen und Bestrafungen“) schreckt ihn ab, und er ist jedes Mal froh,<br />

wenn sein Großvater ihn vorzeitig mit sich herausführen kann. 186 Ähnlich wie<br />

Bräker diese Form religiöser Praxis eher verstört als angezogen hat, so sollten die<br />

pietistischen Moral- und Verhaltensregeln insgesamt, die das Leben der Familie<br />

Bräker mitprägten, zeitlebens einen eher hemmenden Einfluss auf ihn haben. Sie<br />

wirken, wie noch zu zeigen sein wird, nicht selten als innere Barrieren, die einem<br />

Fortkommen des Akteurs, etwa einem Fortgehen in die Fremde, entgegenstehen.<br />

Die Natur als Bildungshorizont und Gegenwelt<br />

Von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Bildebewegung Bräkers ist der<br />

Erfahrungsbereich Natur. Schon als er noch ein kleiner Junge war, diente ihm die<br />

Natur als eine Art Zufluchtsort vor den sektiererischen Glaubenseiferern mit<br />

striktem Verhaltenskodex in seiner Nachbarschaft, zu denen, wie erwähnt, auch<br />

seine Großmutter gehörte. Der Großvater konnte ihn mitunter vorzeitig aus diesen<br />

„Zusammenkünften“ herausnehmen, um ihm auf den Weiden „allerlei Vögel,<br />

Käfer und Würmchen“ zu zeigen: „da war’s mir erst recht gekocht [d.h. behaglich]“<br />

187, kommentiert der Autobiograf knapp, was er damals empfand.<br />

Ein wesentliches Element dieser spielerischen Auseinandersetzung mit der Natur<br />

bildet ein leiblich-sinnliches Einfühlen, ein Mit-der-Natur-Sein. Im Rahmen der Arbeitsroutine<br />

des Großvaters lernte Ulrich sowohl die belebte und unbelebte Natur<br />

als auch den rationell-instrumentellen Umgang mit dieser Natur kennen. Wie in diesem<br />

Beispiel im Hinblick auf die pietistischen Sektierer gelang Ulrich schon bald – nun<br />

allerdings aus einem völlig eigenständigen Antrieb heraus – eine ähnliche Art der<br />

Distanzierung von der Arbeitswelt seines Vaters.<br />

„Wenn mich der Vater nur mit langanhaltender oder strenger Arbeit verschonte oder ich eine Weile<br />

davonlaufen konnte, so war mir alles recht. Im Sommer sprang ich in der Wiese und an den Bächen<br />

herum, riß Kräuter und Blumen ab und machte Sträuße wie Besen; dann durch alles Gebüsch, den<br />

Vögeln nach, kletterte auf die Bäume und suchte Nester. Oder ich las ganze Haufen Schneckenhäuslein<br />

oder hübsche Stein’ zusammen.“ 188<br />

Erst wenn „der Vater durch den Finger pfiff“, merkte der Junge dann, „[d]aß es<br />

Zeit über Zeit war“ 189. Die leiblich-sinnliche und vor allem spielerische Auseinandersetzung<br />

mit der Natur, die ein Einfühlen, Erforschen und Gestalten in und mit<br />

186 Bräker 1997, S. 18f.<br />

187 Bräker 1997, S. 18f.<br />

188 Bräker 1997, S. 25.<br />

189 Bräker 1997, S. 25.

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