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Jan Schönfelder (Hrsg.)<br />
<strong>Schatten</strong><br />
Reader zu den Veranstaltungen „<strong>Mediale</strong> <strong>Schatten</strong>“ und „<strong>Moving</strong> <strong>shadows</strong>“,<br />
<strong>Universität</strong> 1<br />
Hildesheim, Institut für Bildende Kunst und Kunstwissenschaft
Jan Schönfelder (Hrsg.)<br />
<strong>Schatten</strong><br />
Reader zu den Veranstalzungen „<strong>Mediale</strong> <strong>Schatten</strong>“ und „moving <strong>shadows</strong>“,<br />
<strong>Universität</strong> Hildesheim, Institut für Bildende Kunst und Kunstwissenschaft<br />
AutorInnen<br />
Isabelle Behnke / Thimm Bubbel / Merle<br />
Christmann / Katrin Danne / Silke Gemander<br />
/ Isabel Herling / Tim-Simon Herrmannsen /<br />
Kerstin Kaufhold / Anne Kleingeist / Lena Köh-<br />
ler / Natascha Krutjakova / Isa Lange / Denise<br />
Leonhard / Alexandra Lücke / Hilke Nebendahl<br />
/ Christina Nur / Karolin Oehlmann / Astrid<br />
Oltmann / Monika Sophie Panek / Franziska<br />
Rählert / Christiane Ritter / Lea Schiemann /<br />
Jan Schönfelder / Eileen Scholz / Sarah Schrei-<br />
necke / Saskia Seifer / Michaela Streilein / Julia<br />
Schweppe / Annette Wallmoden / Annika Will<br />
3
Impressum<br />
„<strong>Schatten</strong>“<br />
Herausgeber: Jan Schönfelder<br />
Reader zu den Veranstaltungen „<strong>Mediale</strong><br />
<strong>Schatten</strong>“ und „moving <strong>shadows</strong>“, geleitet von<br />
Jan Schönfelder an der <strong>Universität</strong> Hildesheim<br />
am Institut für Bildende Kunst und Kunstwissenschaft<br />
im WS 2006/07. Die Autoren sind<br />
Studierende der Kunstpädagogik, der Kulturwissenschaften,<br />
der szenischen Künste.<br />
Auflage: offen<br />
Redaktion und Gestaltung: Jan Schönfelder<br />
Mitarbeit: Sabine Kurzweil<br />
Hildesheim, 2007<br />
4
Inhalt<br />
Einleitung 7<br />
5<br />
„Schalenbilder“ 12<br />
<strong>Schatten</strong>fänger 17<br />
„Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ 18<br />
„Der <strong>Schatten</strong>“ von Hans Christian Andersen 23<br />
<strong>Schatten</strong>liebhaber 27<br />
<strong>Schatten</strong>liebhaber: Francisco de Goya 28<br />
<strong>Schatten</strong>liebhaber: René Magritte und Francis Bacon 32<br />
<strong>Schatten</strong>projektionen 37<br />
„Die maschinelle Sonnenfinsternis im Zeitraffer“ 38<br />
Die Camera Obscura und die Entwicklung der Fotografie 41<br />
Auf dem Kopf und seitenverkehrt: Arbeiten mit der Camera obscura 47<br />
Laszlo Moholy-Nagy : Lichtmodulationen 52<br />
„Slow Motion“ 59<br />
„Ich sehe was, was Du nicht siehst“ 64<br />
„Zeichen der Sprache“ 66<br />
„Serviert“ 71<br />
„Draht-Seil-Akt, gescheitert“ 75<br />
Zeitgenössisches <strong>Schatten</strong>theater 77<br />
Balinesische und türkische <strong>Schatten</strong>spiele 90<br />
Tradition und Moderne - chinesische Aspekte des <strong>Schatten</strong>heater 96<br />
Filmschatten 97<br />
„Shades of Emotions“ 98<br />
Lotte Reiniger: Mozartfilme 102<br />
NOSFERATU - Filmschatten des Expressionismus 107<br />
„Film noir“ 111<br />
“Haha Said the Clown” 114<br />
Absolute <strong>Schatten</strong> 117<br />
Dante Alighieri: „Die göttliche Komödie“ 118<br />
Holocaust, Hiroshima 122<br />
Christian Boltanski 123
Einleitung<br />
Ohne Licht kein <strong>Schatten</strong>, eine Binsenweisheit.<br />
Doch nicht nur mit dem Licht kann ein selbiges<br />
aufgehen, auch der <strong>Schatten</strong> ist Werkzeug der<br />
Erkenntis. Sei es die Vermessung des Erdumfangs<br />
durch Eratosthenes im 3. Jh. vor Chr. (vgl.<br />
Abb. 1) durch einen Blick in einen Brunnen und<br />
Abb. 1 Sonnenuhr, Erdvermessung<br />
ein Pendel oder die Erfindung des Thales im 6.<br />
Jh. vor Chr., gennant „Der Satz des Thales“ (vgl.<br />
Abb. 2) zur Bestimmung der Höhe der Pyramiden:<br />
Wenn die Länge des <strong>Schatten</strong>s von Thales<br />
mit seiner Körpergröße übereinstimmt, ist der<br />
Abb. 2 Der Satz des Thales<br />
<strong>Schatten</strong> der Pyramide identisch mit ihrer Höhe.<br />
In diesem Beispiel sehr gut zu sehen, allerdings<br />
müsste bei einer Pyramide als Körper erst die<br />
Länge x bestimmt werden, damit in der Addition<br />
mit y die Höhe der Pyramide bestimmt werden<br />
kann. Das Beispiel illustriert das mathematische<br />
Problem zwar sehr sinnfällig, vereinfacht<br />
die Höhenberechnung jedoch nicht wirklich.<br />
7<br />
x<br />
y<br />
Auch die Zeitmessung basierte über viele Jahrhunderte<br />
auf dem <strong>Schatten</strong> der Sonne (Abb. 3)<br />
Abb. 3 Sonnenuhr am Kloster des Gurker<br />
Doms<br />
sei es als „Wandbefestigung“ oder als „Schüsselmodell“<br />
(Abb. 4). Hier hält eine Schüssel<br />
den Tagesverlauf fest. Wird die Halbkugel bei<br />
Abb. 4 Aristarchs hemisphärische Sonnenuhr<br />
(Skaphe)<br />
Sonnenaufgang horizontal gehalten, wirft der<br />
Stab einen <strong>Schatten</strong>, dessen Spitze den Rand<br />
berührt. Am Mittag wandert die Spitze über<br />
Abb. 5 Aristarchs Sonnenuhr als Himmelsprojektion
Abb. 6 „Lucky Luke, der Mann,<br />
der schneller schießt als sein<br />
<strong>Schatten</strong>“<br />
Abb. 7 Edward Daege, „Die Erfindung der<br />
Malerei“, 1832, Öl auf Leinen, Natiolnalgalerie<br />
Berlin<br />
den tiefsten Punkt wieder dem Rand entgegen.<br />
Stellen wir uns die Schüssel umgekehrt vor, erkennen<br />
wir in diesem Modell ein umgekehrtes<br />
Abbild des Himmels.<br />
Auch die Lichtgeschwindigkeit sei hier in<br />
Erinnerung gerufen. Durch Einsteins Relativitätstheorie<br />
bekommt sie eine Schlüsselrolle im<br />
Verständnis der modernen Physik. Als Konstante<br />
liebevoll karikiert durch Morris, der seinen<br />
Helden Lucky Luke schneller schießen lässt als<br />
seinen <strong>Schatten</strong> (Abb. 6). Der schwebende Hut<br />
bildet ein Paradoxon im zeitlichen Ablauf, das<br />
hier nicht gelöst werden kann.<br />
Im Mythos von der Erfindung der Malerei,<br />
aufgeschrieben durch Plinius den Alten, findet<br />
der <strong>Schatten</strong> eine sowohl romantische, als<br />
auch ästhetische und philosophische Ebene.<br />
(vgl. Abb. 7). In dieser Geschichte ritzt Butade,<br />
einem Mädchen aus Korinth im Schein einer<br />
Lampe, den <strong>Schatten</strong> des Kopfes ihres Geliebten<br />
(er muss in den Krieg) als Umriss in eine<br />
Hauswand. Butade füllt diesen Umriss mit Ton,<br />
nimmt ihn von der Hauswand und brennt den<br />
<strong>Schatten</strong>riss. Damit ist nicht nur die Malerei<br />
(strenggenommen die Zeichnung), sondern<br />
auch die Plastik erfunden. Über diese Fragen<br />
hinaus wird in dem Mythos noch die Frage<br />
nach Figur und Abbildung, Realismus und<br />
Ideal, Zwei- und Dreidimensiona<strong>lit</strong>ät, Aktua<strong>lit</strong>ät<br />
und Erinnerung gestellt. Besondere Delikatessen<br />
sind Anmerkungen wie Komar und<br />
Melamid (Abb. 8), die diese Tatsache intelligent<br />
und gekonnt als „Ursprung des sozialistischen<br />
Realismus“ in karikierender Form aufgreifen.<br />
Angefangen von der Spiegelung des Bildmotivs<br />
über die Verlagerung der Szenerie ins Pathos<br />
römischer Antike bis zur Pfeife a la Magritte<br />
illustrieren sie nicht nur den Mythos, sondern<br />
8<br />
Abb. 8 Vasily Komar / Alexander Melamid, Der<br />
Ursprung des sozialistischen Realismus,<br />
1982-83<br />
Abb. 9 Handnegativformen in der Höhlenmalerei<br />
des Paläo<strong>lit</strong>hikums, ca. 15.000 Jahre v. Chr.,<br />
El Castillo, Spanien<br />
bieten auch eine inhaltliche Auseinandersetzung.<br />
Die Frage nach der Herkunft von Malerei,<br />
Zeichnung und Plastik lässt sich selbstverständlich<br />
nicht beantworten, ihre magische Wirkung<br />
(vgl. Abb. 9) als Selbstbild oder als Abbild<br />
verfehlt auch heute seine Wirkung nicht. Die<br />
Faszination durch den <strong>Schatten</strong> gehört sicher-
Abb. 10 Bei einer Sonnenfinsternis berührt der <strong>Schatten</strong>kegel des Mondes mit seiner Spitze die<br />
Erdoberfläche<br />
lich zu den ältesten Aufgaben für das menschliche<br />
Denken.<br />
So ist das Phänomen Sonnen- und Mondfinsternis<br />
als Naturphänomen nach wie vor beeindruckend,<br />
auch wenn wir uns nicht mehr durch<br />
eine Instrumentalisierung beeindrucken lassen<br />
wie die Eingeborenen durch Kolumbus Wissen<br />
um die nächste Mondfinsternis (Abb. 11). Zu<br />
Abb. 11, 10. März 1504, Christoph Kolumbus<br />
jagt den Einwohnern von Jmaika einen gewltigen<br />
Schrecken ein, indem er ihnen eine Mondfinsternis<br />
ankündigt, die auch prompt eintritt.<br />
beachten ist die falsche <strong>Schatten</strong>linie bei der<br />
Eklipse, die viel weniger stark gekrümmt sein<br />
müsste 1 .<br />
Nach wie vor aktuell ist jedoch die Beweiskraft<br />
Abb. 12 Peary mit seinen Leuten am „Nordpol“<br />
9<br />
des <strong>Schatten</strong>s, vorzugsweise vorgetragen mithilfe<br />
der Fotografie. So konnte nachgewiesen<br />
werden, dass die Fotografie, die die Männer<br />
von Peary am Nordpol (Abb. 12) zeigen, nicht<br />
am Nordpol entstanden sein kann 2 . Die Sonne<br />
stand am 6. April 1909 etwa 6 Grad hoch am<br />
Himmel - die <strong>Schatten</strong> müssten demnach sehr<br />
lang sein.<br />
Der <strong>Schatten</strong> ist demnach eine Sache der<br />
Interpretation, am berühmtesten sicherlich in<br />
Abb. 13, Grafische Darstellung Platons Höhlengleichnis<br />
Platons Höhlengleichnis (vgl. Abb. 13). In der<br />
Vorstellung des Menschen als Gefangener<br />
seiner begrenzten Erkenntnis eröffnen sich<br />
reichlich genug Bezüge für Philosophie und<br />
Medientheorie. Die Frage nach Bild und Abbild,
Abb. 14 Erste Abbildung einer tragbaren „Camera obscura“ Der Zeichner stieg<br />
von unten (F) in die Kammer und konnte zwischen vier Ansichten der äußeren<br />
Welt wählen, diese freilich auf dem Kopf stehend.<br />
Abb 15, Zoetrope von Emile<br />
Reynaud (spätes 19. Jh.)<br />
Fußnoten<br />
1 vgl. Casati, Roberto; Die<br />
Entdeckung des <strong>Schatten</strong>s,<br />
Berlin 2001, S. 121f.<br />
2 ebd. S. 134f.<br />
Zwei und Dreidimensiona<strong>lit</strong>ät, Objekt und<br />
Erkenntnis, Farbe und Farblosigkeit, Hell und<br />
Dunkel werden zur Diskussion gestellt. Diese<br />
Modelle verweisen auf die Camera obscura, die<br />
Lochkamera und filmische Apparaturen (Abb.<br />
14 - 16). Lediglich das Fixieren der so eingefangenen<br />
Bilder bedurfte längerer Zeit. Einmal<br />
gelungen, wurden diese technischen Errungenschaften<br />
jedoch ständig weiterentwickelt und<br />
sind aus unserem heutigen Weltverständnis<br />
nicht mehr wegzudenken. Hier liegen Bewegung<br />
und Stillstand, Magie und Imagination<br />
sehr eng beieinander.<br />
Abb. 16 Lochkamera<br />
Der Reader „<strong>Schatten</strong>“ fasst die Ergebnisse von<br />
zwei Veranstaltungen zusammen, die im WS<br />
06/07 durch Jan Schönfelder an der <strong>Universität</strong><br />
Hildesheim gehalten wurden. Studierende des<br />
Lehramts (PVO 98) und des nachfolgenden<br />
BA-Studiengangs Geistes-, Sprach-, Kultur- und<br />
Sportwissenschaften (GSKS), der Kulturwissenschaften<br />
und der szenischen Künste haben<br />
im Theorieseminar „<strong>Mediale</strong> <strong>Schatten</strong>“ und im<br />
Praxisseminar „<strong>Moving</strong> <strong>shadows</strong>“ das Thema<br />
<strong>Schatten</strong> unter kultur- und medienwissenschaftlichen<br />
sowie ästhetisch-rezeptiven und<br />
ästhetisch-praktischen Aspekten untersucht.<br />
Selbstverständlich können in einer solchen Veranstaltung<br />
nur Facetten des Themas angerissen<br />
werden.<br />
10<br />
Theoretisch spannt sich der Bogen von Platon<br />
bis „Lucky Luke“, von Lavater bis Francis Bacon.<br />
„Nosferatu“ und der Film Noir stehen dem<br />
<strong>Schatten</strong>diebstahl in der Geschichte des Peter<br />
Schlemihl gegenüber. In der Praxis haben die<br />
Studierenden allein oder in Kleinstgruppen Projekte<br />
zum Thema „moving <strong>shadows</strong>“ entwickelt<br />
und umgesetzt. Eine Ausstellung diente der<br />
Präsentation, die fotografischen Aufnahmen<br />
sind bei der Gelegenheit entstanden. Die praktischen<br />
Ergebnisse führen die theoretische Vorarbeit<br />
auf ästhetischem Gebiet weiter. So sind<br />
weibliche Märchenfiguren als „Projektionen<br />
des Inneren“ in Abhängigkeit von Raum und<br />
Zeit im Zelt der „Kindheitserinnerung“ (Abb. 17)<br />
von Janine Conrad und Claudia Hoffmann zu<br />
sehen. Die Außensicht als Modellkosmos zeigen<br />
Abb. 17, „Kindheitserinnerung“ von Janine<br />
Conrad und Claudia Hoffmann<br />
Abb. 18 „Horizontalebene“ Caro Tomaschek, Isa<br />
Lange und Hilke Nebendahl
Abb. 19 „Gefühlter <strong>Schatten</strong> -<br />
wie Blinde sehen“ von Christina<br />
Nur<br />
Abbildungen<br />
Abb. 1 Illustration aus:<br />
Casati, Roberto; Die<br />
Entdeckung des <strong>Schatten</strong>s,<br />
Berlin 2001, S. 129<br />
Abb. 2 a. a. O., S117<br />
Abb. 3 Sonnenuhr am<br />
Kloster des Gurker Doms<br />
www.wikipedia.de, Stand<br />
28.04.07<br />
Abb. 4 Illustration aus:<br />
Casati, Roberto; Die<br />
Entdeckung des <strong>Schatten</strong>s,<br />
Berlin 2001, S. 126<br />
Abb. 5 aa. O., S. 127<br />
Abb. 6 Morris (Maurice de<br />
Bévère), Zeichnung recto<br />
Alben EHAPA Verlag<br />
ab 1977<br />
Abb. 7 Stoichita, Victor I.,<br />
Eine kurze Geschichte des<br />
<strong>Schatten</strong>s,, 1999, S. 135<br />
Abb. 8 Handnegativformen,<br />
Spanien, http://www.<br />
georgpeez.de/texte/<br />
zwraeume.htm,<br />
Stand 28. 04.07<br />
Abb. 9 Stoichita, Victor I.,<br />
Eine kurze Geschichte des<br />
<strong>Schatten</strong>s,, 1999, S. 134<br />
Abb. 10 aus: Casati, Roberto;<br />
Die Entdeckung des<br />
<strong>Schatten</strong>s, Berlin 2001,<br />
S. 120<br />
Abb 11 a.a. O.<br />
Abb. 12 a.a.O.<br />
Abb. 13 ohne Nachweis<br />
Abb. 14 Athanasius Kircher,<br />
Ars Magna Lucis et Umbrae<br />
Rom 1646, S. 807, Tafel 28,<br />
unten<br />
Abb. 15 http://www.dma.ufg.<br />
ac.at/assets/14100/intern/<br />
praxinoscop.jpg<br />
Abb. 16 ohne Nachweis<br />
Abb. 17 - 21 Foto: Jan<br />
Schönfelder<br />
Abb. 22 ohne Nachweis<br />
Abb. 23 ohne Nachweis<br />
Abb. 20 „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ von<br />
Denise Leonhard<br />
mit dem Mobilé „Horizontalebene“ Caro Tomaschek,<br />
Isa Lange und Hilke Nebendahl (Abb.<br />
18). Die „Fühlebene“ wird zum Selberspüren<br />
durch den Begriff „<strong>Schatten</strong>“ in Braille-Schrift<br />
(Abb. 19) vertreten. Vor allem die „Farbebene“<br />
lässt sich hier nicht aufschlüsseln. Dass die visuelle<br />
Wahrnehmung ebenfalls nicht glaubhaft<br />
ist, wird durch die Arbeit „Ich sehe was, was Du<br />
nicht siehst“ (Abb. 20) von Denise Leonhard<br />
gezeigt. Mit Hilfe von zerknülltem Papier wird<br />
sowohl eine Täuschung des Auges als auch die<br />
Auffassung der Skulptur (im Verweis auf den<br />
„Mythos von der Erfindung der Malerei“) ironisch<br />
vorgestellt. Dass das Papier ausgerechnet<br />
auf Bildhauerpodesten liegt, tut sein Übriges.<br />
Das Mittel des „indifferenten <strong>Schatten</strong>s“ wird<br />
ebenfalls eingesetzt von Nora Otte im Film „La<br />
Notte“ (Abb. 21), eine blaue Traumsequenz, die<br />
als Silhouette in einen Extraraum projiziert wurde.<br />
Darin wandelt sich eine amorphe Form in<br />
eine Figur, die einen Raum ausmisst. Im Gegensatz<br />
zu den scharf abgegrenzten Sihouetten in<br />
den Filmen von Lotte Reiniger (Abb. 22) oder<br />
den Scherenschnitten des 18. Jahrhunderts<br />
(Abb. 23) wandelt die Videokamera die Silhouette<br />
in etwas Weiches, Fließendes. Der Mythos<br />
von der Erfindung der Malerei wird damit ins<br />
Technische transformiert.<br />
Jan Schönfelder<br />
11<br />
Abb. 21 „La Notte“ von Nora Otte<br />
Abb. 22 Lotte Reiniger, „Die Abenteuer des<br />
Prinzen Achmed“, 1926, filmstill<br />
Abb. 23, Rosa Maria Assing, „Märchenlandschaft<br />
mit Altan“, um 1830
Eileen Scholz<br />
Silke Gemander<br />
Julia Schweppe<br />
Inhalt<br />
1 Beschreibung der<br />
Arbeit<br />
2 Filmbilder<br />
3 Künstlerische<br />
Bezüge<br />
4 Variationen<br />
5 Fazit<br />
Abbildung 2 - 4: Ausgewählte<br />
„Schalenbilder“<br />
„Schalenbilder“<br />
Abbildung 1: Präsentation der gesamten Arbeit<br />
1 Beschreibung der Arbeit<br />
Die Installation „Schalenbilder“ besteht hauptsächlich<br />
aus zwei Bestandteilen. Diese sind der<br />
Overhead- Projektor mit einer Wasserschale<br />
und der abgespielte Film. Hierbei muss betont<br />
werden, dass die Installation mit dem Overhead-<br />
Projektor und der Schalenbildprojektion<br />
an der Wand den Schwerpunkt der Arbeit<br />
bilden. Der Film, der zusätzlich an der Wand<br />
abläuft, unterstützend das Hauptwerk und hebt<br />
die unterschiedliche Wirkung der verschiedenen<br />
Glasschalen hervor.<br />
Die Schalen stammen alle aus dem Kücheninventar<br />
und haben einen ungefähren Durchmesser<br />
von 30 cm. Die Bilder der Schalenböden<br />
werden an eine weiße, ebene Fläche projiziert.<br />
Zusätzlich wird ein Film in einer Endlosschleife<br />
über einen DVD- Player und Beamer an einer<br />
weiteren Wand abgespielt. Dieser Film besteht<br />
aus Überblendungen von Fotografien von<br />
unterschiedlichen Schalenböden.<br />
2 Filmbilder<br />
Insgesamt wurden Fotografien von sieben<br />
verschiedenen Schalenböden gemacht. Dabei<br />
wurden die Wasserhöhe in den Schalen und<br />
die Schärfeeinstellung des Overhead-Projektors<br />
variiert (Abbildungen 2 - 8).<br />
12<br />
3 Künstlerische Bezüge<br />
Ausgangspunkt für diese Arbeit war die<br />
Verzerrung von <strong>Schatten</strong> auf einer bewegten<br />
Wasseroberfläche. Interessant ist dabei vor<br />
allem der Grad der <strong>Schatten</strong>verzerrung in<br />
Abhängigkeit von der Frequenz und Stärke der<br />
Wellen. Versetzt man die Flüssigkeit in weit auseinander<br />
liegenden Abständen in Bewegung,<br />
so wirkt der <strong>Schatten</strong> auf der Wasseroberfläche<br />
leicht verschwommen und unscharf. Trotzdem<br />
kann der Betrachter den <strong>Schatten</strong> identifizieren.<br />
Wird die Wellenfrequenz erhöht, beginnt der<br />
<strong>Schatten</strong> so stark zu schwingen, dass fast keine<br />
<strong>Schatten</strong>umrisse zu erkennen sind und der<br />
<strong>Schatten</strong> verzerrt ist.<br />
Während der Experimentierphase stellte sich<br />
heraus, dass eine Umsetzung der ersten Idee<br />
nicht sehr zufriedenstellend war. Die Figurenplättchen,<br />
die auf der Wasseroberfläche angeordnet<br />
worden waren, bewegten sich in der<br />
Glasschale auf dem Overhead- Projektor ständig<br />
zum Schalenrand und erzeugten keinen<br />
akzeptablen <strong>Schatten</strong>. Außerdem war die Anbringung<br />
eines Gerätes zur Wellenerzeugung<br />
im Gefäß sehr schwierig. Eine Wasserpumpe<br />
für Aquarien erbrachte zwar die erwünschten<br />
Wasserschwingungen, allerdings konnten die<br />
Frequenzen der Wellen nicht variiert werden.<br />
Die Resultate der Anfangsidee waren nicht sehr<br />
überzeugend.
Abbildung 5 - 8: Ausgewählte<br />
„Schalenbilder“<br />
Abbildung 9: Schale“<br />
Ein neuer Sachverhalt, der durch viele Experimente<br />
am Projekt entstanden war, bot<br />
aber auch neue Möglichkeiten. Neben verschiedenen<br />
Figurenplättchen, die ins Wasser<br />
gelegt wurden, wurden auch unterschiedliche<br />
Wassergefäße beschafft. Diese Glasschalen<br />
variierten in Größe, Form und Muster des Schalenbodens.<br />
Durch den Overhead- Projektor<br />
wurden die verschiedenen Böden, die auf den<br />
ersten Blick in den Glasschalen nicht auffallen,<br />
in einem starken Kontrast zum Hintergrund<br />
und interessanten Ausdruck der Muster an der<br />
Projektionswand dargestellt.<br />
Die Assoziiationen zu den entstandenen<br />
Bildern reichten von Kirchenfenstern über<br />
Ornamente bis zu Mandalas.<br />
Die untenstehenden Beispiele für Kirchenfenster<br />
zeigen ähnliche Formen wie die Schalenbilder.<br />
So gibt es hauptsächlich runde Formen,<br />
vereinzelt auch Quadratische. Die meisten Muster<br />
sind vom Mittelpunkt ausgehend angelegt.<br />
Es entsteht eine Wirkung, die so scheint, als ob<br />
die Muster in den Fenstern nach außen zum<br />
Kreisrand strahlen würden (Abb. 9 und 14).<br />
An den drei Beispielen für Ornamente kann<br />
man erkennen, dass sie vom Aufbau klar strukturiert<br />
und geometrisch konstruiert sind. Der<br />
Mittelpunkt des Kreises bildet, wie bei fast allen<br />
Schalenbildern, das Zentrum.<br />
Eine weitere Assoziation, die beim Betrachten<br />
der Schalenbilder aufkommt, ist die Ähnlichkeit<br />
zu Mandalas. Diese stammen vor allem aus dem<br />
Bereich des Buddhismus und Hinduismus. Sie<br />
werden hauptsächlich zu religiösen Zwecken<br />
oder als Symbole bei Riten benutzt. Auch ihre<br />
Konstruktion ist mit der der Kirchenfenster und<br />
Ornamente gleichzusetzen (siehe Abb. 15 - 20).<br />
13<br />
4 Variationen<br />
Das Werk „Schalenbilder“ bieten viele Möglichkeiten<br />
zur Variation. Diese Veränderungen<br />
können sowohl vom Betrachter, als auch vom<br />
Installationsteam vorgenommen werden.<br />
An folgenden Stellen sind Variationen der<br />
Arbeit denkbar. Durch das Auswechseln der<br />
Schalen auf dem Overhead- Projektor kann<br />
ein jeweils neues Bild an der Projektionswand<br />
erzeugt werden. Außerdem kann die Wassermenge<br />
variiert werden, wodurch ein anderer<br />
Kreisrand in der Schale entsteht, der als<br />
<strong>Schatten</strong> auf der Wand dargestellt wird. Durch<br />
unterschiedliche Einstellungen des Overhead-<br />
Projektors wird das entstehende Bild zusätzlich<br />
in Schärfe, Kontrast und Farbe verändert.<br />
Bei der abschließenden Präsentation des Werkes<br />
sind verschiedene Formen und Konstellationen<br />
der Stellung möglich. Zum einen können<br />
Overhead- Projektor und Beamer an die gleiche<br />
Wand gerichtet werden. Der Betrachter wird<br />
dadurch mit beiden Präsentationsformen<br />
gleichzeitig konfrontiert. Er kann Vergleiche<br />
und Bezüge zwischen dem Standbild und<br />
dem ablaufenden Film herstellen. Allerdings<br />
besteht die Gefahr, dass die einzelnen Komponenten<br />
des Werkes (das Schalenbild auf dem<br />
Overhead- Projektor und Film) nicht ihre volle<br />
Wirkung entfalten können und den Betrachter<br />
gegenseitig voneinander ablenken. Deshalb<br />
wäre es möglicherweise besser den Overhead-<br />
Projektor und den Beamer auf zwei unterschiedliche<br />
Wände zu richten. Der Betrachter<br />
kann sich dadurch konzentriert mit dem Schalenbild<br />
des Overhead- Projektors und dem Film<br />
auseinandersetzten. Die zwei Komponenten<br />
des Werkes erhalten somit eine eigenständige
Abbildung 10 - 19 Verschiedene Kirchenfenster, Mandalas und Ornamente<br />
14<br />
Wirkung. Trotzdem wird die thematische<br />
Verbindung nicht unterbrochen oder<br />
gestört, sondern eine Ergänzung der zwei<br />
Bestandteile zueinander herbeigeführt.<br />
5 Fazit<br />
Obwohl die Arbeit aus einem einfachen<br />
Aufbau besteht und leicht zu rekonstruieren<br />
ist, ist die Wirkung der Bilder sehr<br />
beeindruckend.<br />
Das Experimentieren vor Ort und mit entsprechendem<br />
Material hat sich gelohnt.<br />
Abbildungen<br />
1. Reihe, v. l. n. r. Kirchenfenster,<br />
Quelle unbekannt (Abb. 10),<br />
Kirchenfenster, Quelle unbekannt<br />
(Abb. 11), Mandala,http://12koerbe.<br />
de, Stand 18.02.07(Abb. 12),<br />
2. Reihe, v. l. n. r.: Kirchenfenster, www.<br />
ekir.de, Stand 18.02.07 (Abb. 13),<br />
Ornament, www.alles-was-rund-ist.de,<br />
Stand 18.02.07(Abb. 14), Kirchenfenster,<br />
www.krsna.de, Stand<br />
18.02.07(Abb. 15),<br />
3. Reihe, v. l. n. r., Mandala, http://<br />
jacques.prevost.free.fr, Stand<br />
18.02.07(Abb. 16), Mandala, Quelle<br />
unbekannt (Abb. 17), 4.Reihe, li,:<br />
Kirchenfenster, www.lumobox.com,<br />
Stand 18.02.07(Abb. 18), re:,<br />
Ornament, www.tibs.at, Stand<br />
18.02.07 (Abb. 19)
<strong>Schatten</strong>-<br />
fänger<br />
17
Saskia Seifer<br />
Inhalt<br />
1 Kurzbiographie des<br />
Autors<br />
2 Die Erzählung im<br />
Überblick<br />
3 Betrachtung einzelner<br />
<strong>Schatten</strong>szenen<br />
4 Bedeutung des<br />
<strong>Schatten</strong>s<br />
5 Ausgang der<br />
Erzählung<br />
6 Umsetzung der<br />
<strong>Schatten</strong>szenen in der<br />
Literaturverfilmung<br />
7 Schlussbetrachtung<br />
8 Quellen<br />
Abb. 2 Adelbert von Chamisso<br />
„Peter Schlemihls wundersame<br />
Geschichte“<br />
von Adelbert von Chamisso<br />
Abb. 1: Illustration zu „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“<br />
1 Kurzbiographie des Autors<br />
Adelbert von Chamisso (eigentlich Louis<br />
Charles Adélaïde de Chamisso) war ein<br />
deutscher Dichter und Naturforscher, der am<br />
30. Januar 1781 auf Schloss Boncourt in der<br />
Champagne in Frankreich geboren wurde.<br />
Er entstammte einer alten lothringischen<br />
Adelsfamilie, die sich auf der Flucht vor der<br />
Französischen Revolution in Preußen niederließ.<br />
Die Auswanderung des französischen Adels<br />
1790 hatte zur Folge, dass Chamisso und<br />
seine Familie als heimatlose Emigranten in die<br />
Niederlande, nach Holland und Deutschland<br />
reisten. Chamisso diente als Leutnant in einem<br />
preußischen Regiment. Nachdem seine Eltern<br />
wieder zurück nach Frankreich kehrten, blieb<br />
er allein zurück. Mit 25 Jahren verlor Adelbert<br />
von Chamisso seine Eltern. Drei Jahre später,<br />
reiste er nach Frankreich, in die Schweiz und<br />
dann wieder nach Deutschland. 1812 begann<br />
er das Studium der Medizin und Botanik an<br />
der <strong>Universität</strong> in Berlin und 1813 schrieb er<br />
die Erzählung „Peter Schlemihls wundersame<br />
Geschichte“. Zwei Jahre darauf, nahm er als<br />
Botaniker an einer Pazifik- und Arktisexpedition<br />
teil und verwirklichte damit seinen Traum.<br />
18<br />
1819 wurde er Direktor am Botanischen<br />
Garten in Berlin und 1833 am Königlichen<br />
Herbarium. Zwischenzeitlich übernahm er die<br />
Mitherausgabe des Deutschen Muselmanachs.<br />
Am 21. August 1838 starb Chamisso an einem<br />
Lungenleiden. Auf dem Friedhof am Halleschen<br />
Tor in Berlin- Kreutzberg, in der Nähe des nach<br />
ihm benannten Chamissoplatzes , wurde er<br />
begraben. 1<br />
2 Die Erzählung im Überblick<br />
Adelbert von Chamisso erzählt in „Peter Schlemihls<br />
wundersame Geschichte“ von einem Mann, der<br />
seinen <strong>Schatten</strong> für einen unerschöpflichen<br />
Geldbeutel an den Teufel verkauft und dadurch<br />
von der Gesellschaft ausgeschlossen wird.<br />
Seine <strong>Schatten</strong>losigkeit erfährt sofort Aufsehen:<br />
Gassenjungen verspotten ihn, Frauen<br />
bemitleiden ihn und Herren empören sich.<br />
Schemihl versucht den Handel mit dem Teufel<br />
rückgängig zu machen, doch dieser schlägt ihm<br />
einen neuen Tausch vor: Peter Schlemihls Seele<br />
gegen den <strong>Schatten</strong>! Da er die List des Teufels<br />
erkennt, wenn auch nun zu spät, schlägt er das<br />
Angebot aus. Daraufhin versucht der Teufel, in<br />
der Geschichte als ein grauer Mann beschrieben,
Abb. 2 Illustration zu „Peter<br />
Schlemihls wundersame Geschichte“<br />
Abb. 3 Illustration zu „Peter<br />
Schlemihls wundersame Geschichte“<br />
Abb. 4 Illustration zu „Peter<br />
Schlemihls wundersame Geschichte“<br />
Schlemihl mit mehreren Verlockungen vom<br />
zweiten Handel zu überzeugen und seine Seele<br />
zu erlangen. Schließlich nimmt der <strong>Schatten</strong>lose<br />
sein Schicksal selbst in die Hand und wirft den<br />
Goldsäckel in einen Abgrund. Hiermit gelingt es<br />
ihm, sich aus der Abhängigkeit des Grauen zu<br />
lösen, der kurz darauf hinter den Felsenmassen<br />
verschwindet. Ohne <strong>Schatten</strong> und ohne Geld<br />
wandert er durch die Lande und hält sich,<br />
soweit es ihm möglich ist, von den Menschen<br />
fern. In einem Dorf ersteht er für seine letzten<br />
Geldstücke ein paar Wanderstiefel, die sich als<br />
’Siebenmeilenstiefeln’ erweisen. Diese bringen<br />
ihn in wenigen Schritten um die ganze Welt,<br />
sodass er von nun an die Kontinente durchstreift<br />
und als Naturforscher eine neue Lebensweise<br />
findet. Als er zwischen dem Nordmeer und<br />
der Wüste mit seinen Siebenmeilenstiefeln<br />
abstürzt, erkältet er sich lebensgefährlich und<br />
findet sich in einem Krankenhaus, namens<br />
’Schlehmilium’, wieder. Sein zurückgebliebener<br />
Diener und seine Geliebte hatten dieses von<br />
seinem vermachten Geld errichtet. Geheilt und<br />
unerkannt, verlässt Schlemihl jedoch die Anstalt<br />
und vervollkommnet sein Wissen von der<br />
Geografie und der Fauna der Kontinente. 2<br />
3 Betrachtung einzelner <strong>Schatten</strong>szenen<br />
Im Folgenden sollen einige Szenen aus der<br />
Geschichte aufgezeigt werden, die sich<br />
insbesondere mit dem <strong>Schatten</strong> beschäftigen.<br />
Bereits im ersten Kapitel findet der Handel<br />
zwischen Peter Schlemihls <strong>Schatten</strong> und dem<br />
unerschöpflichen Geldbeutel des grauen<br />
Mannes statt. Der graue Mann kommt auf Peter<br />
Schlemihl zu und bewundert dessen <strong>Schatten</strong>:<br />
„(...), hab ich, mein Herr, einige Mal – erlauben<br />
Sie, dass ich es ihnen sage – wirklich mit<br />
unaussprechlicher Bewunderung den schönen,<br />
schönen <strong>Schatten</strong> betrachten können (...), den<br />
herrlichsten <strong>Schatten</strong> da zu Ihren Füßen (...)<br />
Sollten sie sich wohl nicht abgeneigt finden,<br />
mir diesen Ihren <strong>Schatten</strong> zu überlassen?“ 3 .<br />
Der Graue macht Schlemihl ein verlockendes<br />
Angebot : „Ich hab in meiner Tasche manches,<br />
was dem Herrn nicht ganz unwert scheinen<br />
möchte; für diesen unschätzbaren <strong>Schatten</strong> halt<br />
ich den höchsten Preis zu gering“ 4 . Daraufhin<br />
zieht der graue Mann einen Goldsäckel aus<br />
seiner Tasche und Peter Schlemihl nimmt das<br />
Angebot an, ohne zu wissen, welchen Schaden<br />
er davon tragen wird.<br />
(Abb. 2) „Er [der Graue] schlug ein, kniete dann<br />
ungesäumt vor mir [Peter Schlemihl] nieder und<br />
mit einer bewundernswürdigen Geschicklichkeit<br />
sah ich ihn meinen <strong>Schatten</strong>, vom Kopf bis zu<br />
meinen Füßen, leise von dem Grase lösen,<br />
aufheben, zusammenrollen und falten und<br />
zuletzt einstecken“ 5<br />
Schon kurze Zeit später wird Peter Schlemihl<br />
jedoch bewusst, dass er einen großen Fehler<br />
begangen hat. Nicht nur die negativen<br />
Reaktionen von der Gesellschaft, sondern auch<br />
seine Gewissenbisse ließen ihn weinen und<br />
um seinen <strong>Schatten</strong> trauern: „Es musste schon<br />
die Ahnung in mir aufsteigen: dass, um so viel<br />
19<br />
das Gold auf Erden Verdienst und Tugend<br />
überwiegt, um so viel der <strong>Schatten</strong> höher als<br />
selbst das Gold geschätzt werde; und wie<br />
ich früher den Reichtum meinem Gewissen<br />
aufgeopfert, hatte ich jetzt den <strong>Schatten</strong> für<br />
bloßes Gold hingegeben; was konnte, was sollte<br />
auf Erden aus mir werden!“ 6<br />
Verzweifelt versucht Schlemihl seinen <strong>Schatten</strong><br />
wieder zu erlangen, sodass er den berühmtesten<br />
Maler der Stadt beauftragt seinen Schlagschatten<br />
zu malen, woraufhin dieser jedoch entgegnet:<br />
„Der falsche Schlagschatten, den ich ihm malen<br />
könnte (...) würde doch nur ein solcher sein, den<br />
er bei der leisesten Bewegung wieder verlieren<br />
müsste (...) wer keinen <strong>Schatten</strong> hat, der gehe<br />
nicht in die Sonne, das ist das Vernünftigste und<br />
Sicherste“ 7 .<br />
Als der <strong>Schatten</strong>lose seinen Diener beauftragt<br />
nach dem Grauen zu suchen, lässt dieser<br />
Schlemihl mitteilen, dass er nach genau einem<br />
Jahr und einem Tag wieder erscheinen würde.<br />
So geschieht es dann auch in der Heide, wo<br />
ihm der graue Mann den zweiten Handel vorschlägt.<br />
Peter Schlemihl setzt alles daran, den<br />
ersten Handel rückgängig zu machen und dem<br />
Grauen seinen Goldsäckel wieder zu geben,<br />
doch dieser zeigt ihm ein Pergament, auf dem<br />
folgende Aufschrift steht: „ Kraft dieser meiner<br />
Unterschrift vermache ich dem Inhaber dieses<br />
meine Seele nach ihrer natürlichen Trennung<br />
von meinem Leibe“ 8 . Nachdem Schlemihl<br />
erneut vergeblich versucht den Handel durch<br />
den Glückssäckel rückgängig zu machen, lehnt<br />
er das Angebot des Teufels immer wieder ab.<br />
Auch, als der graue Mann den <strong>Schatten</strong> aus<br />
seiner Tasche zieht, um ihm zu beweisen, dass<br />
er ihn jederzeit bei sich trägt.<br />
(Abb. 3) „Er [der Graue] zog sogleich meinen<br />
[Peter Schlemihls] <strong>Schatten</strong> aus seiner Tasche,<br />
und ihn mit einem geschickten Wurf auf<br />
der Heide entfaltend, breitete er ihn auf der<br />
Sonnenseite zu seinen Füßen aus, so, dass er<br />
zwischen den beiden ihm aufwartenden [gehorchenden]<br />
<strong>Schatten</strong>, dem meinen und dem<br />
seinen, daherging, denn meiner musste ihm<br />
gleichfalls gehorchen und nach allen seinen<br />
Bewegungen sich richten und bequemen.“ 9<br />
Hoffnungslos und in Gedanken daran, dass<br />
er seinen <strong>Schatten</strong> nicht mehr wieder sehen<br />
werde, irrt er einsam in der Heide herum. Doch<br />
als Schlemihl plötzlich einen ’Menschenschatten’<br />
auf dem Boden entdeckt, rennt er diesem<br />
voller Sehnsucht hinterher und versucht den<br />
’Menschenschatten’ durch einen Sprung auf<br />
ihn, einzufangen.<br />
(Abb. 4) „<strong>Schatten</strong>, dacht ich [Peter Schlemihl],<br />
suchst du deinen Herrn? Der will ich sein. Und<br />
ich sprang hinzu, mich seiner zu bemächtigen;<br />
ich dachte nämlich, dass, wenn es mir glückte,<br />
in seine Spuren zu treten, so, dass er mir an<br />
die Füße käme, er wohl daran hängen bleiben<br />
würde und sich mit der Zeit an mich gewöhne.“<br />
10<br />
Es stellte sich jedoch heraus, dass der graue<br />
Mann ein übles Spiel mit dem sich verzweifelt<br />
Wehrenden spielte. Mit Hilfe eines ’unsichtba-
Abb. 5 Illustration zu „Peter<br />
Schlemihls wundersame Geschichte“<br />
ren Vogelnests’ ließ der graue Mann seinen<br />
<strong>Schatten</strong> vor Schlemihl herumtanzen, ohne,<br />
dass Schlemihl den Körper des Grauen sehen<br />
konnte. Aber trotz der Verlockungen des grauen<br />
Mannes, lässt sich Peter Schlemihl nicht auf<br />
den Handel ein.<br />
Nachdem sich der <strong>Schatten</strong>lose entschließt sein<br />
Haus und die Stadt zu verlassen, tritt der Graue<br />
immer wieder in Erscheinung und gesellt sich<br />
als ständiger Begleiter zu seinem Opfer. Der<br />
graue Mann schlägt eine neue Taktik ein, indem<br />
er Schlemihl seinen <strong>Schatten</strong> leiht, sodass<br />
diesem der alte Reichtum und die Ehrerbietung<br />
des Volkes vor Augen geführt wird. Da ihm<br />
der Graue nicht mehr von seiner Seite weicht<br />
und er die Absicht des grauen Mannes durchschaut,<br />
sieht Schlemihl die einzige Möglichkeit<br />
ihn loszuwerden darin, das Geldsäckel in einen<br />
Abgrund zu werfen (Abb. 5)<br />
Seine Vorahnung bestätigt sich, denn der<br />
Graue geht fort, sodass sich Peter Schlemihl<br />
von seiner Abhängigkeit befreien kann.<br />
Bezogen auf die Illustrationen der <strong>Schatten</strong>szenen,<br />
ist zu sagen, dass diese die Geschichte<br />
nicht nur untermalen, sondern auch die<br />
Vorstellung darüber, welche Rolle der <strong>Schatten</strong><br />
spielt, verstärken. Meiner Meinung nach,<br />
achten die Menschen auch in Wirklichkeit<br />
kaum auf ihren eigenen <strong>Schatten</strong> bzw. nehmen<br />
diesen nicht bewusst war. Auf Grund<br />
der Zeichnungen wird in einer rea<strong>lit</strong>ätsfernen<br />
Darstellungsweise veranschaulicht, wie es<br />
aussehen könnte, wenn man beispielsweise in<br />
Wirklichkeit den <strong>Schatten</strong> eines Menschen entfernen<br />
und einrollen könnte bzw. wenn man<br />
anstelle eines, zwei <strong>Schatten</strong> hätte und diese in<br />
zwei verschiedenen Richtungen auf den Boden<br />
fallen würden (siehe Abb.2,3).<br />
4 Bedeutung des <strong>Schatten</strong>s<br />
„Peter Schlemihls wundersame Geschichte“<br />
endet mit der folgenden Moral: „... willst du<br />
unter den Menschen leben, so lerne verehren<br />
zuvörderst den <strong>Schatten</strong>, sodann das Geld. Willst<br />
du nur dir und deinem bessern Selbst leben, o so<br />
brauchst du keinen Rat.“ 11 Der <strong>Schatten</strong>verlust<br />
zeigt sich in der Erzählung als sichtbares Zeichen<br />
für einen moralischen Mangel. Peter Schlemihl<br />
ist das Geld wichtiger als sein <strong>Schatten</strong>. Seine<br />
Geldgier lässt ihn den Handel eingehen. Daher<br />
kann man sagen, dass der <strong>Schatten</strong>verlust ein<br />
sichtbares Zeichen für seine Charakterschwäche<br />
ist, die ihn zum Verkauf seines <strong>Schatten</strong>s<br />
verleitet hat. Der <strong>Schatten</strong> könnte außerdem als<br />
ein Symbol für Reichtümer, die nicht materieller<br />
Natur sind, stehen. Ein Beispiel für Reichtum<br />
wäre das Verehren der Gemeinschaft bzw. das<br />
Bemühen nach harmonischem Zusammenleben.<br />
Die Geschichte zeigt, dass dies mehr wert als<br />
alles andere auf der Welt ist, sodann auch<br />
mehr als der unerschöpfliche Geldbeutel. Denn<br />
auf Grund seiner <strong>Schatten</strong>losigkeit erfährt<br />
Schlemihl den Verstoß aus der Gesellschaft,<br />
sodass menschliche Beziehungen nicht mehr<br />
zustande kommen können. Durch den Verkauf<br />
des scheinbar Unwesentlichsten, nämlich den<br />
20<br />
<strong>Schatten</strong>, erweist sich dieser in Wahrheit als<br />
die verhängnisvollste Wirklichkeit, als das, was<br />
gerade für die gesellschaftliche Existenz am<br />
allerletzten entbehrt werden kann und durch<br />
kein Geld der Welt zu ersetzen ist. Der <strong>Schatten</strong><br />
könnte daher auch als ein Symbol für Solidarität<br />
und menschliches Zusammenleben angesehen<br />
werden, was Peter Schlemihl durch den Verlust<br />
des <strong>Schatten</strong>s nicht mehr erfahren kann.<br />
Außerdem könnte der abschließende Satz<br />
der Geschichte bedeuten, dass nicht der<br />
Egoismus des Menschen überwiegen, sondern<br />
das Wahren seiner eigenen Identität und das<br />
Miteinbringen in die Gesellschaft an vorderster<br />
Stelle stehen sollte. Der Mensch sollte demnach<br />
nicht nur an sich selbst denken und zudem<br />
begreifen, dass Geld nicht alles ist bzw. die<br />
Gier danach zu Unglück führen kann. Das was<br />
zählt, ist, dass man nicht zu schnell über Dinge<br />
entscheidet, die einem zunächst als unwichtig<br />
erscheinen, sondern darüber nachdenkt, welche<br />
Konsequenzen dies haben kann.<br />
Trotz seines Reichtums, das seinen Geldbeutel<br />
betrifft, wird Peter Schlemihl durch die Menschen<br />
aus der Gesellschaft verstoßen, indem sie ihn<br />
verspotten, bemitleiden sowie verachten. Der<br />
<strong>Schatten</strong> hat daher bei den Personen in der<br />
Geschichte eine große Bedeutung, sodass er<br />
ohne diesen nicht mehr in der Gesellschaft<br />
leben kann. Da seine Gestalt keinen <strong>Schatten</strong><br />
mehr wirft, ist er zwar noch ein Mensch mit einer<br />
Seele, jedoch ohne gesellschaftliche Existenz.<br />
Seine Seele behält Schlemihl, da er den<br />
zweiten Handel des Teufels nicht eingeht, aber<br />
was bedeutet das? Sind <strong>Schatten</strong> und Seele<br />
voneinander zu trennen oder handelt es sich<br />
dabei um das Gleiche? Zum Beispiel bezeichnet<br />
dasselbe Wort in mehreren Indianersprachen<br />
<strong>Schatten</strong>, Bild und Seele 12 . Außerdem werden in<br />
verschiedenen Jenseitsvorstellungen die Toten<br />
als <strong>Schatten</strong> gedacht 13 .<br />
Was bedeutet dies aber nun für die Geschichte?<br />
Ist Peter Schlemihl auf Grund seiner<br />
<strong>Schatten</strong>losigkeit als leblos zu bezeichnen.<br />
Eine Definition von <strong>Schatten</strong> beschreibt zudem<br />
Folgendes: „Oft wurden aber auch gerade die<br />
Seele u. Lebenskraft als <strong>Schatten</strong> verstanden,<br />
entspr. haben Geister, die in Menschengestalt<br />
erscheinen, oder Menschen, die ihre Seele dem<br />
Teufel verkauft haben, keinen <strong>Schatten</strong>“ 14 .<br />
Diese Definition würde bedeuten, dass Peter<br />
Schlemihl nicht nur seine Seele verkauft, wenn<br />
er den zweiten Handel des Teufels eingegangen<br />
wäre, sondern auch seinen <strong>Schatten</strong> verloren<br />
hätte, sodass eine Zurückerlangung seines<br />
<strong>Schatten</strong>s dadurch auch nicht ermöglicht wäre.<br />
Aber kann man nun auch den Rückschluss<br />
ziehen, dass er durch den Verkauf seines<br />
<strong>Schatten</strong>s bereits seine Seele verloren hat? Diese<br />
Frage lässt Raum zur eigenen Interpretation,<br />
denn auf diese wird in der Erzählung nicht<br />
eingegangen bzw. ist insofern zu beantworten,
Abb. 6 Illustration zu „Peter<br />
Schlemihls wundersame Geschichte“<br />
Abb. 7 Der Graue rollt den<br />
<strong>Schatten</strong> Peter Schlemihls ein,<br />
nachdem dieser den ersten<br />
Handel, „<strong>Schatten</strong> gegen<br />
unausschöpflichen Goldsäckel“,<br />
eingeht.<br />
Abb. 8 und 9 Peter Schlemihls<br />
Geliebte Fanny erkennt,<br />
während eines Abendspaziergangs,<br />
die <strong>Schatten</strong>losigkeit<br />
Schlemihls, woraufhin sie in<br />
Ohnmacht fällt und er die Stadt<br />
verlässt.<br />
dass der Teufel nicht auf den zweiten Handel<br />
beharren hätte müssen, da er sonst sein Ziel,<br />
nämlich die Erlangung der Seele, schon nach<br />
dem ersten Handel erreicht hätte.<br />
5 Ausgang der Erzählung<br />
Wie schon im Überblick (Punkt 3) erwähnt,<br />
endet die Erzählung damit, dass Peter Schlemihl<br />
mit Hilfe alter Wanderschuhe, die sich als<br />
`Siebenmeilenstiefel` entpuppen, durch die Welt<br />
reist und die Natur erforscht: „ Ich habe soweit<br />
meine Stiefel gereicht, die Erde, ihre Gestaltung,<br />
ihre Höhen, ihre Temperatur, ihre Atmosphäre<br />
in ihrem Wechsel, die Erscheinungen ihrer<br />
magnetischen Kraft, das Leben auf ihr,<br />
besonders im Pflanzenreiche, gründlicher<br />
kennen gelernt als vor mir irgendein Mensch. (...)<br />
Ich werde Sorge tragen, dass vor meinem Tode<br />
meine Manuskripte bei der Berliner <strong>Universität</strong><br />
niedergelegt werden“ 15 .<br />
Den Beschreibungen nach zu urteilen, scheint<br />
Peter Schlemihl nach dem <strong>Schatten</strong>verlust den<br />
Sinn seines Lebens darin zu sehen, die Welt zu<br />
bereisen und kennen zu lernen.<br />
Während dieser Zeit hat Schlemihl keinen Kontakt<br />
zu anderen Menschen und es scheint, als würde<br />
er sich nicht lange an ein- und demselben Ort<br />
befinden. Da er mit seinen ’Siebenmeilenstiefeln’<br />
von Kontinent zu Kontinent springen kann, fällt<br />
es ihm leicht, sich schnell zwischen den Orten<br />
zu bewegen. Diese Schnelligkeit impliziert den<br />
Gedanken daran, dass es scheint, Schlemihl<br />
sei zum <strong>Schatten</strong> seiner Selbst geworden. Auf<br />
Grund seiner schnellen Bewegungen bleibt von<br />
ihm auch nur noch ein <strong>Schatten</strong>, sodass er für<br />
die Menschen auf der Welt wahrscheinlich gar<br />
nicht mehr sichtbar ist.<br />
Seine Erfüllung sieht Schlemihl darin, sein<br />
Wissen über die Welt zu vervollkommnen.<br />
Dank der ’Siebenmeilenstiefel’ sieht er den<br />
Reichtum weder in materiellen Dingen noch in<br />
menschlichen Beziehungen. Er erwirbt seinen<br />
Reichtum durch das Anhäufen von Wissen,<br />
sodass ihn die erworbenen Wanderstiefel durch<br />
neue Reichtümer belohnen. Ganz im Gegenteil,<br />
wie zunächst in Punkt 5 angenommen, ist<br />
Schlemihl durch seine <strong>Schatten</strong>losigkeit nicht als<br />
leblos zu bezeichnen, sondern er blüht viel mehr<br />
in seiner neuen Lebensweise auf. Sein Wissen<br />
möchte er der ganzen Welt verkünden und<br />
daher hält er all seine Erkundungen schriftlich in<br />
Manuskripten fest.<br />
6 Umsetzung der <strong>Schatten</strong>szenen in der<br />
Literaturverfilmung von 1981<br />
In den Abbildungen 7 bis 15 werden einige<br />
<strong>Schatten</strong>szenen dargestellt, um aufzuzeigen,<br />
wie diese im Film umgesetzt wurden.<br />
7 Schlussbetrachtung<br />
Das Hauptmotiv in „Peter Schlemihls<br />
wundersamer Geschichte“ ist der <strong>Schatten</strong>. Dieser<br />
wird in der Literatur durch Bilder und in dessen<br />
Verfilmung dargestellt. Die zentrale Bedeutung<br />
des <strong>Schatten</strong>verlustes zieht sich wie ein roter<br />
Faden durch die ganze Geschichte, indem die<br />
21<br />
Abb. 10 und 11 Nachdem Peter Schlemihl den<br />
zweiten Handel, „<strong>Schatten</strong> gegen Seele“, ablehnt,<br />
versucht der Graue ihn zu locken, indem<br />
er den <strong>Schatten</strong> aus seiner Tasche holt, sodass<br />
Schlemihl diesen für kurze Zeit zurückerlangt.<br />
Abb. 12 Peter Schlemihl entdeckt den Menschenschatten<br />
Abb. 13 und 14 (nächste Seite) Der Graue gibt<br />
Schlemihl erneut seinen <strong>Schatten</strong> zurück, um<br />
ihn zu locken und vom zweiten Handel zu<br />
überzeugen.
