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Autobiografische Körper-Geschichten : sozialer Aufstieg zwischen ...

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Teil 2<br />

vorbildgebender Intention auch auf die KollegInnen und Mitmenschen gerichtet<br />

sind, bleibt festzuhalten, dass gerade Rehbeins Dasein vorwiegend von Dissonanzen<br />

geprägt ist. Was in der Tiefenstruktur dieses Epochenabschnitts angelegt ist, eine<br />

sich zusehends polarisierende Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die im Prinzip in<br />

den meisten Lebensbereichen immer noch an einem traditionellen Herren-<br />

Knecht-Gefälle orientiert ist, lässt sich mit dem guten Willen individuellen Engagements<br />

nicht einfach beheben. Selbst wenn Rehbein von einem bestimmten<br />

Punkt seiner Entwicklung an in die Rolle eines Vermittlers <strong>zwischen</strong> Beherrschten<br />

und Herrschenden, <strong>zwischen</strong> Unten und Oben schlüpfen kann, lassen sich die<br />

strukturellen Differenzen und Gegensätze nicht beiseiteschieben. Auch der Alltag<br />

in den landwirtschaftlichen Betrieben ist z.B. von einer unüberwindlich erscheinenden<br />

Dichotomie von körperlicher und geistiger Betätigung gekennzeichnet. Rehbein<br />

bemüht sich, die geistig-kognitiven Anteile des Daseins in dieser Lebenswelt<br />

so gut es eben geht zu erweitern. Ihm ist dabei durchaus bewusst, dass seine eigenen<br />

Bildungsambitionen nicht nur über die der anderen Bediensteten, sondern<br />

meistens sogar weit über die seiner Arbeitgeber und Vorgesetzten hinausgehen.<br />

Letztlich scheint er eingesehen zu haben, dass er nur dann eine Chance hat, sich<br />

seinen Ansprüchen entsprechend zu entfalten, wenn er ganz aus dieser Lebenswelt<br />

herausspringt. Als Land-, aber auch als Industriearbeiter weiß er sich stets aufs<br />

Neue auf seine körperliche Arbeitskraft reduziert. 646 Ein Ausweg konnte eigentlich nur<br />

darin bestehen, aus dieser einseitigen Existenzweise zu entfliehen.<br />

Der Schriftsteller Hermann Sudermann, der Rehbein politisch noch am nächsten<br />

steht, war schon in wesentlich jüngeren Jahren zu einer vergleichbaren Einsicht<br />

gelangt. Ihm war wenige Wochen nach seinem Wechsel von der Realschule in die<br />

Apotheker-Lehre klar geworden, dass die öde und geistlos empfundene „Apothekerei“<br />

647 („ödesten Kommistums“) nicht das sein konnte, was er sein Leben lang<br />

machen wollte. Die Entscheidung für einen Bildungsaufstieg über die höhere<br />

Schule, der in seinem Fall tatsächlich einmal an einen sozialen <strong>Aufstieg</strong> gekoppelt<br />

sein sollte, war insofern nur konsequent. Dass er diesen Weg gehen konnte, hing<br />

allerdings – ähnlich wie bei Rehbein – vorwiegend von einem kontingenten Ereignis<br />

ab. Die bereits zwei Jahre zuvor erlittene Knieverletzung gab nun den Ausschlag<br />

dafür, dass eine gelehrt-akademische Laufbahn anvisiert werden konnte. Denn<br />

vom „Stehen“ hinter dem „Rezeptiertisch“ riet der ärztliche Befund ab. 648 Dieser<br />

Einschätzung fügte sich auch der Vater, der für seinen Sohn eigentlich ein „bürgerliche[s]<br />

Vorwärtskommen“ 649 in einem praktischen Berufszweig gewünscht<br />

hatte.<br />

646 Dazu Meuser 2005, S. 286: „Das ‚Kapital’ der Fabrikarbeiter war traditionell ihr körperliches<br />

Leistungsvermögen.“<br />

647 Sudermann 1990, S. 121.<br />

648 Sudermann 1990, S. 128.<br />

649 Sudermann 1990, S. 124.

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