Fußnoten<br />
1 vgl. von Chamisso 1987, S.<br />
5-11 und http://<br />
de.wikipedia.org/wiki/<br />
Adelbert_von_Chamisso<br />
2 vgl. von Chamisso 1987<br />
3 a.a.O., S. 16<br />
4 a.a.O., S. 17<br />
5 a.a.O., S. 18<br />
6 a.a.O., S.19<br />
7 a.a.O., S.23<br />
8 a.a.O., S.36<br />
9 a.a.O., S.37<br />
10 a.a.O., S.40<br />
11 a.a.O., S.63<br />
12 vgl. Becker 1992, S. 253<br />
13 vgl. ebd.<br />
14 a.a.O., S.253f.<br />
15 von Chamisso 1987, S. 63<br />
Literatur<br />
Becker, Udo: Lexikon der<br />
Symbole, Freiburg im<br />
Breisgau, Verlag Herder,<br />
1992<br />
von Chamisso, Adelbert:<br />
Peter Schlemihls<br />
wundersame Geschichte,<br />
Berlin, Cornelsen Verlag,<br />
1987<br />
Internet<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/<br />
Adelbert_von_Chamisso<br />
Film<br />
Peter Schlemihls wundersame<br />
Geschichte, 1981, 115 min.,<br />
Regie: Peter Beauvais<br />
Abb. 14<br />
Abb. 15 Peter Schlemihl schlägt den Handel<br />
immer wieder aus, sodass der Graue Schlemihls<br />
<strong>Schatten</strong> mit einem Pfiff zu sich ruft und den<br />
<strong>Schatten</strong> wieder in seine Tasche steckt.<br />
Konsequenzen des ersten Handels geschildert<br />
werden. Nur das Ende zeigt schließlich eine<br />
Wendung auf. Peter Schlemihl lernt nach<br />
mehreren Versuchen der Zurückerlangung<br />
seines <strong>Schatten</strong>s, ohne diesen zu leben und<br />
erfährt von Reichtümern, von denen er bisher<br />
nur träumen konnte. Der <strong>Schatten</strong>verlust tritt<br />
in den Hintergrund, bleibt jedoch gegenwärtig,<br />
da man sagen kann, dass Schlemihl mit Hilfe<br />
der erworbenen `Siebenmeilenstiefel` und<br />
auf Grund seiner schnellen Bewegungen von<br />
Kontinent zu Kontinent, zum <strong>Schatten</strong> seiner<br />
Selbst wird.<br />
Fasst man die drei vorgestellten Definitionen aus<br />
Punkt 5 zusammen, so könnte man vermuten,<br />
dass Peter Schlemihl in der Geschichte zu<br />
einem Seelenlosen ohne <strong>Schatten</strong> im Jenseits<br />
geworden ist. Seelenloser ohne <strong>Schatten</strong> dann,<br />
sobald man der Indianersprache nachgehen und<br />
Seele und <strong>Schatten</strong> gleichsetzen würde. Und<br />
Seelenloser ohne <strong>Schatten</strong> im Jenseits daher,<br />
weil in verschiedenen Jenseitsvorstellungen die<br />
Toten als <strong>Schatten</strong> gedacht werden. Dadurch,<br />
dass Schlemihl zum <strong>Schatten</strong> seiner Selbst wird<br />
und nicht mehr am Leben seiner Mitmenschen<br />
teilnimmt, fällt es schwer zu glauben, dass dieser<br />
in der Geschichte trotzdem noch im Diesseits<br />
lebt.<br />
Zudem muss jedoch gesagt werden, dass<br />
die Bedeutung des <strong>Schatten</strong>s sowie des<br />
<strong>Schatten</strong>verlustes nicht eindeutig zu erklären<br />
22<br />
ist, sodass weitere Interpretationsansätze nicht<br />
auszuschließen sind.<br />
Wenn man nun rückblickend die Biografie<br />
des Autors sowie den Inhalt der Geschichte<br />
vergleicht, so könnte man folgende<br />
Zusammenhänge zwischen diesen erkennen.<br />
Adelbert von Chamisso war ein heimatloser<br />
Emigrant, der seine Eltern schon mit 25 Jahren<br />
verlor. Aus diesem Grund war er sehr oft allein<br />
und hatte keinen festen Wohnsitz. Nachdem<br />
Schlemihl seinen <strong>Schatten</strong> verliert, ist er,<br />
genau wie Chamisso, auf sich allein gestellt.<br />
Zudem ist das wissenschaftliche Interesse bei<br />
beiden zu erkennen. Chamisso als Mediziner<br />
und Botaniker, dessen Traum es ist, an einer<br />
Pazifik- und Arktisexpedition teilzunehmen,<br />
den er sich schließlich auch erfüllt und Peter<br />
Schlemihl als Naturforscher, der mit Hilfe der<br />
`Siebenmeilenstiefel` sein Wissen von der<br />
Geografie und der Fauna der Kontinente<br />
vervollkommnt und schriftlich in Manuskripten<br />
verfasst. Als er jedoch zwischen zwei Kontinenten<br />
abrutscht, erkältet er sich lebensgefährlich<br />
und findet sich im Krankenhaus wieder. Im<br />
Gegensatz zu Schlemihl, der die Anstalt geheilt<br />
verlässt, kann Chamisso seinem Lungenleiden<br />
nicht entgehen und stirbt schließlich an diesem.<br />
Moral<br />
„... willst du unter den Menschen leben,<br />
so lerne verehren zuvörderst den <strong>Schatten</strong>,<br />
sodann das Geld.<br />
Willst du nur dir und deinem bessern Selbst<br />
leben, o so brauchst du keinen Rat.“
Michaela Streilein<br />
„Der <strong>Schatten</strong>“<br />
von Hans Christian<br />
Andersen<br />
Was unterscheidet ein Volks- von einem Kunstmärchen?<br />
Einleitung<br />
In der nun folgenden Ausarbeitung, anschließend<br />
an das Referat, das ich am 10.01.07 mit<br />
Denise Leonhardt gehalten habe, möchte ich<br />
das Märchen „Der <strong>Schatten</strong>“ von Hans Christian<br />
Andersen näher untersuchen und einige Bezüge<br />
zum Volksmärchen herstellen und erläutern.<br />
Lebenslauf: Hans Christian Andersen<br />
Hans Christian Andersen wurde am 2. April<br />
1805 in Odense auf der dänischen Insel Fünen<br />
geboren. Mit 14 Jahren „[…] ging er […] nach<br />
Kopenhagen und bemühte sich […] dort als<br />
Schauspieler zum Theater zu kommen.“ 1 Nach<br />
einiger Zeit gelang es ihm eine Anstellung zu<br />
bekommen und wurde dort dann von der Theaterdirektion<br />
und König Friedrich VI. unterstützt<br />
und gefördert. Berühmt wurde Hans Christian<br />
Andersen aber durch seine weitere Begabung<br />
als Schriftsteller, denn er schreib mehr als 160<br />
verschiedene Märchen, u.a. die Prinzessin auf<br />
der Erbse, das Mädchen mit den Schwefelhölzchen,<br />
das hässliche Entlein, des Kaisers neue<br />
Kleider, der <strong>Schatten</strong> u.v.a. Sein Hauptanliegen<br />
beim Schreiben lag in der Vereinfachung und<br />
Bearbeitung der bereits vorhandenen Volksmärchen,<br />
bis sie seinen Ansprüchen genügten<br />
und von Kindern verstanden werden konnten.<br />
Des Weiteren war er aber auch genauso von<br />
den unterschiedlichen Sagen und historischen<br />
Begebenheiten inspiriert und schuf somit eine<br />
ganz neue Form des Märchens, das so genannte<br />
Kunstmärchen. Insgesamt waren und sind<br />
seine Märchen zeitlos, modern und faszinieren<br />
Menschen jeden Alters. Am 4. August 1875 verstarb<br />
der berühmteste Dichter und Schriftsteller<br />
von Dänemark in Kopenhagen. 2<br />
Das Volksmärchen<br />
Die Volksmärchen sind eine traditionelle Form<br />
des allgemeinen Märchens. „Sie basieren auf<br />
mündlich überlieferten […]“ 3 Geschichten,<br />
wobei die Dichter meist unbekannt sind. Sie<br />
sind leicht verständlich und besitzen einfache<br />
Strukturen, sowie bildhafte Darstellungen, aus<br />
diesem Grund sind sie besonders gut für Kinder<br />
geeignet und sehr verständlich.<br />
Der Ausgangspunkt eines Märchens bildet<br />
zumeist „[…] eine Notlage, eine Aufgabe oder<br />
ein Bedürfnis.“ 4 Eine Aufgabe kann u.a. darin<br />
bestehen „[…] einen kostbaren Gegenstand<br />
zu finden, ein Rätsel zu lösen oder einen<br />
verwunschenen Menschen zu erlösen“ 5 ,<br />
23<br />
dabei muss der Held oft sein eigenes Leben<br />
aufs Spiel setzen. „Neben dem Helden treten<br />
[noch] weitere typische Gestalten auf[,] hierzu<br />
gehören der Gegner, der Helfer, der Neider,<br />
der Ratgeber und der Gerettete bzw. der zu<br />
rettende.“ 6 Ein weiteres wichtiges Merkmal<br />
ist der Gegensatz zwischen Gut und Böse,<br />
„[…]wobei in aller Regel die Guten belohnt und<br />
die Bösen bestraft werden.“ 7 Folgende Merkmale<br />
werde ich nur stichwortartig wiedergeben,<br />
weil jeder genau weiß, was damit gemeint ist,<br />
denn charakteristisch für ein Volksmärchen<br />
ist die Formelhaftigkeit, die Wirklichkeitsferne,<br />
die Eindimensiona<strong>lit</strong>ät der Wirklichkeitswahrnehmung,<br />
die Flächenhaftigkeit, der abstrakte<br />
Stil, die Isolation, die Allverbundenheit und die<br />
Zahlensymbolik (z.B. drei und sieben). 8<br />
Das Kunstmärchen<br />
Im Gegensatz dazu steht das Kunstmärchen,<br />
welches aus der Feder eines meist bekannten<br />
Dichters oder Schriftstellers entstammt. Dieses<br />
übernimmt häufig Stil, Themen und Elemente<br />
eines Volksmärchens und gestaltet damit<br />
hauptsächlich für Erwachsene aber/ sowie<br />
auch für Kinder „[…] eine märchenhaft-traumhafte<br />
Gegenwart zur Wirklichkeit“ 9 .<br />
Dennoch sind diese Form von/des Märchen<br />
„in der Regel viel umfangreicher und <strong>lit</strong>erarisch<br />
anspruchsvoller konzipiert.“ 10 Sie „[…] arbeiten<br />
insbesondere häufiger mit Metaphern und liefern<br />
detaillierte Beschreibungen von Personen<br />
und Ereignissen.“ 11 Aber sie enden nicht immer<br />
mit einem Happy End.<br />
Inhaltliche Zusammenfassung des<br />
Märchens „Der <strong>Schatten</strong>“<br />
In dem Märchen „Der <strong>Schatten</strong>“ erzählt Hans<br />
Christian Andersen von einem klugen gelehrten<br />
Mann, der von den kalten in die heißen<br />
Länder gezogen ist. Dort befiehlt der Mann<br />
seinem <strong>Schatten</strong> im Spaß in die mysteriöse<br />
gegenüberliegende Wohnung zu gehen und<br />
nachzuschauen, wer dort wohnt, um ihm<br />
anschließend davon zu berichten. Dieser (der<br />
<strong>Schatten</strong>) jedoch nutzt die erworbene Freiheit,<br />
um sich eigenständig zu entfalten, wie er es<br />
sich schon lange erträumt hat. (Doch) im Laufe<br />
der Zeit entwickelt sich der <strong>Schatten</strong> zu einem<br />
bösartigen, erfolgssüchtigen und gefühlskalten<br />
menschenähnlichem Wesen. Als er dann<br />
nach einigen Jahren seinen ehemaligen Herrn<br />
besucht, erzählt er von seinen Erlebnissen mit
der Jungfrau (der Poesie) aus dem gegenüberliegenden<br />
Haus, dabei verbirgt er ganz<br />
geschickt, dass er sehr selbstständig geworden<br />
ist und sich von niemanden etwas sagen lässt.<br />
Bei seinem zweiten Besuch unterbreitet der<br />
<strong>Schatten</strong> (dann) dem Gelehrten das Angebot<br />
als sein <strong>Schatten</strong> mit ihm auf eine Reise zu<br />
gehen. Dies nimmt der Gelehrte dankbar an,<br />
weil er nur das Positive im/am <strong>Schatten</strong> sieht<br />
und weiterhin/ außerdem seine/die Hoffnung,<br />
den <strong>Schatten</strong> wieder zurück zubekommen<br />
noch nicht aufgegeben hat. Im Kurbad lernt<br />
der <strong>Schatten</strong> dann eine Königstochter kennen<br />
und lieben. (Und) Am Tag der Hochzeit bietet<br />
der <strong>Schatten</strong> seinem Ehemaligen Herrn an, in<br />
seinem Schloss als Diener seinen Lebensunterhalt<br />
zu verdienen. Die folgende Drohung des<br />
Gelehrten, der Königstochter über die Vergangenheit<br />
des <strong>Schatten</strong>s aufzuklären, benutzt der<br />
<strong>Schatten</strong>, um ihn einsperren und anschließend<br />
ermorden zu lassen.<br />
Vergleich zwischen dem Volks- und<br />
Kunstmärchen am Beispiel „Der <strong>Schatten</strong>“<br />
von Hans Christian Andersen<br />
Das Märchen „Der <strong>Schatten</strong>“ von Hans Christian<br />
Andersen beinhaltet Strukturen und Elemente<br />
des Volksmärchens, die ich nun näher<br />
erläutern und daran die Unterschiede zum<br />
Kunstmärchen herausarbeiten möchte.<br />
Der Beginn des Märchens kann als eine Nachahmung<br />
eines Volksmärchens gelesen werden.<br />
Denn zu Beginn wird erst einmal die Szene<br />
beschrieben, in der die Geschichte stattfindet,<br />
d.h. dem kluge gelehrten Mann, der gegenüber<br />
eines geheimnisvollen Hauses wohnt, erscheint<br />
eines Abends auf dem gegenüberliegenden<br />
Altan12 eine wunderschöne Jungfrau, in die er<br />
sich sofort verliebt, die ihm aber unerreichbar<br />
scheint. „Dies[er Anfang] erinnert ganz stark<br />
an eine eingesperrte Prinzessin, in die sich der<br />
Held bei ihrem bloßen Anblick verliebt und die<br />
unerreichbar scheint […]“ 13 aus einem Volksmärchen.<br />
Als erstes bricht der Text mit dem Hauptkennzeichen<br />
des Volksmärchens, der Wunscherfüllung,<br />
denn eigentlich „[…] müssen der Held<br />
und die Heldin einander am Schluss bekommen,<br />
[…] nachdem sie zweierlei Hindernisse<br />
aus dem Weg geräumt haben.“ 14 Erstens die<br />
Überwindung der dämonischen Kräfte in ihrem<br />
Inneren und zweitens die Überzeugung der<br />
Umwelt. Hier in diesem Märchen bekommt der<br />
<strong>Schatten</strong> am Ende die Prinzessin, nachdem er<br />
die folgenden zwei Hindernisse überwunden<br />
hat. 15 Als erstes überwindet der <strong>Schatten</strong> sein<br />
<strong>Schatten</strong>dasein und wird ein menschenähnliches<br />
Wesen und zweitens kann er auch noch<br />
seine Umwelt (z.B. die Königstochter, dessen<br />
Vater und die Patienten des Kurbades) von<br />
seinen Lügenmärchen überzeugen und ihnen<br />
weiß machen, dass er der Richtige ist. Dies kann<br />
man auch daran sehen, dass er am Schluss die<br />
Königstochter heiratet und mit ihr glücklich ist.<br />
Doch eigentlich gewinnt in einem Volksmär-<br />
24<br />
chen am Ende immer das Gute über dem<br />
Bösen und hier ist genau das Gegenteil der Fall<br />
bzw. ist es anders herum, weil der bösartige<br />
<strong>Schatten</strong> durch seine Intrigen und Lügereien<br />
den gelehrten Mann hintergeht und ihn so um<br />
die Hand der Prinzessin betrügt. Das heißt der<br />
<strong>Schatten</strong> erreicht dasselbe wie der traditionelle<br />
Held in einem Volksmärchen und steht mit der<br />
Welt und sich selbst im Einklang.<br />
Im verlaufe des Textes bedient sich Hans Christian<br />
Andersen wiederholend am Muster des<br />
Volksmärchens. Als sich der <strong>Schatten</strong> mit dem<br />
gelehrten Mann auf die Reise in ein Kurbad<br />
macht, um dort das Problem seines nicht einsetzenden<br />
Bartwuchses zu behandeln. Während<br />
der Reise kehrt sich das Herr- Diener- Verhältnis<br />
zwischen dem gelehrten Mann und dem <strong>Schatten</strong><br />
ins Gegenteil um. Während der <strong>Schatten</strong><br />
den Herrn spielt und der gelehrte Mann den<br />
<strong>Schatten</strong> des <strong>Schatten</strong>s repräsentiert. Im Kurbad<br />
angekommen, ist die Königstochter nicht wirklich<br />
von der Richtigkeit des <strong>Schatten</strong>s überzeugt<br />
und möchte aus diesem Grund sein Wissen<br />
überprüfen und befragt ihn. Die ersten Fragen<br />
kann er noch ganz einfach beantworten, weil<br />
er gut bei seinem alten Herrn aufgepasst hat.<br />
Doch es wird immer schwieriger für ihn und<br />
bevor es auffliegt, dass er nur der <strong>Schatten</strong> ist,<br />
bedient sich der <strong>Schatten</strong> am Wissen seines alten<br />
Herrn. Mit einer List schickt er die Prinzessin<br />
zu seinem eigenen „<strong>Schatten</strong>“ (dem gelehrter<br />
Mann), um ihr zu beweisen, dass sogar sein<br />
<strong>Schatten</strong> diese „einfache“ Frage beantworten<br />
kann. Dies überstimmt und beeindruckt die<br />
Königstochter und sie ist von der Richtigkeit des<br />
<strong>Schatten</strong>s überzeugt.<br />
Diese Variante des Volksmärchens (des sich zur<br />
Hilfe Nehmens einer List) wird zusätzlich mit<br />
einer anderen ähnlichen kombiniert, nämlich<br />
der, die Prinzessin zu gewinnen, indem er (der<br />
<strong>Schatten</strong>) sie von ihrer Krankheit heilt. Hier<br />
setzt Andersen gekonnt bei der Beschreibung<br />
der Krankheit der Königstochter die Ironie ein.<br />
Denn die Krankheit der Königstochter liegt<br />
darin begründet, dass sie das wahre Problem<br />
des <strong>Schatten</strong>s erkannt hat, dass heißt, dass<br />
er selber keinen <strong>Schatten</strong> werfen kann. Aus<br />
diesem Grund muss der <strong>Schatten</strong> nun die<br />
Königstochter, wie schon oben beschrieben,<br />
durch eine List überzeugen. „Andersen benutzt<br />
die[se] Variante des Volksmärchens, bei der<br />
Rätsel gelöst werden müssen, um die Prinzessin<br />
[für sich] zu gewinnen.“ 16 Als die Prinzessin gewonnen<br />
ist und der gelehrte Mann die wahren<br />
Verhältnisse aufdecken möchte, besiegelt dies<br />
sein Schicksal, denn „[…] der <strong>Schatten</strong> und die<br />
Königstochter einigen sich darauf, ihn heimlich<br />
aus dem Weg zuschaffen.“ 17<br />
Weiterhin ist es in einem Volksmärchen üblich,<br />
dass der Held über einen oder mehrere Helfer<br />
verfügt, die spezielle Fähigkeiten haben18<br />
und dadurch z.B. Hindernisse aus dem Weg<br />
räumen, Rätsel lösen oder aus kniffligen Situationen<br />
helfen können, damit der Held das Objekt
Literatur<br />
Casati, Roberto/ Johansen,<br />
Jürgen,, Dines/ Sadowsky,<br />
Thorsten/ Wagner, Anslem:<br />
„Shadow Play“,<br />
Internet<br />
www.wiktionary.org/wiki/<br />
Altan (11.12.06)<br />
www.wikipedia.org/wiki/<br />
Volksm%C3%A4rchen<br />
(25.01.07)<br />
www.wikipedia.org/wiki/<br />
Kunstm%C3%A4rchen<br />
(04.04.07)<br />
www.wikipedia.org/wiki/<br />
Hans_Christian_Andersen<br />
(04.04.07)<br />
Fußnoten<br />
1 www.wikipedia.org/wiki/<br />
Hans_Christian_Andersen<br />
(04.04.07)<br />
2 vgl. Ebd.<br />
3 www.wikipedia.org/<br />
wiki/Volksm%C3%A4rchen<br />
(25.01.07)<br />
4 www.wikipedia.org/<br />
wiki/Volksm%C3%A4rchen<br />
(25.01.07)<br />
5 Ebd.<br />
6 Ebd.<br />
7 Ebd.<br />
8 vgl. Ebd.<br />
9 www.wikipedia.org/wiki/<br />
Kunstm%C3%A4rchen<br />
(04.04.07)<br />
10 Ebd.<br />
11 Ebd.<br />
12 Altan ist ein an der Seite<br />
offener, überdachter<br />
Sommerwohnraum, der aus<br />
einem der oberen<br />
Stockwerke eines Gebäudes<br />
herausragt<br />
www.wiktionary.org/wiki/<br />
Altan (11.12.06)<br />
13 “Shadow Play”, S. 57<br />
14 „Shadow Play“, S. 57<br />
15 vgl. „Shadow Play“, S. 57<br />
16 “Shadow Play”, S. 59<br />
17 “Shadow Play”, S. 62<br />
18 vgl. “Shadow Play”, S. 57<br />
19 “Shadow Play”, S. 60<br />
20 “Shadow Play”, S. 60<br />
21 “Shadow Play”, S. 62<br />
22 vgl. „Shadow Play“, S. 57<br />
23 “Shadow Play”, S. 59<br />
24 “Shadow Play”, S. 61<br />
25 “Shadow Play”, S. 58<br />
26 vgl. “Shadow play”, S. 58<br />
27 vgl. “Shadow Play”, S. 64<br />
28 vgl. “Shadow Play”, S. 63<br />
29 vgl. “Shadow Play”, S. 64<br />
seiner Begierde erlangt. „Es ist auch üblich, dass<br />
der Held verschwindet, nachdem [er] die Aufgabe<br />
gelöst hat. Was jedoch im Volksmärchen<br />
absolut nicht üblich ist, […] dass der Held (der<br />
<strong>Schatten</strong>) und die Prinzessin, den Helfer des<br />
Helden (den gelehrten Mann) umbringen.“ 19<br />
Doch in diesem Fall wird der gelehrter Mann<br />
selber zu einem unwissentlichen Helfer, weil<br />
er sich weigert als <strong>Schatten</strong> des <strong>Schatten</strong>s zu<br />
arbeiten. 20 Aus diesem Grund wird der gelehrte<br />
Mann vom Helfer zum Gegenspieler, denn er<br />
will den Betrug des <strong>Schatten</strong>s der Königstochter<br />
gegenüber aufdecken und ihr die Wahrheit<br />
sagen. Doch dies möchte der <strong>Schatten</strong> unbedingt<br />
verhindern und zwingt sich selber zusätzlich<br />
zum Betrügen des gelehrten Mannes auch<br />
die Königstochter zu betrügen. „Der <strong>Schatten</strong><br />
muss also gegenüber der Prinzessin, die ihn ja<br />
bereits durchschaut hat, vorgeben, der gelehrte<br />
Mann sei sein <strong>Schatten</strong>.“ 21 Doch dem gelehrten<br />
Mann selbst kommt sein eigener <strong>Schatten</strong> in die<br />
Quere und lässt ihn am Ende umbringen.<br />
Der <strong>Schatten</strong>, der den niedrigsten Status der<br />
Gesellschaft entstammt, kämpft sich auf der<br />
sozialen Leiter nach oben und heiratet am<br />
Ende die Prinzessin. 22 „Die Lebensläufe des<br />
gelehrten Mannes und des <strong>Schatten</strong>s zeigen<br />
eine gegenläufige Bewegung [auf], denn während<br />
es für [den] Letzteren bergauf geht, geht<br />
es für den Ersteren bergab.“ 23 Dies kann man<br />
auch äußerlich sehr gut beobachten, denn<br />
während der <strong>Schatten</strong> immer dicker und dicker<br />
wird, nimmt der gelehrte Mann immer mehr<br />
ab und wird schließlich so dünn und abgemagert<br />
wie ein <strong>Schatten</strong>. Was auf den Umstand<br />
zurück zuführen ist, dass sich niemand mehr<br />
um sein Wissen bzw. um das was er zu sagen<br />
hat, kümmert, dies macht den gelehrten Mann<br />
krank und unglücklich. „Sicherlich sind auch<br />
Volksmärchen brutal und zynisch, doch das<br />
zentrale Strukturmotiv ist [immer] die Versöhnung<br />
von Gegensätzen des sozialen Status, des<br />
Alters oder des Geschlechts […].“ 24 Doch dies ist<br />
in diesem Fall nicht Andersens Anliegen, denn<br />
in diesem Text ist am Ende keine Versöhnung<br />
möglich und das Böse (der <strong>Schatten</strong>) gewinnt<br />
über dem Guten.<br />
Der <strong>Schatten</strong> hat traditionell gesehen eine doppelte<br />
Symbolik, die ich hier nun näher erläutern<br />
möchte. Zum einen hat der <strong>Schatten</strong> eine enge<br />
Verknüpfung mit dem Tod und ist traditionell<br />
eng verbunden mit der Seele eines Menschen.<br />
Aus diesem Grund bedeutet der Verlust des<br />
<strong>Schatten</strong>s kein vollständig, menschliches Wesen<br />
mehr zu sein. „Der <strong>Schatten</strong> ist Garant […]“ 25 für<br />
seine Existenz, denn er ist verbunden mit dem<br />
Licht. Gibt es kein Licht, so gibt es auch keinen<br />
<strong>Schatten</strong>, deshalb ist das Subjekt mit dem Licht<br />
d.h. dem Göttlichen verbunden. Aber dennoch<br />
gibt es auch die andere Seite, bei der das<br />
Subjekt genauso mit dem Dunkel verbunden<br />
ist. Dies spiegelt die unbewussten, ungezähmten<br />
und gefährlichen Kräfte im menschlichen<br />
Verstand wieder. Beide Seiten sind existentiell<br />
25<br />
bzw. Vorraussetzung für den <strong>Schatten</strong>, denn<br />
er kann nicht ohne Licht, aber auch nicht ohne<br />
<strong>Schatten</strong> existieren. 26<br />
Fazit<br />
„Der <strong>Schatten</strong>“ von Hans Christian Andersen<br />
ist kein traditioneller, sondern ein eher modern<br />
gehaltener Text. 27 Man erkennt hier deutlich,<br />
dass Andersen die Merkmale eines Volksmärchens<br />
bewusst einsetzt und sie dabei dreht,<br />
wendet und sogar ins Gegenteil umkehrt, ohne<br />
sie jedoch ernst zu nehmen. Er setzt dabei viel<br />
Ironie seinerseits ein, z.B. in der Darstellung der<br />
Beziehung zwischen <strong>Schatten</strong> und Königstochter,<br />
damit es überhaupt Wirkung zeigt.<br />
Die Hauptaussage dieses Märchens ist nicht<br />
die über das Wahre, das Schöne und das Gute<br />
in der Welt nachzudenken, sondern Andersen<br />
versucht die Menschen zum Nachdenken anzuregen<br />
sich für die Ideale der Welt einzusetzen.<br />
Denn dieser Text von Andersen macht deutlich,<br />
dass man auch mit Betrügerei in der Welt bzw.<br />
im Leben weiter kommen kann. 28 Er beschreibt<br />
dort eine manipulierte Welt, die von Ehrgeiz,<br />
Machtwillen und gewissenlosen Betrug<br />
beherrscht wird. Weiterhin zeigt er deutlich<br />
das individuelle Streben einer Person und das<br />
Verschaffen von eigenen Vorteilen, welches in<br />
diesem Text mit allen Mitteln durch den <strong>Schatten</strong><br />
versucht und auch geschafft wird.<br />
Diese übertriebene Darstellung des gelehrten<br />
Mannes mit seinem <strong>Schatten</strong>, bei der im Laufe<br />
der Geschichte der <strong>Schatten</strong> den Spieß umdreht<br />
und sich selber zum Herrscher macht,<br />
soll uns Leser auf unsere heutige Gesellschaft<br />
aufmerksam machen und zum Nachdenken<br />
anregen. Denn Andersen übt Kritik an unserer<br />
heutigen Gesellschaft, die er als „[…] anonym,<br />
sensationslüstern, schadenfroh und gutgläubig“<br />
29 darstellt.
<strong>Schatten</strong>-<br />
liebhaber<br />
27
Lea Schiemann<br />
<strong>Schatten</strong>liebhaber:<br />
Francisco de Goya<br />
Abbildung 1: „Blinde Kuh“<br />
Einleitung:<br />
Goya ein <strong>Schatten</strong>liebhaber ? Die Ausarbeitung<br />
ist zunächst eine Annäherung an verschiedene<br />
Lebensstationen Goyas anhand ausgewählter<br />
Bilder. Im folgenden Text werden einige biografische<br />
Punkte zusammengefasst und die dazu<br />
gehörenden Bilder dargestellt. Der Schlussteil<br />
beschäftigt sich dann wieder mit der Frage:<br />
Goya ein <strong>Schatten</strong>liebhaber?<br />
Nach heutiger Betrachtung zählt der am 30.<br />
März 1746 geborene Francisco José Goya<br />
zu den bedeutendsten Künstlern überhaupt.<br />
Geboren in dem kleinen Dorf Fuendetodos bei<br />
Saragossa verlebte er dort als Sohn eines Handwerkers<br />
seine Kindheit. Erst später zog er mit<br />
seiner Familie Nach Saragossa, wo er 4 Jahre<br />
lang die an ein Kloster angeschlossene Schule<br />
Escuelas besuchte. Mit 13 Jahren begann er<br />
eine Lehre bei dem Maler José Luzán. Erste<br />
Versuche eine Ausbildung an einer Akademie<br />
zu bekommen scheiterten. Im Jahr 1770 reiste<br />
er nach Italien, in der Hoffnung dort mehr<br />
Erfolg zu haben. Nur ein Jahr später kehre er<br />
nach Spanien zurück und bekam trotz schlechter<br />
Ausbildung einen großen Auftrag. Er schuf<br />
28<br />
Fresken für die Kathedrale Nuestra Senora del<br />
Pilar. So begann seine Karriere als Freskenmaler.<br />
1774 wurde Goya nach Madrid berufen um<br />
dort in der königlichen Teppichmanufaktur zu<br />
arbeiten. Hierbei stand er unter der Leitung von<br />
Francisco Bayeu. Die Entwürfe für die Wandteppiche<br />
waren in den meisten Fällen Ölgemälde,<br />
die anschließende möglichst genau von<br />
den Teppichwebern kopiert werden. Auf den<br />
Wandteppich waren in den meisten Fällen<br />
Szenen der aristokratischen spanischen Gesellschaft<br />
dargestellt. Hier zum Beispiel ist das Spiel<br />
blinde Kuh (Abb. 1). Ziel dieser Bilder war es die<br />
Erwartungen von Francisco Bayeu und somit<br />
seine eigene Stellung zu behaupten. Einen<br />
persönlichen Hintergrund hatten diese Bilder<br />
nicht. In erster Linie waren sie Auftragsarbeiten,<br />
die einen dekorativen Zweck erfüllten. Goya<br />
konnte durch diese Arbeit seinen Lebensunterhalt<br />
finanzieren. In zweiter Linie dienten die<br />
Wandteppiche der Isolation der Palastwände.<br />
Doch die Teppichmanufaktur hatte auch ihre<br />
Vorteile. Durch seine Arbeit konnte er Kontakte<br />
zum spanischen Hof knüpfen und wurde<br />
1780 Mitglied der königlichen Akademie San<br />
Fernando. 5 Jahre später gab man ihm den
Abb. 2, Die Familie Karls IV<br />
1800/ 01 280x336cm; Prado<br />
Abb. 3 und 4, „Die bekleidete Maja“ 1798-1805,<br />
„Die nackte Maja“ 1798-1805.<br />
Posten als stellvertretender Leiter der Malklasse.<br />
Das spanische Königshaus war von seinen<br />
Arbeiten begeistert und er wurde zum angesehenen<br />
Porträtmaler was ihm erst den Titel<br />
„Kammermaler „ und anschließend „ Hofmaler<br />
des Königs) brachte. Jetzt war es seine Aufgabe<br />
zahlreiche Porträts der Familie mit all ihren<br />
Besitztümer (Kleider und Schmuck) anzu<strong>fertige</strong>n.<br />
Das Gemälde „Die Familie Karls IV“<br />
beispielsweise ist geprägt von Kontrasten. Zum<br />
einen besteht sie auf das äußere Gehabe der<br />
Personen, aber auf der anderen Seite strahlt es<br />
auch eine starke familiäre Intimität aus. Rechts<br />
im Bild wird die Infantin Maria Luisa Josefina<br />
gezeigt, die gegen aller Förmlichkeit mit ihrem<br />
Baby abgebildet ist. Links hinten im Bild hat sich<br />
Goya selbst gemalt. Durch die Position seines<br />
Selbstbildes macht er die Hierarchie deutlich.<br />
Goya galt als großartiger Beobachter. Er stellte<br />
Alltagsszenen so dar, wie sonst keiner vor ihm.<br />
Im Gegensatz zu andern Malern hat Goya seine<br />
Modelle auch nie verschönt dargestellt. Infantin<br />
Maria Josefa (links im Bild) wird beispielsweise<br />
rea<strong>lit</strong>ätsnah dargestellt. Mit ihrem Federhaarschmuck<br />
erscheint sie lächerlich und auch ihre<br />
Gesichtszüge erinnern an einen Vogel (Abb. 2).<br />
Doch er vergaß auch das einfache Volk nicht,<br />
was eventuell auf seine einfache Herkunft<br />
zurück zu führen ist. Goya war ein begeisterter<br />
Beobachter. Seine Umwelt nahm er sehr<br />
genau wahr und stellte sie auch unverschönt<br />
dar. Während seiner Zeit am spanischen Hof<br />
musste dies natürlich im Rahmen bleiben. Aber<br />
bei genauen Betrachtungen seiner Bilder stellte<br />
er im Gegensatz zu seinen Künstlerkollegen<br />
seine porträtierten Personen so naturalistisch<br />
wie möglich dar. Er zeigt nicht nur die Stärken,<br />
sondern auch die Schwächen (<strong>Schatten</strong>seite)<br />
zum Beispiel bezüglich des Aussehens. Des<br />
Weiteren bezieht er auch die andere Seite des<br />
Menschen mit ein, was bei Königsbildern seiner<br />
Zeit reichlich untypisch war. „So verzichtet<br />
etwa die Darstellung der Infantin María Luisa<br />
Josefina auf repräsentative Förmlichkeit- sie<br />
wird mit ihrem Baby gezeigt.“ (Wright, Patricia:<br />
Goya- …. Seite 35)Zu seinen Motiven gehörten<br />
des Weiteren ebenso Handwerker, Arbeiter<br />
und Opfer der Armut. Er nahm auch den<br />
bürgerlichen Alltag mit all einen Schwierigkeiten<br />
war und skizzierte auch diese Szenen. Das<br />
Goya ein sehr vielseitiger Künstler war zeigte<br />
seine bekannten „Maja-Bilder“. Zum einen die<br />
bekleidete und die nackte Maja (Abb. 3 und 4).<br />
29<br />
1798 gab Manuel Godoy bei Goya einen Akt in<br />
Auftrag. Dies war eine heikle Sache, da zu der<br />
Zeit Aktporträts äußerst unüblich waren und als<br />
obszön galten. Darüber hinaus war „ die nackte<br />
Maja“ das erste Aktbild in der spanischen Kunst<br />
auf dem Schamhaar zu sehen war, welches<br />
den Skandal nur noch steigerte. Lange wurde<br />
darüber gemunkelt wer denn nun diese nackte<br />
Frau sei. Es wurde vermutet, dass die Herzogin<br />
von Alba Modell gewesen wäre. Nachträglich<br />
geht man davon aus, dass es sich bei der Dame<br />
um Pepita Tudó gehandelt hat, die Geliebte Godoys.<br />
Dieses Gemälde brachte Goya um 1800<br />
vor die Inquisition, da der spanische Klerus es<br />
als skandalös und unzüchtig bezeichnete. Kurz<br />
nach der Entstehung „der nackten Maja“ malte<br />
Goya „die bekleidete Maja“. Beide Gemälde<br />
durch ein Scharnier miteinander verbunden,<br />
welches durch einen Zugmechanismus mal<br />
das eine und mal das andere Bild zeigte. So<br />
blieb die nackte Maja den engeren Freunden<br />
Godoys vorbehalten.<br />
Eine besondere Sammlung von Radierungen<br />
begann im Jahr unter dem Titel „Los Caprichos“<br />
Abb. 5, „Bis zu seinem Großvater“
Abb. 6, Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer<br />
(Launen, Einfälle). Goya vermischt bei diesen<br />
Bildern Phantasie und Wirklichkeit. Satire und<br />
Karikatur, die Waffe der liberalen Intellektuellen,<br />
durchziehen diese Blätter und erregen<br />
extreme Gefühle, zu denen auch Angst und<br />
Entsetzen gehören (Sarah Carr- Gomm: Goya,<br />
Seite 148), Häufig können Goyas Bilder nicht<br />
eindeutig gedeutet werden. Dennoch sind sie<br />
in den meisten Fällen mit Sprichwörtern oder<br />
Titeln unterlegt. Diese, so vermutet man, sind<br />
allerdings er nachträglich beschriftet worden<br />
und tragen teilweise nicht zur Deutung des<br />
Bildes bei, sondern verrätseln sie zusätzlich.<br />
Goya unterteilte auch innerhalb der Caprichos<br />
seine Bilder noch einmal. So entstand beispielsweise<br />
die „Eselfolge“, wo er anhand von Eseln<br />
das Volk oder bestimmte Personen des öffentlichen<br />
Geschehens darstellt und sie durch die<br />
Art und Weise ins Lächerliche zieht. Hierbei<br />
setzt er sich kritisch mit Erziehung, Prostitution,<br />
Aberglaube und den Ehesitten seiner Zeit<br />
auseinander (Abb. 5). Das bekannteste und<br />
programmatischste Bild der „Caprichos“ kreierte<br />
Goya 1797/98 unter dem Titel „El sueno de<br />
la razon produce monstruos“, was übersetzt<br />
bedeutet: Der Schlaf der Vernunft gebiert<br />
Ungeheuer (Abb. 6). Goya setzte dies zu der<br />
Reihe „suenos“ (Träume), innerhalb der Caprichos.<br />
Er selbst sprach häufig davon, dass die<br />
Geister oder Monster häufig in seinen Träumen<br />
auftauchten und er sie anschließend zeichnete.<br />
Zu ihm waren seine Geister stets freundlich<br />
und er stellte häufig auf seinen Bildern die von<br />
dem Volk gefürchtete <strong>Schatten</strong>welt dar. Daher<br />
kann man ihm auch die Bezeichnung „<strong>Schatten</strong>liebhaber“<br />
zuordnen. Goya tauschte Gut<br />
30<br />
und Böse. Er zeigt zum einen die so angebliche<br />
prunkvolle Welt der Monarchie, überzieht diese<br />
aber mit einem <strong>Schatten</strong>, indem er Bilder „daneben<br />
stellt“, welche die tatsächliche Rea<strong>lit</strong>ät<br />
der damaligen Zeit widerspiegeln. In seiner<br />
Taubheit gefangen nimmt er diese viel deutlicher<br />
wahr und bildet sein Urteil. Welche Rolle<br />
die Monster oder die Wesen der <strong>Schatten</strong>welt<br />
in seinem Leben gespiegelt haben ist fragwürdig,<br />
dennoch kann man versuchen auch sein<br />
Werk „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer<br />
„ zu deuten. Hierbei ist zu wissen, dass<br />
es eines der wenigen Bilder ist, welches von<br />
schon bei der Entstehung einen Titel trug. Ob<br />
der Titel allerdings den Hintergrund des Bildes<br />
darstellt ist allerdings zu bezweifeln. Bei „Der<br />
Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ geht<br />
man allerdings von parallelen zwischen Titel<br />
und Bild aus. Die Zeichnung zeigt den Künstler,<br />
der während der Arbeit eingeschlafen ist<br />
und seinen Kopf auf den Tisch gestützt hat. Er<br />
ist dabei seinen Träumen ausgeliefert und im<br />
Hintergrund des Bildes tauchen die Wesen aus<br />
der Unterwelt auf. Man bekommt das Gefühl<br />
als würde der Künstler von der <strong>Schatten</strong>welt<br />
überrannt werden und kann sich nur durch<br />
Aufwachen daraus befreien. Die Nachtvögel<br />
signalisieren hierbei Ignoranz und Aberglaube.<br />
„Der Traum ist die Inspirationsquelle des Künstlers<br />
und zugleich sein Mittel, in den Schwächen<br />
der Menschen die Wahrheit zu entdecken.“<br />
(Gäßler, Walter: Francisco de Goya, Seite 66).<br />
Eine besondere Serie Goyas begann im Jahre<br />
1810. In diesem Jahr besetzte Napoleon große<br />
Teile Spaniens und für das spanische Volk begann<br />
eine Zeit des Schreckens. Goya der Meister<br />
der Beobachtung dokumentierte in seinen<br />
Zeichnungen die Gräueltaten und es entstand<br />
die Serie „Los Desastres de la Guerra„ (Die<br />
Schrecken des Krieges). Goya zeigte auf seinen<br />
Bildern „ (…) weder besondere Schlachten oder<br />
Ruinen noch die patriotischen Taten einzelner<br />
Helden, sondern das schreckliche Leid, das<br />
Menschen sich gegenseitig antun. Goya greift<br />
dabei auf die Ereignisse zurück, deren Zeuge<br />
er auf seiner Reise von und nach Saragossa<br />
gewesen war, seine visuelle Kraft ist durch<br />
seine Taubheit nun zweifellos noch stärker ausgeprägt.“<br />
(Sarah Carr- Gomm: Goya, Seite 130)<br />
Goya verschönte keine dieser Erinnerungen<br />
auf seinen Bildern und so waren Verwundete,<br />
Leichenberge und sinnloses Töten seine Motive.<br />
Zum Entsetzen der Regierung zeigt Goya<br />
die bewusst „<strong>Schatten</strong>seite“ des gesellschaftlichen<br />
Lebens seiner Zeit. Daher war es nicht<br />
verwunderlich, dass diese Radierungen erst<br />
wesentlich später veröffentlicht wurden. Ein<br />
recht bekanntes und gleichzeitig sehr aufwühlendes<br />
Werk, ist das Bild mit dem Titel „Grande<br />
Hazaña! Con muertos!“ (Eine große Heldentat!<br />
Mit Toten!). Goya verstärkt mit seinen sarkastischen<br />
Bemerkungen, wie dem Titel des Bildes,<br />
den Anblick seiner Bilder. Auf diesem Bild ist im<br />
Vordergrund ein nackter Mann zu sehen, gefesselt<br />
an einen Baum. Sein Kopf ist geneigt. Man
Literatur<br />
Wright, Patricia; Goya- Eine<br />
faszinierende Entdeckungs<br />
reise durch die Welt des<br />
Künstlers,<br />
Zürich, 1994<br />
Carr-Gomm, Sarah; „Goya“,<br />
2000 Parkstone Verlag<br />
Gassier Pierre; „Francisco de<br />
Goya“, 1983 Arena Verlag<br />
Georg Popp<br />
Abbildungen<br />
„Fresco“ ; www.zelos.zeit.<br />
de/.../2003/33/<strong>lit</strong>eratur/<br />
goya_300.gif<br />
„Blinde Kuh“;<br />
Guillaud,Jaqueline undMau<br />
rice: Goya- Die phantasti<br />
schen Visionen, Abb. 38<br />
,Seite 45<br />
„Die nackte Maja“;<br />
Guillaud,Jaqueline undMau<br />
rice: Goya- Die phantasti<br />
schen Visionen, Abb. 44<br />
,Seite 51<br />
„Die bekleidete Maja“;<br />
Guillaud,Jaqueline undMau<br />
rice: Goya- Die phantasti<br />
schen Visionen, Abb. 43<br />
,Seite 51<br />
„Bis zu seinem Großvater“;<br />
Aquatinta, 1797/98<br />
Bildgröße: 200x138 mm, Los<br />
Caprichos 39<br />
„Der Schaf der Vernunft ge<br />
biert Ungeheuer“<br />
Radierung und Aquatinta,<br />
1797/98, Bildgröße:<br />
181x121 mm, Los Caprichos<br />
43<br />
www.wga.hu/art/g/<br />
goya/4/408goya.jpg<br />
kann nicht erkennen, ob er überhaupt noch<br />
lebt. Rechts neben ihm hängt ein verstümmelter<br />
Köper. Kopf und Arm sind abgetrennt und<br />
ebenfalls an den Baum gebunden, bzw. der<br />
Kopf aufgespießt. Links im Hintergrund ist ein<br />
dritter Mann erkennbar. Ebenfalls nackt und an<br />
den Baum gefesselt. Beim Anblick dieses Bildes<br />
lässt sich leicht erahnen welchen Qualen die<br />
Männer vor ihrem Tod ausgesetzt waren. Goya<br />
dokumentiert auf eine drastische Art und Weise<br />
seine Erfahrungen und Erinnerungen dieser<br />
Zeit, wie kaum ein anderer Künstler. Somit<br />
liefert er auch wichtiges Beweismaterial für<br />
die Geschichte, welches vielleicht so nicht ans<br />
Tageslicht gekommen wäre. Goya stellt somit<br />
in seinen Werken Licht und <strong>Schatten</strong> gegenüber.<br />
Seine Bilder stehen im starken Kontrast<br />
zueinander. Im Vordergrund die prunkvollen<br />
Gemälde der Königsfamilie und leicht in den<br />
Hintergrund gerückt, die Greueltaten unter der<br />
napoleonischen Herrschaft.<br />
Goya ein <strong>Schatten</strong>liebhaber?<br />
Diese Frage habe ich mir vor und während der<br />
Arbeit häufig gestellt. Zu Beginn der Arbeit sah<br />
ich die verschiedenen Perioden und Kunstwerke<br />
im starken Kontrast zueinander. Bei der ersten<br />
Betrachtung von „Der Schlaf der Vernunft<br />
gebiert Ungeheuer“ war ich etwas abgeschreckt,<br />
die dunklen Farben und die Monster<br />
erzeugten bei mir das Gefühl der Ablehnung.<br />
Doch bei weiteren Betrachtungen und beim<br />
Lesen Goyas Biographien stellte ich fest, dass<br />
dem nicht so war. Goya sah die <strong>Schatten</strong>welt<br />
der Phantasie als ein Teil seiner Person. Er hat<br />
keine Angst gegenüber den Monstern gezeigt,<br />
sondern sie hingenommen, als ein Teil seiner<br />
Rea<strong>lit</strong>ät. Dies diente wahrscheinlich auch zur<br />
Verarbeitung der „wahren“ Rea<strong>lit</strong>ät. So taucht<br />
in seinem Werk die Frage nach der „Wahrheit“<br />
der Bilder sehr wohl auf, das Gegenüber von<br />
Farbe und Licht in der Malerei und dessen<br />
Fehlen in den Radierungen stehen für künstlerische<br />
Arbeiten, in denen sehr wohl der <strong>Schatten</strong><br />
zu sehen ist.<br />
31<br />
„Los Desastres“ de Goya<br />
(Pag.16)Aquel mural era el resultado final de<br />
todo ello ...
Lena Köhler<br />
<strong>Schatten</strong>liebhaber:<br />
René Magritte und<br />
Francis Bacon<br />
Abb. 1: René Magritte: “Ceci n´est pas une pipe.”, 1928-1929, Maße: 59x80 cm<br />
Abb. 6: Francis Bacon: „Mann mit Hund.“, 1953, Maße: 152,5x117 cm<br />
Abb. 2: René Magritte: „Das<br />
Reich der Lichter“, 1950, Maße:<br />
79x99 cm<br />
Abb. 3: René Magritte: „Der<br />
Salon Gottes.“, 1958, Maße:<br />
43x59 cm<br />
René Magritte<br />
René Magritte ist am 21. November 1898 in Belgien<br />
geboren und zählt mit zu den wichtigsten<br />
Vertretern des belgischen Surrealismus.<br />
„Die Hauptaufgabe des Surrealismus war es,<br />
herkömmliche Erfahrungs-, Denk- und Sehgewohnheiten,<br />
zu erschüttern und Wirklichkeit<br />
mit Traum zu vermischen.“ (Torczyner, 1977.).<br />
Magritte stellte die Wirklichkeit, die wir wahrnehmen,<br />
in Frage und macht uns bewusst, dass<br />
bloße Abbilder keinesfalls dem ursprünglich<br />
realen Gegenstand entsprechen, ähneln sie<br />
diesem auch noch so stark. So schreibt er unter<br />
eine gemalte Pfeife „Ceci n`est pas une pipe“<br />
(„Dies ist keine Pfeife“; Abb. 1). Seine nüchterne<br />
und sachliche Art des Zeichnens und Malens<br />
ist eines seiner Markenzeichen und lässt die<br />
gemalten Gegenstände sehr real und naturgetreu<br />
erscheinen, ebenso als könne man sie<br />
anfassen und aus dem Bild entfernen. Aber<br />
dieses ist nicht der Fall. Magritte stellt unser<br />
Sehen in Frage, die Pfeife auf dem Bild sieht<br />
zwar aus wie eine, aber dennoch ist sie keine,<br />
sie ist nur das Abbild einer Pfeife. Man kann sie<br />
eben nicht anfassen und sie dient auch nicht<br />
ihrem eigentlichen Sinn des Tabakrauchens. Sie<br />
ist zweckentfremdet und nur noch als Abbild<br />
zu sehen, doch unser Auge und unsere Sehgewohnheiten<br />
täuschen uns, wir registrieren<br />
„Pfeife“, weil wir sie als solche identifizieren.<br />
32<br />
Über diese Infragestellung des Gegenstandes<br />
hinaus stellt Magritte ungewohnte Zusammenstellungen<br />
und Anordnungen von Gegenständen<br />
in seinen Bildern her. Hierfür lassen sich<br />
viele Beispiele finden, doch aufgrund unseres<br />
Themas „<strong>Schatten</strong>“ entschied ich mich bei<br />
unserem Referat für zwei Bilder aus der Reihe<br />
„Reich der Lichter“ (Abb. 2 und 3). „Reich der<br />
Lichter“ zeigt eine Stadt bzw. Straße bei Nacht,<br />
denn die Häuser sind nur noch als Silhouetten<br />
mit erleuchteten Fenstern zu erkennen und<br />
eine Straßenlampe erhellt die Dunkelheit vor<br />
den Häusern ein wenig. Der Himmel dagegen<br />
spiegelt einen sonnigen Tag wieder.<br />
Magritte abstrahiert hierbei die Gegenstände<br />
selber nicht weiter, sondern gibt sie exakt so<br />
wieder, wie wir gewöhnt sind sie zu sehen.<br />
Jedoch bringt seine Kombination von Himmel<br />
und Erde bzw. Tag und Nacht den Betrachter<br />
in Staunen und stiftet Verwirrung. Da beides<br />
nicht gleichzeitig auftreten kann, fragt man<br />
sich, was ist nun Rea<strong>lit</strong>ät und was ist Illusion.<br />
Doch auch diese Überlegung ist irreführend,<br />
da es sehr wohl Situationen an sonnenreichen<br />
Tagen gibt, die eine Silhouettierung der Bäume<br />
vor einem strahlenden Himmel ermöglichen.<br />
Unsere Wahrnehmung vermag den Kontrastumfang<br />
jedoch nicht aufzulösen. Insofern lässt<br />
sich dieses Bild nicht eindeutig als „unwirklich“<br />
beschreiben.
Abb. 4: René Magritte: „Die<br />
unmögliche Reproduktion.“<br />
1937-1939, Maße: 81,3x65 cm<br />
Abb. 5: René Magritte: „Das<br />
Prinzip der Unsicherheit“<br />
1944, Maße: 65x51 cm<br />
In einem anderen Werk, „Der Salon Gottes“<br />
von 1958 versucht er die umgekehrte Wirkung<br />
durch einen Nachthimmel gekoppelt mit<br />
sonniger Landschaft zu erzeugen. Hierzu findet<br />
sich ein Zitat von Ihm selber: „Ich kann mir eine<br />
besonnte Landschaft unter nächtlichem Himmel<br />
denken, sie aber zu sehen und in Malerei<br />
umzusetzen: nur einem Gott ist das möglich. In<br />
der Erwartung, einer zu werden, lasse ich das<br />
Projekt fallen…“ (Torczyner, 1977, S. 179). In<br />
der Tat lässt sich der Widerspruch nicht lösen<br />
- unsere Seherfahrung findet kein Äquivalent,<br />
auch nicht teilweise, für die dargestellte Situation.<br />
„Die unmögliche Reproduktion“ (Abb. 4) zeigt<br />
einen Mann in Rückenansicht, der schräg vor<br />
einem Spiegel steht. Entgegen der erwarteten<br />
Ansicht erblickt man im Spiegel dieselbe<br />
Rückenansicht und nicht die Vorderansicht von<br />
ihm. Magrittes Malstil ist hier auch wieder sehr<br />
sachlich und naturalistisch. Uns beunruhigt jedoch<br />
die falsche Spiegelansicht, wir können das<br />
Gesicht des Mannes nicht sehen. Magritte gibt<br />
seinen Bildern eine innere Spannung durch das<br />
Fehlen von Deutungsansätzen. Nach Magritte<br />
sind seine Arbeiten erst dann erfolgreich, wenn<br />
keine Erklärung die Neugierde des Betrachters<br />
befriedigen kann. Die innere Unruhe ist ebenfalls<br />
notwendig, um zum Denken angeregt<br />
zu werden. „Wer in der Malerei nur das sucht,<br />
was er zu finden wünscht, wird niemals etwas<br />
finden, dass über seinen Wunsch hinausgeht.<br />
Wenn aber jemand einmal vom Geheimnis<br />
eines Bildes, das sich jeder Erklärung widersetzt,<br />
eingefangen wird, kann zuweilen ein Augenblick<br />
der Panik eintreten. Diese Augenblicke der<br />
Panik sind es, die für Magritte zählen. Für ihn<br />
sind sie die besten, weil sie aus dem Mittelmäßigen<br />
hinausführen.“ (Gablik, 1971, S.10.). Deutlich<br />
wird hierbei bereits, dass Magritte keine<br />
Interpretation seines Bildes haben möchte, so<br />
dass man zu einem abschließenden Ergebnis<br />
kommt, vielmehr soll man rätseln ohne zu<br />
einem Ende oder einer Lösung zu gelangen<br />
und die Neugierde des Betrachters soll nicht<br />
verloren gehen (siehe oben).<br />
Auf dem Bild „Das Prinzip der Unsicherheit“<br />
(Abb. 5) von 1944 sieht man eine Frau, die vor<br />
einer Wand steht und stark angeleuchtet wird.<br />
Ein Vorhang verstärkt die Bühnensituatuion.<br />
Doch an Stelle ihres eigenen <strong>Schatten</strong>s wirft sie<br />
den eines Vogels mit ausgebreiteten Flügeln<br />
an die Wand. Magritte entfremdet die Situation<br />
erneut mit „einfachsten“ Mitteln. Seine naturalistische<br />
Malweise macht uns die abgebildeten<br />
Gegenstände sehr vertraut. Man muss sich nun<br />
entscheiden: ist entweder die Frau real und der<br />
<strong>Schatten</strong> Illusion, oder ist es doch umgekehrt.<br />
Natürlich meint Magritte damit auch die „echte“<br />
Umwelt. Stellt man sich hier die Frage, gelangt<br />
man zu Überlegungen nach Manipulation und<br />
Rea<strong>lit</strong>ät. In diesem Fall macht uns die gezeigte<br />
Bühnensituation den Gegenstand jedoch<br />
scheinbar einfach. Das Prinzip der Unsicherheit<br />
33<br />
zwischen Körper, Körpergefühl, Abbild und Betrachterposition<br />
kann nicht aufgelöst werden.<br />
Bezogen auf den <strong>Schatten</strong> ist in weiterem Sinne<br />
dessen Nicht-Rea<strong>lit</strong>ät fe4stzuhalten, denn man<br />
kann ihn nicht wie den Gegenstand, von dem<br />
er ausgeht, anfassen und benutzen. Weiter<br />
existiert er nur in Verbindung mit dem Gegenstand<br />
und einer Lichtquelle und kann manipuliert<br />
werden, indem man diese Lichtquelle<br />
verändert. Der <strong>Schatten</strong> kann andere Formen<br />
und Gestalten annehmen, indem man z. B. den<br />
Lichteinfall variiert (bei tragbarer Lichtquelle)<br />
und somit den <strong>Schatten</strong> „streckt“ oder „kürzt“<br />
und weiter kann man den Gegenstand selber<br />
in einem anderen Winkel dem Licht aussetzen<br />
(vergleiche <strong>Schatten</strong>spiel mit den Fingern).<br />
Magrittes Bilder sind ähnlich zu lesen. Seine<br />
Abbilder sind ebenfalls nicht real, sie bilden einen<br />
Gegenstand nach aber sind nicht identisch<br />
mit dem Original, denn auch das Abbild kann<br />
man nicht anfassen und benutzen, gleich dem<br />
<strong>Schatten</strong>. Sie sind unerreichbar für uns und<br />
Magritte manipuliert sie weiter, nicht durch<br />
eine Lichtquelle, aber durch seine Anordnung<br />
im Bild. Bezogen auf Plinius und dem „Mythos<br />
von der Erfindung der Malerei“ stellt Magritte<br />
ebenfalls die Frage nach dem Ursprung des<br />
Abbildes, handelt es sich doch auch hier um die<br />
zweidimensionale Abbildung eines<br />
dreidimensionalen Vorganges.<br />
Francis Bacon<br />
Francis Bacon ist am 28. Oktober 1898 in<br />
Belgien geboren. Er hat vor allem großformatige<br />
Ölgemälde hergestellt, die in Goldrahmen<br />
hinter Glas präsentiert werden. Finden sich bei<br />
Magritte noch realistische Darstellungen der<br />
Gegenstände sind diese bei Bacon undeutlich,<br />
bizarr und verschwommen. Er manipuliert den<br />
Raum, indem er ihn meist stark einschränkt<br />
und das Gefühl erzeugt es existieren mehrere<br />
Räume gleichzeitig, die ähnlich der Figuren,<br />
miteinander verbunden sind und sich im selben<br />
Atemzug duellieren. Den größten Einfluss auf<br />
sein Werk hatte wohl die Fotografie, wobei<br />
Bacons Interesse hier in der Bewegung liegt,<br />
insbesondere der Bewegung des Menschen.<br />
Wie in einem Filmabspann isoliert er die<br />
einzelnen Bewegungen, doch entgegen der<br />
aufeinander folgenden Bilder im Film setzte er<br />
sie übereinander und lässt sie zu etwas Neuem<br />
zusammenfließen, wobei er zum Teil einzelne<br />
Sequenzen einer Bewegung weglässt. „Diese<br />
Gleichzeitigkeit der eigentlich nacheinander<br />
vollzogenen Bewegungen konfrontiert den<br />
Betrachter mit einem unlösbaren Widerspruch,<br />
woraus Irritation erfolgt.“ (Schmied, 1985. S.<br />
50/51.).<br />
Die Bewegung innerhalb der Bildern steht für<br />
das menschliche Leben und dessen Spuren, die<br />
hinterlassen werden, Bacon nennt es Erinnerungsspur.<br />
„Ich möchte, dass meine Bilder<br />
so aussehen, als sei ein menschliches Wesen<br />
durch sie hindurchgegangen, wie eine Schne-
Abb. 7: Francis Bacon: „Triptychon von 1972“, Maße: je Tafel 198x147,5 cm<br />
Literatur<br />
Deleuze, Gilles: Francis Bacon<br />
– Logik der Sensation.<br />
München 1995.<br />
Gablik, Suzi: Magritte.<br />
München, Wien, Zürich,<br />
1971.<br />
Hammacher, A. M.: René<br />
Magritte. New York 1985.<br />
Leiris, Michael: Francis Bacon.<br />
Full face and in profile.<br />
Oxford, 1983.<br />
Schmied, Wieland: Francis<br />
Bacon – Vier Studien zu<br />
einem Porträt. Berlin, 1985<br />
Schneider, Helmut: Francis<br />
Bacon. Meine Bilder.<br />
München 1983.<br />
Staatsgalerie Stuttgart und<br />
Nationalgalerie Berlin<br />
(Herausgeber): Francis<br />
Bacon, 1985.<br />
Torczyner, Harry: René<br />
Magritte: Zeichen und<br />
Bilder. DuMont, 1977.<br />
cke, eine Spur von menschlicher Anwesenheit<br />
und die Erinnerung an vergangene Ereignisse<br />
zurücklassend, so wie die Schnecke ihrem<br />
Schleim zurücklässt.“ (Schmied, 1985, S. 49).<br />
Durch die Bewegung werden wir weiter auf<br />
die Vergänglichkeit des Menschen hingewiesen.<br />
Bewegung und Verletzbarkeit liegen dicht<br />
beieinander. Dargestellt wird diese Wirkung<br />
durch das Unscharfe, bzw. das Verwischte in<br />
Bacons Bildern, welches er mit nachträglich gezogenen<br />
Pinselhieben oder durch verwischen<br />
mit einem Wischlappen erzeugt. Die Unschärfe<br />
entfremdet das Dargestellte und wirft es in ein<br />
anderes, animalisches Licht. Wir können und<br />
wollen zum Teil keine menschlichen Gestalten<br />
in seinen Werken erkennen. In seinen Werken<br />
tauchen häufig Tod und Schmerz auf, oftmals<br />
repräsentiert und verstärkt durch Tierkadaver<br />
im Hintergrund. Hierfür besuchte er Schlachthäuser<br />
und schien geradezu fasziniert von<br />
ihnen zu sein. Bacon gilt als ein Künstler, der<br />
stark von Gewalttätigkeit angezogen schien<br />
und schon seine Kreuzigungsdarstellungen<br />
erinnerten weniger an das Leiden Jesu als<br />
Erlöser, als an eine anschauliche Peinigung<br />
eines Menschen, der andere Leute beiwohnten<br />
und zuschauen. Hierbei unterschied er nicht<br />
immer zwischen Mensch und Tier. Er stellte einmal<br />
fest: „Wir sind ja schließlich selbst Fleisch,<br />
potentielle Kadaver. Jedes Mal, wenn ich einen<br />
Fleischladen betrete, bin ich in Gedanken überrascht,<br />
dass ich nicht dort an Stelle des Tieres<br />
hänge.“ (Wieland, 1985. S. 64). In „Mann mit<br />
Hund“ (Abb. 6) (wobei man den Titel eventuell<br />
umdrehen müsste, es stellt sich die Frage, wer<br />
hier mit wem spazieren geht), ist der Hund ist<br />
noch gut sicht- und erkennbar, der Mann ist<br />
jedoch nur noch ein <strong>Schatten</strong> seiner selbst. Er<br />
lässt sich eher erahnen, als dass er wirklich zu<br />
erkennen ist. Die angeschnittene Figur legt die<br />
Vorstellung nahe, dass nur noch ein paar Minu-<br />
34<br />
ten vergehen müssten, damit er verschwunden<br />
wäre, verblasst, vom <strong>Schatten</strong> zum Nichts.<br />
Bacon erreicht in seinen Bildern eine mehrdimensionale<br />
Zeit. Zum einen wird das Gefühl<br />
einer Momentaufnahme erzeugt, der man<br />
beiwohnt, zum anderen stellt er einen Bewegungsablauf<br />
dar, der in Gedanken weitergeführt<br />
werden kann. Die Personen oder Wesen<br />
scheinen sich weiterzuentwickeln, allein durch<br />
ihre eigene Darstellung, innerhalb eigener Zeit-<br />
und Raumgesetze.<br />
Im Triptychon von 1972 (Abb. 7) ist in der Mitte<br />
ein Liebesakt in fast tödlicher Umarmung, geradezu<br />
Verschlingung, zu sehen, denen jeweils<br />
auf dem linken und rechten Flügel eine Figur<br />
beiwohnt, die aber kein Interesse an ihnen<br />
zeigen und wegschauen.<br />
Zu Recht kann die Frage gestellt werden, ob<br />
diese „fleischfarbenen Ausflüsse“ noch als<br />
<strong>Schatten</strong> gehandelt werden kann. John Russel<br />
fand für sie einmal eine passende Bezeichnung.<br />
„Er sprach von schmelzenden Kerzen, die in ihr<br />
eigenes Wachs hineinrinnen. Formlos wie ausgeronnenes<br />
Wachs – so sehen diese <strong>Schatten</strong><br />
aus. Das auslaufende Leben klebt fest auf dem<br />
Boden des Bildes.“ (Schmied, 1985. S. 67/68.).<br />
Sind sie fest verbunden mit der jeweiligen<br />
Figur, entsprechen sie jedoch nicht deren<br />
Konturen, bzw. Umrissen. Sie sehen selbst aus<br />
wie Fleisch und bekommen dadurch einen Eigenwert<br />
oder auch ein Eigenleben. Sie können<br />
in Anlehnung an den „Kerzenvergleich“ als<br />
„auslaufendes Leben“ bezeichnet werden. Auf<br />
dem Leben zum Tod hin (siehe oben) wird man<br />
immer „weniger“ Person und immer „mehr“<br />
<strong>Schatten</strong>.<br />
„Bacon hat oft gesagt, dass im Bereich der<br />
Figuren der <strong>Schatten</strong> genauso viel Gegenwart<br />
hatte wie der Körper; aber der <strong>Schatten</strong> erlangt<br />
diese Gegenwart nur, weil er sich dem Körper<br />
entwindet, er ist der Körper, der durch diesen
Abbildungen<br />
René Magritte: “Ceci n´est pas<br />
une pipe.” 1928-1929,<br />
Maße: 59x80 cm (aus: Torc<br />
zyner, Harry: René Magritte:<br />
Zeichen und Bilder. DuMont<br />
Buchverlag Köln, 1977. Seite<br />
119. Tafel 206.)<br />
RenéMagritte: „Das Reich der<br />
Lichter“ 1950, Maße: 79x99<br />
cm<br />
(aus: Torczyner, Harry: René<br />
Magritte: Zeichen und Bil<br />
der. DuMont Buchverlag<br />
Köln, 1977. Seite 177. Tafel<br />
382.)<br />
René Magritte: „Der Salon Got<br />
tes.“ 1958, Maße: 43x59 cm<br />
(aus: Torczyner, Harry: René<br />
Magritte: Zeichen und Bil<br />
der. DuMont Buchverlag<br />
Köln, 1977. Seite 181. Tafel<br />
391.)<br />
RenéMagritte: „Die unmögliche<br />
Reproduktion.“ 1937-1939,<br />
Maße: 81,3x65 cm (aus:<br />
Torczyner, Harry: René<br />
Magritte: Zeichen und Bil<br />
der. DuMont Buchverlag<br />
Köln, 1977. Seite 55. Tafel<br />
74.)<br />
René Magritte: „Das Prinzip<br />
der Unsicherheit“ 1944,<br />
Maße: 65x51 cm (aus: Torc<br />
zyner, Harry: René Magritte:<br />
Zeichen und Bilder. DuMont<br />
Buchverlag Köln, 1977. Seite<br />
159. Tafel 326.)<br />
Francis Bacon: „Mann<br />
mit Hund.“, 1953, Maße:<br />
152,5x117 cm, (aus: Schnei<br />
der, Helmut: Francis Bacon.<br />
Meine Bilder. Prestel Verlag,<br />
München 1983. Tafel 12.)<br />
Francis Bacon: „Triptychon von<br />
1972“, Maße: 198x147,5<br />
cm, (aus: Leiris, Michael:<br />
Francis Bacon. Full face<br />
and in profile. Phaidon Ver<br />
lag, Oxford 1983. Tafel 89.)<br />
Francis Bacon: „Kopf I“, 1948,<br />
Maße: 103x75 cm<br />
(aus: Schneider, Helmut:<br />
Francis Bacon. Meine Bilder.<br />
Prestel Verlag, München<br />
1983. Tafel 51.)<br />
oder jenen auf der Kontur lokalisierten Punkt<br />
entwichen ist.“ (Deleuze, 1995. S. 17).<br />
Neben dem Aspekt des „fleischgewordenen“<br />
<strong>Schatten</strong>s gibt es bei Bacon noch seine Figuren,<br />
die nur noch ein <strong>Schatten</strong> eines menschlichen<br />
Lebewesens sind. Er reduziert z. B. beim „Kopf I“<br />
(Abb. 8) aus dem Jahre 1948 den Schrei eines<br />
Menschen auf das Wesentliche und Markante,<br />
nämlich den Mund. Die Gestalt selber können<br />
wir nur noch erahnen und uns vorstellen, wie<br />
die Person beim Schrei den Kopf in den Nacken<br />
wirft, denn diese Bewegung stellt Bacon unscharf<br />
dar. Das einzige was gut und deutlich<br />
erkennbar ist, ist der Mund der Gestalt, doch<br />
erinnert dieser durch die langen und scharfen<br />
Eckzähne eher an ein Tier und tatsächlich hat<br />
er für diese als Vorlage die Zähne eines Schimpansen<br />
verwendet. Wie oben bereits erwähnt<br />
unterschied Bacon nicht immer differenziert<br />
zwischen Mensch und Tier.<br />
Es ist möglich, dass Bacon sich von den Texten<br />
Batailles inspirieren ließ, der schreibt in seinem<br />
„Kritischen Wörterbuch“: „Bei großen Ereignissen<br />
konzentriert sich das menschliche Leben<br />
ganz tierisch auf den Mund; der Zorn lässt<br />
einen die Zähne zusammenbeißen, die Angst<br />
oder fürchterliches Leiden machen den Mund<br />
zum Organ gellender Schreie. Es lässt sich dabei<br />
leicht beobachten, dass der Betroffene seinen<br />
Hals reckt, seinen Kopf ungestüm zurückwirft,<br />
so dass der Mund, soweit dies möglich ist,<br />
an eine Stelle gerät, die einer Fortsetzung des<br />
Rückgrats gleichkommt, mit anderen Worten<br />
in die Position, in der er sich normalerweise bei<br />
Tieren befindet.“ (Stuttgart und Berlin, 1985. S.<br />
13). Bacon anonymisiert die Personen durch<br />
seine Darstellungsweise, manchmal kann man<br />
nicht mehr zwischen Mann und Frau differenzieren.<br />
Die Gestalten scheinen in ihrer Pein<br />
gefangen auf der Schwelle zwischen dieser<br />
(unserer) Welt und dem Leben nach dem Tode<br />
zu stehen. Es ist ein idealer, quälenden Schrei<br />
durch Bacons abstrakte Darstellungsweise seinem<br />
Wesen gemäß umgesetzt. Die Darstellung<br />
erschüttert mehr als ein Foto von einem schreienden<br />
Menschen, vielleicht liegt das Geheimnis<br />
in dem Verschwommenen bei Bacon. Durch<br />
das Anonyme schreit nicht ein bestimmter<br />
Mensch, sondern es wirkt wie der personifizierte<br />
Schrei selber. Man spürt den Schrei und den<br />
Schmerz regelrecht. In dieser Qual unterscheidet<br />
sich der Mensch nicht mehr vom Tier.<br />
„Das gewaltsame Zusammenbringen von<br />
Mensch/Tier in einer Weise, die den herkömmlichen<br />
Unterschied zwischen beiden in Frage<br />
stellt, war Teil von Batailles fortwährenden Angriffen<br />
auf die „idealistische Selbsttäuschung“,<br />
die der Mensch an sich verübt. In diesem Fall<br />
geht es um die Enthüllung des Tierischen oder<br />
Fast-Tierischen im Menschen, vor allem in<br />
Situationen, in denen er glaubt, sich von seiner<br />
menschlichsten oder edelsten Seite zu zeigen.“<br />
(Stuttgart und Berlin, 1985. Seite 14).<br />
35<br />
Abb. 8: Francis Bacon: „Kopf I“, 1948, Maße:<br />
103x75 cm
<strong>Schatten</strong>-<br />
projektionen<br />
37
Karolin Oehlmann<br />
Michaela Streilein<br />
Inhalt<br />
1. Die Entstehung der<br />
Arbeit<br />
2. Künstlerischer<br />
Bezug zu Fischli und<br />
Weiss – philosophische<br />
Ansätze und Überlegun-<br />
gen zur Interpretation<br />
Literatur<br />
Quellen<br />
„Die maschinelle<br />
Sonnenfinsternis im<br />
Zeitraffer“<br />
Abb. 1: „Die maschinelle Sonnenfinsternis im Zeitraffer“<br />
1. Die Entstehung der Arbeit<br />
1.1 Theoretische Vorüberlegungen<br />
Die Idee, welche am ehesten umsetzbar zu sein<br />
schien und uns nach persönlichem, subjektivem<br />
Empfinden am meisten zusagte, war die<br />
Darstellung eines kleinen Planetariums. Die<br />
Idee bestand im Nachbau eines Himmelszeltes,<br />
an dem man die sich bewegenden Himmelskörper<br />
betrachten könnte. Unter dem Einfluss<br />
eines Besuchs des Planetariums Wolfsburg<br />
ergänzten wir unseren Grundgedanken mit<br />
um dem auf- und untergehenden Mond, der<br />
durch die Verdeckung der Sonne eine Sonnenfinsternis<br />
verursacht. Die Entscheidung für die<br />
Umsetzung dieser Idee liegt in der Faszination<br />
der einzelnen Himmelskörper sowie des Zusammenspiels<br />
dieser begründet. Sowohl der Mond<br />
als auch die Sonne sind für das Leben auf der<br />
Erde und somit für die Menschheit unverzichtbar.<br />
Am Zeitraum von 29,5 Tagen, in dem der<br />
Mond regelmäßig seine Phasen durchläuft,<br />
orientieren sich die Kalendermonate. Demzufolge<br />
gliedert die Natur mit der Bewegung<br />
des Mondes die Zeit im Zusammenspiel mit<br />
der Sonne. Nicht nur, dass deren Licht und<br />
Wärme zu unserem Wohlbefinden beiträgt,<br />
38<br />
sondern ohne diesen besonderen Himmelskörper<br />
wäre das Leben in seinen verschiedensten<br />
Formen auf der Erde gar nicht erst möglich.<br />
Als besonders faszinierend erachte ich das<br />
Zusammenspiel der Himmelskörper in Form der<br />
Sonnenfinsternis, bei dem die Sonne, der Mond<br />
und die Erde auf spezielle astronomische Weise<br />
zusammentreffen(vgl. Cerrot, Robin: Der Sternenführer<br />
– Der Nachthimmel Stern für Stern,<br />
Steiger Verlag, Augsburg, 1998, S. 118ff).<br />
„Von allen Naturphänomenen, die wir auf der<br />
Erde beobachten, ist keines aufsehenerregender<br />
und erfurchtgebietender als eine totale<br />
Sonnenfinsternis. Während einer Sonnenfinsternis<br />
wird der Tag plötzlich zur Nacht; die Luft<br />
kühlt ab, die Vögel hören auf zu singen und<br />
hocken sich zum Schlafen nieder (ebd. S. 128).<br />
„Dieser Beschreibung nach scheint dies ein<br />
ganz besonderes Phänomen zu sein, welches<br />
sicherlich Anlass gibt, über den Sinn des Lebens<br />
und die eigene menschliche Existenz nachzudenken.
Abb. 2 Die Enstehung der<br />
Arbeit I: Laken<br />
Abb. 3 Die Enstehung der<br />
Arbeit II: Lampe<br />
Abb. 4 Die Enstehung der<br />
Arbeit III: Motor<br />
1.2 Die praktische Umsetzung<br />
Nach den theoretischen Vorüberlegungen<br />
stellte sich nun die Frage nach der praktischen<br />
Umsetzung. Der geeigneteste Platz für unser<br />
Vorhaben erschien die Nische unter der Kellertreppe.<br />
Zunächst erstellten wir ein reines Provisorium,<br />
indem wir ein faltiges, weißes Bettlaken mit<br />
Paketklebeband an der Schräge unter der<br />
Kellertreppe aufhingen. Eine Glühbirne als<br />
Lichtquelle erfüllte gleichzeitig die Funktion der<br />
leuchtenden Sonne. Eine große Pappe, später<br />
als Halbkreis ausgeschnitten, welche wir hinter<br />
dem Laken positionierten, sollte die Erdkugel<br />
darstellen. Hinter dieser Pappe stellten wir Kartons<br />
auf, auf die wir eine Glühbirne als Sonne<br />
befestigten. Das Anbringen einer Lichterkette<br />
hinter dem Laken erweckte beim Betrachten<br />
den Eindruck eines Sternenhimmels. Dieses vorerst<br />
aufgebaute Provisorium sollte ursprünglich<br />
nur einer ersten Orientierung dienen und im<br />
Nachhinein perfektioniert, bzw. „verschönert“<br />
werden. Die bisherige Arbeit besaß jedoch in<br />
ihrer banalen und provisorischen Ausführung<br />
eine ganz eigene Ästhetik. Jede Veränderung<br />
im Sinne einer „Verschönerung“ würde Gefahr<br />
laufen, ins Plakative und Kitschige überzugehen<br />
- so entschieden wir uns, diese besondere<br />
Ästhetik beizubehalten, stand sie doch im herrlichen<br />
Gegensatz zu „Größe und Majestät“ des<br />
Sternenhimmels. Demzufolge entfernten wir<br />
die Lichterkette und behielten den Rest so bei,<br />
wie er war. An einem kleinen Motorbefestigten<br />
wir einen Pappkreis, welcher den Mond darstellen<br />
sollte. Die erste Idee, diesen mit einem<br />
dünnen Faden an dem sich rotierenden Zeiger<br />
einer batteriebetriebenen Uhr zu befestigen,<br />
ließ sich praktisch nicht verwirklichen, da der<br />
Motor einer Uhr zu schwach gewesen wäre.<br />
Der kleine Motor eines Spielzeugautos tat seinen<br />
Dienst (Abb. 2 bis 4).<br />
1.3 Das Endergebnis<br />
So konnten wir beobachten, wie der Mond auf-<br />
bzw. untergeht und dabei die Sonne verdeckt.<br />
Zwar war der Motor aufgrund der Art der<br />
Anbringung durch seinen <strong>Schatten</strong> zu sehen,<br />
doch unterstützte dies zusätzlich die beabsichtigte<br />
provisorische, banale Ästhetik. Somit war<br />
unsere <strong>Schatten</strong>installation mit dem Titel „Die<br />
maschinelle Sonnenfinsternis im Zeitraffer“<br />
(Abb.1 und 5), Maße: ca. 140cm x 200cm x<br />
150cm; Materialien: Bettlaken, Pappkarton,<br />
Motor, Glühbirne, Karton, Eimer vollendet und<br />
stellte uns vollends zufrieden.<br />
39<br />
2 Bezug: Fischli und Weiss<br />
Im Nachhinein konnten wir Parallelen zu den<br />
Arbeiten des Künstlerduos Peter Fischli (*8.<br />
Juni 1952 in Zürich) und David Weiss (*21. Juni<br />
1946 in Zürich) ziehen. In ihrer Kunst spielt das<br />
Spielerische, die Persiflage, das Provisorisch eine<br />
große Rolle. Auch haben ihre Arbeiten etwas<br />
„Kindliches“ an sich, Art und Aufbau ihrer Arbeiten<br />
können mit kindlichem Spielenverhalten<br />
verglichen werden. Nach Siegmund Freud spielen<br />
Kinder am liebsten mit Gegenständen, mit<br />
denen sie die Welt der Erwachsenen imitieren<br />
können. Ihr Einfallsreichtum und ihre Kreativität<br />
besteht darin, dass sie Alltagsgegenstände in<br />
Dinge transformieren, die sie für ihr Spielen benötigen;<br />
sie entfremden Dinge und machen sie<br />
sich zu ihrem eigenen Nutzen (vgl. Fischli, Peter<br />
und Weiss, David: In a restless world, Wallace<br />
Carlson Company, Mineapoles,<br />
S. 98f). Diese Ideen werden durch Fischli und<br />
Weiss aufgegriffen zitiert. Ihre bekannteste Arbeit,<br />
der experimentelle Kunstfilm „Der Lauf der<br />
Dinge“ (1985-1987) (Abb. 5 bis 7) spielt konsequent<br />
mit diesem Ansatz. Hier scheinen in einer<br />
Lagerhalle Gegenstände aus dem Alltag linear<br />
auf einer Länge von 20 bis 30 m so aneinandergereiht,<br />
dass sie durch die Erzeugung z.B. von<br />
Flammen, Bewegung, chemischen Reaktionen<br />
oder Dampf einen kontinuierlichen Ablauf<br />
mehrerer unterschiedlicher Bewegungszustände,<br />
eine dynamische kausale Kette erzeugen.<br />
Dabei werden Gegenstände wie Konservendosen,<br />
Reifen, Plastikflaschen, Luftballons etc.<br />
verwendet und gleichzeitig zweckentfremdet.<br />
Auf ähnliche Weise haben auch wir Dinge<br />
aus dem Alltag umfunktioniert bzw. adaptiert.<br />
Indem wir z.B. ein Bettlaken als Himmelzelt,<br />
eine Glühbirne als Sonne oder den Motor<br />
eines Spielzeugautos als Antrieb des Mondes<br />
verwendeten, verloren all diese Dinge ihre<br />
ursprüngliche Funktion und erhielten eine<br />
neue Bedeutung. Allerdings besteht ein wesentlicher<br />
Unterschied der beiden Arbeiten in<br />
der Erzeugung von Bewegung bei uns bewegt<br />
sich der Mond durch einen batteriebetriebenen<br />
Motor, die Bewegung in der Arbeit von Fischli<br />
und Weiss hingegen wird durch die Weitergabe<br />
eines Bewegungsimpulses erzeugt, so dass<br />
eine Kettenreaktion entsteht. Dabei ist „[...]die<br />
Verkettung grundlegender physikalischer<br />
Prinzipien [...]“ (vgl. http://de.wikipedia.org/<br />
wiki/Peter_Fischli_und_David_Weiss) sowie<br />
chemische Reaktionen von großer Bedeutung,<br />
ohne die der kontinuierliche Bewegungsablauf<br />
nicht funktionieren würde. Somit besteht eine<br />
Abb. 5 „Die maschinelle Sonnenfinsternis im Zeitraffer“ , Bewegungsstudien
Literatur<br />
Fischli, Peter und Weiss, David:<br />
In a restless world, Wallace<br />
Carlson Company, Minea<br />
poles.<br />
Cerrot, Robin:<br />
Der Sternenführer – Der<br />
Nachthimmel Stern für<br />
Stern, Steiger Verlag, Augs<br />
burg, 1998.<br />
Quellen<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/<br />
Peter_Fischli_und_David_<br />
Weiss<br />
http://www.medienkunstnetz.<br />
de/werke/the-way-ofthings/<br />
ständige Spannung, ob sich die Kettenreaktion<br />
reibungslos weiterhin fortführt, oder irgendwann<br />
unterbrochen wird. Ähnlich verursachte<br />
auch unsere <strong>Schatten</strong>installation eine bis zum<br />
Ende anhaltende Spannung, ob der Motor<br />
über die gesamte Zeit der Ausstellung die Kraft<br />
aufwenden kann, den Mond auf- und untergehen<br />
zu lassen und ob die Batterie des Motors<br />
so lange halten wird. Demzufolge liegt bei den<br />
besagten Arbeiten auch eine gewisse Ästhetik<br />
auf dem Funktionieren, auf dem reibungslosen<br />
Bewegungsablauf der einzelnen Gegenstände<br />
( vgl. http://www.medienkunstnetz.de/werke/the-way-of-things/).<br />
Im Vordergrund stehen<br />
jedoch die Dinge selbst – ganz gleich, ob das<br />
Bettlaken faltig ist oder der Pappkreis nicht<br />
ganz rund, denn genau das, die nackte Darstellung<br />
der Dinge so, wie sie sind, macht die<br />
Arbeit individuell. Gleichzeitig verliert die Arbeit<br />
an gewisser Ernsthaftigkeit, gewinnt jedoch im<br />
gleichen Maße sowohl an Liebenswürdigkeit<br />
als auch an Unschuld (vgl. ebd., S. 97). So kam<br />
es, dass sich viele Besucher der Werksausstellung<br />
bei der Betrachtung unserer Arbeit ein liebevolles<br />
Schmunzeln nicht verkneifen konnten<br />
– insbesondere dann nicht, wenn sie hinter das<br />
Laken schauten und ihnen auf diese Weise der<br />
Gebrauch der alltäglichen Dinge offenbart wurde.<br />
Denn mit dieser Trivia<strong>lit</strong>ät, die buchstäblich<br />
hinter dieser Arbeit steht, haben die meisten<br />
Betrachter nicht gerechnet. Diese ironische und<br />
humorvolle Adaption der alltäglichen Dinge<br />
in einen künstlerischen Kontext kann bei dem<br />
Betrachter Irritationen und Verwunderung<br />
verursachen sowie „philosophische und theoretische<br />
Fragen nach der Erklärung der Welt“ (<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Fischli_und_<br />
David_Weiss) aufwerfen (vgl. ebd.).<br />
40<br />
Abb. 5 bis 7, Peter Fischli und David Weiss, „Der<br />
Lauf der Dinge“, 1987
Christiane Ritter<br />
Inhalt Seite<br />
1. Einleitung<br />
2. Abbildung der<br />
Wirklichkeit - Die<br />
Camera obscura<br />
3. Der Guckkasten<br />
4. Projizierte Bilder –<br />
Die Laterna magica<br />
5. Die Anfänge der<br />
Fotografie<br />
Literatur<br />
Abbildungen<br />
Die Camera Obscura<br />
und die Entwicklung<br />
der Fotografie<br />
Abbildung 1: links: In: Mario Bettini, Apiaria Universae Philosophiae Mathematicae. Bologna 1642,<br />
S. 38. rechts: Die größte Kamera der Welt, 1900 in Chicago gebaut. 600 kg, jede Platte (135 x 240<br />
cm) 225 kg. Das Ungetüm wurde von 15 Männern bedient.<br />
1. Einleitung<br />
Die Geschichte der Fotografie beginnt mit der<br />
Entdeckung der Camera Obscura. Der Name<br />
Camera obscura umschreibt nichts anderes<br />
als einen dunklen Raum mit einem Loch zur<br />
hellen Außenwelt. In diesem Raum wird nun<br />
auf der gegenüberliegenden Wand zum Loch<br />
das Abbild der Außenwelt linear projiziert.<br />
Damit ist der Grundgedanke für die Fotografie<br />
gelegt: Ein möglichst naturgetreues Abbild der<br />
Wirklichkeit festzuhalten. Bis die Möglichkeiten<br />
durch die Chemie geschaffen ist, ein mechanisches<br />
Bild entstehen zu lassen, bleibt erstmal<br />
nur das Abbild durch zeichnerisches Geschick.<br />
Auf einer transparenten Leinwand wird das<br />
Bild so ‚eingefangen‘. Erst dadurch wird die<br />
perspektivische Zeichnung entdeckt und kann<br />
nun in der Malerei und damit auch in der<br />
Bühnenmalerei der dreidimensionalen Wirkung<br />
beisteuern.<br />
41<br />
Die Projektionskunst beginnt in Anlehnung<br />
dessen als die Bilder anstatt auf Papier auf<br />
Glasplatten gemalt werden und mit Hilfe der<br />
Laterna magica in einem dunklen Raum auf<br />
eine Wand geworfen werden. Sie findet sich in<br />
der heutigen Dia-Projektion wieder. Auch die<br />
Laterne kommt auf der Bühne in der Phantasmagorie<br />
zum Einsatz.<br />
Als der Grundstein der Chemie schließlich<br />
durch die Entdeckung von lichtempfindlichen<br />
Substanzen gelegt ist, steht auch der Entwicklung<br />
der Fotografie nichts mehr im Wege.<br />
2. Abbildung der Wirklichkeit – Die Camera<br />
obscura<br />
Der erste Nachweis des Camera obscura Prinzips<br />
ist aus dem 4. Jahrhundert - durch Aristoteles<br />
festgehalten. Dieser beobachtet, wie sich<br />
Abb. 2 Zeichnung einer Camera obscura zur Betrachtung der Sonnenfinsternis (Holzschnitt in: „De<br />
radio astronomico & geometrico“, Antwerpen 1545, aus: Thomas Ganz 1994, S. 20, unten)
Abb. 3 Tragbare Camera obscura<br />
in Form einer Holzkiste mit<br />
Tragegriffen und Einstiegsloch<br />
von unten. Eine Camera obscura<br />
in Form eines einfachen<br />
Raums beschränkte den Künstler<br />
auf die direkte Umgebung,<br />
so dass man tragbare Cameras<br />
erfand. Diese war eine der<br />
ersten Formen.<br />
Abb. 4 Camera obscura als<br />
Zeichenhilfsmittel in Zeltform.<br />
Sie wurde von dem Künstler an<br />
Ort und Stelle aufgestellt, an<br />
dem das Zeichenobjekt (Gebäude<br />
o. ä.) war. Um Dunkelheit<br />
zu erzeugen, wurde der<br />
schwarze Zeltumhang umgelegt,<br />
das Bild wurde durch das<br />
an der Zeltspitze angebrachte<br />
Objektiv mit Hilfe eines Spiegels<br />
im 45° Winkels auf die<br />
Zeichenunterlage projiziert.<br />
Abb. 5 Tragbare Camera obscura<br />
im handlichen Format.<br />
Abb. 6 Zeichen-Camera-obscura, bei der der Sichtwinkel verstellbar ist, um eine andere Perspektive<br />
einstellen zu können. Ein weiterer Vorteil ist, dass durch die ineinander verschiebbaren Teile ein<br />
„Heranzoomen“ ermöglicht wird. Zeichenfläche: Matt geschliffene Glasscheibe.<br />
die Sonnenfinsternis durch das Blattwerk einer<br />
Platane auf dem Boden abbildet (vgl. Bodo von<br />
Dewitz; Werner Nekes 2002, S. 11).<br />
Wie bereits oben erwähnt tritt der Camera<br />
obscura Effekt dann ein, es wird also dann<br />
ein Abbild der Wirklichkeit erzeugt, wenn<br />
ein dunkler Raum mit einem Loch zur hellen<br />
Außenwelt gegeben ist. Das Bild wird dann wie<br />
in Bild 1 linear, seitenverkehrt und kopfüber auf<br />
einer Wand gegenüber dem Loch abgebildet.<br />
Vornehmlich wurde die Camera obscura dementsprechend<br />
im 13. Jh. für die Beobachtung<br />
von Sonnenfinsternissen benutzt. Sie hatte den<br />
Vorteil, dass das Abbild lichtreduziert und somit<br />
unschädigend für die Augen projiziert wurde<br />
(vgl. ebd., S. 49).<br />
Über dieses Wissen hatte jedoch nicht allein die<br />
westliche Welt Zugang: Auch in China<br />
existiert es bereits im 9. und in der arabischen<br />
Welt im 10. Jh.<br />
Die Camera diente den Menschen darüber<br />
hinaus zur Unterhaltung, indem sie sich hineinsetzten<br />
und die äußere Umwelt kopfstehend<br />
oder auch durch einen Spiegel richtig herum<br />
voyeuristisch beobachteten.<br />
2.1 Die Camera obscura als Zeicheninstrument<br />
Die Camera obscura wird bald von Künstlern<br />
gerne als Zeicheninstrument benutzt. Diese<br />
Technik beschreibt Lenardo da Vinci 1490:<br />
„Wenn die Bilder angeleuchteter Gegenstände<br />
eine kleine runde Öffnung passieren und in einem<br />
sehr dunklen Raum gelangen, und wenn<br />
man sie auf einem Stück weißen Papiers, das<br />
senkrecht in dem Raum in einiger Entfernung<br />
42<br />
von der Öffnung aufgestellt ist, empfängt, dann<br />
sieht man auf dem Papier all jene Objekte in<br />
ihren natürlichen Formen und Farben. Sie sind<br />
jedoch in ihrer Größe reduziert und stehen<br />
auf dem Kopf, weil sich die Strahlen an der<br />
Öffnung überkreuzen. Wenn diese Bilder von<br />
einem Ort kommen, der von der Sonne beleuchtet<br />
ist, erscheinen sie wie auf dem Papier<br />
gemalt, welches sehr dünne sein muss und von<br />
der Rückseite zu betrachten ist. Die Öffnung<br />
sollte aus einer sehr dünnen Scheibe Eisenblech<br />
geschnitten werden.“ (Gernsheim, Helmut<br />
und Alison: The History of Photography,<br />
from the Camera Obscura to the Beginning of<br />
the Mordern Era. New York 1969, S. 19. Zitiert<br />
nach: Bodo von Dewitz, Werner Nekes 2002,<br />
S. 48).<br />
Das künstlerische Geschick verlangt nun noch,<br />
dieses zweidimensionale und perspektivisch<br />
völlig korrekte Abbild eines dreidimensionalen<br />
Gebildes auf dem Papier festzuhalten. Für die<br />
Künstler hatte dieses Verfahren den wirtschaftlichen<br />
Vorteil, Auftragsarbeiten in viel kürzerer<br />
Zeit an<strong>fertige</strong>n zu können. (vgl. Thomas Ganz<br />
1994, S. 18)<br />
Allerdings hatte es auch den Nachteil, dass<br />
ihre Kunst einen negativen Beigeschmack<br />
bekam: Es entstand das Vorurteil, dass für die<br />
Malerei ab nun an kein künstlerisches Geschick<br />
benötigt würde. Mit anderen Worten: Jeder<br />
könne mit Hilfe einer Camera obscura zeichnen<br />
(vgl. Bodo von Dewitz, Werner Nekes 2002, S.<br />
49/50).<br />
Eine Auswahl Camera obscurae als Zeicheninstrumente<br />
ist auf den Bildern 2 bis 5 zu sehen.
Abb. 7 Ein Guckkasten. Durchlicht<br />
wird hier mit Hilfe von<br />
Kerzenlicht erzeugt. Holland,<br />
um 1720.<br />
Abb. 8 Guckkastenblatt, dass<br />
bei Durchlicht mit Hilfe der<br />
transparenten Partien den<br />
Anschein einer Nachansicht<br />
von Den Haag zeigt. Handkolorierter,<br />
zur Durchleuchtung<br />
perforierter und hintermalter<br />
Kupferstich für Tag- und Nachtansichten.<br />
30,4 x 36,5 cm.<br />
Holland, um 1700.<br />
Abb. 9 Der Engelbrechtsche<br />
Guckkasten. Mehrere Ebenen<br />
erzeugen beim Betrachter eine<br />
Tiefenwirkung.<br />
Abb. 10 Der Engelbrechtsche<br />
Guckkasten als Reisesouvenir.<br />
3. Der Guckkasten<br />
So genannte Guckkastenmänner, es handelte<br />
sich um fahrende Künstler, zogen von Stadt<br />
zu Stadt umher und stellten Guckkästen auf<br />
Märkten zur Schau, in die das Publikum für<br />
wenig Geld hineingucken konnte (vgl. Thomas<br />
Ganz 1994, S. 53). Es handelte sich um perspektivische<br />
Zeichnungen, die Ansichten ferner Länder,<br />
berühmter Bauten, historischer Ereignisse<br />
und Naturkatastrophen zeigten (vgl. Bodo von<br />
Dewitz, Werner Nekes 2002, S. 83) und den<br />
Eindruck von Dreidimensiona<strong>lit</strong>ät vermittelten.<br />
Sie entstanden vermutlich mit Hilfe einer Camera<br />
obscura. Die Dreidimensionale Wirkung der<br />
perspektivischen Ansicht wurde im Guckkasten<br />
durch eine Vergrößerungslinse unterstützt.<br />
Wer durch das Guckloch in den Guckkasten<br />
hinsah, machte eine kleine Reise durch die<br />
ganze Welt, die zu dieser Zeit im wahren Leben<br />
schon allein aus finanziellen Gründen gar nicht<br />
umsetzbar gewesen wäre. Der Guckkasten<br />
wurde deshalb auch von Ulrike Hick als Fernsehen<br />
des 18. Jahrhunderts bezeichnet (vgl. ebd.,<br />
S. 78, 79).<br />
Seit dem 18. Jh. wurden Guckkastenblätter als<br />
Kupferstiche zu Massen produziert (vgl. Thomas<br />
Ganz 1994, S. 55). Es wurden Tag-Nacht- und<br />
Winter-Sommer-Effekte erzeugt, indem mit Auf-<br />
und Durchlicht gearbeitet wurde. So wurde ein<br />
Guckkastenblatt beispielsweise doppelt und auf<br />
beiden Seiten andersfarbig bedruckt, um ein<br />
und dasselbe Bild einmal in eine Winter- und<br />
einmal in eine Sommerlandschaft zu verwandeln.<br />
Für den Tag-Nacht-Effekt wurden einzelne<br />
Partien wie bspw. Fenster ausgeschnitten<br />
und mit transparentem Papier hinterklebt, um<br />
bei Durchlicht den Eindruck einer Nachtansicht<br />
zu vermitteln (vgl. Thomas Ganz, S. 56 und<br />
Bodo von Dewitz, Werner Nekes 2002, S 83).<br />
Engelbrecht entwickelte die Tiefenwirkung des<br />
Guckkastens weiter, indem er das anzuschauende<br />
Bild auf mehrere Ebenen, ähnlich dem<br />
Barocken Bühnenbild, verteilte (Bild 8 und 9).<br />
Im 19. Jh. wurde der Engelbrecht‘sche Guckkasten<br />
in zusammenfaltbarer Form gerne als<br />
Reisesouvenir aus fernen Städten mitgebracht<br />
(vgl. Thomas Ganz 1994, S. 54).<br />
3.1 Das Guckkastenblatt als Bühnenbild<br />
- Das Diorama<br />
Der französische Theatermaler und Schausteller<br />
Jaques Louis Mandé Daguerre lässt 1822 ein<br />
Gebäude bauen, das er Diorama nennt. Eine<br />
riesige Leinwand zeigt dem Publikum eine<br />
Landschaftsansicht, die durch Dosierung von<br />
Auf- oder Durchlicht, den Einsatz von Spiegeln,<br />
Tüchern und Filtern ins Abendrot, in Lichterglanz,<br />
in Dämmerung,<br />
Sturm und Gewitter versetzen, aber auch<br />
Mondaufgänge inszenieren lässt. Die Untermalung<br />
von musikalischer Beschallung lässt<br />
die Wirkung auf das Publikum täuschend<br />
echt erscheinen. Die vielfache Vergrößerung<br />
der Landschaftsansicht löst die Wirkung des<br />
Vergrößerungsglases im Guckkasten ab (vgl.<br />
Thomas Ganz 1994, S. 58).<br />
43<br />
4. Projizierte Bilder – Die Laterna magica<br />
Die Laterna magica bekam ihren Namen, weil<br />
sich Viele die Technik der Projektion nicht<br />
erklären konnten: Die Laterne zauberte ein Bild<br />
an die Wand. Sie wurde auch Angstlaterne<br />
genannt, was mit ihrem späteren Einsatz auf<br />
der Bühne im Zusammenhang steht.<br />
Die Laterna magica kann als die Umkehrung<br />
der Camera Obscura angesehen werden: In<br />
einem kleinen hellen Raum ist ein Loch, durch<br />
das das Abbild einer Glasscheibe auf die gegenüberliegende<br />
Wand eines dunklen Raums<br />
projiziert wird.<br />
Genauer beschrieben befindet sich im Inneren<br />
der Laterne ein Hohlspiegel, der das Licht einer<br />
Kerze oder Petroleumlampe konzentriert (vgl.<br />
Thomas Ganz 1994, S. 27). Zwischen dem Loch<br />
und dem Objektiv (es handelt sich um ein doppellinsiges<br />
Objektiv, um das Licht nochmals zu<br />
intensivieren) befindet sich eine Halterung für<br />
die Bilder. Sie sind auf eine Glasscheibe gemalt.<br />
Bewegte Bilder entstehen durch eine rasche<br />
Abfolge von Bildern und einen Kurbelmechanismus,<br />
der zwei hintereinander angeordnete<br />
drehbare Glasbilder in Bewegung versetzt und<br />
einen Seiltänzer tanzen lässt (vgl. ebd., S. 33).<br />
Im 18. Jh. werden die Glasbilder vornehmlich<br />
als Kupferstiche hergestellt, die von Hand koloriert<br />
werden (vgl. ebd., S. 33).<br />
Wie die Guckkastenschausteller waren auch die<br />
Vorführer der Projektionskunst fahrende Savoyener,<br />
die für Familien und kleine Gruppen im<br />
18. und 19. Jh. und spontan an Straßenecken,<br />
in Wirtshäusern und in bürgerlichen Wohnhäusern<br />
Vorführungen gaben (vgl. Bodo von<br />
Dewitz, Werner Nekes 2002, S. 141).<br />
Wer es sich leisten konnte, ließ sich „den<br />
Laterna-magica-Mann von der Straße ins Haus<br />
holen“ (zitiert aus: Thomas Ganz 1994, S. 80).<br />
Die Savoyener waren seit Jahrzehnten als Jongleure,<br />
Geschichtenerzähler, Sänger und Vorführer<br />
optischer Neuheiten in Europa unterwegs.<br />
Mit anderem fahrenden Künstlervolk galten sie<br />
als Außenseiter und Ausländer, was die Laterna<br />
magica Kunst in ein schlechtes Ansehen rückte<br />
(vgl. Bodo von Dewitz, Werner Nekes 2002, S.<br />
141).<br />
4.1 Verbindung von Theater und Laterne<br />
- Die Phantasmagorie<br />
Ein Mann namens Robertson setzt die Laterna<br />
magica für eine Vorführung ein.<br />
1798, Paris: „In einem dunklen Gewölbe,<br />
wo Ketten, Eulen, Gerippe und Totenköpfe<br />
schwach leuchten, beschwört Zauberer Robertson<br />
Hexen und Teufel, aber auch die Ahnen<br />
der Zuschauer. Und die Figuren erscheinen<br />
tatsächlich, ganz klein vorerst, dann wachsen<br />
sie, begleitet von B<strong>lit</strong>z und Donner, werden<br />
übermenschlich groß. Eine dröhnende Stimme<br />
fordert die Zuschauer auf, den Geistern Fragen<br />
zu stellen. Doch der Schrecken ist groß: Damen<br />
fallen in Ohnmacht, Offiziere ziehen den Säbel.<br />
Das Publikum ist jeweils dermaßen erschüttert,<br />
dass es nicht feststellen kann, worin der Spuk<br />
besteht.“ (Thomas Ganz 1994, S. 76)
Abb. 11 Paul Philippoteaux:<br />
Anfertigung des Cycloramas<br />
der Schlacht von Gettysburg.<br />
120 x 15 m.<br />
Abb. 12 Bewegliche Glasbilder<br />
für die Laterna magica<br />
mit Schnurmechanismus, der<br />
Windmühlenflügel drehen,<br />
Trinker schwanken, Mann Augen<br />
rollen, Equilibrist auf Seil<br />
nach vorn und hinten bewegen<br />
und Dame hüpfen lässt.<br />
Petrus Musschenbroek, 1729.<br />
Abb. 13 Zeichnung eines Laternamagica<br />
Mannes.<br />
Robertson gibt der Laterne Rollen und schafft<br />
damit den Zoom-Effekt, was eine Bewegung<br />
der projizierten Geistererscheinungen (dt. Übersetzung<br />
des griech. Phantasmagorie) erscheinen<br />
lässt (vgl. ebd., S. 76).<br />
Im Gegensatz zur bisherigen Schaustellung der<br />
Laterne bindet die Phantasmagorie das Publikum<br />
an feste Theaterräume.<br />
Johann Georg Schröpfer hat die Laterne schon<br />
vor Robertson für eine Theateraufführung<br />
eingesetzt. Durch eine Spiegelprojektion lässt<br />
er die Geister neben den Schauspielern auf<br />
der Bühne tanzen (s. Bild 16 und 17). Hohle<br />
Stimmen aus Sprechröhren, Klänge von einer<br />
Glasharmonika und das Grollen von Bühnendonner<br />
untermalen sein Schauspiel akustisch<br />
(vgl. Bodo von Dewitz, Werner Nekes 2002, S.<br />
141/ 142).<br />
4.2 Ansehen der Laterne<br />
Wie die Laterne technisch funktioniert, wissen<br />
um die Wende vom 17. zum 18. Jh. zunächst<br />
nur Gelehrte (vgl. Thomas Ganz 1994, S. 32).<br />
Der Großteil der Bevölkerung hält die Projektionskunst<br />
in dieser Zeit für Zauberei, was der<br />
Laterne ihren Namen gegeben hat (Laterna<br />
magica = Zauberlaterne) (vgl. ebd., S. 77).<br />
In dieser Zeit wird die Zauberlaterne oftmals<br />
für die Unterhaltung und somit für unwissenschaftliche<br />
Zwecke eingesetzt, was sie in einen<br />
trivialen Verruf geraten lässt (vgl. Bodo von<br />
Dewitz, Werner Nekes 2002, S. 137). Gelehrte<br />
belächeln diese Laterne:<br />
William Molyneux beschreibt die Tricks der<br />
Laterna-magica-Vorstellungen als „meist (…)<br />
lächerliche oder entsetzliche Darstellung,<br />
um die Zuschauer besser zu unterhalten“ (in:<br />
William Molineux: Dioptricks Nova. A Treatise<br />
of Diopticks, In zwei Bänden, London 1690, I,<br />
S. 183. Zietiert nach: Bodo von Dewitz, Werner<br />
Nekes 2002, S. 139). Erst in Anlehnung an die<br />
französische Revolution wird auch hier große<br />
Aufklärungsarbeit geleistet (vgl. Thomas Ganz<br />
1994, S. 33).<br />
Karl Philipp Moritz schreibt in seinem Roman<br />
1786: Nach einem Abend einer Laterna magica<br />
Aufführung: “Da sie aber am Morgen aufstanden,<br />
da waren all die schönen Bilderchen aus<br />
der Zauberlaterne verschwunden, die kahle<br />
Wirklichkeit mit allen ihren unvermeidlichen<br />
Unannehmlichkeiten stand wieder vor ihrer<br />
Seele da.“ (Zitat nach: Thomas Ganz 1994, S.<br />
79). Er beschreibt hier, wie die Laterne den<br />
Menschen in eine andere Welt eintauchen und<br />
die Rea<strong>lit</strong>ät vergessen lässt. Die Laterne dient<br />
dem gleichen Zweck wie der Guckkasten, der<br />
auch als Fernsehen des 18. Jh. bezeichnet<br />
wurde: Der Unterhaltung. Hier ist eine Übertragung<br />
zur heutigen Zeit zu sehen. Menschen<br />
schalten den Fernsehapparat ein, um die<br />
schreckliche Wirklichkeit um sich herum ‚abzuschalten‘<br />
und tauchen ein in eine ‚schönere‘<br />
Welt in der Schauspieler von Soaps und Filmen<br />
44<br />
Abb. 14 Laterna magica Vorführung. Der Laterna<br />
magica Mann wurde „von der Straße ins<br />
Haus“ geholt. (Zitat s. o.). Radierung von Baron<br />
Francois Joseph Bosio (1768-1845), um 1810.<br />
oben: Mechanische Apparatur zur Erzeugung<br />
von beweglichen Bildern. Mittels einer Kurbel<br />
konnten Teile des Bildes gedreht werden.<br />
oftmals ein heiles oder spannendes Leben spielen.<br />
Sobald der Fernseher abgeschaltet ist, sind<br />
sie wieder mit der Rea<strong>lit</strong>ät konfrontiert.<br />
Wie der Guckkasten wurde auch die Laterna<br />
magica im 19. Jh. in bürgerlichen Häusern zum<br />
Kinderspielzeug. Die Lichtqua<strong>lit</strong>ät und ihre<br />
Umhüllung der Laterne wurde immer weiter<br />
verbessert, bis schließlich ihr Ansehen eine<br />
Wandlung vornimmt. Als metallene Laterne<br />
taucht sie im Bereich der Erziehung und<br />
Bildung auf, wo sie in Klassenzimmern oder bei<br />
Lehrveranstaltungen eingesetzt wird (vgl. Bodo<br />
von Dewitz, Werner Nekes 2002, S. 143).<br />
Man kennt sie heute als Dia-Projektor vornehmlich<br />
in Schulen, wo sie seit der zweiten Hälfte<br />
des 19. Jh. als Unterrichts- und Belehrungsmittel<br />
benutzt wird. Ebenfalls fand sie ihre Funktion<br />
als volkshygienische und missionarische<br />
Aufklärung (vgl. Thomas Ganz 1994, S. 76).<br />
Die Laterne hat somit ihr Bild von Unwissenschaftlichkeit<br />
und Trivia<strong>lit</strong>ät zur Wissenschaftlichkeit<br />
und ihre Funktion von Schaulust und<br />
Unterhaltung zu Erziehungs- und Bildungszwecken<br />
erfolgreich gewandelt. Im Gegensatz zur<br />
Kupferstichbildproduktion, werden die heutigen<br />
Dias mit Hilfe fotografischer Verfahren auf<br />
das „Glas“ gebannt.
Abb. 15 Zeichnung einer Phantasmagorien-Vorführung<br />
von<br />
E. G. Robertson.<br />
Abb. 16 Einsatz der Laterna<br />
magica in einer Theateraufführung.<br />
Durch die Projektion<br />
auf einen im 45°-Winkel<br />
installierten Spiegel erscheint<br />
das Gespenst aus der Sicht des<br />
Zuschauers auf der Bühne.<br />
Abb. 17 Frontansicht der Theaterleinwand.<br />
Das Gespenst<br />
der Laterna magica Projektion<br />
scheint mit dem Darsteller auf<br />
der Bühne zu kämpfen.<br />
Abbildungen<br />
Abb.1 Hans Reichardt 1993,<br />
S. 7<br />
Abb. 2 Holzschnitt in: „De radio<br />
astronomico & geometrico“,<br />
Antwerpen 1545, aus:<br />
Thomas Ganz 1994, S. 20,<br />
unten<br />
Abb. 3 In: Mario Bettini,<br />
Apiaria Universae<br />
Philosophiae Mathematicae.<br />
Bologna 1642, S. 38, aus:<br />
Bodo von Dewitz, Werner<br />
Nekes 2002, S. 40, oben<br />
Abb. 4 Bodo von Dewitz,<br />
Werner Nekes 2002, S. 37,<br />
oben<br />
5. Die Anfänge der Fotografie<br />
1725 stellt der Anatomieprofessor Johann<br />
Heinrich Schulze durch Zufall fest, dass Silbernitrat<br />
durch Lichteinwirkung geschwärzt wird<br />
(vgl. Thomas Ganz 1994, S. 89). Er heftete<br />
Buchstabenschablonen auf ein Glasgefäß mit<br />
der lichtempfindlichen Substanz und einem<br />
breiigen Kreidegemisch und belichtete diese.<br />
Für kurze Zeit entstanden im Glas lesbare Buchstaben<br />
(vgl. Jutta Hülsewig-Johnen, Gottfried<br />
Jäger, J. A. Schmoll gen. Eisenwerth 1989, S.<br />
22), danach schwärzte sich jedoch das ganze<br />
Gemisch. Dieses Wissen über lichtempfindliche<br />
Substanzen wurde jedoch erst Ende des 18. Jh.<br />
in Zusammenhang mit dem Camera obscura<br />
Prinzip betrachtet. Der englische Forscher<br />
Thomas Wedgwood und der französischer<br />
Marineoffizier Nicéphore Niépce arbeiteten an<br />
dem fotografischen Verfahren. Jedoch gelang<br />
es ihnen noch nicht, das Bild zu fixieren, so dass<br />
es sich bei erneuter Lichteinwirkung gänzlich<br />
schwärzte (vgl. Thomas Ganz 1994, S. 89).<br />
Niépce gelang es 1826 einen Kupferstich durch<br />
Sonneneinwirkung auf eine zuvor mit Silbernitrat<br />
beschichtete Zinnplatte zu reproduzieren<br />
(vgl. Jutta Hülsewig-Johnen, Gottfried Jäger, J.<br />
A. Schmoll gen. Eisenwerth 1989, S. 22).<br />
Die Beiden sind nicht die einzigen, die zu jener<br />
Zeit an dem fotografischen Verfahren interessiert<br />
sind. Der Wunsch, die Abbildung der Wirklichkeit<br />
festzuhalten, scheint nun der Einlösung<br />
immer näher zu rücken.<br />
In dem Geschäft des damals berühmten Optikers<br />
Charles Chevalier in Paris lernt Nicéphore<br />
Niépce 1827 den französische Theatermaler<br />
und Schausteller und Erbauer des Dioramas<br />
Jaques Louis Mandé Daguerre kennen (vgl.<br />
Thomas Ganz 1994, S. 89). Ab 1828 arbeiten<br />
sie gemeinsam (vgl. Bodo von Dewitz, Werner<br />
Nekes 2002, S. 52/53).<br />
Dagurre schafft es, die Fotos 1838 zu fixieren,<br />
die Bilder nach seinem Verfahren werden Daguerrotypien<br />
genannt (vgl. Thomas Ganz 1994,<br />
S. 90). Dagurres Erfolg und die Begeisterung<br />
der Menschen wird 1839 ersichtlich, als sein<br />
Verfahren in Frankreich bekannt gegeben wird:<br />
Eine Stunde danach sind die Optikergeschäfte<br />
voll mit Kunden, die Daguerresche Apparate<br />
erwerben möchten (vgl. ebd., S. 91).<br />
Auch der englische Naturwissenschaftler<br />
William Henry Fox Talbot sehnt sich danach,<br />
die Abbilder der Wirklichkeit festzuhalten. Sein<br />
Misserfolg im Zeichnen mit optischen Hilfsmitteln<br />
bringt ihn 1833 auf die Idee, ebenfalls am<br />
fotografischen Verfahren zu arbeiten. Schnell<br />
kommt er zu dem Schluss, dass die Projektion<br />
nichts anderes ist als eine Abfolge von unterschiedlichen<br />
Helligkeitsgraden. Talbots Wissen<br />
über lichtempfindliche Materialien bringt ihn<br />
innerhalb weniger Monate dazu, Silbernitrat<br />
als eine besonders lichtempfindliche Substanz<br />
herauszustellen.<br />
Da die Linse für seine Versuche zu wenig lichtdurchlässig<br />
ist, macht er seine ersten Versuche<br />
45<br />
Abb. 18 Daguerreotypie auf versilberter Kupferplatte,<br />
etwa um 1845.<br />
Abb. 19 Zeitgenössische Nachbildung einer<br />
Kamera für Daguerrotypen. 50X37x32 für das<br />
Bildformat: 16x22 cm. Schärfe durch Verschiebung<br />
der beiden in einander gleitenden<br />
Kastenhälften. Expositionszeit anfänglich 5 – 12<br />
min.<br />
Abb. 20 Erstes Foto, das noch existiert, von<br />
Niépce 1826. Es wurde ca. 8 Std. auf einer Kupferplatte<br />
belichtet.
Abb. 5 Thomas Ganz 1994,<br />
S. 23, oben, rechts<br />
Abb. 6 Erfinder: Georg<br />
Friedrich Brander,<br />
Mechanicus zu Augsburg<br />
(1713 – 1783), „Kurze<br />
Beschreibung einer<br />
ganz neuen Art einer<br />
Camera obscurae“ 1767,<br />
aus: Thomas Ganz 1994,<br />
S. 21, unten<br />
Abb. 7 Bodo von Dewitz,<br />
Werner Nekes 2002, S. 92,<br />
oben<br />
Abb. 8 Bodo von Dewitz,<br />
Werner Nekes 2002, S. 90,<br />
oben<br />
Abb. 9 Thomas Ganz 1994,<br />
S. 64, oben, rechts<br />
Abb. 10 Bodo von Dewitz,<br />
Werner Nekes 2002, S. 113,<br />
unten<br />
Abb. 11 in: Albert A. Hopkins,<br />
Magic. Stage Illusions And<br />
Scientific Diversions, London<br />
1897, S. 357. Aus: Bodo von<br />
Dewitz, Werner Nekes<br />
2002, S. 284<br />
Abb. 12 Thomas Ganz 1994,<br />
S. 26<br />
Abb. 13 in: Petrus<br />
Musschenbroek :<br />
„Grundlehren der<br />
Naturwissenschaft“, der<br />
ersten deutschen<br />
Musschenbroek-<br />
Übersetzung, Leipzig 1747.<br />
Aus: Thomas Ganz 1994,<br />
S. 33<br />
Abb. 14 In: „Cris de Paris<br />
dessinés d‘après Nature,<br />
par M. Poisson“, Paris ca.<br />
1775. Aus: Thomas Ganz<br />
1994, S. 40, links<br />
Abb. 15 Thomas Ganz 1994,<br />
S. 38, unten<br />
Abb. 16 in: Robertsons<br />
Mémoires, Paris 1840.<br />
Aus: Thomas Ganz 1994,<br />
S. 41, unten<br />
Abb. 17 Hans Reichardt 1993,<br />
S. 30, oben<br />
Abb. 18 Hans Reichardt 1993,<br />
S. 30, unten<br />
Abb. 19 Hans Reichardt 1993,<br />
S. 13, oben, links<br />
Abb. 20 Hans Reichardt 1993,<br />
S. 12<br />
Abb. 21 Jutta Hülsewig-<br />
Johnen, Gottfried Jäger, J.<br />
A. Schmoll gen. Eisenwerth<br />
1989, S. 49, oben<br />
Abb. 21 Fotogramm bzw. Kalotypie eines Spitzenstoffes. Faksimile nach William Henry Fox Talbots<br />
sehr verblasstem Original von 1840. 16,9 x 20,8 cm. Aufgenommen durch Steffen Wolff.<br />
in Form von Fotogrammen (vgl. Bodo von<br />
Dewitz, Werner Nekes 2002, S. 52/53)<br />
(s. Bild 21). Er bildete Blüten, Stängel, Blätter<br />
und Spitzenstoffe ab und nennt sie Photogenic<br />
drawings = Photogenische, durch Licht<br />
entstandene Zeichnungen (vgl. Jutta Hülsewig-Johnen,<br />
Gottfried Jäger, J. A. Schmoll gen.<br />
Eisenwerth 1989, S. 11).<br />
Im Unterschied zu eigentlichen <strong>Schatten</strong>bildern<br />
erzeugt die größte Lichtstärke beim Fotogramm<br />
die tiefste Schwärze und die hellen Abbildungen<br />
sind ihrer Entstehung nach <strong>Schatten</strong>bilder<br />
(vgl. ebd., S. 16/ 17).<br />
Das Negativ-Positiv-Verfahren, das wir heute<br />
von der analogen Fotografie kennen, basiert<br />
auf der Arbeit Talbots. Sein Verfahren nennt er<br />
Kalotypie, oder auch Talbotypie. Im Gegensatz<br />
zu seinen Vorgängern benutzt er statt Glas-<br />
oder Metallplatten beschichtetes Papier (vgl.<br />
ebd., S. 11).<br />
Das fotografische Verfahren, was Daguerre,<br />
Niépce und Talbot entwickelten hatten,<br />
hatte zwar dazu beigetragen, dass ein Abbild<br />
geschaffen wurde, jedoch hatten sie alle drei<br />
zu Beginn ihrer Versuche mit Sicherheit eines<br />
nicht bedacht: Dass sie nicht die natürlichen<br />
Farben wiedergeben konnten. Stattdessen<br />
mussten sie sich mit einer Grauskala zufrieden<br />
geben (vgl. Thomas Ganz 1994, S. 90).<br />
46
Kerstin Kaufhold<br />
Inhalt<br />
1 Zur Camera obscura<br />
2 Thomas Bachler<br />
3 Vera Lutter<br />
4 Günter Derleth<br />
5 Im Inneren der<br />
Camera obscura<br />
Quellen<br />
Abb. 2: Wirkungsweise der<br />
Camera obscura<br />
Auf dem Kopf und<br />
seitenverkehrt:<br />
Arbeiten mit der Camera obscura<br />
Abbildung 1: Auf dem Kopf stehendes und seitenverkehrtes Bild in einer Lochkamera<br />
1 Zur Camera obscura<br />
„Die Camera obscura (lat. »dunkle Kammer«) ist<br />
die Urform der fotografischen Aufnahmekamera.“<br />
(Jäger 1996, S. 24). Obwohl sie technisch<br />
nicht im Geringsten mit den heutigen Kameras<br />
mithalten kann, wird sie noch von vielen Künstlern<br />
gern verwendet, da sie sich dadurch dem<br />
Fortschritt entziehen und wieder mit einfachsten<br />
Mitteln umgehen können. Die Lochkamera<br />
funktioniert relativ einfach: Wenn Licht durch<br />
eine sehr kleine Öffnung fällt, verwandelt es<br />
diesen Durchlass in eine Lochblende. Demzufolge<br />
wird das Innere des Raumes nicht wie<br />
üblicherweise erhellt. Stattdessen wird ein verkehrt<br />
herum gestelltes Abbild der Außenwelt<br />
im Inneren reflektiert (vgl. Bachler 2001, S. 8).<br />
Ganz (1994, S. 13) beschreibt diesen Vorgang<br />
folgendermaßen: „Durch ein kleines Loch fällt<br />
das Tageslicht in den geschlossenen Kasten der<br />
Camera obscura. Das Abbild der Aussenwelt<br />
erscheint Kopf stehend und seitenverkehrt auf<br />
der gegenüberliegenden Kastenwand.“ Durch<br />
diese und weitere Kennzeichen der Lochkamera<br />
ist es für Künstler immer wieder interessant,<br />
mit ihr zu arbeiten und stets neue Wege zu<br />
gehen. Durch unterschiedliche Handhabungen<br />
und Bauweisen können die abwechslungsreichsten<br />
Werke entstehen. Und diese Vielfalt<br />
möchte ich an einigen Beispielen von Künstlern<br />
vorstellen. Beginnen möchte ich mit Arbeiten<br />
von Thomas Bachler, der sich in sehr vielfältiger<br />
Weise mit der Lochkamera auseinander setzt.<br />
Immer wieder probiert er die Technik und<br />
damit sich selbst aus und entwirft neue Ideen<br />
47<br />
und Zugänge. In der folgenden Arbeit werden<br />
mehrere Serien von ihm präsentiert. Im<br />
Anschluss daran werde die Künstler Vera Lutter<br />
und Günter Derleth vorstellen. Da ich zu ihnen<br />
kaum Literatur gefunden habe, werde ich je<br />
nur ein Projekt beschreiben. Abschließend<br />
möchte ich einige Werke von Abelardo Morell<br />
zeigen, um zu verdeutlichen, wie es tatsächlich<br />
in einer Camera obscura aussieht.<br />
2 Thomas Bachler<br />
Thomas Bachler, 1961 geboren, ist ein sehr<br />
vielseitiger Künstler.„Schwerpunkt seiner künstlerischen<br />
Arbeit sind [jedoch] die sogenannten<br />
experimentellen Fototechniken, insbesondere<br />
Fotogramm und Camera obscura. Zahlreiche<br />
Ausstellungen und Veröffentlichungen im<br />
In- und Ausland weisen ihn als Experten für die<br />
künstlerische Dimension der Camera obscura<br />
aus.“ (Bachler 2001, S. 95) Im nun folgenden<br />
Teil meiner Arbeit werde ich einige ausgewählte<br />
Serien von ihm näher vorstellen.<br />
2.1 Reiseerinnerungen<br />
„Eine Paket–Lochkamera, auf Reisen geschickt,<br />
verhält sich durchaus touristisch: sie fotografiert<br />
ihren Ausflug.“ (Bachler 2001, S. 35) Der Unterschied<br />
ist jedoch, dass diese Kamera nicht, wie<br />
viele Reisende Dutzende von Fotos mit nach<br />
Hause bringt, sondern lediglich ein einziges.<br />
Und auf diesem einen „Schnappschuss“ wird<br />
die gesamte Reisezeit festgehalten. Die Rede ist<br />
hier von Bachlers Reiseerinnerungen, die 1985<br />
entstanden. Für die zwölf Motive baute er eine
Abb. 3: Eine der verwendeten<br />
Lochkameras.<br />
Abb. 4: Von Hannover nach<br />
Kassel<br />
Abb. 5: Von Frankfurt nach<br />
Kassel<br />
Abb. 6: Neben den Bahngleisen<br />
Abb. 7: Schulhof<br />
Lochkamera, welche gleichzeitig ein Postpaket<br />
darstellte und die für wenige Tage in Deutschland<br />
unterwegs war. Das Paket nahm seine Reise<br />
beispielsweise von Bonn, München, Berlin,<br />
Köln, Essen oder Bremen nach Kassel )Abb. 3).<br />
Die Belichtung des Bildes beginnt mit der<br />
Abgabe am Postschalter und endet erst nach<br />
etwa zwei Tagen an der Haustür des Empfängers<br />
Thomas Bachler. Demzufolge bringt das<br />
Päckchen eine Langzeitbelichtung der Reise mit<br />
nach Hause, welche zufälliger Art ist, da durch<br />
das Verschicken jegliche Kontrolle der Motivsuche<br />
verloren geht (Abb. 4 und 5). Aus diesem<br />
Grund ist es auch völlig absurd etwas in diese<br />
Bilder hineininterpretieren zu wollen. Jeglicher<br />
Versuch des Verstehens wäre zum Scheitern<br />
verurteilt.<br />
2.2 Tatorte – geschossene Camera obscura<br />
Fotografien<br />
Wenn hier die Rede von „geschossenen“<br />
Lochkamera-Fotografien ist, dann ist dieses<br />
ausnahmsweise wörtlich zu nehmen. Die 22 im<br />
Jahr 1995 entstandenen Bilder nahmen ihren<br />
Anfang in einer geschlossenen Camera obscura,<br />
die mit Hilfe eines Pistolenschusses<br />
geöffnet wurde. „Der Auslöser der Waffe ist<br />
Auslöser der Kamera – durch den Schuss wird<br />
der Ort zum Tatort.“ (Bachler 2001, S. 51)<br />
Erst durch den Schuss wird aus einer einfachen<br />
Kiste eine Lochkamera, wobei darauf geachtet<br />
werden muss, die Lochblende wieder zu schließen,<br />
um das Bild zu sichern. Die Kugel geht<br />
durch die Vorder- und Rückseite des Behältnisses<br />
und trifft dabei auch das Negativ, welches<br />
durch das Einschussloch das Zeichen der<br />
Tat festhält. Als Schauplätze wählt Bachler<br />
möglichst belanglose Orte, die eigentlich von<br />
den Menschen kaum noch wahrgenommen<br />
werden, wie beispielsweise Parkplätze, Bahnhöfe<br />
oder Grünanlagen. Diese Orte werden erst<br />
dann wieder bemerkt und betrachtet, wenn<br />
sich plötzlich auf dem Bild eines Schulhofes ein<br />
Einschussloch befindet und rund herum keine<br />
Menschenseele zu sehen ist. Dann erst werden<br />
wir zum Nachdenken angeregt (Abb. 6 und 7).<br />
2.3 Am Fenster<br />
„Jedes Zimmer ist mehr oder weniger eine<br />
camera obscura: ein dunkler Raum mit einem<br />
Fenster als Öffnung zur Außenwelt.“ (Bachler<br />
2001, S. 61) Aus diesem Grund denkt Bachler in<br />
seinem Projekt Am Fenster über das Verhältnis<br />
von Innen- und Außenwelt nach. In den etwa<br />
250 Bildern, die seit 1999 entstanden sind, zeigt<br />
er Innen- und Außenraum zugleich, indem er<br />
die Kamera dazwischensetzt (Abb. 8 und 9)<br />
Auf einem Fensterbrett eines geöffneten<br />
Fensters platziert er seine Lochkamera, welche<br />
dann die Trennung der beiden Räume darstellt,<br />
trotzdem aber die „Innenwand des Interieurs<br />
wie die Außenwand des jeweiligen Hauses“<br />
(Bachler 2002, S. 13) in einem Bild festhält.<br />
„Mit ihrer Weitwinkelperspektive – einer<br />
gebogenen Rückwand im Innern der Camera<br />
obscura – ahmt die Kamera die Raumschleife<br />
48<br />
Abb. 8: Treppenhaus in der Innenstadt<br />
Abb. 9: Teehäuschen an der Dammaschwiese<br />
zwischen Innen und Außen nach.“ (Bachler<br />
2002, S. 13)<br />
2.4 Bon Voyage!<br />
Für das Projekt Bon Voyage!, zu dem 1998 15<br />
Motive entstanden, baute Bachler einen LKW<br />
zu einer fahrenden Lochkamera um. Während<br />
der Reise mit diesem Fahrzeug wurde die zurückgelegte<br />
Strecke, welche je nach Licht- und<br />
Wegverhältnissen zum Teil bis zu 100 Kilometer<br />
lang war, aufgenommen. „Das Fahrtziel war<br />
immer der Fluchtpunkt, doch der entzog sich<br />
konsequent dem Erreichen.“ (http://www.thomasbachler.de/german/themen/obscura/o<br />
bscura.htm). Für die Fotos wurde Filmmaterial<br />
verwendet, welches nur für dieses Projekt<br />
angefertigt wurde. Sie scheinen nachts aufgenommen<br />
zu sein, vereinen trotzdem Licht und<br />
Finsternis in sich. Gleichzeitig scheint es keinen<br />
Abb. 10: Bon Voyage!
Abb. 11: Bon Voyage!<br />
Abb. 12: Selbstportrait<br />
Abb. 13: Selbstportrait<br />
Quellen<br />
Bachler, Thomas: Arbeiten mit<br />
der Camera obscura, Kassel,<br />
2001<br />
Derleth, Günther: Venedig.<br />
Camera obscura, Zürich,<br />
2000<br />
Ganz, Thomas: Die Welt im<br />
Kasten, Zürich, 1994<br />
Jäger, Gottfried: Primärform<br />
fotooptischer Gestaltung:<br />
die Camera obscura. In: Zwi<br />
schenzeit – Camera obscura<br />
im Dialog, Siegen, 1996<br />
Lutter, Vera: Light in Transit,<br />
Berlin, 2002<br />
Bachler, Thomas: Kunst und<br />
Fotografie, http://thomas<br />
Unterschied zwischen Bewegung und Stille<br />
zu geben (Abb. 10 und 11). „Thomas Bachler<br />
hat mit seiner Serie Langzeitbelichtungen und<br />
Langzeitfahrten [...] jeweils zu einem einzigen<br />
Bild des Straßenraums [...] verdichtet.“ (Bachler<br />
2001, S. 14)<br />
2.5 Das dritte Auge<br />
Thomas Bachler hatte die Idee, sich selbst als<br />
Kamera zu dienen. Dazu legte er ein Stück Film<br />
in den Mund und öffnete ihn kurz, um ihn als<br />
Lochblende zu nutzen. In dieser Art machte<br />
er 1999 etwa 50 Selbstportraits. Bachler selbst<br />
sagt über das Projekt: „Meinen eigenen Körper<br />
als Kamera nutzend, trat ich mit einem Stück<br />
Fotopapier im Mund vor den Spiegel. Die leicht<br />
geöffneten Lippen funktionierten als Lochblende<br />
und nahmen das Spiegelbild auf – ein Bild<br />
von mir in mir.“ (http://www.thomasbachler.<br />
de/german/themen/obscura/ob scura.htm)<br />
(Abb. 12 und 13). Kamera und Fotograf sind in<br />
dieser Serie eins. So ist die Kamera, wie eigentlich<br />
bei Selbstportraits vor dem Spiegel, nicht<br />
sichtbar, sie bleibt verborgen. „Oder erscheint<br />
die Kamera nicht doch in diesem Selbstportrait?<br />
Schließlich ist der Kopf das Gehäuse der Kamera,<br />
Aufnahmeraum die Mundhöhle, „Objektiv“<br />
der geschürzte Mund.“ (Bachler 2001, S. 15).<br />
In dieser Serie jedoch entstanden nicht nur<br />
Portraits des Künstlers selbst, sondern auch<br />
Aktaufnahmen, für die sich Bachler mit dem<br />
Filmstück vor Modellen postierte. Zwischen<br />
1998 und 2000 entstanden so acht Motive, in<br />
den hauptsächlich die Licht- und <strong>Schatten</strong>zonen<br />
in den Vordergrund treten und nicht die<br />
Umrisse des Körpers (Abb. 14und 15).<br />
Abb. 14: und 15 Aktaufnahmen<br />
3 Vera Lutter<br />
Die 1960 geborene Künstlerin Vera Lutter<br />
fotografiert unterschiedliche Formen von Beförderungsmitteln.<br />
In ihrem Langzeitprojekt „Void<br />
Transfer“ beschäftigt sie sich mit der Mobi<strong>lit</strong>ät in<br />
der heutigen Zeit. In dieser Arbeit möchte ich<br />
jedoch nur einen Ausschnitt dieses Projektes<br />
vorstellen. Lutter gibt diesem Teil, in welchem<br />
sich alles um den Frankfurter Flughafen dreht,<br />
den Namen „Light in Transit“.<br />
3.1 Light in Transit<br />
Lutter fotografiert in ihrem Projekt Flugzeuge<br />
auf dem Frankfurter Flughafen. „Was das<br />
Papier einfängt, hängt davon ab, wie lange<br />
das Objekt im »Blickfeld« bleibt. Leute, die sich<br />
schnell bewegen, verschwinden. Gebäudeteile<br />
49<br />
hingegen zeichnen sich messerscharf im Licht<br />
des Negativs ab.“ (Lutter 2002, S. 51) Durch<br />
dieses Phänomen herrscht auf den Bildern<br />
von einem der belebtesten Flughäfen der Welt<br />
völlige Stille. Als Kamera wählt Lutter Behältnisse<br />
aus, die assoziativ mit dem Reisen verknüpft<br />
sind. Bei kleineren Fotos entschied sie sich für<br />
einen alten Reisekoffer, in dem das Fotopapier<br />
direkt befestigt war. Größere Bilder entstanden<br />
in Containern, die zum Verschicken von Waren<br />
genutzt werden. Das Fotopapier, welches sich<br />
in diesen Kameras befand, war bis zu 148 cm<br />
breit. Teilweise brachte Lutter auch drei dieser<br />
Bahnen nebeneinander an, um größere Werke<br />
zu erhalten (Abb. 16). Die Fotos wurden zwi-<br />
Abb. 16: Frankfurt Airport IV<br />
schen dem 1. April und dem 20. Mai 2001 aufgenommen<br />
und hatten eine äußerst ausführliche<br />
Belichtungszeit. Zwischen zwei Stunden<br />
und fünf Tagen stellte die Künstlerin ihre Kameras<br />
vor dem zu fotografierenden Gegenständen<br />
auf. „Die extrem lange Belichtungszeit lässt eine<br />
Situation entstehen, die sowohl Traum als auch<br />
Wachheit kennt, derweil das kleine Loch alles<br />
Licht in sich bündelt und es auf dem Fotopapier<br />
fixiert.“ (Lutter 2002, S. 53) (Abb. 17 und 18).<br />
Abb. 17: Frankfurt Airport VIII<br />
Abb. 18: Frankfurt Airport, Engine
achler.de<br />
/german/themen/obscura/<br />
obscura.htm, Stand<br />
26.03.2007<br />
Ohne Autor: Abelardo Morell<br />
– Photographs, http://www.<br />
abelardo<br />
morell.net/camera_ob<br />
scura1.html, 2005, Stand<br />
28.03.2007<br />
Ohne Autor: arte fino, http://<br />
www.artefino.ch/ARTISTS/<br />
Guenter_<br />
Derleth/derleth_bio_frame.<br />
html, Stand 28.03.2007<br />
Abbildungen<br />
Abb. 01: Ohne Autor: http://<br />
www.lonet.de/home/1wolf/<br />
geogebra/<br />
lochkamera.html, Stand<br />
26.03.2005<br />
Abb. 02: Krahmer: Multimedia<br />
Physik, http://www.schul<br />
physik.de<br />
/java/lochkamera.html,<br />
30.05.2006, Stand<br />
26.03.2007<br />
Abb. 03: Camera obscura als<br />
Postpaket. In: Bachler, Tho<br />
mas:<br />
Arbeiten mit der Camera<br />
obscura, Kassel, 2001, S. 34<br />
Abb. 04: Thomas Bachler: Von<br />
Hannover nach Kassel, Unikate<br />
(Barytpapiernegative), 21 x<br />
29,5 cm, 1985<br />
Abb. 05: Thomas Bachler: Von<br />
Frankfurt nach Kassel, Unika-<br />
te (Barytpapiernegative),<br />
21 x 29,5 cm, 1985<br />
Abb. 06: Thomas Bachler: Ne<br />
ben den Bahngleisen, Abzü<br />
ge auf Barytpapier,<br />
selengetont, ca. 17 x 23 cm,<br />
1995<br />
Abb. 07: Thomas Bachler: Schul<br />
hof, Abzüge auf Barytpapier,<br />
selengetont,<br />
ca. 17 x 23 cm, 1995<br />
Abb. 08: Thomas Bachler:<br />
Treppenhaus in der Innen<br />
stadt, Kontaktkopien<br />
auf Barytpapier, 20,5 x 25<br />
cm, 1999<br />
Abb. 09: Thomas Bachler:<br />
Teehäuschen an der Dam<br />
maschwiese,<br />
Kontaktkopien auf Barytpa<br />
pier, 20,5 x 25 cm, 1999<br />
Abb. 10: Thomas Bachler: Bon<br />
Voyage!, S/W-Film, 105 x<br />
150 cm, 1998<br />
Abb. 11: Thomas Bachler:<br />
Abb. 19: Canale di San Marco<br />
4 Günter Derleth<br />
Der 1941 geborene Günter Derleth arbeitet seit<br />
1993 intensiv mit der Lochkamera. „Den technischen<br />
Ballast hinter mir lassen, wieder sehen<br />
und fühlen lernen. - So begründet der Fotograf<br />
Günter Derleth seine Faszination für die archaische<br />
Lochkamera.“ (http://www.artefino.ch/<br />
ARTISTS/Guenter_Derleth/derle th_bio_frame.<br />
html) Unter anderem entstanden die Projekte<br />
„Cinque Terre”, „Ruta de la Plata”, „Botanik I und<br />
II” mit der Camera obscura. Seine wohl bekannteste<br />
Serie aber werde ich nun näher vorstellen.<br />
4.1 Venedig<br />
Wie der Titel schon vermuten lässt, zeigt die<br />
Serie Venedig Fotos der Lagunenstadt. „Wer<br />
schon einmal in Venedig gewesen ist, bei dem<br />
Abb. 21: Canal Grande<br />
50<br />
Abb. 20: Fondamenta dei Frari<br />
werden diese [Bilder] eine zauberhafte und<br />
geheimnisvolle Erinnerung wachrufen; für alle<br />
anderen werden sie eine unwiderstehliche<br />
Einladung sein, eine der wohl verlockendsten<br />
Städte der Welt zu besuchen. Der Fotograf<br />
Günter Derleth hat die Essenz und den Geist<br />
dieser Verlockung eingefangen [...].“ (Derleth<br />
2000, S. 4) Fotografiert hat er die Stadt nicht<br />
mit einer selbst gebauten Lochkamera, sondern<br />
mit „The Robert Rigby Pinhole Cameras“.<br />
Das besondere der Camera obscura ist, dass<br />
das Loch Dinge sieht, die der Linse verborgen<br />
bleibt. Durch den Umstand, dass ein Sucher<br />
gänzlich fehlt, zeigen die Bilder immer wieder<br />
ein überraschendes Element, erst nach dem<br />
Entwickeln kann der Fotograf sagen, was er<br />
eigentlich fotografiert hat. Immer wieder ist er<br />
Abb. 22: Campo San Stefano, vetrina
Bon Voyage!, S/W-Film,<br />
105 x 150 cm,<br />
1998<br />
Abb. 12: Thomas Bachler:<br />
Das dritte Auge - Selbst<br />
portrait: Unikate<br />
auf S/W-Positivpapier, ca.<br />
3,5 x 5 cm, 1999<br />
Abb. 13: Thomas Bachler:<br />
Das dritte Auge - Selbst<br />
portrait: Unikate<br />
auf S/W-Positivpapier, ca.<br />
3,5 x 5 cm, 1999<br />
Abb. 14: Thomas Bachler:<br />
Das dritte Auge - Aktauf<br />
nahmen: Abzüge<br />
auf Barytpapier, 60 x 50<br />
cm, 1998-2000<br />
Abb. 15: Thomas Bachler:<br />
Das dritte Auge - Aktauf<br />
nahmen: Abzüge<br />
auf Barytpapier, 60 x 50<br />
cm, 1998-2000<br />
Abb. 16: Vera Lutter: Frank<br />
furt Airport IV: April 13,<br />
2001,<br />
ca. 218 cm x 426 cm<br />
Abb. 17: Vera Lutter: Frank<br />
furt Airport VIII: April 28,<br />
2001,<br />
208 cm x 142 cm<br />
Abb. 18: Vera Lutter: Frank<br />
furt Airport, Engine: April<br />
19,<br />
2001, ca. 48 cm x 56 cm<br />
Abb. 19: Günter Derleth:<br />
Canale di San Marco,<br />
2000<br />
Abb. 20: Günter Derleth:<br />
Fondamenta dei Frari,<br />
2000<br />
Abb. 21: Günter Derleth:<br />
Canal Grande, 2000<br />
Abb. 22: Günter Derleth:<br />
Campo San Stefano, vetri<br />
na, 2000<br />
Abb. 23: Abelardo Morell:<br />
Camera Obscura Image of<br />
Boston‘s Old<br />
Customs House in Hotel<br />
Room, Boston, MA, 1999<br />
Abb. 24: Abelardo Morell:<br />
Camera Obscura Image of<br />
The Philadelphia<br />
Museum of Art East Ent<br />
rance in Gallery #171<br />
with a deChirico Painting,<br />
2005<br />
Abb. 25: Abelardo Morell:<br />
Camera Obscura Image of<br />
Tuscan Landscape<br />
in Large Bedroom, Flo<br />
rence, Italy, 2000<br />
ahnungslos, weiß nicht, was das Negativ letztlich<br />
festhält. Ein weiteres Merkmal der Kamera<br />
ist, dass durch die lange Belichtungszeit bewegte<br />
Gegenstände nicht erfasst werden oder<br />
durchsichtig erscheinen. So kommt es dazu,<br />
dass Derleths Bilder ein Venedig zeigen, wie es<br />
wohl kaum jemand kennt: Die Stadt ist menschenleer,<br />
nichts rührt sich, selbst das Wasser<br />
zeigt keinerlei Bewegung. „Durch seine eigene<br />
innere Vision hat der Fotograf mehr eingefangen<br />
als nur Venedig als Objekt [...]. Hier finden<br />
wir ein Venedig vor, das eng mit den persönlichen<br />
Erlebnissen, mit Träumen, Geheimnissen,<br />
Erinnerungen, mit einer ganzen Palette von<br />
menschlichen Gefühlen verknüpft sind.“ (Derleth<br />
2000, S. 4) (Abb. 19 und 20). Nichts scheint<br />
real auf diesen Bildern, es stellt eher Illusionen<br />
eines Ortes dar, der nicht zu existieren scheint.<br />
Und diese Wirkung entsteht vor allem durch<br />
die Arbeit mit der Lochkamera, denn „[d]as Bild<br />
entsteht während der Aufnahme, nicht durch<br />
nachträgliche Bearbeitung. Es ist ein stilles<br />
Bild, das Ruhe und Besinnung voraussetzt und<br />
ausstrahlt. [...] Die Arbeit mit der Lochkamera,<br />
der Camera obscura, führt zurück zu den<br />
fotografischen Wurzeln und ist daher vielleicht<br />
die ideale Technik, um der außergewöhnlichen<br />
Stimmung Venedigs gerecht zu werden.“<br />
(http://www.artefino.ch/ARTISTS/Guenter_De<br />
rleth/derleth_bio_frame.html) (Abb. 21 und<br />
22).<br />
5 Im Inneren der Camera obscura<br />
Abschließend möchte ich anhand von einigen<br />
Fotos darstellen, wie man sich das Innere einer<br />
Camera obscura tatsächlich vorstellen kann.<br />
Dazu möchte ich ein paar Fotos des 1948 geborenen<br />
Künstlers Abelardo Morell vorstellen.<br />
Er baute verschiedenste Innenräume, zumeist<br />
Hotelzimmer, zu einer Camera obscura um<br />
und fotografierte diese Räume dann. So kamen<br />
auf einem Bild beispielsweise ein Bett oder ein<br />
Stuhl beziehungsweise eine komplette Einrichtung<br />
mit dem Empire State Building oder der<br />
Tower Bridge zusammen – natürlich auf dem<br />
Kopf und seitenverkehrt (Abb. 23 , 24 und 25).<br />
51<br />
Abb. 23: Camera Obscura Image of Boston‘s<br />
Old Customs House in Hotel Room<br />
Abb. 24: Camera Obscura Image of The Philadelphia<br />
Museum of Art East Entrance in Gallery<br />
#171 with a deChirico Painting<br />
Abb. 25: Camera Obscura Image of Tuscan<br />
Landscape in Large Bedroom
Isabel Herling<br />
Inhalt<br />
1 Einleitung<br />
2 Zur Person<br />
3 Kunst<br />
4. Lichtspiel<br />
Quellen<br />
Abbildungen<br />
Laszlo Moholy-Nagy :<br />
Lichtmodulationen<br />
Abb. 17: Laszlo Moholy-Nagy, „Lichr-Raummoduölator“<br />
1. EINLEITUNG<br />
“Alles menschliche Leben hat seine <strong>Schatten</strong>,<br />
ohne <strong>Schatten</strong> ist nichts menschlich. Aber diese<br />
typische Studiobeleuchtung, dieses ungesundes<br />
Kreuzfeuer von Lichtstrahlen schafft eine<br />
schattenlose Welt, die reizlos ist. Es gibt eine<br />
Wechselwirkung von hervortretenden und zurückweichenden<br />
Formen in jeder Bewegung,<br />
eine von ihnen ist immer unscharf” 1<br />
... war Moholy-Nagys Auffassung nicht nur<br />
als Filmemacher. Für Moholy-Nagy spielte das<br />
Licht eine tragende Rolle in der Verbesserung<br />
der Gesellschaft und des täglichen Lebens. Auf<br />
verschiedene Arten und scheinbar unermüdlich<br />
arbeitete er daran, die Sinne des Menschen<br />
zu sensibilisieren, besonders ihren Sinn für<br />
das Sehbild der Dinge, für optische Reize, für<br />
das Licht-<strong>Schatten</strong>-Spiel und die Räume, die<br />
dadurch entstanden. Das Licht hatte er als sein<br />
Medium erkannt, um Kunstwerke zu entwickeln<br />
und zu kreieren, die irritierten, verzauberten,<br />
aufmerksam machten durch ungewohnte<br />
Kombinationen, Betrachtungsweisen, Positionen<br />
und Erscheinungen. “Die Herstellung einer<br />
spontanen Beziehung zwischen Betrachter und<br />
Objekt wurde das Ziel seiner Arbeit” 2 Als Künstler<br />
der Avantgarde beschäftigte auch er sich<br />
mit der Relativität von Zeit und Raum und Mate-<br />
52<br />
ria<strong>lit</strong>ät und Farbe. Die Darstellung der Lichtbewegung,<br />
diese immaterielle und doch einzige<br />
Konstante, und den durch sie geformten Raum<br />
versuchte er experimentell zu erforschen und<br />
künstlerisch zu verwirklichen. “Der erste [...]<br />
Lichtmodulator war nicht mehr gewesen als<br />
eine Übertragung der malerischen Form auf ein<br />
Medium, das auch den <strong>Schatten</strong> dieser Form<br />
enthielt.” 3 Dabei ging es Moholy-Nagy um die<br />
Modulation der Farbe durch Licht. Die Lichtmodulatoren<br />
waren der Übergang von der<br />
Form zur Bewegung und von der Farbe zum<br />
Licht. 1936 schuf Moholy-Nagy ein kinetisches<br />
Lichtbild, das aus zwei Azetatkunststoff-Blättern<br />
bestand, die mittig an einem Sperrholzhintergrund<br />
angebracht waren, so dass sie sich wie<br />
Buchseiten hin und her bewegen ließen. Dadurch<br />
veränderte sich der Luftraum zwischen<br />
den verschiedenen Schichten des Bildes und<br />
eine Vielzahl an Licht- und Farbkombinationen<br />
konnten erzeugt werden (Abb. 1). Sein nächster<br />
Schritt “war die kinetische Skulptur [...], die<br />
von der Kinetik des Lichtes und der Kinetik der<br />
Bewegung moduliert wird,”. 4 So wie das Licht<br />
das Pigment abgelöst hatte, sollte das feste Volumen<br />
der statischen Skulptur in einen begrenzten<br />
Raum aufgelöst, das Volumen der Skulptur<br />
ein virtuelles werden. In der Bewegung
Abb. 1 Bewegliches Bild mit<br />
Spiralfeder, 1936. Ölbild und<br />
mit Linien eingeritzte Zelluloidplatten,<br />
montiert auf einen gemalten<br />
Hintergrund. Position I<br />
Abb. 2 Plexiglas-Mobile mit<br />
Chromstab an einem Stahldraht<br />
vor schwarzem Hintergrund<br />
aus Tich, 1943<br />
Abb. 3. Mobile Abb. 2 in<br />
Bewegung.. Enstehung eines<br />
virtuellen Volumens<br />
schuf die Form ein Volumen aus reflektiertem<br />
Licht. Diese kinetischen Skulpturen nannte<br />
er Raummodulatoren (Abb. 2/3). Bewegte,<br />
reflektierende Formen und Gegenstände setzte<br />
er auch bei der Fotogrammherstellung ein. Den<br />
‚Licht-Raum-Modulator‘ hatte er zu Beginn als<br />
Modell einer elektrischen Bühne entworfen.<br />
Das Modulieren mit Licht beschäftigte ihn in<br />
allen Gebieten – in Bühnengestaltung, Malerei,<br />
Plastik, Fotografie, Film, Architektur. Für ihn gab<br />
es keine Grenzen zwischen den Bereichen, alles<br />
war Teil seines “Totalexperiments” zwischen<br />
Licht und <strong>Schatten</strong> und in Bewegung.<br />
2 Zur Person<br />
Am 20. Juli 1895 erblickte in Südungarn in Bacbarsod<br />
Laszlo Weisz das Licht der Welt. 1913<br />
nahm er in Budapest sein Jurastudium auf, aber<br />
schon im Jahr darauf leistete er Kriegsdienst in<br />
der österreichisch-ungarischen Armee. Während<br />
eines Lazarettaufenthaltes 1915, als er die<br />
Geschehnisse um ihn herum nicht mehr durch<br />
Schreiben bewältigen konnte, fertigte er die<br />
ersten Kreide- und Tuschzeichnungen an. Das<br />
Jurastudium brach er 1918 ab und arbeitete in<br />
Szeged als Maler. 1922 entstanden zusammen<br />
mit Lucia Moholy-Nagy die ersten Fotogramme<br />
und auch die ersten Skizzen zum ‚Lichtrequisit‘.<br />
Ab dem Frühjahr 1923 lehrte Moholy-Nagy am<br />
Bauhaus in Weimar, dessen Gründer Walter<br />
Gropius ein Gegenmodell zu den traditionellen<br />
Kunstakademien schaffen wollte. In ‚BROOM‘<br />
wurden erstmals Fotogramme von Moholy-<br />
Nagy und Man Ray publiziert. Zusammen mit<br />
Gropius arbeitete Moholy-Nagy 1924 an der<br />
Publikation der ‚Bauhausbücher‘. Im selben<br />
Jahr wurde das Bauhaus in Weimar aufgrund<br />
po<strong>lit</strong>ischen Drucks von rechts aufgelöst. 1925<br />
erschienen die ersten Bauhausbücher, darunter<br />
auch Moholy-Nagys Werk “Malerei-Photographie-Film”.<br />
Noch im selben Jahr übernahm<br />
Dessau das Bauhaus, welches im Dezember<br />
1926 eingeweiht wurde. 1928 verließ Moholy-<br />
Nagy zusammen mit Gropius das Bauhaus, da<br />
er glaubte, dort seine Vorstellungen und Ideale<br />
nicht mehr verfolgen zu können und zog nach<br />
Berlin. Als letztes Bauhausbuch erschien “von<br />
material zu architektur”. In der Pariser Werkbundausstellung<br />
1930 wurde erstmals sein “Lichtrequisit”<br />
als kinetische Skulptur ausgestellt. Der<br />
Film “Lichtspiel schwarz-weiß-grau” entstand.<br />
1937 nahm Moholy-Nagy ein durch Gropius<br />
vermitteltes Angebot an und wurde Leiter der<br />
neu gegründeten Designschule “Association<br />
of Arts and Industries” in Chicago. Die Schule<br />
bekam von ihm den Namen “New Bauhaus”.<br />
Doch schon 1938 wurde das “New Bauhaus”<br />
geschlossen. Das veranlasste Moholy-Nagy<br />
1939 u.a. zusammen mit G. Kepes, H. Bredendiek,<br />
Ch. Morris in Chicago eine eigene “School<br />
of Design” zu gründen. Von 1940 bis 1944<br />
fand der Ausbau der Schule mit modernstem<br />
Programm und bestem Lehrkörper statt. Die<br />
ganze Zeit über verlangte die Finanzierung dieser<br />
Unternehmung, die unsicher blieb, von Moholy-Nagy<br />
ein hohes Engagement. 1944 wurde<br />
53<br />
die Schule zum “Institute of Design” (Hochschule)<br />
umgewandelt. Am 24.11. 1946 starb Laszlo<br />
Moholy-Nagy an Leukämie. Sein Werk “Vision<br />
in Motion” erschien posthum 1947.<br />
Moholy-Nagys Leben als Pädagoge, Gestalter,<br />
Künstler war davon geprägt, Mittel und<br />
Methoden bereitzustellen, mit deren Hilfe die<br />
Sinnesorgane des Menschen sensibilisiert und<br />
geschult werden konnten. Der Mensch sollte<br />
in seiner ganzheitlichen Entwicklung gefördert<br />
werden. Moholy-Nagy wollte die Trennung<br />
von Leben und Arbeit aufheben, wobei er der<br />
Meinung war, dass die Impulse zur Änderung<br />
nur vom schöpferischen Menschen ausgehen<br />
könnten. Diese Ansichten sah Moholy-Nagy<br />
im Selbstverständnis des Bauhauses verwirklicht.<br />
Moholy-Nagy war überzeugt von einer<br />
Lehrmethode, die ein erlebnishaftes Begreifen<br />
des Materials vermittelte, “anstatt Anhäufung<br />
von unfruchtbarem lexikalischen Wissen” 5 . Ihm<br />
ging es darum, dem Spezia<strong>liste</strong>ntum, dem sektorenhaften<br />
Ausbilden einzelner Fähigkeiten<br />
entgegenzuwirken und den Mensch in den Mittelpunkt<br />
zu stellen, nicht die Produktionskraft.<br />
Er hoffte, dadurch würde sich eine humanere<br />
Gesellschaft bilden, in der sich jeder vollständig<br />
einbringen könne. Diese Ideen fanden sich<br />
in der Lehrmethode des ‚Institute of Design‘<br />
wieder:<br />
“Dies ist weniger Schule, vielmehr Labor, in<br />
dem nicht die Ergebnisse zählen, sondern<br />
die Wege auf denen die Ergebnisse erreicht<br />
werden. Jeder Student muss alles geben, was<br />
er hat. Der Maßstab unserer erzieherischen<br />
Bemühungen sind sie [die Studenten] als<br />
menschliche Wesen, nicht in ihrer Eigenschaft<br />
als zukünftige Möbeldesigner oder<br />
Grafiker. Ihr Gehirn, ihre Hände, ihre Emotionen,<br />
ihre Gesundheit – all dies gehört zum<br />
Arbeitsprozess.” 6<br />
3. Kunst<br />
Fotogramme: Erste Fotogramme entstanden<br />
schon im 19. Jahrhundert als William Henry<br />
Fox Talbot flache Objekte (Pflanzen, Spitze) auf<br />
präpariertes lichtempfindliches Papier legte,<br />
so einfache Kontaktbelichtungen von Blättern<br />
und Geweben bereits 1834 herstellte und diese<br />
“Fotogenic drawings” nannte – was so viel<br />
bedeutet wie “mit Licht erzeugte Naturabdrücke”<br />
(Abb. 4). Wie in “Fotografie ohne Kamera”<br />
1920 von dem Biologe Paul Lindner dokumentiert,<br />
waren Fotogramme in der empirischer Biologie<br />
geläufig, denn das Licht brachte auf dem<br />
mit Chromsilber präparierten Papier Ergebnisse<br />
hervor, mit denen Naturerscheinungen<br />
exakt abgebildet und dadurch “beweiskräftig”<br />
wurden. Er nannte seine, in direkter Projektion<br />
durch paralleles Licht auf Fotopapier entstandenen,<br />
Aufnahmen von naturkundlichen Präparaten<br />
“<strong>Schatten</strong>bildphotogramme”. Der Lichtabdruck<br />
wurde in der Amateurfotografie populär,<br />
lange bevor er von Künstlern verwandt wurde.<br />
Anwendung als künstlerisches Ausdrucksmittel<br />
fand er wahrscheinlich erstmals bei 1918 Chris-
Abb. 4 Henry Fox Talbot,<br />
Botanical Specimen, 1839,<br />
„Photogenic drawing“<br />
Abb. 5 Christian Schad,<br />
Renseignement sp/ mo (Schadographie<br />
Nr. 21), Fotogramm<br />
auf Tageslich-Auskopierpapier,<br />
10,8 x 8,9 cm, Genf 1919<br />
Abb. 6 Man Ray, ohne Titel,<br />
Paris 1922; als loses Blatt eingelegt<br />
in die Zeitschrift ‚Les Feuilles<br />
libres‘, Nr. 26, Paris 1922<br />
tian Schad (Abb. 5) und 1921 Man Ray (Abb.<br />
6/ 7), die ohne Kenntnis voneinander arbeiteten.<br />
Nur kurze Zeit darauf begannen Lucia<br />
und Laszlo Moholy-Nagy (1922), sich mit dem<br />
Fotogramm zu beschäftigen, ebenfalls ohne<br />
dass sie von den anderen wussten (Abb. 8/ 9).<br />
Das Fotogramm war als künstlerisches Medium<br />
noch völlig unverbraucht und besaß durch<br />
das einfache zugrunde liegende Verfahren<br />
die Sprengkraft, die traditionelle Kunstpraxis<br />
herauszufordern. Die gezielte Einbeziehung der<br />
Technik in die Kunst und der neue Anspruch<br />
der Künstler, Erfinder zu sein machten das<br />
Fotogramm gerade in dieser Zeit für das künstlerische<br />
Vorgehen interessant. Andreas Haus<br />
interpretierte die Situation so: “Fotogramm ist<br />
also ein eingeführter Name für Aufnahmen mit<br />
wissenschaftlicher Authentizität, und in eben<br />
diesem Bereich agierte Moholy, wenn er systematisch<br />
‚das Licht‘ sichtbar machen wollte” 7 .<br />
Verfahren: Die Herstellung eines Fotogramms<br />
ist im Grunde schnell erklärt. Auf einer lichtempfindlichen<br />
Schicht werden flache oder<br />
plastische Gegenstände angeordnet und dann<br />
wird belichtet. Die Trägerschicht bleibt an<br />
den verdeckten Stellen hell und wird schwarz,<br />
wo das Licht direkt auftraf – hier passiert also<br />
eine Umkehrung; die <strong>Schatten</strong> der Gegenstände<br />
bleiben hell, da die lichtempfindliche<br />
Schicht an diesen Stellen abgedunkelt bleibt<br />
und so geschützt wird. Dort, wo das Licht<br />
ungehindert auftrifft entstehen schwarze<br />
Flächen. Werden flache Gegenständen und<br />
dabei senkrechte Lichtbestrahlung benutzt,<br />
so ähneln die schwarz- grundierten Bilder mit<br />
weißen Figuren Holz- oder Linolschnitten und<br />
die Effekte sind vorhersehbar. Doch variiert<br />
man das Grundverfahren zum Beispiel indem<br />
bewegte Lichtquellen eingesetzt oder Doppel-<br />
belichtungen vorgenommen werden, bis hin<br />
zum Experimentieren mit rotierenden Objekten<br />
im Stroposkoplicht, so sind die Ergebnisse nicht<br />
mehr so gut bis gar nicht mehr vorhersehbar.<br />
Der experimentelle Charakter bzw. die Offenheit<br />
der Resultate steigt mit der Anzahl an<br />
Variablen. Der bedeutendste Unterschied zur<br />
Fotografie ist, dass Fotogramme nicht reproduziert<br />
werden können. Es gibt keine Negative,<br />
sie selbst sind das Negativ. Im Grunde sind<br />
Fotogramme manuell hergestellte Unikate.<br />
Laszlo begann zusammen mit Lucia Moholy-<br />
Nagy frühestens im Spätsommer 1922 erste<br />
einfache Versuche auf damals in Amateurkreisen<br />
verbreitetem Auskopierpapier, welches<br />
noch mit Tageslicht bestrahlt werden musste.<br />
Zunächst stellte auch er Lichtabdrucke von Gegenständen<br />
her, doch er setzte dabei von Hand<br />
bewegte Lichtquellen ein, arbeitete mehrstufig,<br />
wobei der Produktionshergang noch mehr<br />
ins Zeitliche gedehnt wurde durch mehrere<br />
Belichtungen zwischen denen die “Lichtmodulatoren”<br />
verschoben und die Auflagen teilweise<br />
abdeckt wurden. Die Gegenstände, deren<br />
<strong>Schatten</strong> die Lichtformen des Fotogramms<br />
bilden sollten, waren selten platt, vollständig<br />
54<br />
Abb. 7 Man Ray, ohne Titel (Rayographie), 24<br />
x 18 cm (vermutlich), Paris 1922 (abgebildet in<br />
BROOM und in ‚Malerei Fotografie Film‘)<br />
Abb. 8 Laszlo Moholy-Nagy,<br />
ohne Titel,<br />
Fotogramm 1922<br />
Abb. 9 Laszlo Moholy-Nagy,<br />
ohne Titel,<br />
Fotogramm 1922<br />
im Bild und meist lagen sie nur mit wenigen<br />
Kanten und Punkten auf dem Papier auf (Abb.<br />
10). Bei diesem bereits räumlichen Aufbau<br />
über dem Papier, der meist von zwei oder mehr<br />
Seiten beleuchtet wurde, ergaben sich mehrfach<br />
überschneidende <strong>Schatten</strong>projektionen.<br />
Als den Moholy-Nagys ab 1926 eine professionelle<br />
Dunkelkammer am Dessauer Bauhaus zur<br />
Verfügung stand, tauschten sie das langsam<br />
reagierende Tageslicht-Auskopierpapier gegen<br />
schneller zu verarbeitendes, auf Kunstlicht<br />
reagierendes Bromsilberpapier aus. Sie verwendeten<br />
wandernde Lichtquellen, so dass<br />
der <strong>Schatten</strong> das Papier kontinuierlich überstrich.<br />
Den zeitlich und räumlich mehrteiliger<br />
Produktionsprozess spiegeln die Fotogramme<br />
in einer fast ‚ereignishaften‘ Weise wider. Die<br />
entstandenen Lichtschichten löschen einander<br />
aus oder überlagern sich und die real sichtbare<br />
weiße Schicht auf dem Bild war keine stehen<br />
gebliebene Schicht, sondern rohe, unbearbeitete<br />
‚Leinwand‘. Der Gebrauch von anderen
Abb. 10 Laszlo Moholy-Nagy,<br />
Fotogramm 1922/ 1926(?)<br />
11 Laszlo Moholy-Nagy,<br />
Fotogramm 1925-29<br />
Entwicklungsemulsionen, die auf unterschiedliche<br />
Wellenlänge des Lichtes reagierten, ermöglichte<br />
eine differenzierte Graupalette. Anne<br />
Hoormann merkt in ihrem Buch “Lichtspiele”<br />
dazu an:<br />
“Obwohl Moholy-Nagy davon ausging, dass<br />
das Fotogramm mit geeigneten Chemikalien<br />
auch farbig gestaltet werden könne, bevorzugte<br />
er dennoch das fotografische Schwarz<br />
– Weiß. In diesem sah er die visuelle Welt der<br />
Moderne verkörpert. Geradezu unmerklich,<br />
so seine These, habe sich die visuelle Welt der<br />
Großstadt zur Farblosigkeit verändert, zum<br />
Grau hin verschoben: [...] das alle Farbigkeit<br />
aufhebende Tempo der Moderne.” 8<br />
Dabei folgte er dem Experiment des Farbkreisel:<br />
durch schnelles Drehen werden alle Farben<br />
zu Grau vermischt. Während der Dessauer<br />
Bauhaus-Zeit verzichtete er auf den Gegenstand<br />
und arbeitete mit reinen Lichteffekten.<br />
Lucia und Laszlo wollten das ‚direkte Licht‘.<br />
Laszlo Moholy-Nagy beschreibt den Vorgang<br />
des Herstellens in dem Buch “von material zu<br />
architektur” so:<br />
“auf polierte flächen, metall, künstliche<br />
materialien usw. werden mithilfe von spritzapparaten<br />
dünnste, irisierende, fließende<br />
farbschichten aufgetragen, die durch den reflektierenden<br />
spiegelnden untergrund aufgelockert,<br />
fluktuierend erscheinen. durch spiegelung<br />
und reflexe dringt die umgebung in die<br />
bildebene ein – die seit dem impressionismus<br />
erstrebte flächenhaftigkeit wird aufgelöst. die<br />
fläche wird zu einem teil der atmosfäre, des<br />
atmosfärischen grundes, indem sie die außer<br />
ihr existierenden lichterscheinungen aufsaugt;<br />
sehr im gegensatz zu früher, als das bild nur<br />
ein zur landschaft hin geschnittenes loch,<br />
eine illusionistische fensteröffnung war. dieses<br />
stadium ist gewissermassen der abschluß des<br />
impressionismus: die überwindung der fläche<br />
nicht zur plastik, sondern zum raum hin.” 9<br />
In den Fotogrammen zeigt sich kein perspektivischer,<br />
sondern ein illusionistischer Tiefenraum,<br />
der durch so genannte ‚Lichtmodulierung‘<br />
erzeugt wurde. Das modulierte Licht artikuliert<br />
sich in Moholy-Nagys Fotogrammen<br />
durch helle Volumina, die aus der Tiefe des<br />
Raumschwarz hervortreten (Abb.11/ 12). Die<br />
Fläche wird durch die Bearbeitung zu Tiefe<br />
– wobei die tiefsten Stellen dort erscheinen,<br />
wo das Licht am intensivsten einwirken konnte.<br />
Die höchste Intensität der Lichtwirkung wird<br />
jedoch nicht durch den Schwarz-Weiß-Kontrast<br />
erreicht, sondern durch das fein differenzierte<br />
Grau, das sich in einem schwarzen Kontinuum<br />
bewegt, wodurch es zu einem unendlichen<br />
Fließen ins letztendlich schwarze “Nichts”<br />
kommt. Eben um die Wirkung seiner Fotoramme<br />
ganz auf die Lichtmodulation zu konzentrieren,<br />
erzeugte Moholy-Nagy Räumlichkeit<br />
nur durch Licht, das sich je nach Berechnungswinkel<br />
und Einwirkzeit in seinen wechselnden<br />
Intensitäten abbildete, ablesbar an den unter-<br />
55<br />
schiedlichen Grautönen. Er inszenierte gewissermaßen<br />
verschiedenen Bewegungstempi des<br />
Lichtes, die in der Abstufung der unterschiedlichen<br />
Grauwerte in Erscheinung treten. Moholy-<br />
Nagy nannte seine Fotogramme “Lichtkompositionen”.<br />
Schon die frühesten erhaltenen Bilder<br />
sind keine einfachen “<strong>Schatten</strong>bilder” irgendwelcher<br />
Gegenstände, sondern diese dienten<br />
dazu, Lichtstrahlen zu lenken, zu brechen, aufzuspalten<br />
– das Licht zu modulieren, sprich die<br />
Einzelkomponenten, durch die der Zustand des<br />
Lichts, die Lichterscheinung bestimmt wurden,<br />
zu verändern bzw. verschiedentlich anzuordnen/<br />
zusammenzusetzen. Dadurch entstand<br />
eine neue Art von Fotogrammen, sozusagen<br />
Aufzeichnungen direkter Lichteinwirkungen.<br />
3. Lichtspiel<br />
Begriff und Wortbedeutung: Als Kunstgattung<br />
gehört das Lichtspiel zur kinetischen Kunst,<br />
deren Koordinaten Zeit und Raum sind, doch<br />
es findet auch Anwendung im Kino oder im<br />
öffentlichen Raum.<br />
Die Variante der Filmrezeption über die Lichtkinetik<br />
fand in Deutschland ihre Repräsentation<br />
im Bauhaus, De Stijl und Dadaismus sowie im<br />
nachexpressionistischen Film. Die Manifeste der<br />
Künstler beschäftigten sich mit dem Licht. Sie<br />
forderten eine Neuordnung der Kunst, in der<br />
der Film als Antrieb künstlerischer Innovation<br />
galt und Licht als Gestaltungsmittel fungierte.<br />
Die Kritik an der Kunsttradition setzte an der<br />
Malerei an, betraf aber auch andere Kunstgattungen.<br />
Dabei bildete die Malerei das Referenzmedium<br />
zum Film, nicht die Fotografie. Die<br />
Farbpigmente wurden durch Lichtprojektion<br />
ersetzt Moholy-Nagy erschien die Einführung<br />
des Lichts als elementares Gestaltungsmittel für<br />
zeitgemäße Kunst nur konsequent. Denn das<br />
traditionelle Tafelbild sei mit den technischen<br />
Bildmedien “historisch geworden und vorbei” 10<br />
In einem programmatischen<br />
Text in der<br />
ungarischen Zeitschrift<br />
‚Telehor‘ fasste er<br />
1936 verschiedene<br />
Formen des Lichtspiels<br />
zusammen<br />
und unterteilte sie je<br />
nach Aufführungsort:<br />
den abstrakter Film,<br />
das „reflektorisches<br />
Lichtspiel“ und das<br />
Farblichtklavier für<br />
den geschlossener<br />
Raum; das Lichtfresko<br />
in der Architektur<br />
und im freien Raum<br />
die Lichtreklame,<br />
Scheinwerferkanone,<br />
Lichtprojektionen auf<br />
Wolken und das Städ-<br />
Abb. 12 Spielzeug,<br />
aus: von material zu<br />
architektur,1929<br />
telichtspiel. Die von<br />
Moholy als Lichtspiel<br />
klassifizierte Kunstformen<br />
“dokumen-
Abb. 13-15 Filmstills aus Lichtspiel<br />
schwarz-weiß-grau, 1930<br />
tieren die technischen Visionen ihrer Zeit und<br />
spiegeln die Konzepte, mit denen sich Künstler<br />
über Technik eine außerkünstlerische Praxis<br />
zu erschließen suchten, die zu einer Transformation<br />
der Kunst, wenn nicht sogar zu einem<br />
>>Ausstieg
4 QUELLEN<br />
Baatz, Willfried: Geschichte der<br />
Fotografie, DuMont, Köln<br />
1997<br />
Glüher, Gerhard: Laszlo Moho<br />
ly-Nagy, Frühe Photogra<br />
phien, Das Foto-Taschen<br />
buch 16, Verlag Dirk Nishen,<br />
Berlin, 1989<br />
Haus, Andreas: Laszlo Moholy-<br />
Nagy, Fotos und Fotogram<br />
me, München: Schirmer-Mo<br />
sel, 1978<br />
Hawking, Stephen und Mlo<br />
dinow, Leonard: Die kürzes<br />
te Geschichte der Zeit,<br />
Rowohlt Taschenbuch Ver<br />
lag, Hamburg, November<br />
2006<br />
Heyne, Renate und Neusüss,<br />
Floris M.: Das Fotogramm in<br />
der Kunst des 20. Jahrhun<br />
derts, Die andere Seite der<br />
Bilder – Fotografie ohne<br />
Kamera, DuMont Buchver<br />
lag, Köln 1990<br />
Hoormann, Anne: Lichtspie<br />
le, Zur Medienreflexion der<br />
Avantgarde in der Weimarer<br />
Republik, Wilhelm Fink Ver<br />
lag, München, 2003<br />
Jäger, Gottfried und Wessing,<br />
Gudrun (Hg.): über moholynagy,<br />
Kerber-Verlag, Biele<br />
feld, 1997<br />
Moholy-Nagy, Sibyl: Laszlo<br />
Moholy-Nagy, ein Totalexpe<br />
riment, Florian Kupfer Ver<br />
lag, Mainz, 1972<br />
Molderings, Herbert: Lichtjahre<br />
eines Lebens, Das Foto<br />
gramm in der Ästhetik<br />
Laszlo Moholy-Nagys, in:<br />
Laszlo Moholy-Nagy, Foto<br />
gramme 1922 – 1943 aus<br />
den Sammlungen des<br />
Musee national d´art<br />
moderne – Centre de<br />
creation industrielle, Centre<br />
Georges Pompidou, Paris<br />
und des Museum Folkwang<br />
Essen, Ausstellungskatalog,<br />
Centre Georges Pompidou,<br />
Paris, Museum Folkwang<br />
Essen, München 1996, S. 8<br />
- 17<br />
Weitemeier, Hannah: Licht-<br />
Visionen, Ein Experiment<br />
von Moholy-Nagy, Bauhaus-<br />
Archiv Berlin, 1972<br />
Wingler, Hans M. (Hg.): Laszlo<br />
Moholy-Nagy, von material<br />
zu architektur, Neue Bau<br />
hausbücher, Florian Kupfer<br />
Verlag, Mainz, 1968<br />
Abb. 16 Licht-Raum-Modulator, verchromt,<br />
Aluminium, Glas, Plexiglas, Holz, Stahl, (Lichtrequisit<br />
einer elektrischen Bühne), 1922-1930<br />
typischen extreme Kameraperspektiven, sowie<br />
eine Vielschichtigkeit der Perspektiven. 1932<br />
schrieb Moholy-Nagy über diesen Film:<br />
“Mit dem Film wollte ich die bei der Fotografie<br />
ohne Kamera (Fotogramm) aufscheinenden<br />
Schwarz-Weiß-Werte in Bewegung demonstrieren.<br />
[...] Die Freilegung der elementaren<br />
Mittel der Licht- und Bewegungsgestaltung<br />
zeigt die Grundlage der heutigen optischen<br />
Kultur. Das Suchen nach neuen Wirkungsmöglichkeiten<br />
fördert automatisch die künstlerische<br />
und technische Entwicklung des Films.<br />
[...] Technisch kann zum Beispiel die lichtempfindliche<br />
Seite des Films besser genutzt<br />
werden als die heutigen Techniker glauben.<br />
Durch bewusste Verwendung des Lichts kann<br />
man die Stofflichkeit des Films viel besser<br />
ausnutzen. Vom lichtüberfluteten Weiß ins<br />
zum tiefen Schwarz kann man eine unendlich<br />
reiche Menge von feinen Grauschattierungen<br />
hervorbringen” 16<br />
Moholy-Nagy versuchte entsprechend seinem<br />
Selbstverständnis als Künstler, die wissenschaftlichen<br />
Kenntnisse eines Ingenieurs mit<br />
der Intuition des Künstlers zu verknüpfen. Er<br />
wollte neue Formen erarbeiten, zusammen<br />
mit Filmemachern und -theoretikern, als deren<br />
gemeinsames Gebiet Moholy-Nagy die Ästhetisierung<br />
des Filmlichts begriff. Seine Vorstellungen<br />
in dieser Richtung gingen so weit, eigene<br />
Apparaturen zu konstruieren, die über den Film<br />
hinausgehen und nur noch auf reine Lichteffekte<br />
basieren sollen.<br />
5. Licht-Raum-Modulator<br />
Der Licht-Raum-Modulator (Abb. 16/ 17) entstand<br />
1922 – 1930 in Berlin, als Modell einer<br />
57<br />
17 Licht-Raum-Modulator, Ausstellungssituation<br />
“elektrischen Bühne”, wie sie Moholy-Nagy mit<br />
seinem Konzept des “Theaters der Tota<strong>lit</strong>ät”<br />
vorschwebte. Auf allen Ebenen sollte es die Sinne<br />
fesseln, ungewöhnliche Lichteffekte sollten<br />
Publikum schockieren Moholy-Nagy hatte für<br />
dieses ‚Experiment‘ verschiedene Mitarbeiter.<br />
Als wichtigste wären Otto Ball, der Mechaniker<br />
in einer Werkstatt am Alexanderplatz war und<br />
der Diplom-Ingenieur Stefan Sebök, ein ungarischer<br />
Architekt aus dem Architekturbüro von<br />
Walter Gropius, zu nennen. Die Fertigstellung<br />
übernahm die Theaterabteilung der AEG, die<br />
damals führend in der Zukunfts-Industrie Kraft<br />
und Licht war und die gleichzeitig als Stifter<br />
dieses Licht-Raum-Theater fungierten. Die erste<br />
Vorführung fand 1930 in der Werkbundausstellung<br />
in Paris statt. Was als Modell einer Bühne<br />
konstruiert wurde, diente nachher der Grundlagenforschung<br />
im Bereich der technischen<br />
Bildmedien, für kommerzielle Lichtgestaltung<br />
sowie für das Lichtspiel auf der Bühne. Diese<br />
mechanische Apparatur diente dazu, das Licht<br />
zu modulieren. Dies geschieht durch transluzid<br />
erscheinendes Glas, bewegte, spiegelglatte<br />
Metallteile, die das Licht reflektieren, simultane<br />
Bewegungsvorgänge, stroboskopartige Lichtreflexe,<br />
Alternieren von festen und transparenten<br />
Formen, Licht- und <strong>Schatten</strong>formationen an der<br />
Wänden.<br />
Im Licht-Raum-Modulator wurden die Vorstellung<br />
Moholy-Nagys demonstriert, die er ebenso<br />
wie Kurt Schwitters von seinem Landsmann<br />
France übernommen hatte, dass es sieben<br />
universale Grundelemente gebe: Kristall, Kugel,<br />
Kegel, Platte, Band, Stab, Spirale. Die Apparatur<br />
sollte also nicht einfach nur Licht- und<br />
<strong>Schatten</strong>wirkungen vorführen, sondern über<br />
Punkt, Linie und Fläche räumliche Vorstellungen<br />
im Sinne einer Kosmologie hervorrufen.<br />
Die unterschiedlichen Elemente stellten den<br />
(Bühnen)Kosmos dar und wurden an ein<br />
biomechanisches Modell angelehnt. In seiner<br />
ursprünglichen Präsentation war das Lichtrequisit<br />
von einem Kasten umgeben und von<br />
innen angebrachten und vom Betrachter nicht<br />
sichtbaren Farbbirnchen wechselnd beleuchtet.<br />
Der entstehende Effekt sollte einen Eindruck,<br />
ein optisches Erlebnis der Vierten Dimension<br />
vermitteln und zwar unmittelbar, also begreifbar<br />
für jeden, unabhängig von kultureller Er-
Schmohl, Jens (Regie): DAS<br />
PERMANENTE EXPERI<br />
MENT: LAZLO MOHOLY<br />
NAGUND DAS BAUHAUS,<br />
Dieter Horres Film & TV<br />
Produktion, HFF München,<br />
Bayerischer Rundfunk,<br />
1996, Mitschnitt: ARTE,<br />
01.04.1998<br />
5 Abbildungen<br />
Abb. 1: Bewegliches Bild mit<br />
Spiralfeder, 1936 aus: Moho<br />
ly-Nagy, Sibyl: Laszlo Moho<br />
ly-Nagy, ein Totalexperi<br />
ment, S. 167<br />
Abb. 2/ 3: Plexiglas-Mobile,<br />
1943 aus: a.a.O., S. 169<br />
Abb. 4: William Henry Fox Tal<br />
bot : Botanical, 237 x 381<br />
Pixel – 15k, moviequizz.free.<br />
fr<br />
Abb. 5: Christian Schad,<br />
Renseignement sp/ mo<br />
(Schadographie Nr. 21),<br />
1919 aus: Heyne, Renate<br />
und Neusüss,<br />
Floris M.: Das Fotogramm in<br />
der Kunst des 20. Jahrhun<br />
derts, S. 31<br />
Abb. 6: Man Ray, ohne Titel,<br />
Paris 1922 aus: a.a.O., S.49<br />
Abb. 7: Rayographie, ohne<br />
Titel, 1922 aus: a.a.O., S. 64<br />
Abb. 8: Moholy-Nagy, László:<br />
Fotogramm, 1922 aus:<br />
Haus, Andreas: Laszlo Mo<br />
holy-Nagy, Fotos und Foto<br />
gramme, Tafel 111<br />
Abb. 9: Moholy-Nagy, László:<br />
Fotogramm, 1922 aus:<br />
a.a.O., Tafel 110<br />
Abb. 10: Laszlo Moholy-Nagy,<br />
Fotogramm 1922/ 1926(?)<br />
aus: a.a.O. Tafel 119<br />
Abb. 11: Laszlo Moholy-Nagy,<br />
Fotogramm 1925-29 aus:<br />
a.a.O. Tafel 127<br />
Abb. 12: Spielzeug, aus: von<br />
material zu architektur,1929<br />
aus: Wingler, Hans Maria<br />
(Hg): Moholy-Nagy, Laszlo:<br />
von material zu architektur,<br />
Mainz 1968 (Faksimile der<br />
1929 erschienenen Erst<br />
ausg.), S. 164<br />
Abb. 13: Moholy-Nagy, filmstill,<br />
210 x 158 Pixel – 7k-jpg,<br />
www.kettlesyard.co.uk<br />
Abb. 14: László MOHOLY-<br />
NAGY, 200 x 156 Pixel<br />
– 22k-jpg, blogs.dion.ne.jp<br />
fahrung, der sich auf darauf einließ. Die Spirale<br />
besitzt eine symbolische Bedeutung, die aus<br />
der Theosophie stammt: “Sie ist der Kosmos, der<br />
atmet. In Form der Spirale steigt das Leben vom<br />
Unbewussten zum Bewussten auf und kehrt ins<br />
Unbewusste zurück. Die Spirale ist Sinnbild der<br />
Bewegung des Lebens und seiner Evolution.” 17<br />
Der Licht-Raum-Modulator als Bühnenmodell<br />
diente dem Experimentieren mit verschiedenen<br />
Materialien, als autonomes Kunstwerk wird er<br />
als erste kinetische Lichtplastik betrachtet und,<br />
wie Hannah Weitemeier 1972 formuliert, „stellt<br />
als Objekt ständig neue Frage an den Betrachter.<br />
Er drückt die Spannung und Differenz<br />
zwischen Aktua<strong>lit</strong>ät und Potentia<strong>lit</strong>ät aus und<br />
gleichzeitig die Identität dieser Differenz.” 18<br />
58<br />
Abb. 15: Laszlo Moholy-Nagy,<br />
195 x 101 Pixel – 10k-jpg, demo.sfgb-b.ch<br />
Abb. 16: Moholy-Nagy László, 310 x 490 Pixel<br />
– 21k-jpg, www.balkon.hu<br />
Abb. 17: Moholy-Nagy‘s Licht Raum Modulator,<br />
420 x 315 Pixel – 20k-jpg, www.des<br />
form2006.id.tue.nl<br />
Fußnoten<br />
1 Schmohl, Jens: Das permanente Experiment,<br />
in Zusammenhang mit dem Dokumentarfilm<br />
“Berliner Stilleben”, 1931<br />
2Moholy-Nagy, Sibyl: Laszlo Moholy-Nagy, ein<br />
Totalexperiment, S. 166<br />
3a.a.O., S. 164<br />
4a.a.O., S. 168<br />
5Schmohl, Jens: Das permanente Experiment<br />
6ebd.<br />
7a.a.O. S.18<br />
8Hoormann, Anne: Lichtspiele, Zur Medien<br />
reflexion der Avantgarde in der Weimarer<br />
Republik, S. 149<br />
9Moholy-Nagy, Laszlo: von material zu architek<br />
tur, S. 89/ 90<br />
10Moholy-Nagy, Laszlo: Malerei, Fotografie,<br />
Film, München, 1927, S. 30, zit. Nach: Hoor<br />
mann, Anne: Lichtspiele, Zur Medienreflexi<br />
on der Avantgarde in der Weimarer Repub<br />
lik, S. 37<br />
11Hoormann, Anne: Lichtspiele, Zur Medien<br />
reflexion der Avantgarde in der Weimarer<br />
Republik, S. 15<br />
12a.a.O., S. 19<br />
13Telehor, Brno 1936, Nr. 1/ 2, S. 116, zit.<br />
Nach: Günter, Roland: Der Industrialisie<br />
rungsprozeß und das Experiment der beiden<br />
Moholy-Nagys in: Jäger, Gottfried und Wes<br />
sing, Gudrun (Hg.): über moholy-nagy, S.<br />
137<br />
14vgl. Hoormann, Anne: Lichtspiele, Zur Me<br />
dienreflexion der Avantgarde in der Weima<br />
rer Republik, S. 149<br />
15vgl. a.a.O., S. 194<br />
16 Moholy-Nagy, Laszlo: Die neuen Möglich<br />
keiten des Film (Lichtspiel Schwarz-Weiß-<br />
Grau) [A film uj lehetosegei], Munka [1932],<br />
zit. n. Passuth 1986, S. 330, zit.n.: a.a.O., S.<br />
195<br />
17Günter, Roland: Der Industrialisierungspro<br />
zeß und das Experiment der beiden Mo<br />
holy-Nagys in: Jäger, Gottfried und Wessing,<br />
Gudrun (Hg.): über moholy-nagy, S. 125<br />
18Weitemeier, Hannah: Licht-Visionen, S. 9
Christina Nur<br />
Inhalt<br />
1. Die Installation<br />
„ Slow Motion“<br />
2. Ausgangspunkte<br />
und Überlegungen<br />
3. Rezeption und<br />
unterschiedliche<br />
Interpretationen<br />
der Installation<br />
„ Slow Motion“<br />
4. Kritik von Besuchern<br />
der Ausstellung<br />
„ <strong>Moving</strong> <strong>shadows</strong>“<br />
Literatur<br />
Abb.2 bis 4, Immer in Bewegung:<br />
Die Installation „ Slow<br />
Motion“, der Mixer rotiert<br />
endlos<br />
„Slow Motion“<br />
Abb.1 – Die Installation „ Slow Motion“<br />
1. Die Installation „Slow Motion“<br />
Aus mehreren Metern Höhe hängt mit etwas<br />
Abstand an der kacheligen Wand eine<br />
Barbiepuppe im silbernen G<strong>lit</strong>zerkleid. Sie ist<br />
mit schwarzem Klebeband an einem Küchenhandmixer<br />
befestigt und rotiert in langsamen<br />
Bewegungen scheinbar endlos. Der Mixer<br />
ist am Ende seines Stromkabels mit starkem<br />
Klebeband an dem obrigen Treppengeländer<br />
befestigt und vibriert durch die freischwingende<br />
Bewegung des Kabels und der Puppe in sich<br />
immer neu verändernden Bewegungen.<br />
Angestrahlt wird sie von einem Scheinwerfer,<br />
welcher einen Lichtkegel auf die gesamte Installation<br />
„Slow Motion“ wirft. Das Küchengerät<br />
als auch die Puppe verändern durch ihre eigendynamische<br />
Bewegung auch ihr <strong>Schatten</strong>bild<br />
an der Wand (Abb. 2 - 4).<br />
2. Ausgangspunkte und Überlegungen<br />
Ausgangspunkte der Installation „Slow Motion“<br />
waren die Voraussetzung eines günstig zu<br />
erwerbenden Gerätes, welches in gleichmäßigen<br />
Bewegungen rotiert und dadurch einen<br />
bewegten <strong>Schatten</strong> an die Wand werfen kann.<br />
Dabei wurde besonders nach einem Objekt<br />
gesucht, welches ständig in Bewegung ist<br />
und in der sich drehenden Geschwindigkeit<br />
unterschiedlich einstellbar sein kann, denn es<br />
59<br />
sollten ruhige und langsame Drehbewegungen<br />
entstehen, damit der <strong>Schatten</strong> der Installation<br />
zur Geltung kommen und das Augenmerk auf<br />
das <strong>Schatten</strong>bild an der Wand gelenkt werden<br />
konnte. Die Wahl auf ein Küchengerät wie dem<br />
Handmixer fiel bei der Suche nach geeigneten<br />
Objekten ziemlich schnell, denn dieser Gegenstand<br />
dreht sich in wiederholbaren Bewegungen<br />
und eignet sich deshalb sehr gut dafür<br />
einen anderen Gegenstand an ihm zu befestigen,<br />
dessen <strong>Schatten</strong> sich mitbewegt und<br />
dabei zu interessanten <strong>Schatten</strong>bildern werden<br />
könnte. Es war dabei Grundvoraussetzung,<br />
dass der <strong>Schatten</strong> des Mixers und der jeweilige<br />
<strong>Schatten</strong> des sich an ihm befestigten Gegenstandes<br />
sich andauernd verändert und bewegt.<br />
In der Verformung sollte er niemals der gleiche<br />
sein und so auch in seiner Abbildung immer<br />
wieder neu erscheinen.<br />
Auf der Suche nach einem geeigneten Gegenstand,<br />
der an dem Mixergerät befestigt werden<br />
konnte, lag die Assoziation einer sich auf dem<br />
Mixer drehenden Puppe nahe. In den ersten<br />
Überlegungen sollte das Mixergerät im Gegensatz<br />
zu seiner sonstigen Nutzung mit den<br />
Schneebesen nach unten gerichtet, verkehrt<br />
herum angebracht werden, um als Grundlage<br />
eine senkrecht stehende und sich drehende
Abb.5 – Gesellschaftskritik?<br />
Puppe und dadurch einen vergleichbaren<br />
Puppentanz einer Spieldose mit sich drehender<br />
Tanzfigur nachbilden. Dieses Bild wirkte jedoch<br />
nicht experimentell genug und durch die Tatsache,<br />
dass schon ein anderes Kunstprojekt mit<br />
stehenden und sich drehenden Barbiepuppen<br />
in der Ausstellung zu sehen sein sollte, wurde<br />
nach einer anderen Umsetzungsweise gesucht.<br />
Durch das Aufhängen des Mixers an dem Ende<br />
des Mixerkabels, entsteht eine eigendynamische<br />
Bewegung des dadurch stärker vibrierenden<br />
und sich bewegenden Mixergerätes.<br />
Es drehen sich dabei nicht nur der Knethaken<br />
und der daran befestigte Gegenstand um<br />
sich selbst, sondern auch das gesamte Gerät<br />
bewegt sich um alle Achsen. Die Barbiepuppe<br />
dreht sich in alle Richtungen, kopfüber und<br />
kopfunter und „stößt sich“, sobald sie an die<br />
Wand trifft, „mit den Füßen ab“. Diese Bewegungen<br />
ermöglichen die unterschiedlichsten<br />
<strong>Schatten</strong>bilder.<br />
Im Experimentierprozess wurde deutlich, dass<br />
die Geschwindigkeitsstufe 1 des Mixergerätes<br />
immer noch zu schnell die Puppe rotierte und<br />
60<br />
die Gefahr bestand, dass diese Installation<br />
nicht lange durchhalten und die Puppe dem<br />
Betrachter um die Ohren fliegen würde. Wie in<br />
den Kunstwerken von Fischli und Weiss wäre<br />
dabei das „ Gleichgewicht der Dinge“ in Gefahr<br />
gewesen. Bei diesen Künstlern droht in vielen<br />
ihrer Werke das Objekt auseinander zu fallen,<br />
ist demnach vergänglich und nur kurzfristig betrachtbar<br />
und kann nur mit Hilfe von Fotografien<br />
oder filmisch festgehalten werden.<br />
Bei der Installation „Slow Motion“ lag die<br />
Lösung darin die Stromzufuhr für den Mixer zu<br />
dimmen und den Strom dadurch von 230 Volt<br />
auf 50 Volt zu reduzieren. Durch die geringe<br />
Stromzufuhr drehte sich die an dem Mixer<br />
befestigte Puppe langsamer und der Begriff<br />
„Slow Motion“ kam ins Spiel. Außerdem wurde<br />
sowohl für die Puppe als auch für das Befestigen<br />
des Kabels an der Treppe schwarzes und<br />
stark haftendes Gaffertape gebraucht, welches<br />
in der Rezeption als improvisierter „Technikerwitz“<br />
gesehen wurde.<br />
Der Tanz einer Puppe, (hier ein Barbie-Puppen-<br />
Imitat) sollte in nicht alltäglicher und gewohnter<br />
Form gezeigt werden. Die Kombination<br />
einer weiblichen Puppe mit einem Küchengerät<br />
beinhaltete in seiner Zusammensetzung provokative<br />
Aussagen. Dass sich die Meinungen und<br />
Interpretationen über diese Installation jedoch<br />
in derartig kontroverse Diskussionen stürzen<br />
sollten, wurde erst während der Ausstellung<br />
bei der genauen Beobachtung der Betrachter<br />
dieses Kunstprojektes ersichtlich. Auch inwieweit<br />
verschiedene Interpretationen je nach<br />
Geschlecht vorkamen, war im Vorfeld nicht<br />
absehbar gewesen.<br />
3. Rezeption und unterschiedliche<br />
Interpretationen der Installation „ Slow<br />
Motion“<br />
Führt die Hausfrau ein <strong>Schatten</strong>dasein?<br />
Gesellschaftskritische Aspekte<br />
Gesellschaftskritisch gesehen könnte die Installation<br />
einer an ein Küchengerät gebundenen<br />
Barbiepuppe bedeuten, dass die Frau von<br />
heute an die Küche und damit an die Konventionen<br />
und Regeln der Gesellschaft gefesselt ist.<br />
Im Sinne des „Eva-Hermann-Prinzips“ ist es die<br />
Aufgabe der Frau für den Haushalt, insbesondere<br />
für die Küchenarbeit, zu sorgen und dies<br />
auch noch gern zu tun. Frauen zurück an den<br />
Herd oder in diesem Fall besser an den Mixer!<br />
Dabei hat die Frau und hierin liegt die Gesellschaftskritik<br />
begründet auch noch gut aus zu<br />
sehen und sexy zu sein (Abb. 5).<br />
Die Wahl einer Barbiepuppe, die als das Frauenbildideal<br />
Männerträume wahr werden lässt,<br />
und das weibliche Wesen puppenhaft überspitzt<br />
darstellt, unterstreicht die gesellschaftskritische<br />
Ebene. Der Mixer rotiert mit sich immer<br />
wiederholenden monotonen Bewegungen.<br />
Die wiederholte Eintönigkeit, die die tägliche<br />
Küchenarbeit bedeuten kann, lässt die Frau<br />
nicht zur Ruhe kommen und dreht sie endlos
Abb.7 – <strong>Schatten</strong> nehmen unterschiedlichste<br />
Gestalten an<br />
Abb.8 – Der <strong>Schatten</strong> erschafft<br />
eine eigene Illusionsebene<br />
weiter. Eine schier aussichtslose Situation. Na<br />
wenn sie da mal nicht durchdreht!<br />
Wenigstens passieren die Drehungen in „Slow<br />
Motion“, die verlangsamte Bewegung eines<br />
Mixers unterstreicht jedoch nur die langweilige<br />
Monotonie des Hausfrauendaseins.<br />
Die Kunst besteht darin aus dieser Monotonie<br />
auszubrechen und die Wiederholbarkeit des<br />
Alltags in einem neuen Licht zu sehen. Zum<br />
Glück ist eine so ernsthaft vorgetragen Argumentation<br />
nicht ernst zu nehmen<br />
Unter diesen Gesichtspunkten lassen sich die<br />
Künstler Fischli und Weiss nennen, welche den<br />
Ansatz verfolgen „Gegenstände und Situationen<br />
des Alltags“ zu adaptieren, die „sie – nicht<br />
ohne Humor und Ironie – in einen künstlerischen<br />
Kontext stellen und so philosophische<br />
und theoretische Fragen nach der Erklärung<br />
der Welt stellen“ (http://de.wikipedia.org/wiki/<br />
Peter_Fischli_und_David_Weiss ) Das „fröhlichernste<br />
Grundprinzip der Fischli/ Weiss’schen<br />
Arbeit“ (www.kunsthaus.ch/pdf/pm/2007/pm_<br />
fischli-weiss_d.pdf ) wird dabei „als traumhaftes<br />
Aufspüren des Bedeutenden im Unbedeutenden“<br />
(ebd.) gesehen.<br />
Männliche Perspektiven und Sichtweisen<br />
Erstaunlicherweise beachteten nur männliche<br />
Besucher die Tatsache, dass man der guten<br />
Frau unter den Rock schauen konnte oder<br />
besser gesagt könnte. Ein Beweis dafür, dass<br />
ein Mann Kunst aus einer anderen Perspektive<br />
heraus betrachtet als eine Frau! (vgl. Abb. 6)<br />
Bei männlichen Betrachtern überwog die Beurteilung<br />
über die Installation mit Aussagen wie<br />
„Mein Gott, die arme Frau!“, „Das ist aber schon<br />
brutal und gewalttätig!“ und besagtem, wenn<br />
auch beschämt gefragtem „Hat das eine Bedeutung,<br />
dass man ihr unter den Rock schauen<br />
kann?“<br />
Warum empfinden gerade Männer Mitleid mit<br />
einer weiblichen Puppe, die an einen Mixer<br />
gefesselt ist? Erkennen sie in dieser provokanten<br />
Darstellung einer Frau in Kombination mit<br />
einem Küchengerät einen Spiegel der Gesellschaft?<br />
Die Frau wird demnach als Objekt, das<br />
sich nicht wehren kann, sondern kopfüber und<br />
kopfunter pausenlos einen Drehwurm vor lauter<br />
Arbeit bekommt, gesehen. Zeigt sich damit<br />
das unbewusste schlechte Gewissen der Männer<br />
über die nicht gleichberechtigte Verteilung<br />
der Hausarbeit? Kann diese Installation zu mehr<br />
Männerarbeit im Haushalt aufrufen? Werden<br />
demnächst männliche Puppen an den versklavenden<br />
Ketten der Küchenarbeit hängen und<br />
sich mechanisch um sich selbst drehen?<br />
Da sich anhand einer Kunstinstallation solch in<br />
die Gesellschaft „tiefgreifende Fragen“ aufwerfen<br />
lassen, kann die Aufgabe einer Ausstellung<br />
darin gesehen werden, dass sie neben dem<br />
unterhaltenden und provozierenden Aspekt<br />
auch als eine moralische Anstalt dienen kann<br />
(vgl. Hollenstein 1990: 87 ).<br />
61<br />
Abb.6 - Installation „ Slow Motion“ – Wohin<br />
schaut der Mann?<br />
Kopfschütteln statt Augenzwinkern<br />
Natürlich gab es unter den Ausstellungsbesuchern<br />
auch die obligatorischen, immer egal in<br />
welcher Ausstellung vorhandenen Kopfschüttler,<br />
die eiligst an diesem befremdlich erscheinenden<br />
Objekt vorbeihuschten mit der Ansicht,<br />
dass hier mal wieder ein typisches Beispiel<br />
vorgeführt wurde, was man heutzutage alles<br />
unter Kunst verstehen könne.<br />
Die Frage was als Kunst betrachtet werden<br />
kann und was eher zur Gattung schlechter<br />
Geschmack zu zählen sei, was jedoch auch miteinander<br />
zu tun haben kann, sei hier nun nicht<br />
gestellt. Leider haben solch kopfschüttelnde<br />
Ausstellungsbesucher die Installation ein wenig<br />
zu ernst unter Gesichtpunkten der Hochkultur<br />
genommen, anstatt das ironische Augenzwinkern<br />
mit der dieses Kunstobjekt betrachtet<br />
werden sollte, zu bemerken. Aber das wird auf<br />
ewig das Problem der Kunst sein. Dass man<br />
sie zu ernst nimmt und dadurch nicht versteht.<br />
Möglicherweise ist es auch nur ein Problem der<br />
Rezipienten.<br />
Auch die Werke von Fischli/Weiss stehen in<br />
einem Zusammenhang des „ permanenten
Abb.9 – <strong>Schatten</strong>spiel - Der<br />
<strong>Schatten</strong> bildet den Gegenstand<br />
nicht mehr wirklichkeitsnah<br />
ab<br />
Abb.10 - Der <strong>Schatten</strong> besitzt<br />
eine andere Symbolik als der<br />
Gegenstand. Seine Umrisse sind<br />
dabei oft verschwommen. Eine<br />
Möglichkeit den <strong>Schatten</strong> als<br />
eigene Wirklichkeit und Traumwelt<br />
zu deuten. Der <strong>Schatten</strong><br />
eines Gegenstandes bietet also<br />
vielseitigere und phantasievollere<br />
Interpretationen und Symboliken<br />
an als die bloße realistische<br />
Betrachtung eines Objektes.<br />
Abb.11 und 12 - Der Sturz kopfüber<br />
in die Tiefe<br />
Zuwinkerns. Ernst-Unernst, Oberflächlichkeit-Tiefe,<br />
Zynismus-Mitleid sind nur wenige<br />
Gegensatzpaare...“ ( Windhöfel 1990: 90 ), die<br />
in gewisser Weise auch auf die Mixer/Barbie-<br />
Installation anwendbar sind. Ein Betrachter, der<br />
dieses Kunstobjekt ohne ein Fünkchen Humor<br />
anschaut, wird nicht viel in ihm entdecken<br />
können. Dabei haben „Humor und Kunst ...<br />
viel gemeinsam, beide fungieren als Brücke zu<br />
einer irrationalen Welt, die von Intuition und<br />
Instinkt bestimmt wird“<br />
(http://www.kunstaspekte.de/index.php?tid=1<br />
4129&action=termin).<br />
Positive Rezeption<br />
- <strong>Schatten</strong>seiten einmal anders<br />
Betrachtet man jedoch die „<strong>Schatten</strong>seiten“<br />
dieses Objektes erkennt man, dass sie entgegen<br />
der üblichen Annahme eine schönere Bedeutung<br />
haben können als die zuerst ins Auge<br />
fallenden Seiten der gezeigten Gegenstände im<br />
Licht.<br />
Das <strong>Schatten</strong>bild der Installation erlangt an<br />
der Wand durch die drehende Bewegung<br />
des Mixers eigenständige Formen. Die angewendeten<br />
Gegenstände und deren <strong>Schatten</strong><br />
sind dabei verschieden. Aus der Alltagsbana<strong>lit</strong>ät<br />
und im Kontext der Bedeutungen einer<br />
Barbiepuppe und eines Mixers heraus entsteht<br />
im <strong>Schatten</strong>bild eine neue Wirklichkeit. Durch<br />
einen neu zusammengewürfelten Kontext wird<br />
der Betrachter zu einer Illusions- und Phantasieebene<br />
eingeladen (vgl. Abb. 7 und 8). Auch<br />
hier sei wieder auf Fischli/ Weiss verwiesen, die<br />
Gegenstände aus ihrer alltäglichen Bedeutung<br />
heraus in neue Zusammenhänge stellen.<br />
„Die aufgegriffenen alltäglichen, manchmal<br />
scheinbar banalen Themen und Gegenstände<br />
bekommen dadurch ihre Aussage, dass sie in<br />
Beziehung zueinander gesetzt werden ...“<br />
(http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Fischli_und_David_Weiss<br />
)<br />
Gelingt es dem Betrachter sein Augenmerk<br />
auf die <strong>Schatten</strong>bewegungen des Objektes<br />
zu lenken sieht man die Installation vor allem<br />
unter ästhetischen Aspekten. Betrachtet man<br />
nur die eigenständige Bewegung der <strong>Schatten</strong><br />
und setzt den Focus auf den <strong>Schatten</strong>tanz, lässt<br />
man sich auf immer neue Veränderungen im<br />
<strong>Schatten</strong>bild ein.<br />
Der Betrachter erlebt „ <strong>Moving</strong> <strong>shadows</strong>“. Nie<br />
sind es genau die gleichen <strong>Schatten</strong>bilder,<br />
immer verändern sie ihre Gestalt und bilden<br />
den realistischen Gegenstand eines Mixers und<br />
einer Puppe immer unwirklicher ab (Abb. 9).<br />
Ein <strong>Schatten</strong>tanz beginnt. <strong>Schatten</strong> fließen,<br />
schweben, tanzen. Graziös und mystisch vollzieht<br />
sich dieser unwirkliche Tanz. Er beinhaltet<br />
etwas Zartes und Ruhiges. Der <strong>Schatten</strong> an der<br />
Wand ist im Gegensatz zu der harten Rea<strong>lit</strong>ät<br />
und Symbolik der Gegenstände schön und zart.<br />
Wie eine Zirkusartistin schwebt die Barbiepuppe<br />
durch die Luft und ihr <strong>Schatten</strong> an der<br />
Wand tanzt mit. Ihr silbernes G<strong>lit</strong>zerkleid unterstreicht<br />
dabei eine Vorführ- und Bühnensitua-<br />
62<br />
tion. Als Artistin ist sie dem Gerät, welches sie<br />
durch die Luft befördert nicht passiv ausgeliefert,<br />
sondern beherrscht es und nutzt es für ihre<br />
Tanzkünste. Durch ihre eigene Bewegung und<br />
die des Mixers setzt sie immer wieder von neuem<br />
zum Sprung an und ist dadurch aktiv. Ihre<br />
Umdrehungen von oben nach unten betonen<br />
das artistische und durch ihre gestreckten Arme<br />
und Beine auch das graziöse. Selbst wenn sie<br />
mit dem Kopf nach unten scheinbar in die Tiefe<br />
stürzt (Abb.10), kommt sie aus eigener Kraft<br />
wieder hoch und setzt zur erneuten sprungvollen<br />
Bewegung an (Abb. 11 und 12). Ihr <strong>Schatten</strong>bild<br />
tanzt mit, ohne Glanz und Glimmer,<br />
ohne Farbe... eine Parodie auf einen Totentanz.<br />
Den tänzerischen und verspielten Aspekt der<br />
Installation entdeckten vor allem weibliche<br />
Betrachter.<br />
Außerdem fielen Frauen die kleinen Details im<br />
<strong>Schatten</strong>bild auf, die in der flüchtigen ersten<br />
Betrachtung der Gegenstände untergegangen<br />
sind. Oder stimmt das Vorurteil das Frauen<br />
doch einen besseren Blick für Kleinigkeiten<br />
haben? Das Puppenhafte wie z.B. „ die zarten<br />
schmalen Füße“ und die „ einzelnen Haarspitzen“,<br />
die sich im <strong>Schatten</strong> viel deutlicher voneinander<br />
abgrenzen lassen als im Licht, wurden<br />
mit verzückten Ausrufen bemerkt. Ein <strong>Schatten</strong><br />
kann demnach Dinge zum Vorschein bringen<br />
und unterstreichen, welche sonst vielleicht<br />
nicht beachtet werden würden. In dem Sinne<br />
ist auch die Verwendung eines Küchengerätes<br />
wie dem Mixer für eine Kunstarbeit eine Möglichkeit<br />
die banalen und alltäglichen Gegenständen<br />
aus ihrem <strong>Schatten</strong>dasein in ein anderes<br />
Licht zu rücken, sie zu verfremden, in einen<br />
neuen Kontext zu stellen und den Dingen eine<br />
andere Aufmerksamkeit zu schenken.<br />
4. Kritik von Besuchern der<br />
Ausstellung „<strong>Moving</strong> <strong>shadows</strong>“<br />
Vielen Besuchern der Ausstellung „<strong>Moving</strong><br />
<strong>shadows</strong>“ fiel auf, dass es kaum Kunstprojekte<br />
gab, bei denen der <strong>Schatten</strong> allein als eigenständiges<br />
Kunstwerk gezeigt wurde, sondern<br />
immer der Bezug zu seinem schattenwerfenden<br />
Gegenstand sichtbar war. Fragen kamen<br />
dabei auf wie: Warum sind Objekt und sein<br />
<strong>Schatten</strong> meist in so kurzer Entfernung platziert<br />
und nicht auf einer größeren räumlichen<br />
Distanz? Die Frage lässt sich vor allem damit<br />
beantworten, dass viele Kunstprojekte gleichzeitig<br />
auf engstem Raum verwirklicht werden<br />
wollten. Außerdem war in vielen Installationen<br />
gerade der vergleichende Bezug von Objekt<br />
und seinem <strong>Schatten</strong> spannend. Es entstehen<br />
im Betrachter Fragestellungen und Verwirrungen,<br />
wenn ein Gegenstand keinen sichtbaren<br />
<strong>Schatten</strong> besitzt Es scheint etwas zu fehlen<br />
und das Objekt ohne <strong>Schatten</strong> nicht real zu<br />
sein. Eine Verbindung von Objekt und seinem<br />
<strong>Schatten</strong> ist immer vorhanden, d.h. ein Objekt<br />
und sein dazugehörender <strong>Schatten</strong> sind nicht<br />
voneinander trennbar und können nicht ohne<br />
den anderen existieren. Dass würde bedeuten,<br />
dass ein <strong>Schatten</strong> immer zu etwas dazugehören
Literatur<br />
Frey, Patrick ( Hrsg.): Das<br />
Geheimnis der Arbeit.<br />
Texte zum Werk von Peter<br />
Fischli& David Weiss.<br />
München/Düsseldorf,<br />
1990.<br />
Hollenstein, Roman: Ironie<br />
und Mystifikation. In: Frey,<br />
Patrick ( Hrsg.):<br />
Das Geheimnis der Arbeit.<br />
Texte zum Werk von Peter<br />
Fischli& David Weiss.<br />
München/Düsseldorf,<br />
1990.<br />
Windhöfel, Lutz: Am Abgrund<br />
des schönen Scheins. In:<br />
Frey, Patrick ( Hrsg.):<br />
Das Geheimnis der Arbeit.<br />
Texte zum Werk von Peter<br />
Fischli& David Weiss.<br />
München/Düsseldorf,<br />
1990.<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/<br />
Peter_Fischli_und_David_<br />
Weiss<br />
www.kunsthaus.ch/pdf/<br />
pm/2007/pm_fischli-<br />
weiss_d.pdf<br />
http://www.kunstaspekte.<br />
de/index.php?tid=14129&<br />
action=termin<br />
muss. Aber in einer Kunstausstellung muss dies<br />
nicht unbedingt immer sichtbar sein. Dennoch<br />
kann auch eine Autonomie eines <strong>Schatten</strong>s<br />
entstehen, er kann auch unabhängig sichtbar<br />
sein. Der <strong>Schatten</strong> muss dabei nicht das<br />
realistische Abbild der Rea<strong>lit</strong>ät zeigen, sondern<br />
kann eine ganz neue Wirklichkeit und Illusion<br />
erschaffen und dadurch eine eigenständige<br />
vom Objekt unabhängige Bedeutung erlangen.<br />
Je nachdem, was der Betrachter in ihm und seinen<br />
Umrissen und Formen erkennt, entstehen<br />
die unterschiedlichsten Interpretationen.<br />
Eine Idee für eine andere Umsetzung von „<br />
Slow Motion“ wäre es gewesen, anhand eines<br />
Films nur den <strong>Schatten</strong> als Bild der Installation<br />
zu zeigen und erst am Schluss aufzulösen, wie<br />
der Gegenstand, welcher den <strong>Schatten</strong> wirft, in<br />
Wirklichkeit aussieht (Abb. 13 und 14).<br />
Dabei wäre jedoch der Reiz des Live-Beobachtens<br />
der sich drehenden Installation verloren<br />
gegangen und die andauernde Spannung wie<br />
lange es halten würde.<br />
63<br />
Abb.13 und 14 - Nur der <strong>Schatten</strong> ohne dazugehörigender<br />
Gegenstand ist sichtbar1
Denise Leonhard<br />
„Ich sehe was, was Du<br />
nicht siehst“<br />
Abb. 1 bis 5 Denise Leonhard: „Ich sehe was, was Du nicht siehst“, Installationsansicht<br />
64
Abb. 6 Rene Magritte ‚La Reproduction<br />
Interdite<br />
Abb. 7 Empire of Light<br />
(L’Empire des lumières),<br />
1953–54. Oil on canvas, 195.4<br />
x 131.2 cm<br />
Abbildungen<br />
‚L’Empire des Lumières’<br />
http://www.guggenheim-<br />
collection.org/site/artist_<br />
work_lg_92_1.html<br />
‚La Reproduction Interdite’<br />
http://peter.lind1.person.<br />
emu.dk/images/magritte22.<br />
jpg<br />
Fußnoten<br />
1 s. Fotoverzeichnis<br />
2 Übersetzt: ‚Die Macht des<br />
Lichts’<br />
3 vgl.: Johansen, Jørgen<br />
Dines: Ein Zerrbild Der<br />
<strong>Schatten</strong> – Ein Anti-<br />
Märchen, in Shadow Play,<br />
Kehrer<br />
Überlegungen zur Arbeit<br />
Die Arbeit mit dem Titel „Ich sehe was, was Du<br />
nicht siehst!“ wurde ausschließlich aus Zeitungspapier<br />
und Pappröhren hergestellt. Das<br />
Zeitungspapier, sowie die Pappröhren wurden<br />
auf zwei aneinander gestellten Bildhauerträgern<br />
platziert, welche auf eine Höhe von 1,50m<br />
eingestellt wurden. Die Oberflächenplatten<br />
beider Träger haben die Maße 60cm x 30cm,<br />
die Höhe der einzelnen Arbeiten variiert und<br />
reicht von 20cm bis zu ca. 100cm.<br />
Beleuchtet wird das Zeitungspapier von einem<br />
Theaterscheinwerfer, der beleuchtete Ausschnitt<br />
hat ca. eine Größe von 1,50m x 1,50m.<br />
Ein möglicher Bezug lässt sich zu René Magritte<br />
ziehen. Er setzt sich mit der Darstellung des<br />
„eigentlich Unmöglichen“ auseinander. Die<br />
dargestellten Szenen hinterfragen jeweils auch<br />
die Rea<strong>lit</strong>ät des Bildes. Besonders Magrittes<br />
Werk ‚La Reproduction Interdite’ 1 , ist Inspiration<br />
zu dieser Arbeit gewesen. Der sich im Spiegel<br />
ansehende Mann, sieht, wider den Erwartungen<br />
des Betrachters, seine eigene Rückansicht.<br />
Andere auf dem Bild zu sehende Gegenstände,<br />
wie ein Buch und der Kaminssims spiegeln sich<br />
gemäß ihrem Original. Der Betrachter nimmt in<br />
dieser künstlerischen Darbietung eine alltägliche<br />
Szene –sich im Spiegel betrachten- wahr,<br />
die jedoch in der Rea<strong>lit</strong>ät nicht existiert.<br />
Ebenso stellt Magritte in ‚L’Empire des Lumières’<br />
2 (Abb. 7) eine Szene dar, die real nicht<br />
existent ist. Zu sehen ist eine Häuserfront,<br />
die allein durch das Licht der Straßenlaterne<br />
erhellt wird, ansonsten herrscht in der unteren<br />
Hälfte des Bildes Nacht. Völlig absurd dagegen<br />
erscheint in der oberen Hälfte des Bildes<br />
ein blauer Himmel. Das Zusammenspiel von<br />
Licht und <strong>Schatten</strong>, die sich generell gegenseitig<br />
bedingen, tritt hier auf konträre Weise in<br />
Erscheinung.<br />
Ähnliche Absichten liegen den Überlegungen<br />
der Arbeit ‚Ich sehe was, was Du nicht siehst“<br />
zugrunde. Intention dieser Arbeit ist die Darstellung<br />
eines <strong>Schatten</strong>bildes, welches im Original<br />
als solches nicht erkennbar ist. Das erwartete<br />
<strong>Schatten</strong>bild wird präsentiert, gleichwohl das<br />
Original- und das <strong>Schatten</strong>bild sich in ihrer<br />
Form unterscheiden. Bei Magritte unterscheidet<br />
sich die Erwartung von der Wahrnehmung des<br />
Betrachters.<br />
Durch „zerknittertes“ Zeitungspapier, entstehen<br />
<strong>Schatten</strong>bilder, die ein jeder Betrachter auf unterschiedliche<br />
Art und Weise rezipiert, jedoch<br />
im Original nicht wieder erkennt. Der Titel<br />
wurde zum einen wegen des unterschiedlichen<br />
spielerischen Bedeutungswandels gewählt,<br />
zum anderen ob der Möglichkeit der Materia<strong>lit</strong>ät<br />
der Installation. Demnach sieht ein Betrachter<br />
etwas, was ein anderer Betrachter dieser<br />
Arbeit gar nicht bzw. anderes sieht.<br />
Zu eventuellen Variationen dieser Arbeit lässt<br />
sich festhalten, dass die Arbeit aus verschiedenen<br />
Teilen besteht und sich somit immer<br />
65<br />
wieder verändert. Es wurden insgesamt neun<br />
unterschiedliche <strong>Schatten</strong>bilder angefertigt, die<br />
nach fotografischer Dokumentation abgebaut<br />
wurden, um neue Gebilde aus Zeitungspapier<br />
zu erstellen. Ein präformiertes Konstrukt aus Zeitungspapier<br />
ließ sich nicht errichten, dadurch<br />
wäre die Aussageabsicht, dass sich im Original,<br />
sprich dem Zeitungsgebilde, das <strong>Schatten</strong>bild<br />
nicht wieder erkennen lassen soll, abhanden<br />
gekommen. Die entstandenen Einzelarbeiten<br />
sind Zufallskonstruktionen.<br />
Der <strong>Schatten</strong><br />
Generell wird der <strong>Schatten</strong> oft als Symbol der<br />
Seele betrachtet, ohne die der Mensch nicht<br />
existieren kann. Zum einen wird der <strong>Schatten</strong><br />
also mit Tod assoziiert, zum anderen symbolisiert<br />
er die irdische Existenz des Menschen.<br />
Es besteht sowohl eine Verbindung zwischen<br />
<strong>Schatten</strong> und Seele, als auch zwischen <strong>Schatten</strong><br />
und Tod. <strong>Schatten</strong>los zu sein, sprich keinen<br />
<strong>Schatten</strong> mehr zu werfen, bedeutet den Verlust<br />
der Seele und Verdammnis. Licht und <strong>Schatten</strong><br />
bedingen sich gegenseitig, dennoch gehört<br />
der <strong>Schatten</strong> zur Dunkelheit und ist Symbol für<br />
die dunkle Seite des Menschen. Der zu dem<br />
Menschen bzw. zu Gegenständen gehörende<br />
<strong>Schatten</strong> ist in Kombination mit Lichteinfall immer<br />
vorhanden und folgt dem Menschen oder<br />
dem Gegenstand. 3<br />
In dieser Arbeit hingegen ist das Abbild bzw.<br />
das <strong>Schatten</strong>bild das eigentlich zu betrachtende<br />
Bild, der <strong>Schatten</strong> hat demzufolge keinen<br />
mystischen Stellenwert. Der <strong>Schatten</strong> spiegelt<br />
das tatsächliche Abbild des Zeitungskonstrukts<br />
wieder und lässt dieses erst als ein solches,<br />
erkennbares Bild erscheinen. Die entstandene<br />
Arbeit ist vergänglich und hat somit etwas<br />
Endliches. Die Zufallskonstruktionen aus Zeitungspapier<br />
sind in dieser Art und Weise nicht<br />
wieder herstellbar und ließen sich an einem anderen<br />
Ort nicht wieder errichten. Allein durch<br />
die fotografische Dokumentation eingefangen,<br />
hat diese Arbeit nichts konkret Fassbares oder<br />
Gegenständliches mehr.
Annika Will<br />
Inhalt<br />
1. Konzeptentwicklung<br />
2. Konzeptdurchführung<br />
und –modifizierung<br />
3. Konzeptpräsentation<br />
4. Möglichkeiten zur<br />
Verbesserung<br />
5. Fazit<br />
Abb. 2: Beispielfotos von Händen,<br />
eine Bewegungssequenz<br />
„Zeichen der Sprache“<br />
Werdegang einer medialen Arbeit<br />
Abb. 1: „Zeichen der Sprache“, Animationsfilm<br />
1. Konzeptentwicklung<br />
Ich entschied mich dafür, ein Projekt in Zusammenarbeit<br />
mit Nadine Kuhlow zu planen,<br />
aus- und durchzuführen. Wir waren uns beide<br />
darüber im Klaren, dass wir gemeinsam mehr<br />
unterschiedliche und interessante Ideen haben<br />
würden, als wenn wir ein Projekt alleine geplant<br />
und umgesetzt hätten.<br />
Um eine erste Auseinandersetzung mit den<br />
thematischen Begebenheiten zu bekommen,<br />
wurden uns innerhalb des Seminars bereits<br />
vorhandene <strong>Schatten</strong>filme und <strong>Schatten</strong>künstler<br />
gezeigt und diese besprochen. Innerhalb<br />
der anschließenden eigenständigen Internetrecherche<br />
zum Themenbereich <strong>Schatten</strong>kunst,<br />
<strong>Schatten</strong>film, <strong>Schatten</strong>spiel, <strong>Schatten</strong> vs. Silhouette<br />
etc. entwickelten sich erste Konzepte. Wir<br />
überlegten in den nächsten Veranstaltungen<br />
gemeinsam, wie man sich mit der Thematik<br />
„moving <strong>shadows</strong>“ auseinander setzen könnte.<br />
Es entstanden viele verschiedene Ideen zu<br />
möglichen Installationen, Plastiken, Filmen etc.<br />
Im weiteren Verlauf des Seminars entwickelten<br />
sich, angeregt durch die vielen Gespräche und<br />
Denkanstöße, auch erste Ideen und Konzepte<br />
von Nadine und mir. Nach kurzem Nachdenken<br />
entschieden wir uns dafür, dass wir gerne<br />
mit der Technik des Stopp- Motion- Verfahrens<br />
arbeiten wollten. Anstatt eine Installation zu<br />
entwerfen, fanden wir es interessanter per<br />
Digitalkamera Fotos aufzunehmen, um diese<br />
später in einem Computerprogramm aneinander<br />
zu reihen, so dass ein Kurzfilm entstehen<br />
würde. Da wir mit dieser Technik bereits im WS<br />
66<br />
05/06 innerhalb des Seminars „anwesend- abwesend“<br />
gearbeitet haben (Projekt „Von Turm<br />
zu Turm“), war uns das Computerprogramm<br />
Pinnacle Studio in seinem Aufbau und seiner<br />
Anwendung noch bekannt. Inhaltlich beschlossen<br />
wir vorerst, dass wir uns auf Aufnahmen<br />
markanter <strong>Schatten</strong> konzentrieren wollten. Bei<br />
der Recherche nach vorhandenem Material<br />
entschlossen wir uns ziemlich schnell dazu, mit<br />
den <strong>Schatten</strong> von Menschen arbeiten zu wollen.<br />
Menschenschatten beinhalten zum einen<br />
etwas Mystisches (Abbild der eigenen Person).<br />
Zum anderen wäre eine direkte Ansprache zum<br />
Betrachter gegeben, da sicherlich jeder schon<br />
mal Situationen erlebt hat, wo man seinen<br />
eigenen <strong>Schatten</strong> gesehen hat. Wir wollten so<br />
u.a. den Aspekt untersuchen, wie <strong>Schatten</strong> die<br />
Rea<strong>lit</strong>ät verzerren können und wie unheimlich<br />
sie wirken können. Unsere Ideen kreisten um<br />
das Themengebiet Verfolgung. Wir entschlossen<br />
uns dazu, eine Jagd auf den eigenen <strong>Schatten</strong><br />
aufzunehmen. Um diese Ideen umzusetzen,<br />
gingen wir in das Kellergewölbe der <strong>Universität</strong><br />
Hildesheim und nahmen dort erste Fotos von<br />
<strong>Schatten</strong> unseres Körpers und unserer Körperteile<br />
auf. Der <strong>Schatten</strong> entstand dadurch, dass<br />
wir einen Scheinwerfer in größerer Distanz<br />
zu einer weiß-gelblichen Kellerwand aufstellten.<br />
Eine von uns beiden stellte sich vor den<br />
Scheinwerfer und probierte einige Posen aus.<br />
Die andere von uns fotografierte den entstandenen<br />
<strong>Schatten</strong> an der Wand. Als Fotografierende<br />
hatte man das Problem, nicht den realen<br />
Körper mit ins Bild zu bekommen, sondern nur
Abb. 3: Hand und <strong>Schatten</strong><br />
Abb. 4: Beispielfotos, grau<br />
(oben) und rötlich (unten)<br />
Abb. 5 Beispielfotos für Beinbewegungen:<br />
Abb. 6 Beispielfotos für Beinbewegungen:<br />
den <strong>Schatten</strong> der Person. Bei Positionen nah an<br />
der Wand war dieses manchmal fast unumgänglich,<br />
so dass sich manche Posen verboten.<br />
Beispielfoto, wo der reale Körper (hier die<br />
Hände) noch zu sehen ist (Abb. 2). Weiterhin<br />
entstanden Probleme hinsichtlich der Qua<strong>lit</strong>ät<br />
der Aufnahmen. Je nach Belichtung sahen<br />
manche <strong>Schatten</strong>bilder eher grau und andere<br />
eher rötlich aus. Wir mussten uns daher für<br />
eine Belichtungseinheit entscheiden (Abb. 3).<br />
Wo Aufnahmen zu realisieren waren, arbeiteten<br />
wir vermehrt mit dem Zoom der Kamera,<br />
um <strong>Schatten</strong> heranzuholen. Innerhalb dieser<br />
ersten Fotoaufnahmen merkten wir immer<br />
wieder, dass wir unbeabsichtigt vermehrt mit<br />
unseren Händen arbeiteten. Auch Kommi<strong>lit</strong>onen,<br />
die sich vor dem Scheinwerfer bewegten,<br />
nutzen überwiegend Hände, um <strong>Schatten</strong><br />
zu erzeugen. Es entstanden in der Phase der<br />
ersten Aufnahmen regelrechte Handschattenspiele<br />
an der Wand. Jeder wollte so z.B. mal ein<br />
<strong>Schatten</strong>tier erzeugen o.ä. Keiner erzeugte aber<br />
<strong>Schatten</strong> mit den Beinen oder anderen Körperteilen<br />
- ein interessantes Phänomen.<br />
Dieses Phänomen fiel uns aber erst bewusst<br />
bei einer ersten Schau unter Pinnacle auf.<br />
Nach der Aneinanderreihung unserer ersten<br />
Bilder, die u.a. schrittweise Bewegungen von<br />
Beinen, Armen etc. aufzeigten, fielen uns die<br />
vermehrten Passagen von Händebewegungen<br />
auf. Zwischen einzelnen Figurposen kamen<br />
immer wieder Ein- oder Zweihandbewegungen<br />
und Fingerspiele ins Blickfeld. Dass wir so<br />
überwiegend mit einer Hand/ beiden Händen<br />
und Fingern arbeiteten, ist uns vorher gar nicht<br />
bewusst gewesen. Nach mehrmaliger Betrachtung<br />
der einzelnen Fotosequenzen (Abfolge<br />
von Beinbewegungen, Abfolge von aufstehenden<br />
Bewegungen, Abfolge von streckenden<br />
Bewegungen, Abfolge von Armbewegungen,<br />
Abfolge von Kopfbewegungen etc.) kristallisierte<br />
sich heraus, dass uns beiden die Fotos mit<br />
den Handbewegungen am interessantesten<br />
und am spannendsten erschienen. Das vorher<br />
beobachtete Phänomen bot einen Reiz die<br />
67<br />
Thematik „<strong>Schatten</strong> von Handbewegungen“<br />
aufzugreifen und zu bearbeiten (Abb. 4 und 5).<br />
Die übrigen Bilder von anderen Körperteilen<br />
zeigten häufig nicht den von uns gewünschten<br />
Effekt auf. So haben wir zum vorherig<br />
angedachten Themenbereich „Verfolgung“<br />
z.B. Bilder aufgenommen, wo es so aussah,<br />
als wenn der <strong>Schatten</strong> an einer Wand hoch<br />
krabbelte. Dieses in real zu beobachtende Phänomen<br />
gaben die Bilder keineswegs wieder.<br />
Die Fotos sahen sehr plump und starr aus. Man<br />
konnte die Bewegung des Krabbelns gar nicht<br />
erkennen.<br />
Wir überlegten uns an unseren Handsequenzen<br />
weiterzuarbeiten und weitere Fotos von<br />
Händen und Fingern aufzunehmen, um schauen<br />
zu können, wie man sie geeignet in einen<br />
Film transformieren könnte (Abb. 1).<br />
Wir verzichteten aber vorerst dennoch nicht<br />
darauf, auch Aufnahmen von anderen Körperteilen<br />
zu machen, um später aus dem<br />
gesammelten Fundus Vergleiche ziehen und<br />
selektieren zu können. Wir waren uns bewusst,<br />
dass sich unser vorherig aufgestelltes Konzept<br />
etwas verändern würde, wollten uns aber in<br />
der Phase der Sammlung von Aufnahmen noch<br />
nicht auf einen speziell bestimmten Themenbereich<br />
festlegen.<br />
Im Folgenden begannen wir mit der konkreten<br />
praktischen Durchführung unserer gesammelten<br />
Ideen. Wir sammelten per Digitalkamera<br />
Fotos von <strong>Schatten</strong> unserer Person und unseres<br />
Körpers.<br />
2. Konzeptdurchführung und -modifizierung<br />
Wir begannen unsere Arbeit damit, dass wir<br />
zuerst Fotos von weiteren <strong>Schatten</strong> unserer<br />
Körperteile und dann auch insbesondere unserer<br />
Hände aufnahmen. Innerhalb der Seminarzeit<br />
fotografierten wir primär im Kellerraum der<br />
<strong>Universität</strong>. Die <strong>Schatten</strong> waren durch den aufgestellten<br />
Scheinwerfer an den Kellerwänden<br />
sehr prägnant und deutlich klar zu erkennen,<br />
was uns gefiel. Zum anderen fotografierten wir
Abb. 7: Der erhobene Daumen<br />
verschiedene Posen auch getrennt voneinander<br />
zu Hause. Hier nutzen wir als Lichtquelle<br />
die Zimmerbirne/ Zimmerlampe. Als Untergrund<br />
fungierte bei mir mein Paketboden und<br />
bei Nadine eine helle, gelbliche Wand.<br />
Beim Zusammentragen der neuen Bilder<br />
entschieden wir uns schlussendlich dafür, nun<br />
doch mit Händen arbeiten zu wollen. Zum<br />
einen wurden die Aufnahmen der Handstellungen<br />
und –sequenzen am besten und zum anderen<br />
konnte man sich somit ein klares Konzept<br />
entwickeln. Das dringende Kontaktieren der<br />
Hände war unübersichtlich. Fotos von anderen<br />
Körperteilen störten uns in dem Ablauf der Filmentwicklung.<br />
Folglich nahmen wir alle anderen<br />
Fotos aus dem Programm heraus und modifizierten<br />
unser Konzept. Der Entschluss war<br />
beschlossen, sich nur auf Hände zu konzentrieren.<br />
Sie boten für uns von Anfang an eine<br />
unbewusste Anziehungskraft und Spannung<br />
(s. beschriebenes Phänomen S.3). Wir dachten<br />
im Folgenden darüber nach, warum das so sei.<br />
Auch Beobachtungen von <strong>Schatten</strong>spielen von<br />
Kommi<strong>lit</strong>onen haben ja bereits ergeben, dass<br />
primär Hände eingesetzt werden, um vor einer<br />
Wand <strong>Schatten</strong> zu erzeugen (primär Hände in<br />
den Spott zu stellen). Hände müssen also einen<br />
spannenden Aspekt enthalten.<br />
Diese These verstärkt sich auch durch Beobachtungen<br />
im Bus. Auf der Busfahrt von der<br />
<strong>Universität</strong> zum Bahnhof steigen hin und<br />
wieder Gehörlose in den Bus. Wenn diese sich<br />
untereinander mit Gesten der Hände unterhalten,<br />
ist es oft ein Blickfang für weitere Passagiere,<br />
auch für einen selber. Es ist interessant und<br />
spannend zu beobachten, mit welchen Gesten<br />
sich Gehörlose unterhalten. Wenn man erst einmal<br />
darauf achtet, wie oft „Zeichensprache“ mit<br />
Händen im Alltag genutzt werden, fallen einem<br />
viele weitere Beispiele ein.<br />
Eine Mutter gestikuliert auch vermehrt, wenn<br />
sie mit ihrem kleinen Kind spricht. Da wird<br />
schnell mal auf etwas gezeigt, um etwas zu<br />
verdeutlichen oder der Finger gehoben, um<br />
eine Drohung zu veranschaulichen. In Supermärkten<br />
werden Hinweise, wo etwas steht<br />
primär durch das Zeigen erklärt. Beim Bäcker<br />
wird selten gesagt, was für ein Brötchen man<br />
genau haben möchte- es wird oft lediglich auf<br />
ein bestimmtes gezeigt. Schüler in der Schule<br />
nutzen in den ersten Klassen sehr häufig<br />
die Finger, um etwas abzuzählen und auch<br />
Erwachsene lassen sich hin und wieder beim<br />
Abzählen mit Finger erwischen (Hilfestellung<br />
zur Veranschaulichung von mathematischen<br />
Gedanken). In Seminaren verwenden Dozenten<br />
oft ihre Hände, um Hinweise zu geben- sei<br />
es nur um auf eine Tafel mit Aufschriften zu verweisen<br />
oder um Redeanteile zu verdeutlichen.<br />
Besonders im Fachbereich Deutsch bemerken<br />
wir, dass Dozenten sehr häufig während des<br />
Redens gestikulieren (Rhetorik). Die Deixis der<br />
Sprache ist also übergreifend überall anzutreffen.<br />
Jeder nutzt die Zeichen der gestischen<br />
Sprache, um Redeanteile zu verdeutlichen, zu<br />
unterstützen, zu klären etc.<br />
68<br />
Unser Konzept benannten wir folglich mit<br />
dem Titel „Zeichen der Sprache“. Die beiden<br />
Substantive zu einem Wort zusammenzufügen<br />
zu „Zeichensprache“ wollten wir umgehen, da<br />
wir ja keine genaue Zeichensprache entwickelt<br />
haben, die es (wie schon in den Kindheitstagen<br />
mit der besten Freundin) zu entschlüsseln gilt.<br />
Unsere Zeichen der Sprache sollen für jedermann<br />
zu entschlüsseln und für jedermann<br />
verständlich sein. Wir stellen die These auf,<br />
dass sich jeder Betrachter in mindestens eine<br />
Zeichensequenz hineindenken und sie verstehen<br />
kann, da er/ sie aus dem Alltagsleben her<br />
kennt und evt. selber gebraucht. Jeder wird so<br />
z.B. verstehen und deuten können, dass ein erhobener<br />
Daumen eine positive Geste darstellt.<br />
Oft nutzen wir diese Geste, um eine Bewertung<br />
wie „spitze“/ „super“ anzuzeigen bzw. um eine<br />
mündliche Bewertung gestisch zu unterstützen.<br />
Beispielfoto des erhobenen Daumens (Abb. 6).<br />
Innerhalb unseres Konzeptes verfolgen wir das<br />
Ziel, die Kommunikation (-sfunktion) der Hände<br />
aufzuzeigen. Der Betrachter soll erfahren und/<br />
oder sich bewusst machen, wie wichtig die Zeichen<br />
der Sprache im Alltagsgespräch sind. Wie<br />
bereits oben beschrieben, lassen sich zahlreiche<br />
Beispiele finden (wenn man nur einmal genau<br />
darauf achtet) wann in welchen Situationen,<br />
wie und wie oft man die Hände als kommunikatives<br />
Mittel einsetzt.<br />
Unsere Idee gestalteten wir nun praktisch im<br />
Computerprogramm „Pinnacle Studio 10“ aus.<br />
Wir fügten vorerst alle von uns aufgenommenen<br />
Händefotos aneinander. Eine direkte Reihenfolge<br />
gab es nicht. Wir überlegten, dass wir<br />
die Reihenfolge demnach bestimmen wollen,<br />
welche Sequenzen nacheinander zusammen<br />
passen (z.B. wo der Unterboden gleich ist; eine<br />
sich abwechselnde Folge von geschlossenen<br />
und offenen Händen). Nach Ordnung und<br />
Bearbeitung (z.B. Drehen der Fotos) der Fotos,<br />
konnten wir sie alle schlussendlich aneinander<br />
reihen und zu einer Filmsequenz zusammenfügen.<br />
Wir hatten mittlerweile mehr als 150 Fotos<br />
geschossen, welche uns in unserem Projekt<br />
zur Verfügung standen. Bilder mit schlechter<br />
Qua<strong>lit</strong>ät sortierten wir aus. Die übrigen Bilder<br />
wurden unserer konzeptuellen Reihenfolge<br />
(offen- geschlossene Handflächen im Wechsel;<br />
Sequenzenbeibehaltung) nach angeordnet<br />
und im Programm gespeichert.<br />
Im weiteren Verlauf legten wir die einzelnen<br />
Zeiten zwischen den zu zeigenden Bildern<br />
fest und bearbeiteten sowohl das Anfangs- als<br />
auch das Endbild. Jedes Bild hatte seine eigene<br />
festgelegte Zeiteinheit. Diese bestimmt, wie<br />
lange das Bild für den Betrachter sichtbar sein<br />
sollte. Es entstand ein Kurzfilm, der alle von uns<br />
ausgewählten Sequenzen von Handstellungen<br />
zeigte.<br />
Nach Beendung dieser Arbeit zeigten wir<br />
unserem Dozenten unseren vorläufig fertig gestellten<br />
Film. Dieser schaute sich ihn mehrmals<br />
an und gab uns den Tipp, die Fotos schneller<br />
zeigen zu lassen bzw. die Zeiten zu verkürzen,<br />
um Dramaturgie hinein zu bekommen. Diesen
Vorschlag probierten wir aus. Da er uns gefiel<br />
beließen wir es dabei, die angeordneten Bilder<br />
etwas schneller zeigen zu lassen. Dennoch<br />
achteten wir darauf, dass die Zeiten für den<br />
Betrachter nicht als zu schnell seinen würden.<br />
Weiterhin überlegten wir, ob wir den Film<br />
noch mit Musik unterlegen sollten. Diese Idee<br />
nahmen wir aus anderen Projekten auf. Wir<br />
entschieden uns aber dagegen, da wir den<br />
Betrachter in seiner Betrachtung nur auf die<br />
Bilder, anstatt auch auf Musik, konzentrieren<br />
wollten. Die Aufmerksamkeit sollte nur bei den<br />
Bildern liegen. Man sollte nicht von musikalischen<br />
Beiträgen abgelenkt werden. Auch wäre<br />
eine musikalische Unterbindung aus zeitlichen<br />
Gründen nicht mehr möglich gewesen.<br />
Da zu der Sitzung am 23.01.07 unser gesamtes<br />
Projekt nicht mehr im Computer auffindbar war<br />
(vom RZ gelöscht?!), mussten wir unser Projekt<br />
erneut erstellen. Aufgrund der Ausstellung,<br />
die am 30.01.07 stattfinden sollte, blieb uns<br />
nicht viel Zeit. Glücklicherweise hatten wir viele<br />
unserer Fotos auf einem Stick gespeichert und<br />
mit zum Seminar genommen. Wir erstellten<br />
unseren Film also mit den uns zur Verfügung<br />
stehenden Bildern erneut. Konzeptuell veränderten<br />
wir nichts. Wir versuchten den Film<br />
genauso anzulegen, wie den vorherigen, nur<br />
leider mit weniger Bildern.<br />
Im Endeffekt gefiel uns dieser neu entstandene<br />
Film genauso gut wie die erste Version. Der<br />
Film wurde als Endlosschleife angelegt. Ein<br />
Kreislauf sprachlicher Zeichen entstand.<br />
2.1 Kunstbezüge/ Ansätze von Künstlern<br />
Innerhalb unserer Internetrecherche zu unserem<br />
Konzept „Zeichen der Sprache“ sind wir auf<br />
viele verschiedene Möglichkeiten gestoßen, mit<br />
<strong>Schatten</strong> von Händen einen Film zu erstellen.<br />
Es existieren schon zahlreiche Kunstbezüge<br />
<strong>Schatten</strong> der Hände einzusetzen. Hierbei haben<br />
wir primär Filme gesehen, die nicht einem Fotobearbeitungsprogramm<br />
entstammen, sondern<br />
mit Filmkameras gedreht worden sind. Inhaltlich<br />
kreisten viele Projekte darum, mit <strong>Schatten</strong><br />
von Händen Tiere darzustellen. Resultate,<br />
wo <strong>Schatten</strong> der Hände in Bezug auf direkte<br />
Kommunikation, wie z.B. die Gebärdensprache,<br />
gesetzt werden, haben wir sehr bedingt ausfindig<br />
machen können.<br />
Zusammenfassend thematisieren einige Künstler<br />
den Aspekt von Handschatten, vernachlässigen<br />
aber die von uns gewählte Thematik der<br />
Kommunikation.<br />
So weisen die Internetseiten von fotosearch.de,<br />
blog.insnet.de oder flickr.com die Thematisierung<br />
von <strong>Schatten</strong> und Händen auf.<br />
Innerhalb unseres Projekts konzentrierten<br />
wir uns, neben der Betrachtung von Handschattenfotos,<br />
insbesondere auf die zweite<br />
angegebene Internetseite: http://blog.insnet.<br />
de/tag/hand-schatten-vw-grabarz-partner-adcommercial.<br />
Die ersten Sekunden innerhalb<br />
dieses Filmes waren für uns sehr wichtig. Wir<br />
haben so z.B. erfahren, dass sich bei Aufnahmen<br />
die Stellungen der einzelnen Handposen<br />
69<br />
nur minimal voneinander unterscheiden lassen<br />
dürfen, um eine Bewegung ausmachen zu können.<br />
Zu schnelle, ruckartige Posen, z.B. von der<br />
Faust direkt zur offenen Hand, würden keine<br />
abfolgende Sequenz ausmachen. Auch haben<br />
wir anhand dieses Filmes die Bearbeitung der<br />
Zeiten der zu zeigenden Aufnahmen besser<br />
einschätzen können.<br />
Auch wenn Fabian Nöthes Weblog im Gegensatz<br />
zu unserem Projekt einen Film darstellt,<br />
war es für uns hilfreich diesen als „Vorbild“ für<br />
unsere praktische Arbeit anzusehen. Innerhalb<br />
dieses Filmes erkennt man, welche Aussagekraft<br />
<strong>Schatten</strong> haben können. Der Film hat uns<br />
beiden von seiner Machart, Gestaltung und<br />
Technik sehr beeindruckt.<br />
3. Konzeptpräsentation<br />
Unsere mediale Arbeit wurde während der<br />
Ausstellung des Seminars „moving <strong>shadows</strong>“<br />
am 30.01.07 von 14 bis 18 Uhr gezeigt. Als<br />
Ausstellungsort fungierte ein Kellergebäude<br />
der <strong>Universität</strong> Hildesheim. Für unsere mediale<br />
Arbeit benötigten wir einen Fernseher und<br />
einen Dvd- Player. Aufgrund von vorheriger<br />
undurchsichtiger Absprachen mit Kommi<strong>lit</strong>onen<br />
standen uns am Tag der Präsentation<br />
diese Medien nicht mehr zur Verfügung, da<br />
sie bereits von anderen Projekten beansprucht<br />
wurden. Netterweise erklärte sich eine Kommi<strong>lit</strong>onin<br />
bereit, dass wir ihren Laptop nutzen<br />
durften. Wir zeigten unseren Film also folglich<br />
auf dem Laptop.<br />
Da der Film als Endlosschleife (endless- dvd)<br />
konzipiert war, konnte der Betrachter jederzeit<br />
in den Film einsteigen und ihn „zu Ende“ schauen<br />
bzw. so lange betrachten bis wieder ihm/<br />
ihr bekannte Bilder auftraten.<br />
4. Möglichkeiten zur Verbesserung<br />
Da wir bei unserem Projekt „Von Turm zu<br />
Turm“ eine Möglichkeit zur Verbesserung in der<br />
Vermeidung der Uhrzeitangabe der Digitalkamera<br />
auf den Bildern ansahen, haben wir<br />
dieses mal darauf vermehrt geachtet. Bilder, wo<br />
Uhrzeitangaben in der Ecke waren, haben wir<br />
sofort ausselektiert bzw. haben wir Fotos primär<br />
mit der Kamera aufgenommen, die keine<br />
Uhrzeit angab. Die Uhrzeitangaben sollten den<br />
Betrachter in seiner Betrachtungsweise nicht<br />
vom eigentlichen Motiv auf dem Bild ablenken.<br />
Als eine Möglichkeit der Verbesserung sehe ich<br />
definitiv die feste Bestimmung eines Untergrundes<br />
an, worauf der <strong>Schatten</strong> projiziert werden<br />
soll. Innerhalb der Betrachtung unseres fertig<br />
gestellten Projekts fiel uns auf, dass unsere<br />
verschiedenen Böden als irritierend erschienen.<br />
Wir hatten insgesamt drei verschiedene<br />
Untergründe (Kellerwand, Paketboden, Tapetenwand),<br />
die sich im Endeffekt doch voneinander<br />
sehr unterschieden. Beim Aufnehmen<br />
der Bilder sind uns diese Unterschiede nicht<br />
so direkt aufgefallen, da wir dachten, dass die<br />
Böden ähnliche Töne aufwiesen. Bei einem<br />
nächsten Projekt würde ich also folglich darauf<br />
achten, dass alle Untergründe bzw. Hintergrün-
Abb. 8: „unfassbare“ Farbe<br />
de derselben Farbe entsprechen bzw. dass man<br />
nur einen Untergrund der Projektion verwendet,<br />
um dieser Irritation entgehen zu können.<br />
Weiterhin weisen Aufnahmen der verschiedenen<br />
Böden auch unterschiedliche Helligkeiten<br />
auf. Nicht nur die verschiednen Bodentöne<br />
irritieren, sondern auch die verschiedenen Helligkeiten<br />
der Bilder. Es ist daher ratsam diesem<br />
Problem in einem weiteren Projekt zu entgehen<br />
und nur einen Untergrund zu verwenden.<br />
Auch sind uns gelbe Flecke an der Wand des<br />
Kellergebäudes bei dem Aufnehmen der Bilder<br />
gar nicht aufgefallen, die sich später aber in<br />
den Fotos bemerkbar gemacht haben (Abb. 7):<br />
Beim nächsten Mal würde ich darauf von<br />
vornherein mehr achten. Man sollte doch<br />
etwas mehr Zeit aufwenden, um einen vollends<br />
geeigneten Untergrund zu finden.<br />
Als weitere Möglichkeit der Verbesserung<br />
könnte man sich überlegen, ob musikalische<br />
Beiträge zur Unterstützung des Kurzfilmes<br />
eventuell doch als sinnvoll erscheinen könnten.<br />
Beobachtungen haben ergeben, dass musikalische<br />
Beiträge oft die Aufmerksamkeit des Betrachters<br />
erzielen. Musik könnte also demnach<br />
sowohl die Aufmerksamkeit des Betrachters, als<br />
auch das Interesse an einem Projekt durchaus<br />
steigern. Es lässt sich aber dennoch kritisch<br />
anmerken, dass eine Musik auch zu einem Film<br />
o.ä. passen muss. Willkürliche musikalische<br />
Untermalung würde keinen Effekt hervorrufen<br />
und den Betrachter ggf. nur irritieren. Bei einem<br />
nächsten Projekt würde ich diese Überlegungen<br />
aber schon früher als in der Endphase<br />
der Produktion mit bedenken.<br />
Insgesamt betrachtet sehe ich diese Ansatzpunkte<br />
als Möglichkeiten zur Verbesserung, die<br />
man/ wir bei einer weiteren medialen Arbeit<br />
mit beachten könnten.<br />
5. Fazit<br />
Innerhalb des Verlaufs dieses Seminars habe<br />
ich viele neue Eindrücke gesammelt.<br />
Ich habe viele neue Informationen im Umgang<br />
mit Computerprogrammen erhalten.<br />
Die praktische Auseinandersetzung mit dem<br />
Programm „Pinnacle Studio 10“ hat mir sehr viel<br />
Spaß gemacht. Es war mal wieder sehr interessant<br />
festzustellen, was man alles mit einzelnen<br />
Fotoaufnahmen machen kann.<br />
Die Erstellung und das Produzieren eines<br />
Kurzfilmes aus Fotoaufnahmen waren für mich<br />
zwar nicht neu, aber da das Programm „Pinnacle<br />
Studio Plus 10, Version 10.6“ eine neue<br />
Version von „Pinnacle Studio 9“ ist und ich<br />
lange nicht daran gearbeitet habe, musste man<br />
sich erst einmal wieder einarbeiten.<br />
Ich denke, dass es uns einen interessanten und<br />
spannenden Ansatzpunkt gegeben hat, wieder<br />
weiterhin mit solch Programmen arbeiten zu<br />
wollen.<br />
Insgesamt betrachtet bin ich mit unserem Resultat<br />
des Seminars zufrieden. Die Mischung aus<br />
Film und Foto gefällt mir ganz gut. Es erinnert<br />
mich etwas an alte Stummfilme, die ich früher<br />
bei meinen Großeltern gesehen habe.<br />
70<br />
Durch die Arbeiten der Kommi<strong>lit</strong>onen konnte<br />
man sich tolle neue Ansatzpunkte und Ideen<br />
für weitere Arbeiten ableiten. Es sind viele<br />
spannende, witzige und interessante mediale<br />
Arbeiten entstanden.
Saskia Seifer<br />
Inhalt<br />
1 Entstehung der<br />
Arbeit<br />
2 Beschreibung der<br />
Installation<br />
3 Überlegungen<br />
4 Mögliche Interpretationsansätze<br />
5 Künstlerische<br />
Bezüge<br />
6 Variationen<br />
7 Schlussbetrachtung<br />
Abb. 2<br />
Abb. 3<br />
Quellen<br />
Abbildungen 2 - 9, „Serviert“,<br />
Installationsansichten, Details<br />
„Serviert“<br />
Abbildung 1: Saskis Seifer, „Serviert“, Installationsansicht<br />
1 Entstehung der Arbeit<br />
Ich stellte mir zu Beginn vor, eine Installation zu<br />
schaffen, in der Puppen dargestellt werden, die<br />
missbraucht und vergewaltigt wurden. In der<br />
Installation sollten die Folgen der Tat anhand<br />
der Puppen erkennbar sein, indem diese verunstaltet<br />
und zerstört dargestellt werden, beispielsweise<br />
durch aufgerissene Kleider, verletzte<br />
Gliedmaßen, gespreizte Beine, durchstochene<br />
Augen, verbrannte Gesichter und mit schwarzem<br />
Klebeband zugeklebte Münder, sodass<br />
diese zum Sprechen nicht mehr in der Lage<br />
sind etc.. Die verletzten weiblichen Körper sollten<br />
als Opfer auf einem Teller präsentiert und<br />
dem Betrachter vorgesetzt werden. Die Folgen<br />
der Tat sollten demnach zum einen an den<br />
Figuren selbst erkennbar sein, indem eine helle<br />
Lichtquelle inmitten der Figuren hängt und die<br />
Frauenkörper hell beleuchtet. Zum anderen<br />
sollte die Lampe <strong>Schatten</strong> erzeugen, welche<br />
auf die Wände projiziert werden. Die <strong>Schatten</strong><br />
sollten an die Schrecken der Tat, an die<br />
zerbrochenen Seelen der Figuren erinnern und<br />
all das symbolisieren, was in der Öffentlichkeit<br />
meist im Dunkeln bleibt. So viele Taten bleiben<br />
im Verborgenen, sodass den Opfern, insofern<br />
sie noch am Leben sind, nicht geholfen werden<br />
kann. Ihr Leben lang behalten sie die Taten in<br />
71<br />
Erinnerung und werden immer wieder mit diesen<br />
konfrontiert. Während der Entwicklungsphase<br />
kam ich jedoch von dem Gedanken ab,<br />
die Folgen der Taten symbolisch darzustellen.<br />
Warum sollen diese aufgezeigt werden, wenn<br />
die seelischen Folgen viel bedeutender sind, da<br />
sie nie ausreichend geheilt werden können?<br />
Ich entschloss mich also dazu, unbekleidete<br />
Puppen, doch nicht deren Verletzungen darzustellen.<br />
Dadurch bekam die Installation für<br />
mich einen neuen Interpretationsansatz, der im<br />
Folgenden aufgezeigt werden soll.<br />
2 Beschreibung der Installation<br />
Die Installation „Serviert“ besteht hauptsächlich<br />
aus unbekleideten Barbiepuppen, einem<br />
Schallplattenspieler und einer Lichtquelle. Die<br />
Puppen sind nackt, tragen aber billige Accessoires<br />
wie beispielsweise Ohrringe, Armreifen<br />
und Haargummis. Die Figuren sind an einem<br />
ausgeschnittenen Kartonboden befestigt,<br />
der sich mit Hilfe des darunter befindenden<br />
Schallplattenspielers dreht, welcher auf einem<br />
Glastisch steht. Inmitten der weiblichen Körper<br />
hängt eine 60 Watt - Kabellampe, die diese<br />
anstrahlt und durch die bis zu etwa 2,50 m<br />
große <strong>Schatten</strong> an der Wand projiziert werden
Abb. 5<br />
Abb. 6<br />
Abb. 4<br />
können. Während der Tisch eine Höhe von ca.<br />
0,50 m misst, stellt der <strong>Schatten</strong>spieler mit den<br />
Barbies etwa eine Größe von ca. 0,40 m dar.<br />
Insgesamt ist die Installation demnach etwa<br />
0,90 m hoch. Neben den aufgezeigten Elementen<br />
steht für den Betrachter ein Stuhl, auf dem<br />
ein Discman liegt, bereit. In diesem ist eine CD<br />
mit schrillen Geräuschen, eingelegt, die der<br />
Betrachter sich anhören kann. Die Installation<br />
ist mit einer Wand aus Pappe vom Rest des Raumes<br />
abgetrennt und befindet sich demzufolge<br />
in einem extra arrangierten Bereich.<br />
3 Überlegungen zur Arbeit<br />
In der Installation „Serviert“ werden unbekleidete<br />
Puppen, stellvertretend für Frauen, in<br />
anzüglichen Posen dargestellt, die auf einem<br />
sich drehenden Teller präsentiert werden. Die<br />
Puppen werden von einer herunterhängenden<br />
Kabellampe beleuchtet. Der Betrachter<br />
kann um die Puppen herumgehen und so<br />
die Figuren aus verschiedenen Perspektiven<br />
anschauen. Sie sind mit ihren Füßen in dem<br />
Teller, bzw. dem Pappkartonboden befestigt.<br />
Auf Grund der Lichtquelle werden die <strong>Schatten</strong><br />
jeder einzelnen Puppe an die Wand projiziert.<br />
Diese tanzen in beinahe Lebensgröße, um den<br />
Betrachter herum, die <strong>Schatten</strong> der Betrachter<br />
vermischen sich mit dem der Figuren. Die bereitliegenden<br />
Kopfhörer verlangen jedoch ein<br />
Verharren zum Hören.<br />
4 Mögliche Interpretationsansätze<br />
Der Titel „Serviert“ verdeutlicht die Darstellung<br />
einer Präsentation. Die Figuren befinden sich<br />
auf einem „Präsentierteller“, von dem sie selbst<br />
nicht loskommen.<br />
72<br />
Die Puppen sind mit billigem Modeschmuck<br />
behangen, die Lichtquelle ist eine Lampe wie<br />
sie in einem Schuppen, Keller o. Ä. Verwendung<br />
findet. Die abgrenzende Wand besteht<br />
aus einfachem Pappkarton und unterstreicht<br />
die Ärmlichkeit des Kellers.<br />
Die Tischplatte, auf der die Puppen drapiert<br />
sind, besteht aus Glas. Der Tischrahmen, sowie<br />
die Tischbeine bestehen aus silberfarbigem<br />
Edelstahl. Der Tisch scheint das edelste Element<br />
der Installation zu sein, das zu den anderen im<br />
Gegensatz steht. Die weiblichen Körper werden<br />
demnach mithilfe des Glastisches in Szene<br />
gerückt.<br />
Die Puppen in ihrer primitiven Erotik spielen mit<br />
dem möglichen sexuellen Verlangen männlicher<br />
Phantasien.<br />
Die <strong>Schatten</strong> verzerren diese Figuren an der<br />
Wand.<br />
Es gibt in der Rea<strong>lit</strong>ät so viele verschiedene<br />
Situationen, in denen die Reize der Frauen auf<br />
Männer wirken. Beispielsweise, wenn Frauen<br />
leicht bekleidet am Strand entlanglaufen oder<br />
sehr freizügig auf dem Weg zur nächsten Diskothek<br />
sind.<br />
Die <strong>Schatten</strong>, bezüglich der Installation, stellen<br />
in diesem Fall die Bedrohung oder die Gefahr<br />
der Frauen dar, denen sie ausgesetzt sind.<br />
Andererseits könnten die <strong>Schatten</strong> auch die<br />
schlimmen Folgen der bereits vollzogenen<br />
Taten symbolisieren.<br />
Die schrecklichen und nicht lange auszuhaltenden<br />
Geräusche können beispielsweise als<br />
Schreie interpretiert werden, denn die Barbiepuppen<br />
sind gefangen und haben keine<br />
Möglichkeit den <strong>Schatten</strong> bzw. den möglichen<br />
Folgen zu entfliehen.
Abb. 7<br />
Abb. 8<br />
Weiteren oder anderen Interpretationsmöglichkeiten<br />
sollen jedoch keine Grenzen gesetzt werden.<br />
Dies soll nur ein Beispiel sein, wie man die<br />
Installation interpretieren könnte, wenn man<br />
sich näher mit dieser und der Bedeutungen der<br />
einzelnen Elemente auseinandersetzt.<br />
5 Künstlerische Bezüge<br />
In der Kunstgeschichte werden u. a. zahlreiche<br />
Bilder dargestellt, die sich mit der Gefährdung<br />
des Mannes, der sich dem Anblick weiblicher<br />
Schönheit überlässt, befassen 1 . Es handelt sich<br />
dabei um Warngeschichten, in denen nicht nur<br />
der Blick bzw. das Verwerfliche des Beobachtens<br />
zeigen sollen, sondern sie „mussten zu<br />
zeigen versuchen, wie aus der Aktivität des<br />
Fernsinns die der Nahsinne entsteht und wie<br />
sich der begehrliche Blick anschickt, in eine tatsächliche<br />
sexuelle Aggression umzuschlagen“ 2 .<br />
Die Künstler sollten in den Warngeschichten,<br />
„wenn nicht eine Handlung, so doch einen<br />
Prozess mit diachroner Verlaufsform zumindest<br />
andeuten“ 3 . Während sie das Thema des<br />
unkeuschen, des verbotenen Blickes gestalteten<br />
und veranschaulichten, „inszenierten sie<br />
zugleich einen anderen Blick, der gerade nicht<br />
unkeusch, gerade nicht verpönt sein sollte, sondern<br />
geboten war: den der Bildbetrachtung“ 4 .<br />
Bezogen auf die Installation „Serviert“ ist anzumerken,<br />
dass es sich auch um zwei Arten von<br />
Blicken handelt, sobald man der beschriebenen<br />
Interpretation nachgehen möchte. Zum einen<br />
wird der Blick des Betrachters auf die nackten<br />
Frauen gelenkt. Er wird also zum Anschauen<br />
aufgefordert. Anders als in den Bildern wird<br />
jedoch nicht der Blick eines Mannes auf die<br />
Frauen in der Installation gezeigt, sondern<br />
der Betrachter wird selbst zu der Person, die<br />
auf die Figuren schaut. Dadurch wird er in die<br />
Abb. 9: Artemesia Gentileschi (1610) 6<br />
73<br />
Installation involviert und in das Geschehen<br />
eingebunden.<br />
Der zweite Blick bezieht sich auf die <strong>Schatten</strong>.<br />
Diese stellen, nach der Interpretation, die<br />
Gefährdung möglicher sexueller Aggressionen<br />
dar, die durch begehrliche Blicke ausgelöst<br />
werden können. Die <strong>Schatten</strong> sollen darauf<br />
hinweisen, dass unkeusche Blicke auch eine<br />
dunkle Seite haben können, nämlich dann,<br />
wenn die Spanne zwischen etwas Androhendem<br />
und etwas Geschehenen sehr klein ist.<br />
Die beiden Darstellungen der Keuschen Susanna<br />
von Artemisia Gentileschi (1610), Abb. 9,<br />
und von Anthonius van Dyck (ca. 1621), Abb.<br />
10, zeigen „Männergestalten, die im Begriffe<br />
sind, gegenüber ihrem weiblichen Opfer zutäppisch,<br />
ja handgreiflich zu werden“ 5 .<br />
Die Bilder werden als Beispiele angeführt, da<br />
sie die Gefährlichkeit der Augenlust thematisieren.<br />
Die Beobachtenden lassen sich von ihrem<br />
Blick leiten und es ist aus den Bildern nicht<br />
zu ersehen, ob sie sich den Reizen der Frau<br />
hingeben oder diesen widerstehen können.<br />
Das Verlangen sich ihrer zu bedienen scheint<br />
jedoch so groß zu sein, dass die Beobachtenden<br />
nicht weit davon entfernt sind, die Frau für<br />
ihre sexuelle Befriedigung zu benutzen.<br />
6 Variationen<br />
Mögliche Variationen wären zum Beispiel in<br />
der Darstellungsweise der Barbiepuppen zu<br />
sehen. Diese könnten in einer Reihe aufgestellt<br />
werden, sodass der Betrachter ihnen genau<br />
gegenüber steht oder die Puppen hätten an<br />
der Decke mit einer Schlinge um den Hals<br />
aufgehängt werden können. Dann würde die<br />
Tat allerdings, nämlich auf das Erhängen, eingeschränkt<br />
werden, was aber wiederum auch<br />
als Symbol für weitere Taten bzw. deren Folgen<br />
Abb. 10: Anthonius van Dyck (ca. 1621) 7
9 Quellen<br />
Literatur<br />
Stadler, Ulrich/ Wagner, Karl:<br />
Schaulust, Wilhelm Fink<br />
Verlag, München, 2005<br />
Internet<br />
http://www.homolaicus.com/<br />
arte/pittrici/Susanna.jpg<br />
http://www.abcgallery.com/V/<br />
vandyck/vandyck46.JPG<br />
Fußnoten<br />
1 vgl. Stadler/ Wagner, S. 17<br />
2 Stadler/Wagner, S. 18 f.<br />
3 a.a.O., S. 19<br />
4 ebd.<br />
5 a.a.O., S.17<br />
6 http://www.homolaicus.com/<br />
arte/pittrici/Susanna.jpg<br />
7 http://www.abcgallery.com/<br />
V/vandyck/vandyck46.JPG<br />
stehen könnte. Außerdem könnte die Lichtquelle<br />
und deren Position variieren. Beispielsweise<br />
könnten die Puppen von unten nach oben<br />
angestrahlt werden. Durch das Experimentieren<br />
der Lichtquelle habe ich jedoch festgestellt,<br />
dass die Positionen der Lichtquelle eingeschränkt<br />
sind, da das Licht und die <strong>Schatten</strong>,<br />
sobald man den Winkel ändert, unterschiedlich<br />
an die Wand projiziert werden. Zudem müssten<br />
auch keine Barbiepuppen dargestellt werden.<br />
Es könnten auch Fotos von Frauenkörpern aufgestellt<br />
werden. Die Variationen der Installation<br />
sind demnach vielfältig, bedürfen aber, auf<br />
Grund des Lichteinfalls und der <strong>Schatten</strong>bedeutung,<br />
verschiedene Prozesse des Experimentierens.<br />
7 Schlussbetrachtung<br />
Meiner Meinung nach, stellen sich die Barbiepuppen<br />
als ein passendes Symbol für die Installation<br />
bzw. für die Darstellung von Frauen dar,<br />
da sie als Schönheitssymbol den Idealkörper<br />
einer Frau präsentieren. Außerdem symbolisieren<br />
die bewegenden <strong>Schatten</strong> auf Grund ihrer<br />
Größe und ihrer Verzerrungen durch das Drehmoment<br />
etwas Bedrohliches. Rückblickend ist<br />
jedoch zu bemängeln, dass der abgetrennte,<br />
arrangierte Bereich in der Ausstellung kleiner<br />
hätte sein müssen. Auf Grund der Höhe und<br />
Breite des Raumes konnte das erwartete bzw.<br />
erwünschte Ziel, dass der Betrachter sich beengt<br />
fühlen sollte, meiner Ansicht nach, nicht<br />
ganz erreicht werden. Hier hätte der Abstand<br />
zwischen der Stellwand aus Pappkarton und<br />
den anderen beiden Wänden geringer sein<br />
müssen, sodass eine zweite Stellwand angebracht<br />
hätte werden müssen, um die Größe<br />
des Raumes zu verringern. Dann wäre jedoch<br />
der Nachteil aufgekommen, dass die <strong>Schatten</strong><br />
nicht in dem Maße, wie es letztendlich in der<br />
Ausstellung war, gewirkt hätten. Die Idee mit<br />
dem <strong>Schatten</strong>spieler als Drehmoment, empfand<br />
ich als sehr gut, um die <strong>Schatten</strong> drehend und<br />
sich bewegend darzustellen. Auch die Tatsache,<br />
dass die <strong>Schatten</strong> zum Teil verzerrt und<br />
unscharf waren sowie sich in ihren Größen<br />
variierten, zeigten einen positiven Effekt für<br />
die Installation auf. Ich denke, dass dadurch<br />
der bedrohliche Charakter der <strong>Schatten</strong> zum<br />
Ausdruck kommen konnte.<br />
74
Merle Christmann<br />
Inhalt<br />
1 Einleitung<br />
2 Fotografische<br />
Dokumentation<br />
3 Künstlerische Bezüge<br />
4 Anhang<br />
Literatur<br />
Quellen<br />
Abbildungen<br />
Abb. 2: Bewegungsstudie<br />
Abb. 3: Experimente mit Draht<br />
und Licht<br />
„Draht-Seil-Akt,<br />
gescheitert“<br />
Abb. 1: „Drahtseilakt, gescheitert“<br />
1 Einleitung<br />
Ein <strong>Schatten</strong> zeigt zunächst das Fehlen von<br />
Licht an. Dennoch braucht sein Entstehen eine<br />
Lichtquelle. Ein <strong>Schatten</strong> ist somit ein lichtloser<br />
bzw. lichtarmer Umriss oder Fleck, den das<br />
Licht durch das Streifen eines Gegenstandes<br />
oder Wesens abbildet.<br />
<strong>Schatten</strong> gibt es im üblichen Sinn, zum Beispiel<br />
beim Lichtdesign, wenn man farbige <strong>Schatten</strong><br />
als Lichteffekte einsetzt oder beim Tageslichtprojektor,<br />
der auf der Folie lichtundurchlässige<br />
Teile, nämlich die Buchstaben bestrahlt und<br />
den <strong>Schatten</strong> an der Wand abbildet.<br />
In vielen Filmen werden <strong>Schatten</strong> als gruselige<br />
oder mystische Komponente verwendet: So<br />
sagt man im „Herrn der Ringe“, dass jemand in<br />
die <strong>Schatten</strong> gefallen sei (und in einem gewissen<br />
Sinne als unglücklich verloren gilt) oder<br />
jemand wird von einem <strong>Schatten</strong> verfolgt, der<br />
sich zumeist als böser Angreifer herausstellt.<br />
Besonders Detektivfilme arbeiten mit diesen<br />
Klischees. Es gibt sogar ein bestimmtes Genre,<br />
den „film noir“.<br />
In der Kunst arbeitet man z.B. auf Ausstellungen<br />
wie „Lichtkunst aus Kunstlicht“ mit dem<br />
Thema <strong>Schatten</strong>. Aber auch in bewegten<br />
Bildern, wie den „la linea“- Filmen, in denen ein<br />
Männchen, das quasi auf einer Linie lebt und<br />
ebenso aus ihr entsteht, wird mit <strong>Schatten</strong>ähnlichen<br />
Phänomenen gespielt.<br />
Diese und noch viele andere Bereiche, wie<br />
beispielsweise das <strong>Schatten</strong>theater betrachteten<br />
wir und suchten Inspirationen für unsere<br />
Ausstellung und die daraus folgende Beschäftigung<br />
mit diesem Thema.<br />
75<br />
2.4 Veränderte Bilder der Arbeit<br />
– Reflexionsprozess/Alternativen<br />
Diese Bilder (Abb. 5) entstanden, als ich versuchte,<br />
prägnante Ausschnitte meines Werkes<br />
zu fotografieren bzw. mit der Kamera das<br />
Negativ des Bildes zu erstellen. Dabei fiel mir<br />
auf, dass an der Stelle von pinker und blauer<br />
Folie grüne und rote Folie, allein schon durch<br />
die Art des Kontrastes, noch intensiver gewirkt<br />
hätten. Ein paar der Bilder sind auch noch in<br />
ihrer Helligkeit verändert.<br />
Ich fragte mich im Anschluss, ob ein solcher<br />
Ausschnitt als weiteres Dia in der Ausstellung<br />
„funktioniert“ hätte.<br />
3 Künstlerische Bezüge<br />
Inspiration – Ideensuche in der Welt<br />
der Kunst<br />
Als ich einer Freundin vom Inhalt des Seminars<br />
„<strong>Moving</strong> Shadows“ erzählte, erwiderte sie umgehend,<br />
dass ich mir wenigstens die Website<br />
der Ausstellung „Lichtkunst aus Kunstlicht“, die<br />
sie im Rahmen einer Exkursion besucht hatte,<br />
des ZKM in Karlsruhe, ansehen solle.<br />
Hier wurde ich recht schnell fündig, was Inspiration<br />
betraf.<br />
Im kuratorischen Konzept fand ich erste Anknüpfpunkte:<br />
„Die Kunst hat sich von der illusionären<br />
Repräsentation des natürlichen Lichts<br />
immer mehr dem realen Einsatz des künstlichen<br />
Lichts zugewandt. (…) KünstlerInnen schaffen<br />
autonome, leuchtende Objekte und Räume<br />
oder illuminieren gar Landschaften.“ Ein Motto<br />
das im kleineren Rahmen auch für die auf das<br />
Seminar folgende Ausstellung passte, -wenn<br />
auch zunächst, also in diesem Semester mehr
Abb. 4: Dias, jew. 6,4 x 7,1cm<br />
Abb. 5: Varaitionen<br />
Abb. 6: Maurizio Nanucci,<br />
„Deep Blue“, 1968<br />
Abb. 7: Sylvie Fleurie, „Faster!<br />
Bigger! Better!“, 1999<br />
mit den <strong>Schatten</strong>seiten des Lichts „gespielt“<br />
wurde, - dennoch beschäftigten sich die Werke<br />
der Ausstellung in fast jedem Fall mit dem Spiel<br />
mit „wirklichem“ Licht.<br />
Aber auch in der Podcast-Führung fand ich<br />
Werke, die ich ansprechend und interessant<br />
fand. So gefielen mir vor allem typografisch<br />
inspirierte Werke wie „Untitled (Paul writing<br />
my name No. 4)“ von Rirkit Tiravanija,<br />
„Deep Blue“ von Maurizio Nannucci und<br />
„Faster!Bigger!Better!“ von Sylvie Fleury in ihrer,<br />
auf den ersten Blick, plakativen Ausdruckskraft.<br />
Nicht nur aufgrund der Komplexität ihrer Beschaffenheit<br />
durch werkwesentliche Materialien<br />
wie die Neonsysteme, sondern auch durch<br />
ein weiteres, erstaunliches Werk von „Fred<br />
Eerdekens“ wurde ich davon abgehalten, mich<br />
von ihnen inspirieren zu lassen: „The Image As<br />
Distance Between Name and Object“ aus dem<br />
Jahre 1991.<br />
Mehr als die erstaunliche Konstruktion (das unleserliche<br />
Drahtgewirr, das auf den ersten Blick<br />
nur sehr entfernt einem Schriftzug gleicht, gibt<br />
seinen (leserlichen) Sinn als <strong>Schatten</strong> auf der<br />
Wand und als Schriftzug frei) oder die inhaltlichen<br />
Gedanken, interessierten mich Material,<br />
nämlich der Draht (hier: Kupferdraht) als auch<br />
die Wirkung seines <strong>Schatten</strong>s: Sehr klare Linien,<br />
wie gezeichnet durch das Licht, an der Wand.<br />
Das Licht macht eine Zeichnung, das Licht<br />
macht „Kunst“ in einer schnörkellosen, klaren<br />
Technik.<br />
In der Besprechung bekam ich den Tipp, mir<br />
den „Drahtzirkus“ von Alexander Calder anzuschauen.<br />
Auf youtube.com wurde ich fündig:<br />
Ein Mann bastelte aus Draht ganze, verkleinerte<br />
Zirkuswelten, die er dann in kleinen Vorführungen<br />
seinen Freunden präsentierte.<br />
Schnell wurde mir klar, dass ich gerne bei diesem<br />
Material mit seiner, durch das Licht noch<br />
zusätzlich betonten, klaren Wirkung, bleiben<br />
wollte.<br />
In der Diskussion fiel (mehr spaßeshalber) das<br />
Wort „Drahtseilakt“: Sehr gut, damit konnte ich<br />
perfekt arbeiten, ohne Eerdekens in seiner Idee<br />
mit dem Schriftzug zu imitieren.<br />
Ich nahm das ganz zunächst sehr wörtlich und<br />
entschied mich, einen Akt aus Draht abzubilden.<br />
Zunächst machte ich Studien zum Material<br />
und zum Thema. Dazu ging ich alte Aktzeichnungen<br />
durch, spannte meine Mitbewohnerin<br />
als „Aktmodell“ ein, suchte ein geeignetes<br />
Material und machte diverse Proben mit diversen<br />
Lampen im Keller der Uni. Ein Freund lieh<br />
mir spezielle Zangen, mit denen man Draht<br />
glatt und rund biegen konnte. Da sich dieses<br />
Unterfangen in einem so kleinen Format (dass<br />
ich dann ja erst als vergrößerten, eigentlich<br />
lebensgroßen <strong>Schatten</strong> an die Wand werfen<br />
wollte) als sehr schwierig erwies (der erste<br />
liegende Akt erinnerte an die Schlange in „Der<br />
kleine Prinz“, die einen Elefanten verschluckt<br />
hatte), änderte ich den Ursprungstitel in „Draht-<br />
Seil-Akt“ und nähte das Figürchen, das den<br />
Akt repräsentierte, jeweils auf. So fanden sich<br />
76<br />
die Materialien „Seil“(=Bindfaden) und „Draht“<br />
auch ganz explizit als Wortspiel im Titel wider.<br />
3.2 Persönliche Bezüge<br />
Persönliche Anknüpfpunkte fand ich zum<br />
einem in dem Material, dass einen <strong>Schatten</strong><br />
wirft, der den Charakter einer Zeichnung mit<br />
grobem bzw. sicherem Strich imitiert, weil die<br />
Zeichnung eines meiner liebsten Gebiete der<br />
Kunst ist.<br />
Während des Fortschreitens der Konzeption<br />
entdeckte ich aber auch das inhaltliche Thema<br />
für mich. Die endgültige Version des gescheiterten,<br />
statt des gelungenen Drahtseilaktes ist<br />
sicherlich auch ein persönlicher Bezug, welcher<br />
darauf zurückgeht, dass ich mehr melancholische<br />
Eigenschaften denn grundlos optimistische<br />
in mir vereine.<br />
Interessant am Inhaltlichen fand ich die Doppeldeutigkeit<br />
des Themas: Zum einen, dass<br />
sich die Materialien im Titel wiederfinden und<br />
Draht und „Seil“ außerdem auch ebendiesen in<br />
einem anderen Wortsinn, als im ursprünglich<br />
gemeinten der Wendung „Das ist ein Drahtseilakt!“<br />
als Bezeichnung für ein gewagtes Risiko,<br />
abbilden, - nämlich als den einer Zeichnung<br />
eines unbekleideten Menschens.<br />
Ich entwarf zwei Bilder, wobei eines davon<br />
den stolz auf dem Draht tänzelnden, mit klaren<br />
Stichen „umnähten“, fähigen Artisten zeigt und<br />
das zweite in einem sprichwörtlicheren Sinne,<br />
das gescheiterte Unterfangen. Hier liegt der<br />
Artist auf dem Draht, krümmt sich zusammen<br />
und scheitert. Seine zuvor genähten Konturen<br />
werfen auf Materialebene nun quasi Falten um<br />
den nur noch in die Folie geritzten Körper des<br />
Tänzers. Dass er nicht fällt, zeigt auf, dass seine<br />
Niederlage eigentlich nur eine des Geistes ist,<br />
oder in Anaxagoras Worten: „Und wie alles<br />
werden sollte und wie alles war (was jetzt nicht<br />
mehr vorhanden ist) und wie es jetzt ist, das alles<br />
ordnete der Geist an (…)“ eins der geistigen<br />
Kraftlosigkeit. Der Draht hält bzw. der Körper<br />
fällt auch nicht, nur der Geist ist schwach und<br />
verhindert ein Gelingen des eingegangenen<br />
Wagnisses; verhindert ein sich gelohnt habendes<br />
Risiko. Die Nacktheit, die ein Akt mit sich<br />
führt und hier eben deshalb den Drahtseiltänzer<br />
ziert, unterstreicht seine Verletzlichkeit, die<br />
das von ihm eingegangene Risiko hier symbolisch<br />
hervorheben soll. Die Farbigkeit der Folien<br />
suchte ich mir zum einen aus, weil ich einen<br />
größeren Effekt als den von „farblosem“ Licht<br />
(=durchsichtige Folie) erzeugen wollte, zum<br />
anderen soll das Pink eine gewisse, vielleicht als<br />
fröhlich „getarnte“ Gefahr symbolisieren. Das<br />
Blau im „gescheiterten Bild“ soll für eine Auflösung<br />
der Spannung stehen, eine gewisse Ruhe<br />
ist eingetreten, die Bewegung des Lichttänzers<br />
ist aus freien Stücken zum Stillstand gekommen;<br />
zwar aus freier Entscheidung, so dennoch<br />
angehalten in kühlem Blau, das ebenso das<br />
Sterben des Lebens, wenn auch nicht unbedingt<br />
im wörtlichen Sinn, so doch im Sinne<br />
des Erliegens der lebendigen Kraft eines jeden<br />
menschlichen Willens, aufzeigen soll.
Hilke Nebendahl<br />
Isa Lange<br />
Inhalt<br />
1. Einführung<br />
2. Geschichte des<br />
<strong>Schatten</strong>theaters<br />
3. Beispiele<br />
Exkurs „Das <strong>Schatten</strong>theaterfestival<br />
in<br />
Schwäbisch Gmünd“<br />
4. Fazit<br />
Zeitgenössisches<br />
<strong>Schatten</strong>theater<br />
Geschichtliche Aspekte und aktuelle Entwicklungen<br />
Abb. 8: Handschattenspiel aus der Inszenierung „Traum“<br />
1. Einführung<br />
<strong>Schatten</strong> sind allgegenwärtig. Sie gehören zum<br />
täglichen Leben. Die Menschen beschäftigen<br />
sie seit jeher. Kinder spielen mit ihnen. Das<br />
Spiel mit ihnen und ihre Inszenierung haben<br />
eine lange Tradition, die sich im Laufe der<br />
Zeit bis hin zu einer Kunstrichtung entwickeln<br />
konnte. Ob Scherenschnitt, <strong>Schatten</strong>theater<br />
oder <strong>Schatten</strong>filme, der <strong>Schatten</strong> ist künstlerischer<br />
Ausdruck geworden. Im Oktober 2006<br />
fand das siebte „Internationale <strong>Schatten</strong>theater<br />
Festival“ in Schwäbisch Gmünd statt. Im<br />
Folgenden soll sowohl auf die Geschichte des<br />
traditionellen als auch des zeitgenössischen<br />
<strong>Schatten</strong>theaters eingegangen werden - Charakteristika<br />
und Besonderheiten herausgestellt<br />
werden. Als Vertiefung in das Thema werden<br />
vier verschiedene Beispiele für die Umsetzungen<br />
dieser Theaterformen vorgestellt, analysiert<br />
und verglichen.<br />
Zunächst wird eine traditionelle <strong>Schatten</strong>theatervorstellung<br />
besprochen. Im Vergleich dazu<br />
folgen drei zeitgenössische Inszenierungen<br />
unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen.<br />
Diese stammen größtenteils aus dem Programm<br />
des letzten <strong>Schatten</strong>festivals, werden<br />
77<br />
aber noch durch eine Schweizer <strong>Schatten</strong>theatergruppierung<br />
ergänzt. Im Fazit wird auf die<br />
Unterschiede und Möglichkeiten beider <strong>Schatten</strong>theaterformen<br />
reflektierend eingegangen.<br />
Die individuell erarbeiteten Themenkomplexe<br />
sind namentlich gekennzeichnet. Das Filmmaterial<br />
steht in der Anlage zur Verfügung.<br />
1.2 Die Bedeutungen des <strong>Schatten</strong>s<br />
Der <strong>Schatten</strong> hat in Mythologie und Religion<br />
seit Jahrtausenden eine Bedeutung. Der <strong>Schatten</strong><br />
des Lebenden ist schon im Altägyptischen<br />
zum Träger der Seele geworden, hat starken<br />
psychologischen Einfluss. <strong>Schatten</strong> und Seele<br />
sind in vielen Kulturen deckungsgleich. Neben<br />
dem positiven Begriff Seele hat der <strong>Schatten</strong><br />
auch eine dunkle, destruktive Seite: Die Bedeutung<br />
der meisten Redewendungen zum <strong>Schatten</strong><br />
liegen im Negativen: „Jemanden beschatten“,<br />
„über den eigenen <strong>Schatten</strong> springen“,<br />
„jemanden in den <strong>Schatten</strong> stellen“, „vor dem<br />
eigenen <strong>Schatten</strong> fliehen“, „ein <strong>Schatten</strong>dasein<br />
führen“, „<strong>Schatten</strong>seiten“, „etwas wirft seinen<br />
<strong>Schatten</strong> voraus“.<br />
Der <strong>Schatten</strong> hat als Phänomen und auch als<br />
Symbol zu allen Zeiten und bei allen Völkern
eine geheimnisvolle Rolle gespielt. Erst in der<br />
Neuzeit ist er als Erscheinung der übersinnlichen<br />
Welt entschleiern worden, und wird<br />
als rein physikalisches Phänomen der Natur<br />
betrachtet. Der <strong>Schatten</strong> ist ein Abbild eines<br />
Körpers, an dem seine Merkmale wieder zu<br />
erkennen sind. Er ist somit ein abstraktes Bild. Er<br />
weist keine Farbe auf und ist eindimensional.<br />
Mit Hilfe des <strong>Schatten</strong>s wurde es möglich,<br />
physikalische Phänomene zu definieren und<br />
zu beschreiben. Der Umfang der Erde sowie<br />
ihre Entfernung zur Sonne konnte mit Hilfe des<br />
<strong>Schatten</strong>s gemessen werden. Des Weiteren<br />
wurde es möglich, den Mond als Kugel und als<br />
kraterdurchfurchtes Element zu erkennen.<br />
In dieser Paralle<strong>lit</strong>ät und zweiseitigen Bedeutung<br />
des <strong>Schatten</strong>s liegt die Vielzahl der zahlreichen,<br />
wie oben bereits erwähnten, Metaphern<br />
und Geschichten über ihn begründet.<br />
2. Geschichte des <strong>Schatten</strong>theaters<br />
Das <strong>Schatten</strong>theater wird in zwei Richtungen<br />
unterschieden: Das traditionelle <strong>Schatten</strong>theater,<br />
das seinen Ursprung im alten Asien<br />
findet, und das junge, überwiegend in Europa<br />
beheimatete, zeitgenössische Theater. Da<br />
das zeitgenössische Theater im Traditionellen<br />
wurzelt, soll die Entwicklung angefangen mit<br />
dem fernöstlichen Ursprung chronologisch und<br />
betrachtet werden.<br />
2.1 Das traditionelle <strong>Schatten</strong>theater<br />
Das ursprüngliche <strong>Schatten</strong>theater findet sich<br />
in Asien, vor allem in China, Indien, Thailand<br />
und Indonesien. Es bezieht die ganzheitliche<br />
Anschauung der fernöstlichen Lebensweise,<br />
„die Welt des Traumes, der Meditation, des<br />
Transzendenten und der Spiritua<strong>lit</strong>ät“1, ein. Die<br />
sinnlich-mystische Ebene steht im Vordergrund<br />
der Lebenseinstellung und Wertschätzung. Der<br />
<strong>Schatten</strong> nimmt eine Position zwischen Traum<br />
und Wirklichkeit ein, gilt in vielen fernöstlichen<br />
Ländern auch als Verbindung zur Welt der<br />
Verstorbenen.<br />
China<br />
Erste schriftliche Zeugnisse über das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
finden sich in China aus dem 10.<br />
Jahrhundert, die eigentliche Existenz und<br />
Durchführung liegt bekannt durch Sagen und<br />
Legenden aber noch weiter zurück. Vor allem<br />
basiert diese Ausprägung auf religiösen und<br />
kultischen Grundlagen. Das <strong>Schatten</strong>theater<br />
Pi ying xi ist bis heute integraler Bestandteil<br />
der chinesischen Kultur. Ein Zusammenhang<br />
zwischen <strong>Schatten</strong>theater und Totenkult zeigt<br />
sich bereits im Ursprung in der Regierungszeit<br />
des Kaisers Wu (141 bis 87 vor Christus). Hierbei<br />
spielt die Betrübnis des Kaisers über den<br />
Tod seiner Lieblingsfrau eine große Rolle. Ein<br />
Magier wird zu Hilfe gerufen, welcher mit Hilfe<br />
seines <strong>Schatten</strong>spiels die tote Seele der Frau<br />
beruhigen soll. Der Aufbau des chinesischen<br />
<strong>Schatten</strong>theaters beinhaltet ein Leinen- oder<br />
Seidenschirm, der auf einem Kastentisch befestigt<br />
ist. Durch eine leichte Neigung in Richtung<br />
78<br />
der Zuschauer können nicht genutzte Figuren<br />
dort angelehnt werden. Die Spieler, ausschließlich<br />
Männer, sind von dem Publikum durch<br />
Vorhänge verdeckt. Sie führen die Figuren an<br />
einem horizontalen Hauptführungsstab (ein<br />
leicht gebogener Stab aus Eisen oder Holz),<br />
dem „Lebensstab“, nah am <strong>Schatten</strong>schirm<br />
entlang und können mit zwei anderen Stäben,<br />
die mit den Figurenhänden verbunden sind,<br />
die Armbewegung kontrollieren. Dies eröffnet<br />
Möglichkeiten, die Figur in sich zu bewegen, so<br />
ihre Ausdrucksmöglichkeiten zu steigern und<br />
ein Abwechslungspotential zu schaffen. Auch<br />
die Hände als wichtiges Ausdrucks- und Artikulationsmittel<br />
können zur Steigerung der Inhaltsdimension<br />
beitragen. Um eine solche Figur zu<br />
bedienen, benötigt es oft mehrere Spieler, eine<br />
ausgereifte Technik, ein gutes Zusammenspiel<br />
und eine ausgiebige Probezeit. Nicht nur die<br />
Beweglichkeit, die durch Gelenkverbindungen<br />
ermöglicht wird, sondern auch die Materialqua<strong>lit</strong>ät<br />
der Figuren des chinesischen <strong>Schatten</strong>theaters<br />
ist sehr hoch: Vorher präparierte<br />
Tierhäute werden mit durchsichtigen Farben<br />
bemalt und aufwändig verziert. Die Darstellung<br />
guter Charaktere wird mit menschlichen<br />
Gesichtern vollzogen, böse Gestalten werden<br />
mit einer fratzenhaften Mimik ausgestattet. Die<br />
Figuren sind durchgehend im Profil wiedergegeben,<br />
einzig Buddha und Geister werden en<br />
face gezeigt. Dies zeigt die enorme Bedeutung<br />
transzendentaler Aspekte im chinesischen<br />
<strong>Schatten</strong>spiel.<br />
Mit Dekorationen wird sehr sparsam umgegangen:<br />
Die aufwändigen Figuren und ihre Schönheit<br />
stehen im Mittelpunkt. Nur die wichtigsten<br />
Spielgegenstände finden Platz und werden in<br />
der gleichen Genauigkeit und Sorgfalt hergestellt.<br />
Schablonen werden in der Regel nicht<br />
verwendet, so dass jede Figur zum Unikat wird.<br />
Die Komplexität der Figuren und der Pluralismus<br />
der Möglichkeiten erfordern in der Regel<br />
bis zu drei Spieler für eine Figur.<br />
Neben fest stehenden <strong>Schatten</strong>theatern in<br />
allen größeren Städten gab und gibt es umherziehende<br />
Gruppen, welche auf Märkten und<br />
in Privathäusern ihre mobilen Bühnen aufschlagen.<br />
Bis zur Revolution war die häusliche<br />
Vorstellung schon deswegen so verbreitet, weil<br />
das <strong>Schatten</strong>spiel die einzige Form von Theater<br />
war, an der auch ehrbare Frauen und Kinder<br />
zuschauen durften.<br />
Das traditionelle <strong>Schatten</strong>theater kann nach<br />
drei inhaltlichen Kategorien unterschieden<br />
werden. Zum Ersten werden religiöse Stücke<br />
gespielt, welche buddhistische und taoistische<br />
Glaubensvorstellungen und Mythen zum Inhalt<br />
haben. Zum Zweiten werden historische und<br />
Kriegsstücke aufgeführt. Sie greifen inhaltlich<br />
Ereignisse aus der chinesischen Geschichte auf<br />
und tragen somit zur Weitergabe der Kultur<br />
und des Verständnisses des eigenen Landes<br />
generationenübergreifend bei. Zum Dritten<br />
stellen die <strong>Schatten</strong>spieler Geschichten aus<br />
dem alltäglichen Leben des Volkes dar. Roman-
Abb. 1 Indische <strong>Schatten</strong>spielfigur<br />
Abb. 2 Thailänische <strong>Schatten</strong>spielfigur<br />
Abb. 3 Thailänische <strong>Schatten</strong>spielfigur<br />
zen und Komödien tragen zum Unterhaltungscharakter<br />
des Theaters bei. <strong>Schatten</strong>spieler<br />
haben im Lauf der Zeit häufig den Unmut und<br />
Ärger der Bevölkerung über Misswirtschaft<br />
und Korruption seitens der Regierung zum<br />
Ausdruck gebracht. Während der Kulturrevolution<br />
(1965/67) ist versucht worden, das<br />
<strong>Schatten</strong>theater wie alle überlieferten Kulturerscheinungen<br />
zu eliminieren. Jedoch hat es nie<br />
aufgehört zu existieren. Heute wird eine betont<br />
traditionelle Form der Aufführung und der<br />
Figuren seitens des Publikums sehr geschätzt.<br />
Das <strong>Schatten</strong>spiel ist in den von Medien und<br />
Hektik gekennzeichneten Großstädten aber<br />
relativ selten geworden, und wird vor allem<br />
in ländlichen Gebieten aufgeführt. Der Stil der<br />
<strong>Schatten</strong>theateraufführungen im heutigen<br />
China ist „modern“. Das bedeutet, dass Vergrößerungen<br />
von Bühne und Figuren stattfinden.<br />
Zudem werden große farbige Kulissen gestaltet<br />
und gr0ße Batterien von Leuchtröhren verwendet.<br />
Glasklarer bemalter Kunststoff hat das<br />
Pergament als Material verdrängt.<br />
Indien<br />
Verbreitung findet das <strong>Schatten</strong>theater in<br />
Indien im 16. Jahrhundert durch die Förderung<br />
der Herrscher von Vijaivada. Die Anfänge und<br />
die Entwicklung des indischen <strong>Schatten</strong>spiels<br />
sind jedoch noch weitgehend ungeklärt: Wissenschaftler<br />
tendieren zu der Vermutung, dass<br />
Indien sogar das Ursprungsland des <strong>Schatten</strong>theaters<br />
ist. Auch in Indien wurzelt das Spiel mit<br />
Licht und <strong>Schatten</strong>, das chayanataka, ähnlich<br />
wie in China im Religiösen. Aufgeführt werden<br />
große mythologische Epen: Im Süden Indiens<br />
werden noch heute Teile des Ramayana-Epos,<br />
Themen aus dem Mahabarata und der Krishna-<br />
Legende gespielt.<br />
Die Spiele werden in den meisten Fällen vor<br />
dem Tempel des Gottes Shiva aufgeführt.<br />
Dieser gilt als Schutzpatron der Puppen. Die<br />
indischen <strong>Schatten</strong>figuren sind die größten derzeit<br />
verwendeten <strong>Schatten</strong>figuren. Mit einem<br />
ähnlichen Aufwand wie in China werden sie in<br />
Einzelarbeit hergestellt: Die Tierhäute (primär<br />
von Ziegen, Büffeln und Schafen) werde<br />
durch spezielle Behandlungen durchsichtig<br />
gemacht um sie dann kunstvoll mit Naturfarben<br />
zu verzieren. Nach dem Bemalen wird die<br />
Transparenz der Figur wieder erhöht, indem sie<br />
mit Kokosöl eingerieben wird. Zudem steigert<br />
dieser Prozess die Wasserfestigkeit der Figur. Es<br />
entstehen interessante <strong>Schatten</strong>wirkungen.<br />
Die Figuren sind, wie auf der Abbildung 1<br />
gut deutlich, gekennzeichnet durch kräftige,<br />
gedrungene Körper mit breiten, stark vereinfachten<br />
Gliedmaßen. Kennzeichnend ist, dass<br />
die Spieler während der Vorstellung nicht von<br />
den Zuschauern zu sehen sind. Die lebendigen<br />
Lichtquelle (Fackeln und Öllampen) befindet<br />
sich meist an der Unterkante der Bühne.<br />
Thailand<br />
Das traditionelle thailändische <strong>Schatten</strong>theater,<br />
das nicht mehr ausgeübt wird, grenzt sich von<br />
79<br />
den bisher vorgestellten ab. Die Figuren, die<br />
im Nang Luong verwendet wurden, waren<br />
durchaus über zwei Meter groß, die Bühne<br />
diesen Maßen angemessen. Es waren ganze<br />
<strong>Schatten</strong>bilder, auf denen Figurengruppierungen<br />
mit ihrer Umgebung dargestellt wurden.<br />
Die Spieler hielten die <strong>Schatten</strong>bilder an einem<br />
Stab über ihrem Kopf und waren während des<br />
ganzen Spieles anders als beim traditionellen<br />
indischen <strong>Schatten</strong>spiel zu sehen.<br />
Indonesien<br />
Das <strong>Schatten</strong>theater gehört zur Tradition und<br />
Kultur Indonesiens: Der Glaube an die Kommunikation<br />
mit Geistern der Vorfahren durch<br />
das Theater ist elementar. Beeinflusst durch<br />
die Verbreitung des Hinduismus in Indonesien<br />
wurde sowohl der Epos Mahabharata, als auch<br />
Ramayana zu einem der am meisten gespielten<br />
Stücke: Der Glaube sollte so in allen Bevölkerungsschichten<br />
Gehör erlangen. Ähnliche<br />
Ansätze wurden später von Oberhäuptern<br />
des Islams durchgeführt. Alte indonesische<br />
Geschichten wurden zurückgedrängt oder in<br />
hinduistische Stücke integriert.<br />
Vor allem auf den Inseln Bali, Java und Lombok<br />
blickt das indonesische <strong>Schatten</strong>spiel auf eine<br />
lange Tradition zurück. Der besondere spirituelle<br />
Wert des <strong>Schatten</strong>theaters in Indonesien<br />
wird deutlich, lenkt man den Blick auf die<br />
zeremonielle Opfergabe an die Götter, die vor<br />
Beginn jedes Spiels durchgeführt wird.<br />
Der Begriff Wayang bezeichnet das javanische<br />
<strong>Schatten</strong>theater allgemein. Typisch und am<br />
bekanntesten für das indonesische <strong>Schatten</strong>theater<br />
ist das Wayang ku<strong>lit</strong> (wayang= <strong>Schatten</strong>,<br />
Ahne, Geistererscheinung; ku<strong>lit</strong>=Leder).<br />
Andere Ausprägungen sind dieser Form eher<br />
untergeordnet. Das Wayang Wong wird durch<br />
verkleidete Schauspieler (Masken und Kostüme)<br />
realisiert. Auch das Wayang lemah (siehe<br />
Abschnitt 3.1) zählt als eine Form des Figurentheaters<br />
dazu.<br />
Die Figuren beim Wayang-Theater werden aus<br />
Büffelhäuten hergestellt und mit verschiedensten<br />
Farben verziert. Zusätzlich sind sie punziert<br />
(geprägt) und perforiert (mit Löchern versehen).<br />
Durch ein speziell geformtes Horn, auch<br />
Gapit genannt, wird die Figur aufrecht gehalten,<br />
durch materialgleiche Stäbe werden die<br />
Armbewegungen koordiniert. Der Figurenspieler,<br />
der Dalang, genießt große Hochachtung<br />
wegen seiner Fertigkeiten und Leistungen: Viele<br />
der Vorstellungen (Wayang-Purwa) dauern<br />
die ganze Nacht, bei besonderen Anlässen wie<br />
Hochzeiten, Geburten oder Beschneidungen,<br />
sogar mehrere Nächte.<br />
Eine Leinwand, die an Bambusstäben befestigt<br />
ist, dient in der Regel als Theater. Als Lichtquelle<br />
wird eine Kokosöllampe verwendet. Diese kann<br />
durch ihr unruhiges Licht die mysteriöse Stimmung<br />
im Hintergrund unterstützen.<br />
Der Dalang sitzt in der Mitte vor dem ca. 2 x 1<br />
m großen Schirm, wo auch das Orchester (Gamelangh)<br />
mit Glocken, Trommeln, Gongs und<br />
Flöten positioniert ist.
Abb. 4 Europäisches <strong>Schatten</strong>spieltheater<br />
Die Zuschauer sitzen sowohl vor als auch hinter<br />
dem Schirm: Traditionell hat es sich entwickelt,<br />
dass die Männer auf der Seite des Dalang dem<br />
Spiel folgen, also die reich bemalten Figuren<br />
sehen, und die Frauen auf der anderen Seite<br />
das reine <strong>Schatten</strong>spiel beobachten. Einige<br />
Stücke sollen Glück bringen, andere drohendes<br />
Unheil abwenden. Das Wayang wird staatlich<br />
gefördert und zählt zum kulturellen Erbe.<br />
Regelmäßig finden Radioübertragungen von<br />
Inszenierungen statt.<br />
Japan<br />
In Japan findet sich entgegen der Erwartung<br />
der Europäer eine geringe Bedeutung des<br />
<strong>Schatten</strong>theaters. Die Figuren wurden aus einfarbigem,<br />
nicht transparentem Papier geschnitten<br />
und an einem simplen Holzstab befestigt.<br />
Das Spiel diente allein der Unterhaltung und<br />
wurde demzufolge nicht in großem Maße weiterentwickelt.<br />
Gegenüber anderen japanischen<br />
Theatergattungen spielt das <strong>Schatten</strong>theater<br />
eine untergeordnete Rolle.<br />
2.2 Das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater<br />
Der Weg nach Europa<br />
In China als auch in Südostasien blickt das<br />
<strong>Schatten</strong>spiel also auf eine jahrhundertealte<br />
Tradition zurück. Nachdem das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
im Mittelalter über Persien nach Kleinasien<br />
gelangte, konnte es sich zu Zeiten des Osmanischen<br />
Reiches unter dem Namen Karagöz<br />
verbreiten. Im heutigen Griechenland ist es<br />
populär unter der Bezeichnung Karaghiozis.<br />
Beide Bezeichnungen leiten ihren Namen von<br />
einer legendären Hauptfigur ab. Das Spiel<br />
dient, anders als in China oder Indien, nicht<br />
der Religiosität oder dem Mythischen, sondern<br />
der Volksbelustigung. Auch sind die Figuren<br />
gröber als z.B. die feinen javanischen. Erst im<br />
18. Jahrhundert konnte das <strong>Schatten</strong>theater<br />
in die späteren Zentren des zeitgenössischen<br />
Theater gelangen; Europa, Nordamerika, Japan<br />
und Australien. „Hier ersetzte es als Laientheater<br />
vor allem im ländlichen Raum und für die<br />
Unterschicht das klassische Theater.“ 2<br />
Entwicklung und Merkmale<br />
Die ersten <strong>Schatten</strong>theater bahnten sich 1760<br />
ihren Weg durch Italien und Frankreich nach<br />
England. In der neuzeitlichen Romantik im 18.<br />
und 19. Jahrhundert erfreuten sich Silhouetten-<br />
und Scherenschnitte in Europa gerade großer<br />
Beliebtheit. Die neue Kunst des <strong>Schatten</strong>spiels<br />
gründete auf fruchtbarem Boden. Auch in<br />
Deutschland erfreute sich das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
großer Beliebtheit: Sogar Goethe verfasste<br />
einige Stücke für die <strong>Schatten</strong>bühne. Das erste<br />
ständige <strong>Schatten</strong>theater in Europa wurde<br />
dann in Frankreich von Francois Dominique<br />
Seraphin 1770 in Versailles gegründet. Es war<br />
in allen Bevölkerungsschichten beliebt. Später<br />
zog es nach Paris in den Palais Royal, wo es bis<br />
1870 verweilte.<br />
Ein weiteres berühmtes <strong>Schatten</strong>theater,<br />
welches 1887 seine Tore öffnete, war auch in<br />
80<br />
Paris beheimatet: Das Cabaret du Chat Noir. Bei<br />
der von Rudolphe de Salis und Reviere gegründeten<br />
Institution handelte es sich weniger um<br />
Theater mit beweglichen Figuren, als vielmehr<br />
um die Darstellung von gestellten Bildern mit<br />
außergewöhnlichen Lichteffekten. Illustriert<br />
wurden Gedichte und Musik zeitgenössischer<br />
Dichter und Komponisten. Der Erfolg französischer<br />
Vorreiter inspirierte auch in Deutschland:<br />
1907 entstanden die Schwabinger <strong>Schatten</strong>spiele<br />
in München unter Alexander von Bernus.<br />
Auch in vielen anderen Kabaretts Deutschlands<br />
wurde das <strong>Schatten</strong>spiel zu einer festen Größe.<br />
Mit Aufkommen des Kinos um 1900 geriet das<br />
<strong>Schatten</strong>spiel in den Hintergrund. Während des<br />
ersten Weltkriegs verkümmerte diese Theaterform<br />
weiter. Nach Kriegsende wurde das <strong>Schatten</strong>theater<br />
mit Hilfe des Bühnenvolksbundes<br />
unter Leo Weismantel, einem späteren Autor zu<br />
diesem Themenkomplex, und Heinz Ohlendorf<br />
wieder zu einer populäreren Theaterausprägung.<br />
Durch diesen Impuls konnte sich die<br />
<strong>Schatten</strong>kunst bis in die Gegenwart halten.<br />
Das europäische <strong>Schatten</strong>theater konnte<br />
jedoch nie eine so große Verbreitung erlangen,<br />
wie das traditionelle Spiel im asiatischen Raum:<br />
Die beiden Theaterausprägungen definieren<br />
sich durch vollkommen unterschiedliche<br />
Intentionen und basieren auf polarisierenden<br />
Lebenseinstellungen: Das zeitgenössische<br />
europäische dient dem unterhaltenden Charakter<br />
und Illustrationszweck einer Geschichte.<br />
Hingegen resultiert das ursprüngliche <strong>Schatten</strong>theater,<br />
wie in Abschnitt 2.1 erläutert, aus der<br />
ganzheitlichen Anschauung der fernöstlichen<br />
Lebensweise. Es handelt sich um unterschiedliche<br />
Lebenseinstellungen und Wertschätzungen,<br />
die zum einen die Verbreitung des <strong>Schatten</strong>theaters<br />
in Asien fördern, zum anderen in<br />
europäischen Ländern behindern. Vernunft, Logik,<br />
Wissenschaftsorientierung und Rationa<strong>lit</strong>ät<br />
bestimmten hier die Lebensweise. Die realen,<br />
greifbaren dreidimensionalen Marionetten<br />
wurden stärker akzeptiert und begriffen als die<br />
Zweidimensiona<strong>lit</strong>ät der <strong>Schatten</strong>. Die Gesichtszüge<br />
der Figuren sind zur Ausdruckssteigerung<br />
oft übertrieben dargestellt (siehe Abbildung 4).<br />
Auch im Theater handelte sich primär um<br />
scherenschnittähnliche Silhouetteninszenierungen,<br />
bei dem die Figuren, meist aus Blech<br />
oder Pappe, direkt am <strong>Schatten</strong>schirm entlang<br />
geführt werden, um einen möglichst scharfen<br />
und kontrastreichen <strong>Schatten</strong> zu erzielen. Experimente,<br />
Vorstöße und Neudefinitionen, wie<br />
sie ein moderner Kunststil verlangt und vorlebt,<br />
fanden nicht statt.<br />
Erst Neuerungen in der Lichttechnik gaben<br />
den Anstoß, auch das <strong>Schatten</strong>theater zu<br />
revolutionieren. Zwischen 1970 und 1980<br />
prüften vor allem Rudolf Stössel (Schweiz), Luc<br />
Amoros (F) und der Italiener Montecchi die<br />
Verwendbarkeit der 1958 in den USA neuentwickelten<br />
Halogenlampe für die Verwendung<br />
im <strong>Schatten</strong>theater. Die erfolgreichen Versuche<br />
verliehen auch den anderen Elementen<br />
des <strong>Schatten</strong>theaters, der Lichttechnik, dem
Abb. 5 „Theater 3“, Körperschattenfigur<br />
in Schwarz-Weiß<br />
<strong>Schatten</strong>schirm und der Figuren, eine Dynamik,<br />
die die Kunst des <strong>Schatten</strong>theaters in eine<br />
stilistische Weiterentwicklung zog. Der Begriff<br />
modernes (zeitgenössischen) <strong>Schatten</strong>spiel<br />
wurde in Folge 1980 von Rainer Reusch erstmals<br />
gebraucht, um das westliche Licht- und<br />
<strong>Schatten</strong>spiel zu bezeichnen. Im Gegenteil zur<br />
asiatischen Variante kennzeichnet das moderne<br />
<strong>Schatten</strong>spiel den Gebrauch verschiedenster<br />
Lichtquellen und neuester Techniken. Die handelsübliche<br />
Glühlampe wurde durch Overhead-<br />
und Diaprojektoren, Theaterscheinwerfer und<br />
Filmprojektoren ersetzt; mit Nebelmaschinen,<br />
Spiegeln, Linsen, Farbfolien, Polarisationsfiltern,<br />
Dekorgläsern und Prismen neue Effekte<br />
eingebaut. Gegenteilig wurde aber auch mit<br />
natürlichen Lichtquellen, der Sonne und dem<br />
Mond, gearbeitet. Die Lichttechnik spielt also<br />
eine eigene, tragende Rolle, ist aber immer der<br />
Spielidee untergeordnet. Durch die Verwendung<br />
von Lichtquellen, die kein gestreutes Licht<br />
abgeben, ist es möglich, die <strong>Schatten</strong>figur frei<br />
zwischen Schirm und Lichtquelle zu bewegen,<br />
ohne dass sie an Schärfe verliert.<br />
Der fest montierte, rechteckige Schirm wurde<br />
gegen neue, nicht unbedingt geometrische<br />
Formen ausgetauscht, die in ihrer Mobi<strong>lit</strong>ät<br />
und Flexibi<strong>lit</strong>ät, z.B. durch Rollen und Seilzüge,<br />
kaum eingeschränkt waren. Die Größe der<br />
Schirme variierte nun in erheblichem Maße.<br />
Sowohl Riesenschirme mit Größen von bis zu<br />
5 m x 10 m als auch winzig kleine Schirme<br />
kamen zum Einsatz. Auch die Erkenntnis, dass<br />
der Schirm keine unüberwindbare Barriere<br />
zwischen Zuschauern und Spielern ist, brachte<br />
weitere Spielweisen zutage. Durch ihre eigenen<br />
<strong>Schatten</strong> auf dem Schirm wurden die Spieler<br />
während ihrer Arbeit sichtbar. Als Steigerung<br />
traten einige Akteure hinter dem Schirm als<br />
<strong>Schatten</strong> und vor dem Schirm als Schauspieler<br />
auf. Als vollkommene Überwindung der Barriere<br />
ist die offene Spielweise, bei der die Spieler<br />
vor dem Schirm agieren, zu betrachten.<br />
Die verwendeten Materialien zur Figurengestaltung<br />
variieren zunehmend, die Materialvielfalt<br />
reicht von Zeitung über Karton bis hin<br />
zu Kunststoff. Es geht nicht mehr unbedingt<br />
um die naturgetreue Darstellung der Figuren,<br />
sondern vielmehr um ihre Ausdrucksstärke.<br />
Der zunehmende Einfluss anderer Künste im<br />
<strong>Schatten</strong>theater ist zu beobachten. Schauspiel,<br />
Oper, Musik und Film ergänzen und erweitern<br />
den Facettenreichtum des <strong>Schatten</strong>spiels.<br />
Das zeitgenössische oder auch moderne<br />
<strong>Schatten</strong>theater tritt wesentlich in drei Spielformen<br />
auf: Dem Figuren-, dem Hand- und dem<br />
Menschenschattentheater auf.<br />
3. Beispiele<br />
In diesem Teil der Ausarbeitung werden zur<br />
Verdeutlichung der zahlreichen Varianten, die<br />
das <strong>Schatten</strong>theater im Laufe der Jahrhunderte<br />
entwickelte, Beispiele für verschiedene Umsetzungen<br />
von <strong>Schatten</strong>theater gegeben.<br />
Voran steht eine Form des traditionellen <strong>Schatten</strong>theaters,<br />
das Wayang lemah. Darauf folgt<br />
81<br />
die Vorstellung der Arbeitsweise des Theater 3.<br />
Die Teilnehmer des 7. „Internationalen <strong>Schatten</strong>theaterfestivals“,<br />
das Figurentheater Wilde<br />
und Vogel und das <strong>Schatten</strong>BildTheater, bilden,<br />
nach Informationen über das Festival, den<br />
Abschluss diesen Themenkomplexes.<br />
3.1 Wayang lemah<br />
Diese Aufführung des Wayang lemah zeigt die<br />
Geschichte der Entstehung dieser Theaterform<br />
selbst. Diese Inszenierung des Mythos wurde<br />
1973 in dem alten indonesischen Weberdorf<br />
Sidemen aufgenommen. Anders als die<br />
traditionelle Ausprägung des indonesischen<br />
<strong>Schatten</strong>theaters findet das Spiel am Tage statt.<br />
Die <strong>Schatten</strong>wirkungen der Figuren sind daher<br />
nicht zu beobachten. Ritual und die Arbeit<br />
des Dalang, entsprechen aber dem Vorgehen<br />
beim traditionellen <strong>Schatten</strong>theater. Auch die<br />
kunstvollen Lederfiguren können hier sehr gut<br />
betrachtet werden.<br />
Der Bühnenaufbau<br />
Die Aufführung findet auf einer Grünfläche<br />
statt. Die Bühne besteht aus einem breiten<br />
Holzbalken, Plangkan, auf dem die nicht benötigten<br />
Spielfiguren abgesellt sind. Versetzt<br />
darüber befindet sich ein weiterer schmalerer<br />
Balken, an den die Figuren gelehnt werden.<br />
Seitlich begrenzt wird die Bühne durch zwei<br />
Sträucher. Der Dalang sitzt sichtbar mittig hinter<br />
der Bühne. Links und rechts von ihm sitzen<br />
zwei Assistenten, die ihm die Figuren reichen<br />
oder sonstige Handlangerdienste verrichten.<br />
Die Figuren werden aber nur vom Dalang<br />
gespielt. Im Hintergrund sitzt das Gamelangh,<br />
also das Orchester. Es besteht bei diesem Spiel<br />
aus vier Männern, die alle an xylophonartigen<br />
Trommeln spielen.<br />
Alle tragen gewickelte Gewänder, und die<br />
Musiker zusätzlich auch Kopfschmuck. Der<br />
zeremonielle Charakter wird deutlich.<br />
Das Publikum sitzt in einem Halbkreis vor der<br />
Bühne. Die eigentliche Verteilung des Publikums<br />
vor und hinter die Bühne, wie sie beim<br />
Wayang ku<strong>lit</strong> üblich ist, macht bei diesem Figurentheater<br />
wenig Sinn. Die Wirkung und die<br />
Sicht auf die Figuren ist beim Wayang lemah<br />
von beiden Positionen eine ähnliche.<br />
Die Zeremonie<br />
Die Spiritua<strong>lit</strong>ät, die einer traditionellen indonesischen<br />
Wayang-Aufführung beiwohnt, ist<br />
auch in diesem Stück deutlich erkennbar. Allein<br />
die ersten drei Abschnitte des Videos zeigen<br />
die Anfangszeremonie. Der Dalang, der eine<br />
priesterähnliche Funktion innehat, konzentriert<br />
sich dabei auf rituelle Vorgänge: Vor der Bühne<br />
zündet er Stäbchen an und drapiert sie vor der<br />
Bühne. Dort liegen schon andere Opfergaben<br />
und Geschenke. Diese werden den Göttern<br />
und Geistern der Verstorbenen gewidmet, um<br />
sie um Hilfe zu bitten. Dieser Teil gehört zur<br />
Vorstellung selbst, die nach strengen Regeln<br />
abgehalten wird. Anschließend wird eine Holztruhe,<br />
in der alle Figuren des Dalang enthalten
Abb. 6 „Theater 3“, Handschattentheater<br />
aus dem Stück<br />
„Transmigration“<br />
sind, geöffnet. Zunächst wird eine abstrakte,<br />
einfarbige Figur entnommen und konzentriert<br />
betrachtet. Durch Unverständnis der Sprache<br />
kann der Sinn nur erahnt werden, jedoch<br />
scheint es wie ein Spruch oder Gebet, welches<br />
ihr entgegengebracht wird. Es wirkt wie eine<br />
Verehrung. Sie wird mittig, genau vor den<br />
Dalang gesetzt und bleibt fast während des<br />
ganzen Spiels als konstante Größe dort stehen.<br />
Die Spielfiguren<br />
Mit Hilfe seiner Assistenten werden nach<br />
und nach sämtliche Figuren in das Plangkan<br />
gesteckt. Es sind typische Figuren aus Pergament,<br />
die kunstvoll und aufwändig perforiert<br />
und bemalt sind. Sie sind durchgängig im Profil<br />
dargestellt und von beiden Seiten verziert,<br />
so dass sich die Figuren sowohl nach Links,<br />
als auch nach Rechts wenden können. Die<br />
Figuren haben eine ausdrucksstarke Mimik. Die<br />
Farben Gold, Weiß und Schwarz dominieren.<br />
Das Aussehen der Figuren kennzeichnet deren<br />
Eigenschaften. Die Guten haben mandelförmige<br />
Augen und spitze Nasen, die Bösen Knollennasen<br />
und runde Augen. Schwarz im Gesicht<br />
zeugt von Reife und Besonnenheit, Gold von<br />
Würde und Jugend, Weiß von Stärke.<br />
Die Figuren sind besonders gut in den Videoabschnitten<br />
10, 11, 12, 25 und 26 zu betrachten.<br />
Ihre Größe beträgt in Etwa 35 – 50 cm.<br />
Die meisten Figuren sind mit Gelenken an den<br />
Armen ausgestattet, die sich an die natürlichen<br />
Bewegungen verblüffend annähern. Neben<br />
dem Führungsstab gibt es folglich noch zwei<br />
weitere Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten.<br />
Der Dalang führt die Figuren in gekonnten<br />
und präzisen Bewegungen an der Bühne<br />
entlang. Neben der Koordination der Bewegungen<br />
ist es auch die Aufgabe des Dalangs,<br />
die verschiedenen Figuren und Charaktere zu<br />
synchronisieren. Durch verschiedene Tonlagen<br />
und Lautstärken wird diese Aufgabe realisiert.<br />
Die Passung von Ton und Aktion ist hier kein<br />
Problem. Die Dramaturgie und die Stimmung<br />
werden durch das Orchester akustisch unterlegt<br />
und intensiviert. Aber auch der Dalang<br />
besitzt ein Instrument: eine Art Klopfholz, mit<br />
dem Gestiken der Figuren betont werden. Dieses<br />
benutzt er sowohl mit den Händen als auch<br />
mit den Füßen, zwischen dessen Zehen auch<br />
ein Holz geklemmt ist. Der Dalang hält auch<br />
mehrere Figuren in der Hand, wenn es die<br />
Inszenierung verlangt. Bis zu sieben kann ein<br />
professioneller Dalang gleichzeitig betätigen,<br />
in dem vorliegenden Stück sind es bis zu vier<br />
Figuren (VHS, Kapitel 31 und 32).<br />
Durch die Vielzahl an Aufgaben wird deutlich,<br />
dass der Danlang eine hohe Körperbeherrschung<br />
und Konzentration benötigt.<br />
Nach dem Ende der Geschichte folgt nochmals<br />
ein Ritual, dass dem einleitenden ähnelt. Aus<br />
zwei Gefäßen verstreut der Dalang Partikel, die<br />
Blütenblättern gleichen. Die Figuren werden,<br />
akustisch unterlegt, in die Kiste zurückgelegt.<br />
Der Dalang, gefolgt von seinen Assistenten und<br />
82<br />
dem Orchester, verlässt den Spielort. Es ist Teil<br />
der Aufführung in dem sich auch der Respekt<br />
vor dem Dalang widerspiegelt: Alle Zuschauer<br />
warten solange, bis der Dalang gegangen ist.<br />
Im Vergleich zu anderen Aufführungen ist<br />
diese sowohl vom Bühnenaufbau als auch<br />
von der musikalischen Vielfalt als eher einfach<br />
und provisorisch zu bezeichnen. Die Form des<br />
Wayang lemah ähnelt sehr dem Wayang golek,<br />
welches einen ähnlichen Aufbau verfolgt,<br />
auch am Tag gespielt wird, jedoch Holzfiguren<br />
verwendet. Wie oben erwähnt, lassen sich an<br />
dieser Inszenierung zwar nicht das traditionelle<br />
<strong>Schatten</strong>theater und dessen Wirkung aufzeigen,<br />
jedoch werden die Zeremonie und die<br />
Figuren sehr anschaulich dargestellt.<br />
3.2 Theater 3<br />
Nachdem im vorhergehenden Abschnitt der<br />
Schwerpunkt auf dem Figurentheater lag,<br />
sollen nun zwei andere Spielformen, das Menschen-<br />
und das Handschattentheater, vertieft<br />
werden. Das Schweizer <strong>Schatten</strong>theater Theater<br />
3 besteht aus der Tänzerin und Schauspielerin<br />
Helena Korinkova und ihrem Mann, dem<br />
Fotografen Georg Habermann. Sie haben sich<br />
auf die Inszenierung von Menschen- und vor<br />
allem Handschattenspiel spezialisiert. Bei einem<br />
kurzen, dokumentarcharakter aufweisenden<br />
Videoausschnitt und zahlreichem Bildmaterial<br />
wird die Arbeit dieser Gruppe und deren Wirkung<br />
verdeutlicht.<br />
Maßgeblich für die Arbeit mit den Händen (und<br />
auch den Armen) des Theaters 3 ist die starke<br />
Ausdruckskraft und die Vielzahl der Möglichkeiten,<br />
die eröffnet werden: „(...) die Hand hat<br />
eine irre Ausstrahlung, man kann das sogar auf<br />
infraroter Photographie feststellen: jeder Finger<br />
hat einen elektrischen Bogen um sich (...), ich<br />
finde eine menschliche Hand einen absolut<br />
faszinierenden Teil des Körpers (...)“ 3<br />
Die Hand als Ausdruckmittel ermöglicht die<br />
Darstellung von Tierfiguren mit einfachem<br />
Kernschatten (VHS, Kapitel 30) bis hin zum<br />
abstrakten Spiel mit Körperformen – und benötigt<br />
dabei keinerlei Form der Erklärung oder<br />
Sprache. Das Repertoire des Theaters 3 bedient<br />
folglich sowohl Kinder- als auch Erwachsenenstücke:<br />
Dazu zählen beispielsweise die Inszenierungen<br />
„Tapetenblume“, „Traum“ und „Transmigration“.<br />
Der Gebrauch von Technik ist bewusst<br />
schlicht und reizt durch die sehr einfach<br />
gehaltenen Mittel in der heutigen, hochtechnologiesierten<br />
Welt. Zum einen nutzt das Theater<br />
3 die herkömmlichen schwarz-weiß Effekte des<br />
<strong>Schatten</strong>theaters in neuer Form: Abbildung 5<br />
zeigt einen Ausschnitt eines Menschenschattenspiels.<br />
Der Körper ist durch den Einsatz mehrerer<br />
Lichtquellen mit zum Teil diffusem Licht<br />
im unteren Teil und am Kopf verzerrt, wirkt<br />
ungewöhnlich dünn. Hände und Arme hingegen<br />
wirken noch naturgetreu. Auffällig sind die<br />
vielschichtigen Grauabstufungen, aus denen<br />
sich der <strong>Schatten</strong> zusammensetzt. Die gesamte<br />
Grauskala wird bedient: Von Weiß, über<br />
facettenreiche Graustufen bis hin zu Schwarz.
Abb. 7 „Theater 3“, Handschattentheater<br />
aus dem Stück<br />
„Transmigration“<br />
Abb. 8 „Theater 3“, Handschattentheater<br />
aus dem Stück<br />
„Transmigration“<br />
Im unteren Teil lässt sich nicht mehr zwischen<br />
Kern- und Halbschatten unterscheiden. Es gibt<br />
der Figur einen mystischen und auch flüchtigen<br />
Charakter. Sie ist verfremdet und verzerrt,<br />
entlässt den vertrauten, menschlichen Körper in<br />
neue Wirkungszusammenhänge.<br />
Zum anderen verwendet das Theater 3 primär<br />
das Spiel mit Licht und Farbe, um neue Bilder<br />
und Effekte zu erzielen. In der Abbildung 6 aus<br />
der Inszenierung „Transmigration“ wird noch<br />
relativ einfach die ganze Leinwand in farbiges,<br />
hier rötliches Licht getaucht. Die <strong>Schatten</strong> entstehen<br />
durch zusätzliche, unterschiedlich starke<br />
Lichtquellen.<br />
In Abbildung 7, ebenfalls aus „Transmigration“<br />
werden verschieden farbige Lichtquellen<br />
genutzt. Diese produzieren Farbränder (Halbschatten)<br />
an den Objekten, die Schemen genannt<br />
werden. Ein grünliches und ein rötliches<br />
Licht bilden auf dem Schirm farbige Verdopplungseffekte<br />
der Hände und Arme.<br />
Der menschliche Körper wird durch den<br />
Lichteinsatz in seinen Formen aufgelöst bzw.<br />
verfremdet, es entstehen Bilder und Atmosphären,<br />
die darauf zielen sollen, den Betrachter<br />
in seiner Phantasie anzuregen und zu neuen<br />
Assoziationen, eigenen Bildern zu inspirieren.<br />
Oft sind die <strong>Schatten</strong> durch Symmetrie, Parallelen<br />
oder Überschneidungen (Abbildung 8)<br />
gekennzeichnet.<br />
Die entstehenden Bilder der Hände sind immer<br />
auch Ergebnis und Bestandteil der Bewegungsabläufe<br />
der Spielerin: Nie werden nur<br />
die Hände bewegt. Die Verbindung von Tanz,<br />
Pantomime und Musik ergeben die fließenden<br />
und stimmigen Bewegungen, die die Hände<br />
auf dem Bildschirm zeigen (VHS, Kapitel 32/33).<br />
Die Musik, die die Inszenierungen stets unterlegt,<br />
gibt den Rhythmus der Bewegungen vor.<br />
Hier werden Trommeln verwendet. Es erfordert<br />
eine gute und präzise Zusammenarbeit zwischen<br />
<strong>Schatten</strong>spieler und Musiker, um Bewegungen<br />
und Musk synchron anzupassen(VHS,<br />
Kapitel 31323.2.1 Die Lichttechnik<br />
Das Licht ist, typisch für das zeitgenössische<br />
<strong>Schatten</strong>theater, ein eigenständiges Element,<br />
dient nicht mehr allein als Mittel zur <strong>Schatten</strong>erzeugung.<br />
Bei der Arbeit des Theaters 3 ist<br />
die Verwendung von Schemen ein wichtiges<br />
Ausdrucksmittel.<br />
Grundelement des Aufbaus sind mindestens<br />
zwei Projektoren und die Leinwand. Ein einfaches<br />
Leinentuch oder, soll eine besonders feine<br />
<strong>Schatten</strong>zeichnung entstehen, transparentes<br />
Zeichenpapier dient hier als <strong>Schatten</strong>schirm.<br />
Für das Handschattenspiel wird der Großteil<br />
des <strong>Schatten</strong>schirms von innen abgedeckt, nur<br />
Arme und Hände der Spielerin sind zu sehen.<br />
Exkurs<br />
Das internationale <strong>Schatten</strong>theater Festival<br />
in Schwäbisch Gmünd<br />
Das internationale <strong>Schatten</strong>theater Festival, das<br />
im Oktober letzten Jahres (16. – 21.10.2006)<br />
zum siebten Mal stattfand, ist in der, nahe<br />
83<br />
Stuttgart gelegenen, Stadt Schwäbisch Gmünd<br />
beheimatet und ist das weltweit einzige Festival<br />
für zeitgenössisches <strong>Schatten</strong>spiel.<br />
An verschiedenen Plätzen in der Stadt wird<br />
seit 1988 alle drei Jahre das, zum kulturellen<br />
Repertoire der Region zählende, Festival begangen.<br />
Im Zentrum steht das zeitgenössische<br />
<strong>Schatten</strong>theater, das sich in diesem Jahr mit<br />
dem übergeordneten Thema „<strong>Schatten</strong>theater<br />
und Musik“ befasst: Schon bei den Programmhinweisen,<br />
wie „More music, Papa“ wird der<br />
diesjährige Bezug zu „der Musik, dem Musiktheater<br />
und der Oper“4 deutlich. Die Teilnehmer<br />
beantworten in ihrem Spiel die Frage, wie<br />
<strong>Schatten</strong>künstler musikalische Abläufe ins Bild<br />
setzen können. Es werden dabei verschiedenste<br />
Arten des Figurentheaters mit einbezogen:<br />
Marionetten, Hand- und Stabpuppen.<br />
Neben der Rezeption von Theateraufführungen<br />
werden, im Rahmen des Festivals, auch<br />
Vorträge, Ausstellungen und Workshops für die<br />
stetig wachsende Zahl an Besucher angeboten:<br />
Im Jahr 2003 zog es rund 4.600 Besucher<br />
nach Schwäbisch Gmünd. Während des letzten<br />
Festivals wurden zwei Workshops angeboten:<br />
Hierbei fand eine intensive Auseinandersetzung<br />
mit verschiedenen Lichtquellen, der Art<br />
der Gestaltung der Figuren und der Umsetzung<br />
des Spiels statt. Die vierzehn Darstellergruppen<br />
und Inszenierenden stammen aus der ganzen<br />
Welt: Thailand, Kanada, Belgien, Italien, Großbritannien,<br />
Schweden und Deutschland.<br />
Ins Leben gerufen wurde das Festival durch,<br />
den schon erwähnten Rainer Reusch, einem<br />
der bekanntesten <strong>Schatten</strong>theaterforscher<br />
und Buchautoren zu diesem Themenkomplex.<br />
Durch das Festival erlangt das <strong>Schatten</strong>theater<br />
nicht nur eine höhere Präsenz, es sind auch<br />
die aktuellen Entwicklungen und Trends in der<br />
Szene zu beobachten. Dafür sorgt auch das,<br />
1988 von Reusch gegründete, internationale<br />
<strong>Schatten</strong>spiel Zentrum Schwäbisch Gmünd:<br />
Es besitzt zurzeit Informationen von rund 270<br />
<strong>Schatten</strong>bühnen weltweit, eine Plakatsammlung,<br />
eine Video-, Dia- und Bibliothek und eine<br />
beträchtliche Sammlung von <strong>Schatten</strong>figuren.<br />
Das <strong>Schatten</strong>theater Zentrum in Schwäbisch<br />
Gmünd fördert und erforscht das zeitgenössische<br />
<strong>Schatten</strong>theater. Es hat in ehrenamtlicher<br />
Arbeit die weltweite <strong>Schatten</strong>theaterszene<br />
erkundet und die Forschungsergebnisse und<br />
Beiträge anderer <strong>Schatten</strong>theaterexperten in<br />
Büchern veröffentlicht.<br />
Im Folgenden wird nun ein Teilnehmer des<br />
<strong>Schatten</strong>festivals 2006 vorgestellt. Das Figurentheater<br />
Wilde und Vogel , welches das Kinderstück<br />
„Maria auf dem Seil“ inszeniert.<br />
3.3 Figurentheater Wilde und Vogel<br />
Das Figurentheater Wilde & Vogel wurde 1997<br />
von dem Figurenspieler Michael Vogel, einem<br />
Absolventen des Studiengangs Figurentheater<br />
Stuttgart, und der Musikerin Charlotte Wilde als<br />
professionelles freies Tourneetheater mit Sitz in<br />
Stuttgart gegründet. Zahlreiche eigene Inszenierungen<br />
gehören zu seinem künstlerischen
Repertoire. Diese lassen sich in Kinder- als auch<br />
in Erwachsenentheater unterteilen. Das Figurentheater<br />
Wilde & Vogel hat diverse Gastspiele<br />
in über 20 verschiedenen Ländern gegeben<br />
und hat somit eine hohe Bedeutung für die<br />
generationenübergreifende Weiterverbreitung<br />
des <strong>Schatten</strong>spiels. Zudem gewann das<br />
Ensemble zahlreiche Preise für die Inszenierungen,<br />
unter anderem den Theaterpreis der Stuttgarter<br />
Zeitung 2001. Das <strong>Schatten</strong>theaterstück<br />
„Maria auf dem Seil“ wurde unter anderem<br />
bei dem <strong>Schatten</strong>theaterfestival Schwäbisch<br />
Gmünd (2006) aufgeführt.<br />
Es folgt ein inhaltlicher Abriss des Stücks „Maria<br />
auf dem Seil“. Anschließend werden Charakteristika<br />
der Aufführung, der Figurendarstellung,<br />
der Verwendung des Mediums Musik, als<br />
auch der Art der Umsetzung auf der Bühne<br />
herausgearbeitet. Zudem werden technische<br />
Aspekte, wie zum Beispiel Art des Bühnenraumes,<br />
zeitliche Aspekte und weitere Daten zum<br />
Stück erläutert. Des Weiteren wird eine Skizze<br />
zum Bühnengrundriss dargestellt. Hierdurch<br />
kann man die Analyse der technischen Aspekte<br />
bezüglich der Umsetzung des <strong>Schatten</strong>spiels<br />
umfassend nachvollziehen. Abschließend<br />
werden Videosequenzen im Hinblick auf die<br />
technische Umsetzung der <strong>Schatten</strong> im Spiel<br />
analysiert. Die Analyse der Videosequenzen<br />
wird jeweils mit der exakten Minutenangabe<br />
gekennzeichnet, wodurch man die Analyse visuell<br />
nachvollziehen kann. Die Minutenangabe<br />
erfolgt in Klammern [...].<br />
Die Quelle der folgenden Ausführungen ist<br />
zumeist, wenn nicht anderweitig kenntlich<br />
gemacht, das Figurentheater Wilde & Vogel,<br />
die in zahlreichen Telefonaten Auskunft über<br />
das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater gegeben<br />
haben. Die folgende Analyse bis hin zum abschließenden<br />
Fazit ist der namentlich gekennzeichnete<br />
Teil der Hausarbeit und ist von Isa<br />
Lange durchgeführt worden.<br />
„Maria auf dem Seil“<br />
„Maria auf dem Seil“ ist eine Koproduktion des<br />
Figurentheaters Wilde & Vogel und des Zikade<br />
Theaters unter Leitung von Ines Müller-Braunschweig<br />
mit dem Puppentheater Halle. Das<br />
Stück ist für Kinder ab 8 Jahre und basiert auf<br />
dem gleichnamigen Roman der brasilianischen<br />
Schriftstellerin Lygia Bojunga Nunes, einer<br />
Astrid-Lindgren-Preisträgerin. Zu betonen ist,<br />
dass dieses Stück keineswegs nur für Kinder<br />
inszeniert wurde. Gerade auf dem <strong>Schatten</strong>theaterfestival<br />
in Schwäbisch Gmünd war das<br />
Interesse seitens Erwachsener und des Fachpublikums<br />
groß. Die Hauptperson und zudem<br />
Titelfigur in „Maria auf dem Seil“ – Maria – ist<br />
ein kleines Mädchen, welches einer Zirkusfamilie<br />
angehört. Bei einem schrecklichen Absturz<br />
vom Hochseil verliert Maria ihre Eltern. Das<br />
junge Mädchen wird als Waise zu ihrer reichen<br />
und harschen Großmutter Dona Maria Cecilia<br />
Mendonga de Melo in die Großstadt gebracht.<br />
Diese erweist sich als streng und dekadent und<br />
kann Maria nicht die nötige seelische Unter-<br />
84<br />
stützung bieten, die das Mädchen benötigt, um<br />
den tödlichen Unfall ihrer Eltern zu verkraften<br />
und zu verarbeiten. Maria ist als Kind von Hochseilartisten<br />
noch nie in ihrem Leben zur Schule<br />
gegangen und kennt als Seiltänzerin einzig die<br />
wunderbare Welt des Zirkuslebens. Hier setzt<br />
das Stück mit seiner Inszenierung ein. Etwas<br />
Schreckliches ist passiert, zu schrecklich um zu<br />
erinnern. Alles, was in den zehn Jahren ihres<br />
jungen Lebens passiert ist, hat Maria vergessen.<br />
Stundenlang verweilt sie alleine am Fenster<br />
ihres neuen Zimmers in der ihr so fremdartig<br />
wirkenden Großstadt. Sie schaut in den Hof<br />
hinaus und sieht zahlreiche Fenster. Eines steht<br />
offen. Die Fenster des Nachbarhauses locken<br />
sie geheimnisvoll an. Träumend beginnt Maria<br />
ein Seil dorthin zu spannen, um mit den zwitschernden<br />
Schwalben hinüber zu spazieren.<br />
Hinter dem Fenster entdeckt Maria Türen, jede<br />
in einer anderen Farbe koloriert. Gelb, blau,<br />
weiß. Das Mädchen fragt sich, ob sie die sie<br />
magisch anziehende, geheimnisvoll wirkende<br />
rote Tür öffnen soll. Dieser Drahtseilakt der Erinnerung<br />
gelingt. Am Ende ihres Weges durch<br />
die Vergangenheit durchlebt Maria erneut den<br />
Unfalltod ihrer seiltanzenden Eltern und begegnet<br />
– im Zentrum des Schrecklichen – sich<br />
selbst. Aus diesem Zusammentreffen mit der im<br />
vergessenen gefangenen Maria entzündet sich<br />
der Funke des Lebens neu. Eine weitere Tür öffnet<br />
sich somit für die junge Maria: die Zukunft.<br />
„Maria auf dem Seil“ ist eine virtuose Komposition<br />
der Mittel aus Puppen-, Schauspiel- und<br />
<strong>Schatten</strong>theater. Die Bühne, auf der gespielt<br />
und projiziert wird, bleibt von Anfang bis Ende<br />
eine Zirkusmanege. Das Zimmer, von welchem<br />
aus Maria die Stationen ihres Lebens wieder<br />
erfährt, ist somit ebenso die Zirkusmanege.<br />
Der Absturz der Eltern wird als minimalistisches<br />
<strong>Schatten</strong>spiel gestaltet. Somit bewahrt<br />
diese Umsetzung des Todes des Elternpaares<br />
die Szene vor zu starkem Pathos. Maria – als<br />
Marionette dargestellt – birgt in ihrer figürlichen<br />
Darstellung Zartheit und Feingliedrigkeit<br />
in sich. Die Musik, als auch die Geräuschkulisse<br />
wird dem Geschehen angepasst, illustriert<br />
dieses und unterstreicht somit die Feinheit der<br />
Titelfigur Maria.<br />
Technische Informationen, Skizze Bühnengrundriss<br />
Im Folgenden werden technische Aspekte<br />
dargestellt, die für die Inszenierung des Stücks<br />
„Maria auf dem Seil“ beachtet werden müssen.<br />
Die Lieferung der technischen Daten und weiteren<br />
Informationen erfolgte durch Gespräche<br />
mit dem Figurentheater Wilde & Vogel.<br />
Die Spielfläche (Bühne oder Podeste) muss mindestens<br />
8m x 6m (Breite x Tiefe) betragen. Die<br />
Podesthöhe muss 1m bei ebenerdiger Bestuhlung,<br />
bei ansteigenden Sitzreihen entsprechend<br />
höher, betragen. Eine Bühnenraumhöhe von<br />
mindestens 3,70m ist erforderlich. Die Farbigkeit<br />
des Bühnenbodens, sowie die hinteren<br />
und seitlichen Aushänge, müssen schwarz sein.<br />
Der Abstand von der ersten Sitzreihe bis zur
Bühne muss 2m betragen. Licht und Ton werden<br />
seitens des Figurentheaters Wilde & Vogel<br />
zum jeweiligen Spielort mitgebracht. Je nach<br />
Raum werden mindestens vier Scheinwerfer<br />
mit blauen und gelben Farbfiltern (Rosco Filter<br />
No.119 Dark Blue und No.101 Yellow) für ein<br />
stimmungsvolles Saallicht benötigt.<br />
Der Aufbau der Bühne, der Kulisse, sowie der<br />
Lichttechnik erfordert mindestens fünf Stunden.<br />
Die Spieldauer der Inszenierung „Maria auf<br />
dem Seil“ wird auf ca. 60 Minuten angesetzt<br />
und beinhaltet keine Pause. Für den Abbau der<br />
Technik werden ca. 90 Minuten benötigt.<br />
Es ist zudem zu beachten, das während der<br />
Aufführung jeder Zuschauer den ganzen<br />
Bühnenboden überblicken kann. Der Saal muss<br />
vollständig verdunkelbar und abgeschirmt von<br />
Außengeräuschen sein. Die Zuschauerzahl beträgt<br />
maximal 100. Grundsätzlich ist der Aufbau<br />
flexibel, jedoch betont das Figurentheater, dass<br />
Änderungen unbedingt mit dem Figurentheater<br />
Wilde & Vogel abzusprechen sind.<br />
Skizze zu „Maria auf dem Seil“<br />
Bühnengrundriss von oben gesehen<br />
6m<br />
1 = Hängemöglichkeit Gazetuch<br />
2 = Hängemöglichkeit Strick für Marionette<br />
3 = Hängemöglichkeit Spiegelkugel<br />
Analyse<br />
Zu Beginn der Analyse der Verwendung und<br />
des Spiels mit <strong>Schatten</strong> in „Maria auf dem Seil“<br />
folgt eine kurze Definition der Begriffe <strong>Schatten</strong><br />
und Silhouette, so wie sie der Verfasser dieser<br />
Arbeit im Folgenden versteht und als fest definierte<br />
Begriffe benutzt. Als <strong>Schatten</strong> bezeichnet<br />
man das Gebiet hinter einem beleuchteten Körper,<br />
in das die Lichtstrahlen nicht eindringen.<br />
Der <strong>Schatten</strong> ist ohne Projektionsfläche nur als<br />
Dunkelheit zu erkennen. Je nach Neigung und<br />
Abstand des Gegenstands zu Lichtquelle und<br />
Projektionsfläche verändert der <strong>Schatten</strong> das<br />
Abbild des Gegenstands. 5<br />
Als Silhouette, der korrespondierende deutsche<br />
Begriff ist <strong>Schatten</strong>riss, wird ein flächiges Bild<br />
eines Menschen oder Gegenstandes – hell vor<br />
dunkel oder umgekehrt - bezeichnet. Die Relation<br />
zwischen <strong>Schatten</strong> und Silhouette lässt sich<br />
wie folgt kennzeichnen. Wenn ein <strong>Schatten</strong> ein<br />
flächiges unverzerrtes Abbild eines Menschen<br />
85<br />
1<br />
Gazetuch<br />
Publikum<br />
3<br />
2<br />
1<br />
Stative<br />
oder eines Gegenstands zu erkennen gibt,<br />
gleicht er einer Silhouette, ist aber keine.<br />
In „Maria auf dem Seil“ tauchen zahlreiche<br />
Spielweisen mit <strong>Schatten</strong> auf. Die folgende Analyse<br />
befasst sich zunächst mit der Videosequenz<br />
von Minute 16 an bis zur Minute 21. Anschließend<br />
folgt die Analyse des Videoabschnitts von<br />
Minute 21 bis Minute 27.<br />
Die <strong>Schatten</strong>wand ist zu Beginn des ersten<br />
Videoabschnitts klein und mobil [16:07]. Der<br />
Schirm befindet nicht mehr fest und unbeweglich<br />
auf einem Rahmen gespannt, sondern<br />
bewegt sich im Raum, wird von den <strong>Schatten</strong>spielern<br />
in die jeweilige Position auf der<br />
Bühne geführt. Somit wird die dritte Dimension<br />
ausgenutzt. Das <strong>Schatten</strong>spiel gewinnt enorm<br />
an Dynamik. Dies ist charakteristisch für das<br />
zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater. In dieser<br />
Szene befindet sich die Lichtquelle vorne vor<br />
dem Schirm, was eine offene Spielweise zur<br />
Folge hat. Der Zuschauer hat demzufolge die<br />
Möglichkeit zu verfolgen, wer spielt und wie<br />
mit <strong>Schatten</strong> gespielt wird. Auch dies ist ein<br />
entscheidendes Merkmal des zeitgenössischen<br />
<strong>Schatten</strong>theaters. In der anschließenden Videosequenz<br />
arbeitet das Figurentheater Wilde &<br />
Vogel mit verschiedenfarbigem Licht, ebenfalls<br />
ein feststehendes Merkmal des gegenwärtigen<br />
<strong>Schatten</strong>theaters [17:55 – 20:20]. Der verwendete<br />
Schirm, die Projektionsfläche bleibt<br />
die gleiche wie im vorigen Videoabschnitt,<br />
allerdings kommt hierbei das Spiel mit farbigem<br />
Licht hinzu. Die Verwendung farbiger <strong>Schatten</strong><br />
wirkt beeindruckend. Der Zuschauer ist es gewöhnt,<br />
wie im traditionellen <strong>Schatten</strong>theater,<br />
<strong>Schatten</strong> schlicht als dunkle Gebilde wahrzunehmen.<br />
Im zu häufigen Gebrauch farbiger<br />
Beleuchtung liegt allerdings auch eine Gefahr.<br />
Durch zu viele Farben, durch zu viele technische<br />
Spielereien kann ein <strong>Schatten</strong>spiel zur<br />
bloßen Effekthascherei werden, die zur Übersättigung<br />
der Beteiligten führt. Daher ist, wie<br />
in „Maria auf dem Seil“ geschehen, der gezielte<br />
und überlegte Einsatz der Farbe entscheidend,<br />
damit neben der Technik auch die Bewegung<br />
der <strong>Schatten</strong> und die Musik nicht an Bedeutung<br />
verlieren. Im gezeigten Videoabschnitt [17:55<br />
– 20:20] wird, im Gegensatz zum vorigen<br />
[16:07 – 17:55], nicht die offene, sondern die<br />
klassische Spielform verwendet. Die Lichtquelle<br />
befindet sich hinten. Die Licht-Schirm-Konstellation<br />
ist somit klassisch. Der Zuschauer sieht den<br />
<strong>Schatten</strong>spieler nicht, ihm offenbart sich allein<br />
der <strong>Schatten</strong>. Demzufolge wirkt das farbige<br />
Licht stärker. Es hat keine Konkurrenz seitens<br />
der Bespielung der Bühne.<br />
Das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater hat drei<br />
wesentliche Spielformen hervorgebracht: das<br />
Figuren-, Handschatten- und Menschenschattentheater.<br />
Alle drei Spielformen werden in<br />
„Maria auf dem Seil“ verwendet. Die Verwendung<br />
des Handschattenspiels wird im folgenden<br />
Videoabschnitt aufgenommen [20:20<br />
– 21:05]. Hier arbeiten die Darsteller nicht mehr<br />
nur mit der feingliedrigen Marionette Maria<br />
oder mit ihrer eigenen Person, sondern kon-
zentrieren sich speziell auf die Hände. Zudem<br />
wird farbiges Licht in blau und rot verwendet,<br />
welches eine intensive Wirkung aufweist. Die<br />
Verwendung farbigen Lichts unterstreicht den<br />
inhaltlichen Aspekt, dass die Titelfigur Maria<br />
vor der Wahl steht, die gefürchtete, aber sie<br />
magisch anziehende, rote Tür zur Offenbarung<br />
ihrer Vergangenheit zu öffnen.<br />
Nun wird die zweite Videosequenz analysiert<br />
[21:05 – 26:50]. Hierbei erfolgt eine Steigerung<br />
der im zeitgenössischen <strong>Schatten</strong>theater<br />
verwendeten Spielform von der traditionellen<br />
Verwendung von Figuren hinüber zum Handschattenspiel<br />
bis hin zum Einsatz des Menschen<br />
selbst als Figur [22:37 – 25:23]. Die zu bespielende<br />
Leinwand, Projektionsfläche, erweist sich<br />
in diesem Abschnitt als erheblich größer als<br />
die vorigen. Es zeigt sich das Spiel mit Größen<br />
und Proportionen. Teilweise sind sehr große<br />
Elemente in paralleler Konkurrenz zu kleinen<br />
<strong>Schatten</strong> zu betrachten. Es erfolgt ein Wechsel<br />
der Spielweise hin zu einer offenen Spielweise,<br />
die Lichtquelle befindet sich vorne. Zudem wird<br />
das Marionetten- und Menschenspiel kombiniert.<br />
In der abschließenden Videosequenz wird<br />
erneut mit der Darstellung von Größen gespielt<br />
[25:23 – 26:50]. Je nach Abstand der Lichtquelle<br />
kann der Gegenstand auf der Bühne ins<br />
Riesenhafte anwachsen oder sich extrem verkleinern.<br />
Der sich dem Zuschauer offenbarende<br />
<strong>Schatten</strong> des Bootes wirkt zu Beginn riesig und<br />
mächtig. Das Schiff befindet sich hinter dem<br />
Schirm, wird von den Darstellern des Stücks<br />
möglichst nah an die Lichtquelle herangeführt.<br />
Anschließend zeigt sich dem Zuschauer, wie<br />
klein das reale Schiff ist, wenn es vor der Projektionsfläche<br />
gezeigt wird. Die <strong>Schatten</strong>spieler<br />
verweisen in ihrer Inszenierung somit auf die<br />
vielfältigen Möglichkeiten und Neuerungen,<br />
die ihnen der <strong>Schatten</strong> und das Spiel mit Größen<br />
und farbigen Licht bietet. Die Entwicklung<br />
beweglicher Halogenhandlampen ermöglicht<br />
dem zeitgenössischen <strong>Schatten</strong>theater, wie in<br />
der vorliegenden Inszenierung zu betrachten,<br />
ein kreatives Erschaffen der <strong>Schatten</strong>gestalt.<br />
Maßgeblich und entscheidend ist, dass der<br />
<strong>Schatten</strong> der Figur demnach im Moment des<br />
Spiels verändert werden kann. Das Spiel in der<br />
dritten Dimension trägt zu einer ungeheuren<br />
Dynamik bei. Wie in den Videosequenzen aus<br />
„Maria auf dem Seil“ analysiert, erfährt der Ausdruck<br />
des Gezeigten durch das Spiel im Raum<br />
eine enorme Steigerung.<br />
Exkurs: die stilisierte <strong>Schatten</strong>figur<br />
Entgegen dem traditionellen <strong>Schatten</strong>theater<br />
weist das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater auch<br />
neue, stilisierte und abstrakte Formen bei der<br />
Figurengebung auf. Dies findet sich auch in<br />
„Maria auf dem Seil“, wobei hier zudem eine<br />
Marionette und der Mensch selbst als Figuren<br />
verwendet werden.<br />
Die Figurengestaltung in der Bildenden Kunst<br />
machte schon zu Beginn des 20.Jahrhundert<br />
eine rasante Entwicklung durch. Zu erwähnen<br />
86<br />
sind die Kunstrichtungen Kubismus, Futurismus,<br />
Expressionismus und abstrakte Malerei.<br />
Während sich hier eine enorme Veränderung<br />
vollzog, blieb das <strong>Schatten</strong>theater über einen<br />
langen Zeitraum der Figurengestaltung des<br />
19.Jahrhunderts verhaftet. Zwar gab es einige<br />
Ausnahmen, jedoch wiesen diese keine Breitenwirkung<br />
auf. Man legte Wert auf die möglichst<br />
naturgetreue, der realen Welt entsprechende,<br />
Wiedergabe der Figur. Oberste Prinzipien bei<br />
der Gestaltung der Figuren waren Ornament<br />
und Schönheit, Ästhetik der Figur. Erst in den<br />
70er Jahren setzt ein Umschwung ein, der<br />
das <strong>Schatten</strong>spiel dem künstlerischen Niveau<br />
und Ausdruck der Werke der Bildenden Kunst<br />
näher brachte. Einige <strong>Schatten</strong>künstler setzten<br />
sich nunmehr intensiv mit den neuen Errungenschaften,<br />
mit der neuen Art des Ausdrucks,<br />
in der Bildenden Kunst auseinander. Folglich<br />
hatte diese explizite Auseinandersetzung mit<br />
der Bildenden Kunst und ihrer Art der neuen<br />
Formen und Figurenwahrnehmung Auswirkungen<br />
auf die Figurengestaltung im <strong>Schatten</strong>theater.<br />
Die <strong>Schatten</strong>spieler wagten den<br />
Schritt ins Neuland zu gehen und verzichteten<br />
gänzlich auf jede ornamentale, musterhafte<br />
Ausgestaltung der Figur. Die <strong>Schatten</strong>spieler<br />
entfernten sich von nun an in ihrer Gestaltung<br />
der Figuren vom Naturalismus und wurden in<br />
ihrer Formgebung freier, extremer. Dies führte<br />
teilweise zu einer Stilisierung der Figur bis hin<br />
zu ihrer völligen Abstraktion. Entscheidend war<br />
nun nicht mehr, wie noch einige Jahre zuvor,<br />
der Aspekt Ästhetik, sondern der Ausdruck.<br />
Die Figur wurde auf ihren Ausdruck in Hinblick<br />
auf Wirkung entwickelt und ausgearbeitet. In<br />
„Maria auf dem Seil“ kommt, wie oben bereits<br />
dargestellt, zudem der Aspekt des Handschatten-,<br />
als auch des Menschenschattentheaters<br />
hinzu. Zudem werden die Figuren mit Hilfe<br />
der modernen Beleuchtungstechnik bis<br />
zur Unkenntlichkeit verzerrt, wachsen oder<br />
schrumpfen. Das <strong>Schatten</strong>spiel erhält somit eine<br />
ungeheure Dynamik, Energie und Aussagekraft<br />
und entfernt sich von der einfachen Darstellung<br />
eines Theaterspiels. Das <strong>Schatten</strong>spiel wird<br />
eine eigenständige Form der Aussage, es wird<br />
Kunst.<br />
Ein weiterer wichtiger Aspekt in „Maria auf<br />
dem Seil“ ist die Verknüpfung von Bild und<br />
Ton. Charakteristisch für das Stück ist eine<br />
der Führung der Figuren sehr angepasste<br />
Musik- und Geräuschkulisse. Diese illustriert<br />
das Geschehen, das Spiel mit <strong>Schatten</strong> auf der<br />
Bühne, in einzigartiger, interessanter Weise.<br />
Feinheit und Zerbrechlichkeit der Titelfigur Maria<br />
werden mit Hilfe gezielter Musikbespielung<br />
betont. Die Künstler des Figurentheaters Wilde<br />
& Vogel agieren als virtuose Spieler, zeigen in<br />
ihrer Inszenierung sogar kleine Zauberstückchen<br />
und Pyrotricks. Der intensive Vortrag<br />
wird durch handgemachte Musik mittels einer<br />
Spieluhr, dem Einsatz von Instrumenten, wie<br />
zum Beispiel des Akkordeons, der Ukulele<br />
und der Trommel, unterstützt. Zudem wird<br />
das <strong>Schatten</strong>spiel durch gut gesetztes Licht in
Quellen<br />
Print<br />
Haehnel, Gerd/ Söll, Florian:<br />
Wir spielen mit unseren<br />
<strong>Schatten</strong>, Seelze (Velber),<br />
2001<br />
Nold, Wilfried: Das Spiel der<br />
<strong>Schatten</strong>, Moers, 2002<br />
Reiniger, Lotte: <strong>Schatten</strong>theater,<br />
<strong>Schatten</strong>puppen,<br />
<strong>Schatten</strong>film, Tübingen,<br />
1981<br />
Klant, M./ Walch, J.: Bildene<br />
Kunst 1, S.62, Hannover,<br />
1993<br />
Zeitschriften<br />
Drexel, Gerhard: 7. Internationales<br />
<strong>Schatten</strong>theater<br />
Festival, in: gmuendguide<br />
–Stadtmagazin schwäbisch<br />
Gmünd Heft 01/2006,<br />
S. 46-49<br />
Internet<br />
http://de.wikipedia.org/<br />
<strong>Schatten</strong>theater,<br />
Stand 11.12.2006<br />
Wayang, http://de.wikipedia.<br />
org/wiki/Wayang,<br />
Stand 09.01.2007<br />
Reusch, Rainer: www.<br />
schattentheater.de/files/<br />
deutsch/aktivitaeten/files/<br />
weitere/Zeitgenoessisches_<br />
<strong>Schatten</strong>theater.pdf,<br />
Entwicklung des<br />
zeitgenössischen<br />
<strong>Schatten</strong>theaters,<br />
Stand 12.12.2006<br />
Reusch, Rainer: Kunst des<br />
<strong>Schatten</strong>theaters, http://<br />
www.schattentheater.de/<br />
files/deutsch/aktivitaeten/<br />
aktivitaeten.html,<br />
<strong>Schatten</strong>theater,<br />
Stand 12.12.2006<br />
www.figurentheater-wels.<br />
at/imago2005schatten.<br />
html, Informationen zum<br />
Theater 3, Stand 03.03.2007<br />
http://www-x.nzz.ch/<br />
format/broadcasts/<br />
transcripts_376_647.html,<br />
Neue Züricher Zeitung<br />
– Theater 3,<br />
Stand 03.03.2007<br />
http://www.portalkunst<br />
geschichte.de/images/<br />
wayang_ku<strong>lit</strong>_<br />
figuur_18561144344128.<br />
jpg, Abbildung einer<br />
indonesischen<br />
<strong>Schatten</strong>spielfigur,<br />
Stand.8.03.2007<br />
seiner Intensität des Ausdrucks verdichtet. Was<br />
Klänge und Geräusche angeht, so steht den<br />
Darstellern des <strong>Schatten</strong>spiels eine breite Palette<br />
von Möglichkeiten zur Verfügung. Welche<br />
Formen und Kombinationen von Bild und Ton<br />
verwendet wird, ist eine Frage der Absichten,<br />
Vorlieben, der technischen Ausrüstung und der<br />
Erfahrung.<br />
So ist es zum Beispiel möglich, ohne Ton „wie<br />
im Stummfilm“ zu spielen. So entsteht das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
als <strong>Schatten</strong>pantomime. Allerdings existieren<br />
hierbei immer noch einige Geräusche.<br />
Wenn mit Text und den natürlich entstehenden<br />
Geräuschen gespielt wird (O-Ton), kann der<br />
Text unterschiedlich stark festgelegt sein. Er<br />
kann sich streng an eine schriftliche Fassung<br />
orientieren, auf einer Textvorlage beruhen<br />
oder aber sich mehr oder weniger frei entfalten<br />
bis hin zur völligen Improvisation. Letzteres ist<br />
in „Maria auf dem Seil“ der Fall. Zudem wird<br />
das Stücks in breiter Ausarbeitung musikalisch<br />
unterstützt. Zum einen benutzt das Figurentheater<br />
Wilde & Vogel den Ton aus dem OFF.<br />
Eine oder mehrere Personen, die nicht auf der<br />
Bühne zu sehen sind, erzählen, kommentieren,<br />
singen, berichte ähnlich wie bei einem Dia-<br />
Vortrag. Zudem spielen die drei Darsteller des<br />
Stücks Live-Musik, wechseln vom Musiker zum<br />
wirklichen Schauspieler/Darsteller einer Figur<br />
(z.B. der Großmutter).<br />
Häufig wird Musik weniger als Ton zum Bild,<br />
sondern als Bewegungsimpuls benutzt. Zudem<br />
wird Musik als Basis verwendet, um die Figur<br />
und ganze Bewegungs- und Handlungsabläufe<br />
zu entwickeln (Bild zum Ton). Ein doppeltes<br />
Verhältnis zwischen Bild und Ton entwickelt<br />
sich, wenn Musiker ihre Musik unmittelbar zum<br />
<strong>Schatten</strong>spiel improvisieren, wie dies auch bei<br />
„Maria auf dem Seil“ der Fall ist. Die Führung<br />
der Marionette Maria in Verbindung zur Musik<br />
ist ein entscheidendes Charakteristikum des<br />
Stücks. In „Maria auf dem Seil“ werden Schauspiel<br />
und <strong>Schatten</strong>, Pantomime und Musik<br />
verbunden. Dies stellt ein wesentliches Merkmal<br />
des zeitgenössischen, modernen <strong>Schatten</strong>theaters<br />
dar.<br />
Die Öffnung des <strong>Schatten</strong>theaters hin zu<br />
anderen Künsten als neueste Entwicklung ist<br />
von zentraler Bedeutung für die Zukunft dieser<br />
Kunstform. Das direkte Einbeziehen anderer<br />
Künste – sozusagen ein „cross-over“ von Film,<br />
Schauspiel, Oper, Pantomime, Musik, Bildende<br />
Kunst und Tanz mit dem <strong>Schatten</strong>theater<br />
– erweist sich als klare Bereicherung für das<br />
neuzeitliche <strong>Schatten</strong>spiel. Beispielhaft steht<br />
hierfür die Inszenierung „Maria auf dem Seil“,<br />
welche den Aspekt Musik in breiter Ausarbeitung<br />
in das <strong>Schatten</strong>spiel mit einbezieht. Des<br />
Weiteren wird der Charakter eines zeitgenössischen<br />
<strong>Schatten</strong>theaters dadurch unterstrichen,<br />
dass die Inszenierung „Maria auf dem<br />
Seil“ in beeindruckender Weise Schauspiel und<br />
<strong>Schatten</strong>, Marionetten und Musik miteinander<br />
verschmelzen lässt und vereint.<br />
87<br />
3.4 <strong>Schatten</strong>BildTheater<br />
Das <strong>Schatten</strong>BildTheater wurde 1990 von<br />
der Malerin und Graphikerin Gisela Oberbeck<br />
gegründet. Seitdem experimentiert sie mit dem<br />
<strong>Schatten</strong>spiel und nimmt regelmäßig an Festivals<br />
im In- und Ausland und internationalen<br />
Symposien teil. In der vollständig vorliegenden<br />
Aufführung „animare – <strong>Schatten</strong>klänge und<br />
Klangschatten“ kooperiert sie mit der Komponistin<br />
Limpe Fuchs, die seit 1991 in szenische<br />
Musikprojekte involviert ist. Das Stück ist<br />
empfohlen ab 16 Jahren. Es handelt sich um<br />
eine „Geschichte von Werden und Vergehen,<br />
von Bewegung und Statik, von Wachstum und<br />
Beschneidung, von der tiefen Quelle Natur und<br />
vom Wandel.“6 Sowohl visuelle als auch akustische<br />
Kontraste spielen in dem experimentellen<br />
Theater, welches die Künstlerin selbst als „meditativ“<br />
bezeichnet, die wichtigste Rolle. Den<br />
<strong>Schatten</strong> wird ein Klang verliehen bzw. den<br />
Klängen ein <strong>Schatten</strong>. Beide Elemente wirken<br />
miteinander, beeinflussen sich und befinden<br />
sich stets im Wandel. Die Spielelemente für das<br />
Bild sind der Natur entnommen: getrocknete<br />
Pflanzen, Steine, Wurzeln, Hölzer und Knochen.<br />
Klare Formen (0:46, Knochen) kommen also<br />
ebenso vor wie unstrukturiert wirkende Gegenstände<br />
(43:34, Baumverästelungen). Die Beobachtung<br />
der Naturformen und das Spiel mit<br />
ihnen stehen im Zentrum des Stückes. Die akustischen<br />
Mittel bestehen aus Perkussioninstrumenten,<br />
Pendelsaite, Bronzeklangstäbe, Geige<br />
und selbst gebauten Instrumenten, die selten<br />
gehörte und ungewöhnliche Töne entstehen<br />
lassen. Sie unterlegen die <strong>Schatten</strong> akustisch<br />
und erzeugen unterschiedliche Atmosphären.<br />
Die Gegenstände wirken dadurch lebendig.<br />
Durch die Arbeitsteilung von Bewegungsführung<br />
und Akustik erhöht sich der Anspruch der<br />
Inszenierung. Die Anpassung von Aktion und<br />
Geräusch erfordert hier ein gutes Zusammenspiel,<br />
Übung und Harmonie zwischen beiden<br />
Beteiligten. Dies ist z.B. bei dem traditionellen<br />
Wayang-Theater, kein Problem, da der Dalang<br />
beide Aufgaben übernimmt.<br />
Die Anordnung und der Ablauf<br />
Anfangsbild der Inszenierung ist ein Gitter an<br />
dem verschiedene, oben aufgeführte Elemente<br />
befestigt sind. Nach und nach kommen<br />
akustisch unterlegt neue Gegenstände hinzu.<br />
Zwischen den vorhandenen Gegenständen<br />
und denen, die durch Bewegung neu in die<br />
Szenerie gebracht werden, herrscht Spannung.<br />
Oft werden dem Zuschauer zunächst nur<br />
kleine Ausschnitte präsentiert, bevor der ganze<br />
Gegenstand beleuchtet wird. Die Phantasie der<br />
Zuschauer wird angeregt. Gleich zu Beginn der<br />
Inszenierung (ab 8:28)) wird durch lautes Trommeln<br />
begleitet ein in Bezug zum Gitter großer<br />
Stamm gezeigt. Dieser bewegt sich wie ein<br />
Uhrwerk langsam hin und her. Nach und nach<br />
wird deutlich, dass durch die Entfernung des<br />
Objektes zur Lichtquelle mit der Größe gespielt<br />
wird: Der „Stamm“ stellt sich als Blumenstängel<br />
heraus.
Fußnoten<br />
1 Reusch, Rainer: www.schat<br />
tentheater.de/files/deutsch/<br />
aktivitaeten/files/weitere/<br />
Zeitgenoessisches_<strong>Schatten</strong><br />
theater.pdf, Entwicklung<br />
des zeitgenössischen Schat<br />
tentheaters, Stand<br />
12.12.2006<br />
2 ohne Autor: http://<br />
de.wikipedia.org/<strong>Schatten</strong><br />
theater, <strong>Schatten</strong>theater,<br />
Stand 11.12.2006<br />
3 http://www-x.nzz.ch/format/<br />
broadcasts/transcripts_376_<br />
647.html, Statement Helena<br />
Korinkova – Theater 3,<br />
Stand 03.03.2007<br />
4 Drexel, Gerhard: 7. Internati<br />
onales <strong>Schatten</strong>theater Fes<br />
tival, in: gmuendguide<br />
–stadtmagazin schwäbisch<br />
gmünd Heft 01/2006, S. 49<br />
5 Vgl. Encarta Enzyklopädie<br />
Standard 2003: <strong>Schatten</strong>bild<br />
6 Einleitung der DVD „anima<br />
re“<br />
Das Licht und die Akustik<br />
Es kommt nur weißes Licht zum Einsatz, farbige<br />
Lichtquellen werden nicht verwendet.<br />
Gisela Oberbeck nutzt die technischen Möglichkeiten,<br />
die leistungsstarke Taschenlampen<br />
bieten, aus. Die freien Bewegungsmöglichkeiten<br />
sowohl der punktförmigen Lichtquelle<br />
als auch der Objekte ermöglichen das dreidimensionale<br />
Spiel auf dem <strong>Schatten</strong>schirm. Das<br />
<strong>Schatten</strong>spiel gewinnt an Ausdruck, Spannung<br />
und Dynamik. Verdeutlicht wird dieser Effekt<br />
in der Filmsequenz mit dem Dornenast (38:54)<br />
Sowohl dieser als auch die Lichtquelle werden<br />
schnell bewegt. Zusammen mit der akustischen<br />
Unterlegung ergibt sich die Assoziation zu<br />
einer Säge.<br />
Auch wird mit der Größe gespielt. Je nach<br />
Abstand zur Lampe wirken die Gegenstände<br />
überdimensional oder winzig im Verhältnis<br />
zur Rea<strong>lit</strong>ät. Die Künstlerin erzielt verblüffende<br />
Effekte und Stimmungen:<br />
Der schon angesprochene Dornenast wirkt<br />
riesig dargestellt sehr erdruckend und beängstigend.<br />
Der Mohn hingegen wird klein dargestellt,<br />
wächst aber zu den ansteigenden Trommelschlägen.<br />
Er wirkt dadurch sehr kraftvoll.<br />
Die Unterlegungen von Limpe Fuchs tragen im<br />
großen Maße zu der vermittelten Atmosphäre<br />
bei. Die Gefühle werden intensiviert.<br />
Die Beweglichkeit der Lichtquellen nutzt die<br />
Künstlerin vor allem auch bei der Betonung<br />
einzelner Gegenstände, die sie spotartig in den<br />
Mittelpunkt stellt. Hierzu nutzt sie würfelförmige<br />
Behältnisse, die mit einer rechteckigen<br />
Öffnung ausgestattet sind. In vollkommener<br />
Dunkelheit wird nur ein rechteckiger Ausschnitt<br />
der Installation beleuchtet und auf den Schirm<br />
projiziert (47:25).<br />
Ein ähnliches Prinzip wird zur Einblendung floraler<br />
Muster verwendet. Diese Muster werden<br />
so an den Schirm geworfen und stimmig zu<br />
den Instrumenten bewegt (z.B. Minute 13, 20,<br />
32, 44). Da die Lichtquelle der Inszenierung<br />
relativ dunkel ist, gedimmt wirkt, erscheinen<br />
die Muster deutlich heller und werden in die<br />
<strong>Schatten</strong>installation mit eingefügt. Auch die<br />
<strong>Schatten</strong> der Gegenstände werden von den<br />
Mustern eingeschlossen. Der Zuschauer vertieft<br />
sich intensiv in die gebotene Atmosphäre.<br />
Das Stück stellt sich insgesamt als in sich geschlossen<br />
dar. Die einzelnen Gegenstände werden<br />
harmonisch zueinander in Szene gesetzt,<br />
bewahren sich jedoch ihren eigenen Charakter.<br />
Dies wird sowohl durch die Bewegungsart, erzeugt<br />
von Gisela Oberbeck, als auch durch die<br />
individuell zugeordneten Töne erreicht.<br />
Anders als bei den meisten <strong>Schatten</strong>theatern<br />
werden bei der Inszenierung des <strong>Schatten</strong>Bild-<br />
Theaters Licht und Objekte als gleichwertige<br />
künstlerische Mittel benutzt. Das Licht dominiert<br />
an vielen Stellen sogar. Es wird damit<br />
eine weit entwickelte Ausprägung des zeitgenössischen<br />
<strong>Schatten</strong>theaters gezeigt, die die<br />
bisher vorgestellten Theatergruppen und ihre<br />
Arbeiten ergänzt. Ein Spiel mit Größe, Dreidimensiona<strong>lit</strong>ät,<br />
Bewegung und Akustik.<br />
88<br />
4. Fazit<br />
Die Arbeit konnte sowohl das traditionelle<br />
<strong>Schatten</strong>theater als auch das zeitgenössische<br />
Theater anhand von Beispielen vorstellen. Die<br />
Tendenzen und auch Möglichkeiten, die die<br />
einzelnen Ausprägungen aufzeigen konnten<br />
anhand des Bild- und Videomaterials verdeutlicht<br />
werden. Besonders konnte auf die Weiterentwicklung<br />
des zeitgenössischen <strong>Schatten</strong>theaters<br />
eingegangen werden. Angefangen mit<br />
dem Hand- und Menschenschattentheater des<br />
Theaters 3 konnte, über das Menschen- und<br />
Figurenschattentheater des Figurentheaters<br />
Wilde & Vogel, bis hin zu dem meditativen Gegenstandstheater<br />
vom <strong>Schatten</strong>BildTheater, ein<br />
Vielzahl an Umsetzungen betrachtet werden.<br />
Durch die Thematisierung nicht nur einer<br />
Strömung, sondern beider <strong>Schatten</strong>theatertendenzen<br />
– dem traditionellen als auch dem<br />
zeitgenössischen – konnte die Entwicklung<br />
dieser Kunstform verfolgt werden. Das zeitgenössische<br />
Theater hat mit dem traditionellen<br />
Theater nur noch wenige Überschneidungspunkte.<br />
Sowohl die Technik und ihr Einsatz (z.B.<br />
künstliches Licht – lebendiges Licht) als auch<br />
die Intention (Unterhaltung – Religiosität), der<br />
Spielzweck haben sich deutlich auseinander<br />
entwickelt. Die zunehmende Beeinflussung des<br />
zeitgenössischen Theaters durch andere Künste<br />
– z.B. Musik, Schauspiel – konnte beobachtet<br />
werden und ist als Bereicherung anzusehen.<br />
Aktuell sind sogar rückläufige Tendenzen der<br />
zeitgenössischen Theater zu erkennen. Das<br />
Theater 3 beschränkt sich bewusst auf weniger<br />
Technik.<br />
Es war nicht einfach mit den <strong>Schatten</strong>theatergruppen<br />
in Verbindung zu treten und zu<br />
kooperieren. Zahlreiche <strong>Schatten</strong>theatergruppen<br />
waren nicht bereit Videomaterial zur Verfügung<br />
zu stellen oder Auskünfte über technische<br />
Aspekte und die Umsetzung des Stückes<br />
auf der Bühne zu geben. Es gelang jedoch, die<br />
in der vorliegenden Arbeit analysierten <strong>Schatten</strong>theatergruppen<br />
für die wissenschaftliche<br />
Arbeit zu gewinnen. Hierbei ist Frau Wilde, die<br />
ausführlich über ihre Inszenierungen und das<br />
<strong>Schatten</strong>theater Wilde & Vogel Auskunft gab<br />
und Videomaterial zur Verfügung stellte, zu<br />
nennen. Auch das Theater 3 und Gisela Oberbeck<br />
unterstützten uns hierbei in einem sehr<br />
hohen Maße. Somit tragen sie in dieser Hinsicht<br />
dem direkten Austausch und der Kommunikation<br />
zwischen <strong>Schatten</strong>theaterinteressierten bei.<br />
Denn die wissenschaftlichen Diskussionen über<br />
<strong>Schatten</strong>theater und die eigene künstlerische<br />
Auseinandersetzung mit <strong>Schatten</strong>, tragen zum<br />
Fortbestand der künstlerischen Arbeit mit dem<br />
Medium <strong>Schatten</strong> bei.
Quellen<br />
Spierling, Volker: Kleine Geschichte<br />
der Philosophie. 50<br />
Portraits von der Antike<br />
bis zur Gegenwart. 7.<br />
Auflage. Piper Verlag<br />
GmbH, München 2000.<br />
ZKM: www.zkm.de/lichtkunst/<br />
Youtube: www.youtube.<br />
com (Alexander Calder,<br />
„Circus“), http://www.<br />
youtube.com/<br />
watch?v=lMnoi1-vAKU<br />
Abbildungen<br />
Abb. 1 - 5: Fotografien von<br />
Merle Christmann, teilweise<br />
nachbearbeitet bzw. verän<br />
dert.<br />
Abb. 6 - 9: ZKM Karlsruhe;<br />
Abb. 6, http://hosting.zkm.<br />
de/lichtkunst/stories/story<br />
Reader$136;<br />
Abb. 7, http://hosting.zkm.<br />
de/lichtkunst/stories/story<br />
Reader$50<br />
Abb. 8, http://hosting.zkm.<br />
de/lichtkunst/stories/story<br />
Reader$62;<br />
Abb. 9, http://hosting.zkm.<br />
de/lichtkunst/stories/story<br />
Reader$114<br />
Im gewissen Rahmen war meine Arbeit auch<br />
interaktiv gemeint, beschriftete ich doch den<br />
Diaprojektor mit der Aufschrift „Bitte Diaprojektor<br />
bedienen“. In den meisten Fällen, die ich<br />
beobachtete, war diese Empfehlung scheinbar<br />
nicht deutlich genug angebracht, denn ihr<br />
folgte kaum jemand von den anwesenden Gästen.<br />
So wird es ohne die innere Repräsentation<br />
der Summe beider Bilder natürlich schwierig<br />
gefallen sein, den Sinn der Arbeit auch nur<br />
annähernd zu erfassen, wie ich vermute.<br />
Der Aspekt des „beweglichen <strong>Schatten</strong>s“ ist<br />
meiner Meinung nach in meiner Arbeit insofern<br />
umgesetzt, dass ein Diaprojektor ja in gewissem<br />
Sinne farbige, vergrößerte <strong>Schatten</strong> seiner<br />
ebenso farbig-transparenten Minibilder, der<br />
Dias erzeugt. Die Bewegung dieses <strong>Schatten</strong>s<br />
ist natürlich nur eine symbolische, die sich<br />
in dem Bild des Seiltänzers ausdrückt, der ja<br />
eigentlich auf seinem Draht nicht stillstehen,<br />
sondern ihm bis zu seinem Ende folgen muss,<br />
um nicht zu fallen und zu „scheitern“.<br />
Insofern ist der übergeordnete Titel der Ausstellung<br />
ebenso Programm in meinem Werk: Würde<br />
sich mein <strong>Schatten</strong> nicht bewegen, wäre er<br />
quasi kein „<strong>Moving</strong> Shadow“, er würde (im Kopf<br />
des Betrachters bzw. in der inneren Repräsentation<br />
des Betrachters) fallen und nicht nur<br />
symbolisch, durch den Stillstand seines Geistes<br />
vergehen, sondern im wirklichen Sinne des<br />
Wortes körperlich fallen, sterben und so die<br />
ganze Arbeit zunichte und ebenso nichtig und<br />
unsinnig machen.<br />
89<br />
Abb. 8: Fred Erfekens: „The image As Distance<br />
Between Name and Object“, 1991<br />
Abb. 9: Rirkrit Tiravanja, „Untitled (Paul writing<br />
my name No 4)“, 2003
Katrin Danne<br />
Inhalt<br />
1. Das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
2. Das indonesische<br />
<strong>Schatten</strong>spiel<br />
3. Besonderheiten des<br />
balinesischen<br />
<strong>Schatten</strong>spiels<br />
4. Türkisches <strong>Schatten</strong>spiel:<br />
Karagösz<br />
Literatur<br />
Balinesische und türkische<br />
<strong>Schatten</strong>spiele<br />
Abbildung 1: Balinesisches <strong>Schatten</strong>spiel<br />
1. Das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
Das Licht und der <strong>Schatten</strong> faszinieren den<br />
Menschen schon von jeher. Das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
begann als die Erde entstand und das erste<br />
Sonnenlicht auf sie fiel. „Jahrmillionen lang<br />
spielt die Natur für sich allein: mit jeder Wolke,<br />
die sich vor die Sonne schiebt, mit jedem Baum,<br />
der seine Silhouette auf den Boden zeichnet[...]<br />
(Krafft, L., 1983, S.15) Der Mensch fürchtete sich<br />
zunächst vor dem <strong>Schatten</strong>. Er assoziiert das<br />
Licht mit dem Leben und den <strong>Schatten</strong> mit dem<br />
Tod. Der <strong>Schatten</strong> personifiziert die Ahnen und<br />
die Menschen haben den Wunsch noch einmal<br />
mit den Verstorbenen in Berührung zu kommen.<br />
Der <strong>Schatten</strong> wurde aus seinem physikalischen<br />
Zusammenhang herausgelöst, um in<br />
diese andere Dimension eindringen zu können.<br />
In der Darstellung dieser <strong>Schatten</strong> auf einer<br />
Leinwand können im Glauben vieler Menschen<br />
die Grenzen überwunden werden.<br />
Das <strong>Schatten</strong>spiel ist sehr alt und entwickelte<br />
sich wahrscheinlich im 2. Jahrhundert v. Chr. in<br />
China. Es gehört damit zu den ältesten dramatischen<br />
Kunstformen der asiatischen Hochkulturen.<br />
Es setzte sich mit der Zeit im asiatischen<br />
Raum durch und gelangte über Persien, Ägypten,<br />
die Türkei und Griechenland nach Westeuropa.<br />
Dort wurde es im 17. Jahrhundert unter<br />
dem Namen „Ombres Chinoises“(chinesische<br />
<strong>Schatten</strong>) bekannt. (vgl. Dunkel, 1984, S. 7). Das<br />
asiatische <strong>Schatten</strong>theater war zwar beliebt,<br />
90<br />
kam aber nie an die Volkstümlichkeit des Puppentheaters<br />
heran, da die westliche Bevölkerung<br />
eher modebedingt an „Chinesischem“<br />
interessiert waren und nicht an dem Wissen um<br />
die Herkunft des <strong>Schatten</strong>theaters.<br />
Das Grundkonzept ist in allen Ländern und<br />
Kulturen gleich: „Die flachen Figuren werden<br />
zwischen einer Leinwand und einer Lichtquelle<br />
so bewegt, dass ihr <strong>Schatten</strong> auf der dem<br />
Zuschauer zugewandten Seite des Bildschirms<br />
sichtbar wird.“ (Dunkel, 1984, S.8)<br />
Das Aussehen der einzelnen <strong>Schatten</strong>spielfiguren<br />
ist in den Ländern teilweise sehr verschieden.<br />
In Indonesien bestehen die Puppen aus<br />
Tierhäuten oder Holz und sind fein gearbeitet<br />
und bemalt. In der Türkei sind die Figuren<br />
farbig und transparent, während in Westeuropa<br />
schwarze flache Silhouetten vorherrschen.<br />
Auch die Ausprägungsformen unterscheiden<br />
sich. In China wird bspw. das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
mit Gesang unterlegt, in Indien besteht es aus<br />
einer Erzählung und in der Türkei hat sich eine<br />
Dialogform durchgesetzt. Während das <strong>Schatten</strong>theater<br />
in Thailand eine Art höfisches Theater<br />
darstellt, ist es in der Türkei eine beliebte<br />
Unterhaltung für das einfache Volk. (vgl. www.<br />
wernernekes.de)<br />
Das <strong>Schatten</strong>spiel hat neben dem kulturellen<br />
Wert, die Überlieferung alten Gedankenguts,<br />
auch einen künstlerischen Wert, der sich in<br />
der Fertigung der Figuren und der Darbietung<br />
zeigt
Abb.2: Traditionelle indonesische<br />
<strong>Schatten</strong>spielfigur<br />
2. Das indonesische <strong>Schatten</strong>spiel<br />
Die Entstehungsgeschichte des indonesischen<br />
<strong>Schatten</strong>theaters ist unklar. Wahrscheinlich<br />
schätzen schon die Ureinwohner Indonesiens<br />
das Spiel mit den Figuren. Auf javanisch bedeutet<br />
das Wort „Wayang“ so viel wie „<strong>Schatten</strong>“-<br />
<strong>Schatten</strong> im Sinne von Geistern. Das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
wurde zur Tradition, weil die Kultur<br />
Indonesiens mit dem Glauben an die Geister<br />
der Vorfahren stark verbunden ist. Diese<br />
Geister können schützend wirkend oder aber<br />
auch Unheil bringen. Mit Zeremonien in Form<br />
von <strong>Schatten</strong>spielen, wollen die Glaubensanhänger<br />
die Geister besänftigen und um Hilfe<br />
bitten. (vgl. www.ingrids-welt.de) Die Figuren,<br />
mit denen sie spielten, werden heute „Wayang<br />
Golek“ genannt. Es handelte sich noch nicht<br />
um das <strong>Schatten</strong>spiel, wie es heute bekannt ist.<br />
Die Ureinwohner hatten plastische Holzfiguren,<br />
die auf einem Stab befestigt waren.<br />
Im Laufe der Jahrhunderte wirkten viele fremde<br />
Einflüsse auf die <strong>Schatten</strong>spiele ein. Bereits vor<br />
Christi Geburt breitete sich der Hinduismus,<br />
von Indien kommend, in Indonesien aus und<br />
hatte große Auswirkungen auf die Inhalte des<br />
<strong>Schatten</strong>spiels. Die hinduistischen Epen von<br />
Mahabharata und Ramayana wurden im 11.<br />
Jahrhundert übernommen, in dem der Ort der<br />
Handlung von Indien nach Java verlegt wurde<br />
und die Berge und Flüsse ebenfalls javanische<br />
Namen bekamen. Sogar die eigenen Landesfürsten<br />
wurden als direkte Nachkommen der<br />
Helden aus dem Mahabharata angesehen.<br />
Die indonesischen Götter wurden langsam<br />
von der hinduistischen Götterwelt verdrängt.<br />
Die eigentlich fremden Götter wurden als die<br />
Eigenen angesehen, während die eigentlich indonesische<br />
Götterwelt „hinduisiert“ wurde. (vgl.<br />
Dunkel, 1984, S. 43).Das <strong>Schatten</strong>spiel diente<br />
dem Zweck der Verbreitung des hinduistischen<br />
Glaubens.<br />
Es ist nicht nachweisbar, inwieweit die Chinesen,<br />
die sich auch in Indonesien niedergelassen<br />
hatten, das <strong>Schatten</strong>spiel beeinflussten. Es<br />
ist möglich, dass die Verzierungen und Farben<br />
der Figuren in Mittel- und Ostjava, eher<br />
chinesischem Geschmack näher kommen. (vgl.<br />
Wilpert, 1980, S. 70)<br />
Ungefähr ab dem 13. Jahrhundert breitet<br />
sich der Islam in Indonesien aus. Er verbot die<br />
menschliche Darstellung von Göttern. Aber der<br />
Islam bewirkte mit dem Verbot nicht das Ende<br />
des <strong>Schatten</strong>spiels. Eine Legende besagt, dass<br />
der Herrscher im Königreich von Demak (Java),<br />
Raden Patah, die Wayangs in ihrer ursprünglichen<br />
Form sehen wollte. Da dieses durch das<br />
Verbot des Islams nicht möglich war, wurden<br />
flache Figuren aus Tierhäuten geschaffen. Anstelle<br />
der Figuren wurden nur deren <strong>Schatten</strong><br />
auf einer Leinwand gezeigt. Somit handelte es<br />
sich nicht um eine menschliche Nachahmung<br />
von Göttern, sondern nur um ein Abbild deren<br />
Charaktere. So wurde, aus der Not heraus, ein<br />
neues Repertoire erfunden: das „Wayang Ku<strong>lit</strong>“.<br />
Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine islamisch<br />
geprägte Form des Wayang Ku<strong>lit</strong>. Eine solch<br />
91<br />
starke Integration der Fremdeinflüsse in die<br />
Tradition der <strong>Schatten</strong>spiele wäre nicht möglich<br />
gewesen, wenn diese Kunstform nur als bloße<br />
Unterhaltung und Volksbelustigung gedient<br />
hätte. Stattdessen ist sie tief im Bewusstsein der<br />
Einwohner verankert. Bis heute sind Wayang<br />
Aufführungen in Indonesien mit religiösen<br />
Vorstellungen verwurzelt. (vgl. Dunkel, 1984, S.<br />
44). Das zeigt sich auch besonders darin, dass<br />
die Figuren nach ihrer Fertigstellung geweiht<br />
werden und es spezielle Rituale vor und nach<br />
dem Auftreten der Figuren auf der Bühne gibt.<br />
(vgl. Wilpert, 1980, S.70). Weiterhin werden<br />
unbrauchbar gewordene Puppen nach einer<br />
Zeremonie mit Blumen und Weihrauch in einen<br />
Fluss oder das Meer geworfen. (vgl. Wilpert,<br />
1980, S.75).<br />
Der europäische Einfluss ab dem 19. Jahrhundert<br />
prägte ebenso das <strong>Schatten</strong>spiel. Auf der<br />
einen Seite werden heutzutage die neuen<br />
Medien, wie Fernseher und Radio genutzt,<br />
andererseits werden langatmige Dialoge durch<br />
komische Einlagen erweitert oder Gesang eingefügt.<br />
(vgl. Wilpert, 1980, S.71)<br />
Eine Wayang Aufführung findet zu besonderen<br />
Anlässen statt. Zu Beginn eines neuen<br />
Lebensabschnittes, wie z.B. einer Hochzeit,<br />
Schwangerschaft, Beschneidung, Bau eines<br />
Hauses möchten die Menschen in Indonesien<br />
den Segen der Götter bzw. der Ahnen erlangen.<br />
Wenn die Finanzen es zulassen, werden<br />
besondere Ereignisse von Wayang- Spielen<br />
begleitet. Diese Aufführungen handeln dann<br />
speziell von dem gegenwärtigen Ereignis, um<br />
die größtmögliche Aufmerksamkeit der Götter<br />
zu erlangen. Neben dem Privatleben, werden<br />
die <strong>Schatten</strong>spiele auch öffentlich bei dem Bau<br />
von Tempeln, der Bitte der Dorfgemeinschaft<br />
um Regen oder bei religiösen Veranstaltungen,<br />
wie eine Leichenverbrennung, Seuchen<br />
oder Naturkatastrophen, in Verbindungen mit<br />
Zeremonien und Opfergaben, aufgeführt. (vgl.<br />
Dunkel, 1984, S. 62)<br />
Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich<br />
unterschiedliche Formen des Wayang, die sich<br />
im Aussehen der Figuren oder den Inhalten der<br />
Stücke unterscheiden.<br />
2.1 Die Figuren<br />
Die Figuren des <strong>Schatten</strong>spiels sind zwischen<br />
20 und 100 cm groß. Die Herstellung folgt<br />
nach einer genau festgelegten Reihenfolge<br />
und mit einem der Haut von zwei- oder dreijährigen<br />
Wasserbüffeln oder Rindern. Die Häute<br />
müssen völlig getrocknet und fettfrei sein, so<br />
dass sie eine Festigkeit besitzen, um die Figuren<br />
zu stabilisieren. Die javanischen Figuren<br />
werden oft als Lederpuppen bezeichnet, was<br />
jedoch nicht ganz korrekt ist, da die Häute nicht<br />
mit Gerbsäure oder Salzen behandelt werden,<br />
wie es bei der Herstellung von Leder erforderlich<br />
ist. Der Unterschied zum Leder besteht<br />
darin, dass die Haut nach der Behandlung lichtdurchlässig<br />
ist. Die Umrisse der Figuren werden<br />
mit Hilfe von Pergamentpapier und einer Nadel<br />
auf die Haut übertragen. Eine alte, unbrauch-
Abb. 3, 4: Der Dalang beim<br />
Spiellen (Quelle: www.ingridswelt.de)<br />
bare Figur dient dabei als Vorlage. Die Füße<br />
bestehen aus dickerem Leder, als der Kopf, da<br />
die Figur sonst kopflastig wird und dadurch<br />
schwerer zu führen ist. Außerdem werden die<br />
Füße bei der Vorstellung durch Kampfszenen<br />
stärker beansprucht.<br />
Die Umrisse der Figuren werden mit verschiedenen<br />
Meißeln ihn mühevoller Kleinarbeit heraus<br />
gearbeitet. Im letzten Arbeitsgang werden<br />
die Nase, der Mund und schließlich die Augen<br />
vervollkommnet und damit symbolisch mit<br />
Leben erfüllt. (vgl. Dunkel, 1984, S. 48)<br />
Die Farbwahl und der Auftrag sind fest geschrieben:<br />
Die Figur wird weiß grundiert und<br />
dann Teile wie die Haare, die Augenpartien<br />
und Teile der Kleidung geschwärzt. Anschließend<br />
folgt der Goldfärbung von Kleidung und<br />
Schmuck. Zum Schluss werden die Farben Rot,<br />
Gelb, Blau und Grün aufgebracht. Dabei ist es<br />
wichtig, dass z.B. Rot nicht an Blau, sondern<br />
an Grün grenzt und Gelb neben Blau, aber<br />
nicht neben Grün gesetzt wird. Der Farbauftrag<br />
ist auf beiden Seiten der Figur identisch<br />
und die Figur wird dadurch lichtundurchlässig.<br />
Im Anschluss werden die Arme montiert, der<br />
Stützstab eingesetzt und Führungsstäbe an den<br />
Händen befestigt. Bei allen Arbeitsschritten ist<br />
der Hersteller an bestimmte Regeln gebunden,<br />
so dass er eigene Vorstellungen nicht einbringen<br />
darf.( vgl. Dunkel, 1984, S. 49)<br />
Der Charakter einer Figur ist meist vom Körperbau<br />
und der Gesichtsform ableitbar. An<br />
Schmuck und Kleidung ist der soziale Stand<br />
erkennbar. Die Figuren sind grob in zwei Arten<br />
von Charakteren einteilbar: Die Edlen und die<br />
Gewalttätigen. Edle Charaktere besitzen eine<br />
spitze, lange Nase, während der Nasenrücken<br />
und die Stirn in einer Linie verlaufen. Die Augen<br />
sehen mandelförmig aus und der Körperbau<br />
ist schmal und zierlich. Die Haare sind<br />
ordentlich zu einem Zopf frisiert oder sie tragen<br />
92<br />
eine Krone. Schuhe und sonstige Kleidung<br />
dürfen nur Götter, Weise oder Priester tragen.<br />
Krieger hingegen haben ovale, aufgerissene<br />
Augen, eine stumpfe Nase und einen kräftigen<br />
Körperbau. Dämonen haben dicke, knollige Nasen,<br />
zwei runde Augen, scharfe Reißzähne und<br />
einen gewaltigen Körperbau. Auch die Farbe<br />
wird zeichenhaft für die Art der Charaktere eingesetzt.<br />
Heutzutage bedeutet Schwarz, Reife,<br />
Besonnenheit, Alter. Gold steht für Würde und<br />
Jugend, während Weiß Stärke symbolisiert (vgl.<br />
Dunkel, 1984, S. 52).<br />
Neben den Figuren sind für die Aufführungen<br />
noch Requisiten, wie Gegenstände des<br />
täglichen Lebens, Kutschen, heutzutage auch<br />
Fahrräder, Autos, Waffen usw. von Bedeutung.<br />
2.2 Die Aufführung und der Dalang<br />
Eine Vorstellung z.B. auf Java beginnt zu Sonnenuntergang<br />
und endet erst mit Sonnenaufgang.<br />
Der Dalang sitzt traditionell im Schneidersitz<br />
und ordnet die Figuren: Die Guten stecken<br />
auf der rechten Seiten in einem Bananenstamm,<br />
die Bösen zur linken Seite. Die Figuren<br />
stecken je nach Ranghöhe, von oben nach<br />
unten, in dem Stamm. Die Vorstellung beginnt<br />
immer mit einem Gebet und einer Opfergabe,<br />
danach beginnt nach genauer Reihenfolge<br />
die Vorstellung: von etwa 21 -0 Uhr dauert die<br />
Einführung, von 0-3 Uhr die Entwicklung der<br />
Handlung, von 3- 6 Uhr wird die Handlung<br />
aufgelöst und endet mit einer Schlacht. Der<br />
Grundgedanke jedes Stückes, basiert auf dem<br />
Kampf zwischen Gut und Böse. Die Guten siegen<br />
immer. (vgl. Dunkel, 1984, S. 60f)<br />
Der Dalang ist ein wahrer Profi. Er spielt alle<br />
Charaktere allein und haucht ihnen mit weichen<br />
Bewegungen Leben ein. Je fließender die<br />
Bewegungen sind, desto lebendiger wirkt das<br />
Spiel. Zusätzlich muss er alle Texte, sowie die<br />
dramatische Rezitation beherrschen. Er darf die<br />
Texte nicht verändern, da die Inhalte und auch
die Länge traditionell fest geschrieben sind.<br />
Ebenfalls muss ein Dalang wissen, in welcher<br />
Reihenfolge und von welcher Seite die Figuren<br />
auftreten müssen. Jede Figur hat typische Bewegungen.<br />
Nur wenn die Spaßmacher auf der<br />
Bühne erscheinen, hat der Dalang die Möglichkeit<br />
eigene Improvisation einzubringen. Dabei<br />
sollte er witzig sein und auf lokale Ereignisse<br />
anspielen, sowohl Kritik an Missständen üben<br />
(vgl. Dunkel, 1984, S. 63) Der Dalang kann bis<br />
zu sieben oder acht Figuren gleichzeitig auftreten<br />
lassen und verleiht ihnen unterschiedliche<br />
Stimmen, je nach Charakter oder Stellung.<br />
Ein Dämon spricht z.B. laut und polternd (vgl.<br />
www.ingrids-welt.de).<br />
Er untermalt die Szenen mit einer Trommel, die<br />
er mit den Füßen spielt und leitet zusätzlich<br />
noch das Gamelanorchester. (vgl. http://reisebuch.de)<br />
Jede Wayang Aufführung wird von<br />
diesem Orchester begleitet. Die Musiker sitzen<br />
hinter dem Dalang und spielen hauptsächlich<br />
auf Metallklangkörpern, xylophonartigen Instrumenten,<br />
einem Streichinstrumenten und einer<br />
großen Trommel (vgl. Dunkel, 1984, S. 66).<br />
Gamelan ist die traditionelle Musik Indonesiens<br />
und klingt für europäische Ohren fremd. Sie<br />
untermalt die Aktionen der Figuren und betont<br />
die Stimmungen. Die Figuren haben untrennbare<br />
Verbindungen mit speziellen Melodien,<br />
so dass das Publikum die Figuren im Voraus<br />
erkennen kann. (vgl. www.ingrids-welt.de)<br />
Sicht auf den Dalang und dem Gamelanorchester<br />
(Quelle: www.jorga-interactive.de).<br />
Der Beruf des Dalang wird in den meisten Fällen<br />
vom Vater vererbt. Dabei können sowohl<br />
Söhne, als auch Töchter diesen Beruf ausüben.<br />
Erst ein Priester oder Wahrsager entscheidet,<br />
ob das Kind, welches den Wunsch hat, ein<br />
Dalang zu werden, die Nachfolge des Vaters<br />
antreten darf. Das Kind durchläuft nun eine<br />
Lehrzeit beim Vater. Es gibt auch ein Dalang<br />
Ausbildung an staatliche Schulen. Diese dauert<br />
zwei bis drei Jahre und schließt mit einem Examen<br />
ab. Diese Dalang werden manchmal von<br />
der Regierung zur staatspo<strong>lit</strong>ischen Erziehung,<br />
wie. z.B. die Geburtenkontrolle, eingesetzt. (vgl.<br />
Dunkel, 1984, S. 64)<br />
3. Besonderheiten des Balinesische<br />
<strong>Schatten</strong>spiele<br />
Auf Bali wurde das <strong>Schatten</strong>spiel durch javanische<br />
Einwanderer bekannt. Die Insel konnte<br />
mehr als auf Java eine traditionelle Spielart bewahren,<br />
weil sie nie unter islamischen Einfluss<br />
geriet. Sie waren dadurch nicht gezwungen,<br />
die eigene Kultur mit der Fremden zu vereinen.<br />
(vgl. Dunkel, 1984, S. 67)<br />
Die Herstellung der Figuren ist der javanischen<br />
ähnlich. Beide Arten der Figuren sehen<br />
sich sehr ähnlich und können oft nur durch<br />
genaues hinschauen unterschieden werden:<br />
Im Gegensatz zu den javanischen Figuren, sind<br />
die balinesischen Figuren kompakter und sind<br />
in der Gesichtsform und im Körperbau weniger<br />
stilisiert. Hinzu kommt, dass einige Figuren,<br />
sog. Spaßmacher, neben den bewegten Armen<br />
93<br />
auch bewegliche Unterkiefer oder Beine besitzen.<br />
Durch einfache Zugmechanismen werden<br />
sie bewegt.<br />
Eine Wayang Vorstellung auf Bali findet<br />
unter freiem Himmel statt, beginnt kurz nach<br />
Einbruch der Dunkelheit und dauert zwischen<br />
zwei und vier Stunden. Die Stücke beinhalten<br />
immer ein traditionelles Handlungsgerüst. Auf<br />
Bali darf der Dalang die Gestaltung der Texte<br />
etwas freier interpretieren, als ein javanischer<br />
Dalang. Die ursprüngliche Sprache der Stücke<br />
ist Kawi, die auch nicht alle Balinesen verstehen.<br />
Einige „Spaßmacher“ übersetzten die<br />
Texte für das Publikum ins Balinesische. Heutzutage<br />
halten sich die Dalang aber nicht mehr<br />
ausschließlich an diese Sprachvorgabe.<br />
Auf Bali können nur die Söhne den Beruf vom<br />
Vater erlernen. Der Beruf des Dalang ist eng<br />
an die Familientradition und die Vererbung gebunden<br />
und es ist laut balinesischem Glauben<br />
nur ratsam Dalang zu werden, wenn es in der<br />
Familie schon einen Wayang-Spieler gegeben<br />
hat. „Spieler ohne Familientradition gelten als<br />
besonders anfällig für Unglück und Schicksalsschläge.“(<br />
Dunkel, 1984, S. 76)<br />
4. Türkische <strong>Schatten</strong>spiele: Karagöz<br />
Das türkische <strong>Schatten</strong>spiel ist nach seiner<br />
Hauptfigur „Karagöz“ benannt. Dieses <strong>Schatten</strong>theater<br />
ist das Pendant zum deutschen<br />
Kasperltheater und war bis zu Beginn des 20.<br />
Jahrhunderts sehr beliebt. Heutzutage wird es<br />
seltener gespielt, da die moderneren Medien<br />
dieses traditionelle Volkstheater verdrängt.<br />
Das <strong>Schatten</strong>spiel wurde möglicherweise von<br />
Zigeunern von ihren Reisen in den Fernen<br />
Osten mitgebracht. Es gibt keine Angaben über<br />
den genauen Zeitpunkt. Eine Legende besagt,<br />
dass es zur Zeit des Sultan Orhan (1326 - 1359)<br />
geschehen sein soll. Zu dieser Zeit wurde in<br />
Bursa eine Moschee gebaut. Durch zwei Arbeiter<br />
gingen die Arbeiten aber nicht vorwärts,<br />
weil sie den ganzen Tag herumalberten und<br />
Witze machten, so dass alle anderen Arbeiter<br />
ebenfalls von ihrer Tätigkeit abgehalten<br />
wurden. Den Sultan ärgerte das so sehr, dass er<br />
die beiden Arbeiter köpfen ließ. Im Nachhinein<br />
bereute er sein Urteil und war traurig. Seine<br />
Vertraute, Seyh Küsteri, baute ihm zu Trost eine<br />
<strong>Schatten</strong>bühne, auf der die beiden hingerichteten<br />
Arbeiter als <strong>Schatten</strong>figuren weiter lebten.<br />
Das <strong>Schatten</strong>spiel wird aus diesem Grunde in<br />
der Türkei auch „Seyh Küsteri meydane“ („der<br />
Platz von Seyh Küsteri“) genannt. (vgl. Bobber,<br />
1983, S. 16) Ab dem 16. Jahrhundert war das<br />
<strong>Schatten</strong>theater weit im Osmanischen Reich<br />
verbreitet. (vgl. Bobber, 1983, S. 16)<br />
Die Stücke des türkischen <strong>Schatten</strong>theaters<br />
spielen sowohl in Istanbul, als auch in den<br />
Provinzen. Im 16. Jahrhundert lebten viele<br />
verschiedene ethnische Gruppen dicht zusammen.<br />
Der Karagöz Experte Hellmuth Ritter sagt:<br />
„Diese buntgemischte Gesellschaft mußte für<br />
den spottlustigen Bewohner der Hauptstadt<br />
eine unerschöpfliche Quelle der Beheiterung<br />
sein. Es lag nahe, die verschiedenen Typen mit
Abb. 5: v. l. n. r.: Karagöz und<br />
Hacivat, Celebi, Bebe Ruhi und<br />
Zenne(Quelle: www.karagoz.<br />
net/karagoz.htm)<br />
ihren Sonderbarkeiten komisch zu nehmen,<br />
ihre Sprechweise und ihr Benehmen zum Spaß<br />
nachzuahmen [...] oder sie, leicht karikiert,<br />
in ein einfaches, dem Leben eines Istanbuler<br />
Stadtviertel entnommenes, dramatisches Geschehen<br />
verwickelt, [...] auf die <strong>Schatten</strong>bühne<br />
zu bringen. (Bobber, 1983, S. 16)<br />
Traditionell wurde das <strong>Schatten</strong>spiel bei Beschneidungsfesten<br />
und während des Fastenmonats<br />
Ramadan aufgeführt. Der Spieler, Karagödschi<br />
genannt, verfügt über ein Repertoire<br />
von 30 verschiedenen Stücken, so dass er jeden<br />
Tag des Ramadan in den Abendstunden eines<br />
aufführen kann. (vgl. www.karagoz.net)<br />
Die <strong>Schatten</strong>bühne besteht heutzutage aus<br />
einer 1x 1,60 m großen Leinwand. Dahinter<br />
befindet sich der Spieler mit seinen Figuren<br />
und einer Öllampe. Der Karagödschi drückt<br />
die transparenten Figuren an die Leinwand,<br />
wodurch auch Farben erkannt werden können<br />
Er spielt alle Charaktere alleine und verleiht<br />
ihnen unterschiedliche Stimmen. Durch das flackernde<br />
Licht der Öllampe wirken die Figuren<br />
lebensechter. Die Handhabung der Figuren ist<br />
ähnlich wie bei den Javanischen: Sie werden<br />
mit Stäben gehalten und bewegt. Das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
wird mit türkischer Musik begleitet. (vgl.<br />
www.karagoz.net)<br />
4.1 Die Hauptcharaktere<br />
Die Hauptfiguren sind die Karagöz und Hacivat<br />
(siehe Abb. 5), die auf witzige, ironische, kritische,<br />
derbe Art und mit po<strong>lit</strong>ischen Anspielungen<br />
über das Alltagsleben in ihrem Stadtviertel<br />
berichten. Zusätzlich gibt es Stücke mit festgelegtem<br />
Inhalt der islamischen Literatur oder<br />
Märchen und Sagen. Sie sind keine typischen<br />
Vertreter des türkischen Volkes oder eines Standes,<br />
sondern eher Außenseiter. Durch diese<br />
Position können sie das Alltagsleben beleuchten.<br />
Beide Hauptfiguren sind dennoch sehr verschieden.<br />
Karagöz, was auf deutsch „Schwarzauge“<br />
bedeutet, ist arbeitslos, beherrscht<br />
keinen Beruf, ist ungebildet, tölpelhaft, in jeder<br />
Hinsicht schlagfertig und benötigt immer Geld.<br />
Trotzdem ist er immer gut gelaunt und nie<br />
unterzukriegen. Um an Geld zu kommen, führt<br />
er jeden zweifelhaften und dubiosen Plan, den<br />
sein Freund Hacivat ausheckt, aus. Karagöz<br />
traut sich alles zu und ist sich für nichts zu<br />
94<br />
schade. Er überschätzt aber seine Fähigkeiten<br />
und wäre ohne seine „Bauernschläue“ verloren.<br />
Er kritisiert Autoritätspersonen und auch die<br />
einfachen Menschen, was ihn wiederum selbst<br />
zur „Zielscheibe des Gespötts“ werden lässt.<br />
(Bobber, 1983, S. 32) Durch sein provozierendes<br />
Verhalten muss er oft Prügel einstecken.<br />
Trotz alledem kommt er aus jeder Situation mit<br />
einem blauen Auge davon.<br />
Hacivat hat ebenfalls keinen festen Beruf, tritt<br />
aber als Mann mit hoher Bildung und geschliffener<br />
Sprache mit Reimen und Poesie auf. Er<br />
lässt sein Wissen immer wieder in Form von<br />
Zitaten aus Gedichten einfließen. Er könnte sich<br />
aufgrund seiner gesellschaftlichen Gewandtheit<br />
in höheren Kreisen bewegen, weshalb<br />
er auch in der Nachbarschaft angesehen ist<br />
und bei Problemen zu Rate gezogen wird. In<br />
Wirklichkeit ist die Bildung Hacivats aber nur<br />
oberflächlich. Er lässt sich, genau wir Karagöz,<br />
auf zweifelhafte Geschäfte ein. (vgl. Bobber,<br />
1983, S. 33)<br />
Karagöz und Hacivat sind sog. Freund-Feinde.<br />
Sie sind unzertrennlich, streiten sich aber<br />
trotzdem ständig. Die Auseinandersetzungen<br />
entstehen aus Missverständnissen: Karagöz<br />
kann oder will die geschwollene Sprache von<br />
Hacivat nicht verstehen. Aus Wortspielen werden<br />
sodann Wortgefechte und enden meistens<br />
in Schlägereien.<br />
4.2 Weitere Charaktere<br />
Neben Karagöz und Hacivat gibt es noch<br />
weiter Charaktere, wie weiter Typen aus der<br />
Nachbarschaft oder die Angehörigen verschiedener<br />
ethnischer Gruppen. Einige werden im<br />
Folgenden kurz vorgestellt:<br />
Çelebi, z.B. gehört zur Nachbarschaft. Er ist<br />
vermögend, europäisch-vornehm gekleidet<br />
und trägt immer eine Blume, einen Schirm oder<br />
Stock bei sich. Er ist charmant, zuvorkommend<br />
und redegewandt und hat stets Liebesaffären.<br />
Tiryaki gehört ebenfalls zur Nachbarschaft,<br />
verbringt aber sein Leben opiumrauchend<br />
und schläfrig im Kaffeehaus. Seine Sprache ist<br />
ähnlich der von Hacivat, aber er schläft häufig<br />
mitten im Gespräch ein.<br />
Bebe Ruhi ist ein Zwerg und übernimmt Gelegenheitsarbeiten.<br />
Er wirkt immer nervös und<br />
unruhig und stellt immer die gleiche Fragen, so
Literatur<br />
Bobber, H.-L.; Hirschberger,<br />
M.-L.; Kersten, R.: Türki<br />
sches <strong>Schatten</strong>theater,<br />
Karagöz - Eine Handrei<br />
chung für lustvolles<br />
Lernen; Puppen und Mas<br />
ken, Frankfurt, 1983<br />
Dunkel, Peter F.: „ <strong>Schatten</strong>figu<br />
ren, <strong>Schatten</strong>spiel: Ge<br />
schichte- Herstellung-<br />
Spiel“, DuMont- Buchver<br />
lag, Köln, 1984<br />
Krafft, Ludwig: Einleitung in<br />
„<strong>Schatten</strong>spiel aus Szet<br />
schuan“; in: Bobber, H.-L.;<br />
Hirschberger, M.-L.; Kers<br />
ten, R.: Türkisches Schat<br />
tentheater, Karagöz - Eine<br />
Handreichung für lust #<br />
volles Lernen; Puppen und<br />
Masken, Frankfurt, 1983<br />
Wilpert, Clara B.: „Zum javani<br />
schen <strong>Schatten</strong>spiel“ in:<br />
Götter und Dämonen.<br />
Handschrift mit <strong>Schatten</strong><br />
spielfiguren. Harenberg<br />
Kommunikation, Dort<br />
mund, 1980<br />
Internet<br />
http://www.wernernekes.<br />
de/S.htm<br />
http://www.ingrids-welt.de/rei<br />
se/bali/kukumu.htm<br />
http://reisebuch.de/suedosta<br />
sien/bali_die-trauminsel-<br />
2154_info_2.html<br />
http://www.karagoz.net/kara-<br />
goz.htm<br />
www.jorga-interactive.de/Reisen/java/bild7.html<br />
dass das Publikum schnell genug von ihm hat.<br />
Er ist geschwätzig und prahlerisch, hat aber<br />
einen Sprachfehler.<br />
Als Zenne werden alle Frauenfiguren bezeichnet.<br />
Sie werden geschwätzig, streitsüchtig und<br />
je nach Figur auch verführerisch und flatterhaft<br />
dargestellt. Die Zennen sind oft in Intrigen<br />
verwickelt und verursachen Skandale.<br />
Des weiteren befinden sich viele verschiedene<br />
ethnische Gruppen im Stadtteil.<br />
Zum einen wird der Kurde (Haso) dargestellt.<br />
Er kommt aus Ostanatolien, bewegt sich in einer<br />
stolzen Art, wirkt dabei aber eher dümmlich<br />
und überheblich.<br />
Der Perser (Acem) kommt aus Aserbeidschan<br />
und stellt einen reichen Kaufmann oder Geldverleiher<br />
dar. Er prahlt gerne, ist überheblich<br />
und leicht durch Scherze zu irritieren.<br />
Der Albaner (Arnavut) ist schelmisch und<br />
ungebildet und zieht schnell seine Pistole,<br />
wenn er wütend wird.<br />
Der Grieche ist entweder Schneider oder Gastwirt<br />
und wird schmeichlerisch und unaufrichtig<br />
dargestellt. Er spricht schlecht türkisch, so dass<br />
es häufig zu Missverständnissen führt.<br />
Der Franke, aus Frankreich kommend wird<br />
als Arzt oder Kauffmann dargestellt und tanzt<br />
Polka.<br />
Der Jude ist als Geldverleiher, Altwarenhändler<br />
oder Hausierer bekannt. Er ist leicht verletzlich,<br />
geizig, feige, heimtückisch und vulgär.<br />
(vgl. Bobber, 1983, S. 34 ff)<br />
4.3 Aufbau der <strong>Schatten</strong>spielstücke<br />
Die traditionellen türkischen <strong>Schatten</strong>spielstücke<br />
haben alle den gleichen Aufbau: den Prolog,<br />
den Dialog, die Haupthandlung und den<br />
Epilog. Die Teile haben inhaltlich nichts miteinander<br />
zu tun. Zu Beginn sehen die Zuschauer<br />
begleitend durch Musik ein Eröffnungsbild auf<br />
der Leinwand. Nachdem ein schriller Pfeifton<br />
ertönt, erscheint Hacivat auf der Bühne und<br />
trägt den Prolog vor. Anschließend erscheint<br />
Karagöz (immer vom Zuschauer aus gesehen<br />
rechts). Es entwickelt sich der Dialog und sie<br />
beschimpfen und prügeln sich. Im Dialog<br />
werden die unterschiedlichen Charaktere der<br />
beiden Hauptdarsteller deutlich, in dem es<br />
Missverständnisse und Wortspielereien gibt. Am<br />
Ende des Dialogs tritt Hacivat von der Bühne<br />
ab. Karagöz bleibt zurück und die Haupthandlung<br />
beginnt. Die Haupthandlung beinhaltet<br />
oft eine dramatische Reihenbildung, d.h. dass<br />
verschiedene Personen nacheinander in die<br />
gleiche Situation gelangen, so dass diese immer<br />
peinlicher und komischer wird. Eine Person,<br />
häufig der Çelebi, löst dann die Situation auf.<br />
(vgl. Bobber, 1983, S. 21)<br />
95
Natascha Krutjakova<br />
Inhalt<br />
1 Einleitung<br />
2 Das traditionelle<br />
<strong>Schatten</strong>theater in<br />
China<br />
3 Die Guangyi- Truppe<br />
4 Das Zeitgenössische<br />
<strong>Schatten</strong>theater<br />
5 Die Wende<br />
6 Die Erneuerungen<br />
Literatur<br />
Anmerkungen zum<br />
Modernen<br />
<strong>Schatten</strong>theater<br />
Abbildung 1: xx<br />
1 Einleitung<br />
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er ist mehr<br />
oder weniger auf das Leben in einer Gemeinschaft<br />
angewiesen und strebt, entsprechend<br />
seines urbiologischen „Konzeptes“, nach der<br />
Anerkennung und Akzeptanz ihrer Mitglieder.<br />
Der Mensch ist ebenfalls ein kommunikatives<br />
Wesen, er verspürt den Drang zur Selbstäußerung/<br />
Darstellung und sucht den Kontakt<br />
zur Außenwelt in der Interaktion. In einem<br />
fortlaufenden Prozess der Auseinandersetzung<br />
mit der Umwelt, gewinnt das Individuum<br />
Erkenntnisse, stößt auf Hindernisse oder<br />
offene Fragen, welche sein Verlangen nach<br />
der Fortsetzung eines solchen „Forschens“<br />
antreiben. Doch nicht zuletzt ist der Mensch<br />
auch ein „schaulustiges“ Wesen. Er will unterhalten<br />
werden, sucht nach der Befriedigung<br />
seiner Sehnsucht oder Neugierde, nach der<br />
ästhetischen Erfahrung der Welt. Einer solchen<br />
„Dua<strong>lit</strong>ät“ des menschlichen Ichs kommt vor<br />
allem die darstellende Kunst entgegen. Sie wird<br />
beiden Ansprüchen, dem der Selbstdarstellung<br />
und dem der Rezipienz, zugleich gerecht. Die<br />
96<br />
Wurzeln dieser Kunstform erstrecken sich über<br />
die ganze Menschheitsgeschichte und reichen<br />
in die tiefste Vergangenheit hinein.<br />
Das <strong>Schatten</strong>spiel zählt zu den ältesten darstellenden<br />
bzw. dramatischen Kunstformen und<br />
kommt aus dem asiatischen Raum. Über die genaue<br />
Bestimmung des „Entstehungsortes“ wird<br />
es unter den Experten noch immer gestritten.<br />
Man vermutet aber den Ursprung der <strong>Schatten</strong>kunst<br />
in China, Indien oder Indonesien,<br />
weil ihre Entwicklung in diesen Ländern fast<br />
zeitgleich ansetzte. Die ersten Schriftzeugnisse<br />
über das <strong>Schatten</strong>spiel fand man in China. Obwohl<br />
die Schriften aus dem 2. Jh. v. Chr. stammen,<br />
liegt der wirkliche Entstehungszeitpunkt<br />
dieser Kunst, darüber sind sich alle Experten<br />
einig, Jahrhunderte früher.<br />
Die „asiatische“ Spielart wird auf dem Gebiet<br />
des <strong>Schatten</strong>theaters als traditionelle Richtung<br />
bezeichnet. Sie lebt durch die Aufrechterhaltung<br />
der überlieferten Spiel- und Gestaltungstraditionen<br />
und wird in Asien bis heute,
allerdings mit einer abnehmenden Tendenz,<br />
praktiziert.<br />
Dem traditionellen <strong>Schatten</strong>theater steht eine<br />
junge und progressive Kunstrichtung, das zeitgenössische<br />
<strong>Schatten</strong>theater, gegenüber. Die<br />
Zentren dieser Kunstart liegen in Nordamerika,<br />
Europa, Japan und Australien. Im Gegensatz<br />
zum <strong>Schatten</strong>spiel der asiatischen Länder speist<br />
das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater seine Kraft<br />
aus der Weiterentwicklung und der ständigen<br />
Verbesserung von Technologien, die der technische<br />
Fortschritt mit sich bringt.<br />
2 Das Traditionelle <strong>Schatten</strong>theater in<br />
China<br />
Die chinesische <strong>Schatten</strong>kunst gehört der<br />
Kategorie des traditionellen <strong>Schatten</strong>theaters<br />
an. Ein aufgespanntes weißes Leintuch wird<br />
als zweidimensionale Spielfläche benutzt,<br />
die flachen Spielfiguren werden entlang der<br />
Rückseite des Tuches geführt. Das Licht fällt von<br />
hinten auf die Figuren und macht ihre <strong>Schatten</strong><br />
auf der dem Zuschauer zugewandten Seite des<br />
Spielschirms sichtbar.<br />
Das <strong>Schatten</strong>theater im alten China trug kultische<br />
und religiöse Züge. Die Aufführungen<br />
sollten vor allem erzieherisch wirkungsvoll<br />
sein, dienten aber auch zur Verbreitung und<br />
Festigung der Religion. Selbst in den gebildeten<br />
Kreisen und sogar am Keiserhof ließ man<br />
sich von den <strong>Schatten</strong>künstlern gerne unterhalten<br />
und schätzte ihre Arbeit hoch an. Beim<br />
einfachen Volk waren die Wandertruppen der<br />
<strong>Schatten</strong>spieler sehr beliebt und sorgten jedes<br />
mal für große Aufregung, wenn sie mit den<br />
Aufführungen in die Dörfer kamen.<br />
Die heutige Situation lässt für die <strong>Schatten</strong>spieler<br />
jedoch vieles zu wünschen übrig.<br />
Dabei wurde noch im letzten Jahrhundert die<br />
<strong>Schatten</strong>kunst Chinas von der Kommunistischen<br />
Partei stark gefördert. Man sorgte für das<br />
Interesse der Öffentlichkeit und veranstaltete<br />
Wettbewerbe mit Preisen und Auszeichnungen.<br />
Auch an finanzieller Unterstützung seitens<br />
der Partei mangelte es nicht. Doch nach und<br />
nach nahm die Förderung immer mehr ab,<br />
denn auch die Bildungsinstitutionen schienen<br />
an der volkserzieherisch betonten Kunst des<br />
<strong>Schatten</strong>spiels nicht besonders interessiert zu<br />
sein. Des Weiteren kommt die Entwicklung<br />
und Ausbreitung der Modernen Medien als<br />
erschwerender Faktor hinzu. Selbst in den<br />
Dörfern ist das Interesse an der Volkskunst fast<br />
gar nicht mehr vorhanden. Daraus resultiert<br />
ein weiteres tiefgreifendes Problem, das ein<br />
absehbares Ende dieser Praktik ankünden lässt,<br />
nämlich ein Mangel an Nachwuchsspielern.<br />
Unter Berücksichtigung der aktuellen Situation<br />
sehen die jungen Leute in der <strong>Schatten</strong>kunst<br />
keine Perspektiven mehr und entscheiden<br />
sich eher für die gewöhnlichen aber dennoch<br />
„sicheren“ Berufe.<br />
97<br />
Mit anderen Worten wird der „Zauber des<br />
<strong>Schatten</strong>theaters“ nur noch künstlich am leben<br />
erhalten. Die Wissenschaftler, Sammler und<br />
Anhänger des traditionellen <strong>Schatten</strong>theaters<br />
handeln im Bereich des beinahe unmöglichen<br />
um die <strong>Schatten</strong>kunst nicht gänzlich untergehen<br />
zu lassen, doch auch ihre Möglichkeiten<br />
sind begrenzt.<br />
3 Die Guangyi- Truppe, ein Beispiel für<br />
modernes traditionelles <strong>Schatten</strong>theater<br />
Die Guangyi- Truppe wurde im Jahr 1958 gegründet.<br />
Sie ist eine der wenigen noch aktiven<br />
Truppen im modernen China, die ihre Aufführungen<br />
gemäß der überlieferten Tradition<br />
des <strong>Schatten</strong>theaters gestaltet. Wie unzählige<br />
Generationen von <strong>Schatten</strong>künstlern vor ihnen,<br />
ziehen auch die Männer der Guangyi- Truppe<br />
von Dorf zu Dorf und bauen ihr Zelt jedes Mal<br />
aufs Neue auf, um dem Volk die alten Geschichten<br />
von Gut und Böse, Hass und Liebe<br />
oder Zweifel und Hoffnung zu erzählen.<br />
Da man schon lange von der <strong>Schatten</strong>kunst<br />
alleine nicht leben kann, haben alle Spieler, bis<br />
auf den alten Meister, noch einen zusätzlichen<br />
Beruf erlernt und sind für gewöhnlich Bauern<br />
oder dörfliche Handwerker. Dennoch hat die<br />
fünf- bis fünfzehnköpfige Truppe durchschnittlich<br />
250 Vorstellungen im Jahr und ist auch hinter<br />
der Landesgrenze nicht unbekannt. Man<br />
pflegt Kontakte mit den Ländern, wie Amerika,<br />
Japan oder Frankreich und veranstaltet Tourneen<br />
nicht nur in den Nachbarländern sondern<br />
auch im Mitteleuropa.<br />
4 Der Aufführungsstil<br />
Das Erste, was Einem in den Sinn kommt,<br />
wenn man an <strong>Schatten</strong>theater denkt, ist mit<br />
großer Wahrscheinlichkeit der rechteckige helle<br />
<strong>Schatten</strong>schirm, der, von hinten beleuchtet, als<br />
ein magisches Tor in die „Märchenwelt“ dem<br />
Zuschauer gegenübersteht, oder die dunklen<br />
Silhouetten der Figuren, die durch geschickte<br />
Hand des Spielers zum Leben erweckt werden.<br />
Der Schirm, die Figur und der Spieler gehören<br />
zu den wichtigsten Bestandteilen einer jeden<br />
<strong>Schatten</strong>theateraufführung. Doch das ausschlaggebende<br />
Element in der traditionellen<br />
<strong>Schatten</strong>kunst ist die Musik und der Gesang.<br />
Nicht umsonst wurden die einzelnen Stilrichtungen<br />
des <strong>Schatten</strong>spiels nach der Art des<br />
Gesangs und der rhythmischen Struktur der<br />
Aufführungen unterschieden.<br />
Geht man nach einer solchen Klassifizierung<br />
vor, so gehört die Guangyi- Truppe, ihrer Spielart<br />
nach, dem „WANWAN- Stil“ an. „Wan“ ist die<br />
chinesische Bezeichnung für eine dickwandige<br />
kurze Glocke. Bei vielen Aufführungen wird<br />
dieses Instrument zum angeben des Taktes für<br />
die Musiker benutzt und ist somit die entscheidende<br />
„Stimme“ im Spielprozess. Die übergeordnete<br />
Stellung dieses Spielelementes
wird anhand der Benennung des Stils (WAN-<br />
WAN- Stil) verdeutlicht.<br />
In der Spielhütte<br />
Die Guangyi- Truppe führt ihre Stücke in einem<br />
selbsterrichteten Zelt, der Spielhütte, vor. Diese<br />
wird aus Ästen und Stoffstücken auf einem<br />
freien Platz im Dorf aufgebaut. In einer dunklen<br />
Ecke der Spielhütte bringt man den Spielschirm<br />
und die Abschirmung für die Spieler und Musiker<br />
an.<br />
Die Lichtquelle wird ebenfalls hinter dem<br />
Spielschirm angebracht. Früher leuchtete man<br />
mit einer Öllampe, heute wird aus Bequemlichkeitsgründen<br />
eher die Glühlampe zur<br />
Lichterzeugung eingesetzt. Eine Möglichkeit<br />
des gänzlichen Verzichtes auf die künstliche Beleuchtung<br />
bietet das Spiel beim Sonnenlicht an.<br />
Dabei wird die hintere Abdeckung des Zeltes<br />
abgebaut, sodass das Sonnenlicht ungehindert<br />
auf die Schirmfläche fallen kann und sie somit<br />
von hinten beleuchtet. Auf Grund der schwachen<br />
Lichtintensität muss der Spieler, damit die<br />
Konturschärfe erhalten bleibt, seine Figuren<br />
sehr dicht an die Schirmfläche drücken.<br />
Hinter dem Spielschirm herrscht eine strenge<br />
Ordnung. Jedem Mitwirkenden ist ein fester<br />
Platz innerhalb der Abschirmung zugeteilt. So<br />
sitzt der Figurenspieler unmittelbar hinter dem<br />
Spielschirm im vorderen Bereich des Raumes.<br />
Dem Sänger ist der Platz links von dem Figurenspieler<br />
zugeteilt. Der Wangspieler und die Musiker<br />
sind in der Mitte des Raumes angesiedelt.<br />
Eine solche Anordnung der einzelnen Truppenmitglieder<br />
ist, im Bezug auf die besondere<br />
Art des Interagierens während der Vorstellung,<br />
sehr sinnvoll. So hat der Sänger beispielsweise<br />
von seinem Platz aus einen guten Ausblick auf<br />
den Spielschirm und die Figuren, was ihm die<br />
Aufgabe, nämlich für alle Charaktere zu sprechen<br />
und zu singen, enorm erleichtert.<br />
Das Spiel an sich bzw. die Gestaltung der<br />
Vorstellungen ist hingegen durch keinerlei<br />
Vorgaben erschwert. So können sowohl die<br />
Bewegungen der Figuren, als auch ihre Dialoge<br />
von Aufführung zu Aufführung variieren,<br />
ohne sich jedoch zu weit von dem ursprünglichen<br />
Konzept zu entfernen. Die Funktion der<br />
einzelnen Gruppenmitglieder unterlieg keiner<br />
Hierarchie, man kann also nicht sagen ob der<br />
Spieler oder der Sänger über die Gestaltung der<br />
einzelnen Szenen entscheidet. Die Performance<br />
ist viel mehr eine Improvisation, ein Spiel mit<br />
offenem Ende.<br />
Das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater<br />
Das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater ist, im<br />
Vergleich zum Traditionellen, eine sehr junge<br />
Spielform, die man erst vor wenigen Jahren in<br />
der Fülle der anderen Formen des Puppentheaters<br />
„wiederentdeckte“. Vor dieser Zeit schien<br />
die <strong>Schatten</strong>kunst „in sich zu ruhen“ und war,<br />
seitdem sie im 18. Jh. aus den asiatischen Ursprungsländern<br />
nach Europa gebracht wurde,<br />
immer mehr in Vergessenheit geraten.<br />
98<br />
Der Erklärungsgrund für ein mangelndes Interesse<br />
des europäischen Publikums gegenüber<br />
dem <strong>Schatten</strong>theater ist möglicherweise in dessen<br />
Weltanschauung und Lebensphilosophie<br />
begründet. Spätestens seit der Aufklärung und<br />
der Säkularisation nahm das Leben des Europäers<br />
und seine Denkweise eine ganz bestimmte<br />
Richtung an, von der man bis in die heutige<br />
Zeit nicht abgekommen zu sein scheint. Das<br />
Leben hierzulande ist einseitig geprägt durch<br />
die Vernunft, den Intellekt, die Ratio. „Ich denke,<br />
also bin ich.“ , sagte Descartes, seine Worte<br />
zählen immer noch zu den unausgesprochenen<br />
Wahrheiten des westlichen Menschen. Außerdem<br />
konnte er mit der Unkörperlichkeit des<br />
<strong>Schatten</strong>s und seiner Stellung zwischen Traum<br />
und Wirklichkeit nur wenig anfangen und entschied<br />
sich für eine „handfestere“ dreidimensionale<br />
Variante- die Handpuppe/ Marionette. Der<br />
fernöstliche Mensch hingegen hat eine ganz<br />
andere Auffassung, welche ihm erlaubt bzw.<br />
nahe legt, die Traumwelt, das Spirituelle und<br />
die Wirklichkeit ebenwürdig zu behandeln.<br />
Das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater sieht die<br />
Erfüllung seines Zweckes in der Unterhaltung<br />
des Zuschauers. Die Aufführungen der europäischen<br />
<strong>Schatten</strong>künstler ermöglichen eine<br />
spektakuläre visuelle Erfahrung. Sie gleichen<br />
mehr dem dramatischen Theater, als dem nur<br />
auf das Nötigste reduzierten traditionellen<br />
<strong>Schatten</strong>theater.<br />
Trotz seiner noch nicht allzu langen Existenz,<br />
brachte das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater<br />
drei unterschiedliche Spielformen hervor,<br />
indem es von der Figur immer weiter abstrahierte.<br />
Beim Figurenschattentheater handelt es sich<br />
um die Spielform, die in ihrer Grundkonzeption<br />
unverändert aus der asiatischen Kultur übernommen<br />
wurde. Dabei sind die flachen zweidimensionalen<br />
Figuren die „Hauptakteure“.<br />
Sie werden von einem oder mehreren Spielern<br />
bewegt.<br />
Beim Handschattentheater werden die Figuren<br />
durch die Hand des Spielers ersetzt. So kann<br />
man, je nach Verschluss der Finger bzw. der<br />
Hände, unterschiedliche <strong>Schatten</strong>gestalter<br />
hervorbringen, die man bewegen und miteinander<br />
agieren lassen kann.<br />
Beim Menschenschattentheater tritt der Spieler<br />
selbst als <strong>Schatten</strong>figur hinter den Schirm. Diese<br />
Spielform ist mehr oder weniger eine Symbiose<br />
zwischen dem <strong>Schatten</strong>- und dem dramatischen<br />
Theater.<br />
Die Entwicklung des zeitgenössischen <strong>Schatten</strong>theaters<br />
setzte erst in den 70er Jahren ein.<br />
Vor dieser Zeit spielte man in Europa, bis auf<br />
wenige ausnahmen wie das „Theatre Seraphin“<br />
(1770) und „Cabaret de Chat Noir“ (1887) in<br />
Frankreich, oder im 20. Jh. das Schwabinger<br />
<strong>Schatten</strong>theater, Otto Kraemer und Lotte Reiniger<br />
in Deutschland, Jan Malik in Prag, Franz
ter Gast in Niederlanden, nach der asiatischen<br />
Tradition. Die aus Pappe ausgeschnittenen<br />
Figuren bewegten sich hinter einem rechteckigen<br />
<strong>Schatten</strong>schirm inmitten der naturalistisch<br />
gestalteten Pappkulissen, mit der einzigen<br />
Aufgabe eine Geschichte zu illustrieren.<br />
Die Wende<br />
Die große Wende kam mit dem technischen<br />
Fortschritt. Im Jahr 1958 wurde in den USA<br />
eine Lampe entwickelt, die ein punktförmiges<br />
Licht aussendete. Diese Halogenlampe<br />
(Niedervoltlampe) gab den entscheidenden<br />
Impuls für die Entwicklung der zeitgenössischern<br />
<strong>Schatten</strong>kunst. In den 70er Jahren fing<br />
man in unterschiedlichen Ländern Europas<br />
an, mit der Halogenlampe zu experimentieren<br />
und sie auf ihre Tauglichkeit für das <strong>Schatten</strong>theater<br />
zu prüfen. Besonders produktiv auf<br />
diesem Gebiet waren: der Physiker Dr. Rudolf<br />
Stössel (Schweiz), Luc Amoros (Frankreich) und<br />
Fabrizio Montecchi (Italien). Ihre von einander<br />
unabhängige Forschung ergab folgende Ergebnisse<br />
bzw. brachte folgende Erneuerungen<br />
für das <strong>Schatten</strong>spiel:<br />
1. Das punktförmige Licht der Halogenlampe<br />
hob die Notwendigkeit des Spielens an der<br />
unmittelbaren Oberfläche des Spielschirms<br />
auf. Die Figur konnte also im Bereich hinter<br />
dem Schirm frei bewegt werden ohne dass sie<br />
an der Konturschärfe verlor. Zu den Vorteilen<br />
eines solchen räumlichen Agierens kam noch<br />
ein zusätzlicher Effekt hinzu. Durch die Leuchteigenschaften<br />
der Halogenlampe war man<br />
imstande die Größe der Figuren zu verändern,<br />
indem man ihren Abstand zu der Lichtquelle<br />
verkürzte oder verlängerte. In diesem Zusammenhang<br />
konnte eine und dieselbe Figur ins<br />
Übernatürliche anwachsen oder schrumpfen.<br />
2. Die Weiterentwicklung der Halogenlampe<br />
brachte zusätzliche Möglichkeiten mit sich, eine<br />
bewegliche Halogen- Handlampe erlaubte<br />
unter anderem, nicht nur die Größe, sondern<br />
auch die Gestalt des <strong>Schatten</strong>s während der<br />
Performance zu verändern.<br />
3. Doch das Revolutionäre, was die Arbeit mit<br />
der Halogenlampe mit sich brachte, war die<br />
Aufhebung der Zweidimensiona<strong>lit</strong>ät. Durch die<br />
Möglichkeit eines räumlichen Spielens gewann<br />
die <strong>Schatten</strong>kunst an Dynamik und Ausdruck.<br />
Die Erneurungen: Der <strong>Schatten</strong>schirm<br />
Die Experimentierfreude der <strong>Schatten</strong>künstler<br />
schien seit den 70er Jahren vor Nichts mehr<br />
Halt machen zu wollen. Man versuchte jedes<br />
einzelne Element auf den Kopf zu stellen, zu<br />
erweitern, umzudenken.<br />
Der rechteckige symmetrische Spielschirm<br />
wirkte nun zu „öde“ und entsprach nicht mehr<br />
den Anforderungen der neuen Kunst. Also sah<br />
man sich nach anderen Formen um und erfand<br />
dreieckige, trapezförmige, ovale oder halbkreisförmige<br />
Spielschirme. Es wurden unter anderem<br />
auch bewegliche Schirme eingesetzt. Man<br />
spielte auf Schirmen, die während der Auffüh-<br />
99<br />
rung in ihrer Gestalt verändert werden konnten.<br />
Doch nicht nur die Form, auch die Größe<br />
stellte für die Künstler eine Herausforderung<br />
dar. Japanische <strong>Schatten</strong>theater verwendeten<br />
5x10m große Schirme (Kageboushi/ Japan),<br />
anderswo spielte man auf winzig kleinen.<br />
Der entscheidende Schritt in der Entwicklung<br />
der <strong>Schatten</strong>kunst war aber die „Hinwendung“<br />
zum Publikum. Man erkannte, dass der Spielschirm<br />
eine „unüberwindbare Barriere“ in der<br />
Kommunikation zwischen dem Spieler und<br />
dem Zuschauer darstellte. Die naheliegende<br />
Lösung für dieses Problem war die Umkehrung<br />
des Spiels bzw. seine „Öffnung“ gegenüber<br />
dem Rezipienten. Auch in diesem Bereich war<br />
das Engagement der Künstler sehr groß und<br />
die Ergebnisse unkonventionell und kreativ.<br />
Im Teatro Gioco Vita (Italien), ähnlich wie im<br />
Bamberger <strong>Schatten</strong>theater (Deutschland),<br />
verzichtete man gänzlich auf die Abschirmung<br />
und verlagerte das Spiel auf die dem Zuschauer<br />
zugewandte Seite. Eine solche extreme Veränderung<br />
der Betrachtungsperspektive sprengte<br />
die Grenzen des Bisherigen und brachte viele<br />
neue Aspekte mit sich. Eine weitere Möglichkeit<br />
der Perspektivenerweiterung wurde von den<br />
Künstler des Dorftheaters Siemitz (Deutschland)<br />
entwickelt, sie projizierten nicht nur den <strong>Schatten</strong><br />
der agierenden Figur, sondern auch den<br />
des Figurenspielers, an die Wand. Im Teatre<br />
Tenj (Russland) ging man sogar soweit, dass<br />
man den Figurenspieler selbst als <strong>Schatten</strong>gestalt<br />
auf die Bühne schickte. In der Performance<br />
fügte man die Elemente des <strong>Schatten</strong>- und des<br />
dramatischen Theaters geschickt an einander<br />
und ließ die Schauspieler sowohl vor- als<br />
auch hinter dem Schirm auftreten. Doch am<br />
deutlichsten äußerte der Schweizer Künstler<br />
Hansueli Trüb seine Meinung zu diesem<br />
Thema, indem er am Ende seiner Vorstellung<br />
„<strong>Schatten</strong>risse“ sein <strong>Schatten</strong>schirm zerriss und<br />
auf diese Weise dem überraschten Publikum<br />
entgegentritt<br />
.<br />
Die Figur<br />
Die Figur erlebte im Zuge der Erneuerung<br />
ebenfalls zahlreiche Veränderungen. Die Gestaltung<br />
ihres Äußeren entsprach schon lange<br />
nicht mehr den Kriterien des Naturalismus und<br />
übernahm immer mehr die in der Bildenden<br />
Kunst dominierenden Formen. Des Weiteren<br />
testete man alle möglichen Materialien auf ihre<br />
Tauglichkeit für die Figurenherstellung aus. Die<br />
Künstler arbeiteten mit Zeitung, Karton, Holz,<br />
Blech, Textilien und Kunststoffen aller Art mit<br />
der Absicht, die Beweglichkeit der Figuren zu<br />
verbessern<br />
.<br />
Das Licht<br />
Obwohl das Einbeziehen der Halogenlampe<br />
als Lichtquelle eine Entscheidende Rolle in der<br />
Entwicklung des zeitgenössischen <strong>Schatten</strong>theaters<br />
spielte, sah man sich auch nach anderen<br />
Möglichkeiten für die Beleuchtung um. Von<br />
den natürlichen Lichtquellen wie Sonne, Mond<br />
oder offenes Feuer, ausgehend, „kämpfte“ man
Literatur<br />
Rainer Reusch<br />
http://www. <strong>Schatten</strong><br />
theater. de/files/deutsch/<br />
Aktivitäten/files/weitere/<br />
zeit. html<br />
Luise Thomae,<br />
chinesisches <strong>Schatten</strong>theater,<br />
die guangyi- Truppe,<br />
Handbroschüre<br />
Luise Thomae,<br />
chinesisches <strong>Schatten</strong>theater,<br />
die Guangyi- Truppe,<br />
Videomaterial<br />
sich durch das gesamte Angebot an Lichttechnik<br />
durch und experimentierte mit Dia- und<br />
Filmprojektoren, Overheadprojektoren, Schein<br />
werfern und Taschenlampen.<br />
Eine besondere Rolle in der Entwicklung des<br />
<strong>Schatten</strong>theaters spielte ebenfalls die Symbiose<br />
mit den anderen Kunstformen. Die <strong>Schatten</strong>künstler<br />
orientierten sich nicht nur an anderen<br />
Künsten, sondern arbeiteten zum Teil Bereichsübergreifend.<br />
Alles, vom Film über Oper,<br />
Schauspiel, Pantomime, Bildender Kunst bis hin<br />
zur Musik und dem Tanz, erfuhr die „Durchdringung“<br />
der <strong>Schatten</strong>kunst.<br />
Fazit<br />
Zusammenfassend kann man sagen, dass die<br />
zeitgenössische <strong>Schatten</strong>kunst über die Jahre<br />
hinweg sich zu einer vollwertigen Kunstrichtung<br />
ausbildete. Diese Entwicklung ist ein<br />
Ergebnis von engagierter Arbeit vieler Künstler,<br />
die eine neue „europäische“ Form des <strong>Schatten</strong>theaters<br />
konzipieren wollten. Sie erkannten<br />
frühzeitig das große Potenzial der <strong>Schatten</strong>figur<br />
und erweiterten es mit den Mitteln, die ihnen<br />
die moderne Technik und Kunst zur Verfügung<br />
stellten. Auf Grund ihrer Unkörperlichkeit,<br />
scheint die <strong>Schatten</strong>figur etwas Magisches und<br />
Geheimnisvolles auszustrahlen. Sie wirkt gegenständlich<br />
und ist doch eine Projektion. Sie<br />
Trägt etwas Ursprüngliches und Mystisches in<br />
sich und steht irgendwo zwischen der Rea<strong>lit</strong>ät<br />
und dem Jenseits. Diese Eigenschaften unterscheiden<br />
die <strong>Schatten</strong>figur von den anderen<br />
Figurenarten und machen sie sehr spannend<br />
und vielschichtig. Die Entwicklung des zeitgenössischen<br />
<strong>Schatten</strong>theaters war eine Bereicherung<br />
sowohl für die <strong>Schatten</strong>kunst, als auch<br />
für die europäische Kunst im Allgemeinen. Ihr<br />
Einfluss auf andere Kunstbereiche darf nicht<br />
unterschätzt werden<br />
100
Filmschatten<br />
101
Alexandra Lücke<br />
Christina Nur<br />
Inhalt<br />
1. Ausstellungspräsentation<br />
2. Ausgangspunkt/<br />
Überlegungen<br />
3. Der Film<br />
4. Quellen<br />
Abb. 2 und 3 - Videoinstallation<br />
„Shades of Emotions“<br />
„Shades of Emotions“<br />
1-Kanal-Video, Stereo<br />
Abbildung 1: Michael Jackson, „You rock my world“ (2001), filmstill<br />
1. Ausstellungspräsentation<br />
Die Installation „Shades of Emotions“ wurde<br />
in einem Kellergewölbe präsentiert. Direkt am<br />
Durchgangsflur der Ausstellungsräume befand<br />
sich ein schwarzes ca.110 cm hohes Podest auf<br />
dem ein großer Fernseher platziert war, so dass<br />
der Fernsehbildschirm etwa in Augenhöhe zu<br />
betrachten war. Über einen DVD-Player wurde<br />
die Filmmontage „Shades of Emotions“ als Endlosschleife<br />
abgespielt. Mit einer Dauer von ca.<br />
6 Minuten war es dem „geneigten Besucher“<br />
möglich, den Film in seiner ganzen Länge zu<br />
betrachten. Die Musik des Films lenkte die Aufmerksamkeit<br />
des Betrachters unweigerlich auf<br />
sich, da der Ton bereits vernehmbar war, bevor<br />
man als Betrachter direkt vor der Installation<br />
stand (vgl. Abb. 2 und 3).<br />
2. Ausgangspunkt und Überlegungen<br />
Die Idee zu „Shades of Emotions“ entstand im<br />
Seminar „<strong>Moving</strong> Shadows“. Es wurde sich auf<br />
die Suche nach verschiedenen Möglichkeiten<br />
der Darstellungen und Bedeutungsebenen<br />
von <strong>Schatten</strong> in Filmen gemacht... Wo und wie<br />
lassen sich <strong>Schatten</strong> im Film finden? Aufgrund<br />
welcher Motivation und Stimmungserzeugung<br />
werden sie eingesetzt?<br />
Sinn und Ziel der Arbeit war es nicht, eigenes<br />
102<br />
Filmmaterial zu drehen, sondern mit bereits<br />
vorhandenen Filmszenen zu arbeiten. Die<br />
<strong>Schatten</strong>szenen die eine gewisse Relevanz für<br />
das Projekt zu haben schienen, wurden aus unterschiedlichen<br />
Filmen zusammengeschnitten,<br />
damit abstrahiert und in einen neuen Kontext<br />
gestellt.<br />
Der neue Film sollte aus einer Mischung von<br />
klassischem Film Noir über Scherenschnitt/<br />
Silhouetten- Film bis hinzu Musikvideos und<br />
Computerspielsequenzen entstehen. Durch die<br />
Materialrecherche entstand eine stark assoziative<br />
Arbeitsweise. Erst durch das Sammeln von<br />
unterschiedlichen <strong>Schatten</strong>bildern, war es möglich<br />
verschiedene Stimmungen die <strong>Schatten</strong> in<br />
Film übertragen können, herauszukristallisieren.<br />
3. Der Film<br />
Der <strong>fertige</strong> Film lässt sich in mehrere Themenbereiche<br />
unterteilen. Diese vermitteln<br />
verschiedenste Emotionen und beweisen, dass<br />
<strong>Schatten</strong> im Film mehrdeutige Wirkungen<br />
haben können. Dem Vorurteil, <strong>Schatten</strong> seien<br />
ausschließlich negativ konnotiert, wird in dieser<br />
Arbeit widersprochen. Denn es ist ebenso<br />
möglich mit <strong>Schatten</strong> positive Gefühle auszudrücken.
Abb. 4 - Standbild aus „The<br />
man who wasn’t there“, 2002<br />
Abb. 5 - Standbild aus „Casablanca“,<br />
1999<br />
Abb. 6 - Standbild aus „Der Vogelfänger“<br />
Lotte Reiniger, 1935<br />
Abb. 7 - Standbild aus: „<br />
Smooth criminal“, Michael<br />
Jackson, 1988<br />
3.1 Melancholie<br />
Der erste Teil ist in seiner Stimmung sehr<br />
melancholisch und atmosphärisch. Hier sind<br />
in verschiedenen Bildern einzelne Menschen<br />
zu sehen, die allein zu sein scheinen. Der erste<br />
Teil des Films ist vollständig in Schwarz/Weiß<br />
gehalten, was die Melancholie unterstreicht.<br />
Die Kombination aus real gedrehten Szenen<br />
und damit realen <strong>Schatten</strong> und aus künstlich<br />
hergestellten Scherenschnitten geben einen<br />
surrealen Anschein der eine starke Spannung<br />
entstehen lässt. Diese Spannung wird noch<br />
durch die Musik unterstützt, welche nicht fortlaufend<br />
ist und so bewusst irritiert. Durch diese<br />
Irritation wird die surreale Ebene unterstützt.<br />
Der Einstieg in den Film beginnt mit einem<br />
ausdrucksstarken Bild, welches durch seine<br />
starken Kontraste und seine Gradlinigkeit sehr<br />
atmosphärisch wirkt (vgl. Abb. 4).<br />
Außerdem entsteht der Eindruck <strong>Schatten</strong><br />
würden eine Autonomie besitzen, da sie ohne<br />
den dazugehörigen Menschen gezeigt werden.<br />
Und demnach eigenständig existieren können<br />
(vgl. Abb. 5).<br />
Ein Bruch in der Ästhetik wird durch eine künstliche<br />
Silhouettenfigur hervorgerufen. Diese<br />
Figur wirft keinen <strong>Schatten</strong>, sondern sie ist ein<br />
Scherenschnitt und durchweg schwarz. Als<br />
Scherenschnitt besitzt sie ein Eigenleben (vgl.<br />
Abb.6)<br />
3.2 Die Verfolgung<br />
Die Stimmung im zweiten Teil des Films ist<br />
überwiegend bedrohlich und düster. Die<br />
Thematik dieses Abschnitts ist die Verfolgung.<br />
Mittlerweile ist hier Farbe zu finden. Das dunkle<br />
Blau und die gedeckten Farben unterstreichen<br />
die unheimliche Stimmung. Im Vergleich zum<br />
ersten Teil sind die Schnitte deutlich schneller<br />
und dadurch spannungsgeladener. Hier wird<br />
das bekannte Bild, <strong>Schatten</strong> seien unheimlich<br />
und bedrohlich, unterstützt. Denn auch hier<br />
huschen <strong>Schatten</strong> vorbei und der Zuschauer<br />
spürt die Gefahr. Diese Stimmung wird stark<br />
durch die Musik (Massive Attack „Butterfly<br />
Caught“) unterstützt. (vgl. Abb.7)<br />
Der Kontrast im zweiten Teil kommt dadurch<br />
zustande, dass bei den Ausschnitten auf denen<br />
reale Menschen zu sehen sind die Bedrohung<br />
nicht sichtbar wird, sondern nur in der Luft<br />
liegt. Im Gegensatz dazu sieht man bei den<br />
Scherenschnittbildern eine konkrete bedrohliche<br />
Handlung (vgl. Abb.8)<br />
3.3 Der Kampf<br />
Mit Fortlaufen des Films steigt die Dynamik.<br />
Denn die im vorherigen Teil thematisierte Gefahr<br />
findet hier ihren Höhepunkt. Kampfszenen<br />
dominieren diesen Abschnitt. An diesem Punkt<br />
wird deutlich, dass <strong>Schatten</strong> die Bedeutung des<br />
Bösen zugeschrieben werden. In einer Einstellung<br />
sind ausschließlich Silhouetten von Kämpfenden<br />
erkennbar, wodurch eine Anonymität<br />
entsteht. Zwar sind die Szenen sehr brutal,<br />
jedoch ist aufgrund des Gegenlichtes nur zu<br />
erahnen welches Ausmaß die Bruta<strong>lit</strong>ät erreicht<br />
103<br />
Abb. 8 - Standbild aus „ Carmen“, Lotte Reiniger,<br />
1933 )<br />
hat. Diese Leerstellen kann der Rezipient im<br />
Kopf ergänzen (vgl. Abb. 9).<br />
Als Kontrast dazu stehen Szenen die aus einem<br />
Computerspiel herausgeschnitten wurden.<br />
Hier wird ein <strong>Schatten</strong>wesen aus der Unterwelt<br />
dargestellt, welches das Böse verkörpert (vgl.<br />
Abb. 10).<br />
Abb. 9 - Standbild aus „ Kill Bill“ , 2004<br />
3.4 Begegnungen<br />
Den zwischenmenschlichen Begegnungen<br />
widmet sich dieser Abschnitt. Im Vergleich<br />
zu dem vorangegangen Film wird dem<br />
<strong>Schatten</strong> hier auch eine positive Bedeutung<br />
zugeschrieben. Hier wechseln sich Szenen mit<br />
realen Menschen und mit Scherenschnitten<br />
Abb.10 - Standbild aus „ Ico“, 2001
Abb.11 - Standbild aus „ Zehn Minuten Mozart“,<br />
1930<br />
104<br />
Abb.12 - Standbild aus „Der Vogelfänger“, 1935<br />
Abb.13 und Abb.14 - Standbilder aus „ The way you make feel“, Michael Jackson, 1987<br />
Abb.15 - Standbild aus „ Carmen“ , 1933<br />
Abb.16 - Standbild aus „ Rebecca“, 1940<br />
ab. Verschiedene Pärchen werden vorgestellt<br />
und ihre Einzigartigkeit herausgestellt. Bei den<br />
Scherenschnitten erlangt der <strong>Schatten</strong> beziehungsweise<br />
die Silhouette durch die detaillierte<br />
Ausgestaltung der Figuren eine verniedlichende<br />
Wirkung (vgl. Abb. 11 und 12).<br />
Sehr schön wird mit den <strong>Schatten</strong> gespielt,<br />
wenn erst der Unterschied der männlichen und<br />
weiblichen Silhouette hervorgehoben wird, um<br />
dann beide zu einer verschmelzen zu lassen<br />
(vgl. Abb. 13 und 14)<br />
Auch wird die dunkle Seite der zwischenmenschlichen<br />
Beziehungen thematisiert. (vgl.<br />
Abb. 15)<br />
In einigen Bildern ist gut zu sehen, was für eine<br />
Wirkung ein <strong>Schatten</strong> im Gesicht erzielen kann.<br />
Die einzelnen Fältchen und Konturen kommen<br />
bei einem solchen <strong>Schatten</strong>spiel sehr schön<br />
zum Vorschein und unterstützen den unheimlichen<br />
Gesichtsausdruck (Abb. 16)<br />
3.5 Tanz<br />
Seinen lebhaften Abschluss findet der Film in<br />
einer ungewöhnlichen Tanzkombination, Ähnlich<br />
wie im vorangegangenen Teil wechseln<br />
sich auch hier Scherenschnitte und reale Personen<br />
ab. Die Schnittgeschwindigkeit nimmt am<br />
Ende des Films wieder deutlich zu und gleicht<br />
sich dem Rhythmus der Musik an. Zu Beginn<br />
der Tanzszenerie gehören Bild- und Tonebene<br />
noch untrennbar zusammen, während gegen
Quellen<br />
Filme / DVDs<br />
„ The man who wasn’t there“ ,<br />
Regie: Joel Coen, 2002<br />
„ Die Unberührbare“ Regie:<br />
Oskar Roehler, 2000<br />
„ Casablanca“ Regie: Michael<br />
Curtiz, 1999 copyright 1943<br />
„ Papageno. Der muntere<br />
Vogelfänger aus Mozarts<br />
„Zauberflöte“ Regie: Lotte<br />
Reininger ( Silhouetten-<br />
Animationsfilm), 1935, Mu<br />
sik: W.A.Mozart<br />
„ The big sleep“ Regie: Howard<br />
Hawks, 1946<br />
„Der Schatz der Sierra Madre“<br />
John Huston 1948<br />
„Rebecca“ Alfred Hitchcock<br />
1940<br />
„ In the mood for love“ Regie:<br />
Wong-Kar-Wai, 2001<br />
„ Sleepy Hollow“ Regie: Tim<br />
Burton, 2000<br />
„ Kill Bill“ Regie: Quentin Taren<br />
tino, 2004<br />
„ Carmen“ Regie: Lotte Reinin<br />
ger, 1933<br />
„ Zehn Minuten Mozart“ Regie:<br />
Lotte Reininger, 1930<br />
„ Michael Jackson Number<br />
Ones“ Executive Producer:<br />
Michael Jackson, John<br />
McClain; Verwendete Musik<br />
videos:<br />
„ Rock with you“ ( Regie: Bruce<br />
Gowers, 1979 )<br />
„ The way you make me feel“<br />
( Regie: Joe Pytka, 1987 )<br />
„ Smooth criminal“ ( Regie:<br />
Colin Chilvers, 1988 )<br />
„ Dirty diana“ ( Regie: Joe Pyt<br />
ka, 1988 )<br />
„ You rock my world“ ( Regie:<br />
Paul Hunter, 2001 )<br />
„ Ico“ 2001, Sony Computer<br />
Entertainment Europe<br />
Musik<br />
„ Only you“ Interpret: Richard<br />
Clayderman; CD „ Richard<br />
Clayderman – The Collec<br />
tion“, 1997<br />
„ Butterfly Caught“ Massive<br />
Attack Collected Album<br />
2006<br />
Aus den oben genannten<br />
Filmen verwendete Musik<br />
“Faithless“<br />
Ende ein Bruch hervorgerufen wird. Hier wird<br />
ein unerwartetes Stilmittel eingesetzt, denn<br />
die Tonebenen sind vertauscht. Und erzeugen<br />
dadurch eine gewisse Irritation (vgl. Abb. 17 bis<br />
20).<br />
105<br />
Abb.17 - Standbild aus „ You rock my world“,<br />
Michael Jackson, 2001<br />
Abb.18 - Standbild aus „ Zehn Minuten Mozart“<br />
, 1930<br />
Abb.19 - Standbild aus „ The way you make me<br />
feel“, Michael Jackson, 1987<br />
Abb.20 - Standbild aus „D er Vogelfänger“,<br />
1935
Anne Kleingeist<br />
Inhalt<br />
Einleitung<br />
1 Lotte Reiniger<br />
2 Geschichtlicher<br />
Hintergrund<br />
3 Der Silhouettenfilm<br />
4 Mozartfilme –<br />
Der Silhouettenfilm<br />
und die Musik<br />
5 Silhouette=<strong>Schatten</strong>?<br />
Literatur<br />
Lotte Reiniger:<br />
Mozartfilme<br />
Abbildung 1: Szene aus dem Silhouettenfilm „Pamina und Papageno“ von 1973.<br />
[Reiniger 1979, S. 44.]<br />
1 Lotte Reiniger<br />
Lotte Reiniger (Abb. 1) wurde am 2. Juni 1899<br />
als einziges Kind von Eleonore und Karl Reiniger<br />
in Berlin geboren. Durch Paul Wegener<br />
war sie schon sehr früh von der Schauspielerei<br />
fasziniert. 1915 hörte sie ihn erstmals bei<br />
einem Vortrag in der Berliner Singakademie.<br />
Daraufhin besuchte sie von 1916 bis 1917<br />
die Schauspielschule Max Reinhardts am<br />
Deutschen Theater in Berlin. Bereits damals<br />
erstellte Lotte Reiniger Silhouetten. Sie war<br />
sehr geschickt im Umgang mit der Schere. So<br />
kam es, dass sie während der Proben in ihren<br />
Pausen, die Rollen ihrer Mitstreiter in Silhouetten<br />
festhielt. Von 1918 bis 1920 nahm Lotte<br />
Reiniger verschiedene Statistenrollen an. Schon<br />
während dieser Zeit wurde Paul Wegener auf<br />
ihre Silhouetten aufmerksam. So kam es, dass<br />
sie bereits1918 für den Film „Apokalypse“ die<br />
Titelsilhouette erstellte. 1919 fielen ihre Silhouetten<br />
darüber hinaus jedoch das erste mal auf,<br />
als sie die Zwischentitel in „Der Rattenfänger<br />
von Hameln“ erstellte. Von nun an hatte sich<br />
ihr Interesse weg von der Schauspielerei und<br />
hin zu den Silhouetten verlagert. Sie ging an<br />
106<br />
das Institut für Kulturforschung und erstellte<br />
dort noch im selben Jahr ihren ersten reinen<br />
Silhouettenfilm, „Das Ornament des verliebten<br />
Herzens“, der eine Länge von 3,20 Minuten<br />
umfasste. Am Institut lernte sie ihren späteren<br />
Mann und engsten Mitarbeiter Carl Koch kennen.<br />
Die beiden heirateten 1921. Von nun an<br />
drehte sie die verschiedensten Silhouettenfilme<br />
wie „Der fliegende Koffer“ (1921), „Der Stern<br />
von Bethlehem“ (1921), „Aschenputtel“ (1922)<br />
und „Dornröschen“ (1922). Außerdem erstellte<br />
sie weiterhin Zwischentitel für Filme, so in „“Der<br />
verlorene <strong>Schatten</strong>“ (1920), in dem sie auch<br />
ein <strong>Schatten</strong>spiel spielte, und in „Amor und das<br />
standhafte Liebespaar“ (1920). Neben diesen<br />
Produktionen erstellte sie von 1921 bis 1922<br />
Dekorationen und Kostüme an der Volksbühne<br />
Berlin und drehte von 1920 bis 1923 mehrere<br />
Werbefilme.<br />
Im Vordergrund standen jedoch zunehmend<br />
die Silhouetten. So entstand zwischen 1923<br />
und 1926 der erste abendfüllende Trickfilm,<br />
„Die Abenteuer des Prinzen Achmed“. Für diesen<br />
66-minütigen reinen Silhouettenfilm wurden<br />
ca. 250.000 Einzelbilder aufgenommen,
Abb. 2 Lotte Reiniger. [Deutsche<br />
Kinemathek 1969, S. 30.]<br />
von denen etwa 100.000 tatsächlich den Film<br />
bildeten. Es folgten weitere Filme. Nach der<br />
Entwicklung des Tonfilms ging Lotte Reiniger<br />
das Thema Musik an und erstellte ihre „Mozartfilme“.<br />
Diese Kurzfilme wurden ganz nach der<br />
Musik von Mozart geschnitten und vertont. So<br />
entstanden die ersten Mozartfilme: 1930 der<br />
„Zehn Minuten Mozart“, 1933 „Carmen“ und<br />
1935 „Papageno“. Später wurden noch „Die<br />
Zauberflöte“, „Don Giovanni“, „Figaros Hochzeit“<br />
und „Cosi fan tutte“ erstellt (jeweils 1937).<br />
1936 lernte Lotte Reiniger auf einer Griechenlandreise<br />
den <strong>Schatten</strong>theaterspieler Dhimitrios<br />
Mollas kennen. Er weckte ihr Interesse für<br />
das <strong>Schatten</strong>spiel. Von diesem Zeitpunkt an<br />
spielten neben den Silhouetten auch <strong>Schatten</strong>spiele<br />
eine große Rolle. Jedoch standen diese<br />
zunächst in keinem Verhältnis zu ihren Silhouettenfilmen.<br />
Lotte Reiniger erstellte bereits in den 50er<br />
Jahren Silhouettenfilme in Farbe. Die Silhouetten<br />
sind hierbei schwarz und die hintergründe<br />
farbig. Später entwickelte sie eine weitere Form<br />
des farbigen Silhouettenfilmes, bei dem auch<br />
die Figuren mittels eines Gegenlichtes von<br />
oben in Farbe erscheinen.<br />
Nach dem Tod ihres Mannes (1963) widmete<br />
sich Lotte Reiniger verstärkt dem <strong>Schatten</strong>spiel,<br />
da sie beim Erstellen ihrer Silhouettenfilme<br />
bis zu diesem Zeitpunkt sehr eng mit ihrem<br />
Mann zusammen gearbeitet hatte. Sie wirkte in<br />
verschiedenen <strong>Schatten</strong>theatern mit. So trat sie<br />
beispielsweise 1960 mit unterschiedlichen Märchen<br />
in englischen Schulen auf. Veröffentlicht<br />
wurden Märchenreihen wie „Aschenbrödel“,<br />
„Good King Wenzeslaus“, „Kalif Storch“, „Froschkönig“,<br />
und andere (jeweils 1953), sowie<br />
<strong>Schatten</strong>spielepisoden des Alten und Neuen<br />
Testamentes für das Kinderprogramm (1969).<br />
Lotte Reiniger lebte den größten Teil ihres<br />
Lebens in England. Während des zweiten Weltkrieges<br />
lebte sie zeitweise in Frankreich, Italien,<br />
England und Deutschland. Da ihre beruflichen<br />
Aussichten in England besser waren entschloss<br />
sich das Ehepaar Reiniger / Koch nach Ende<br />
des Krieges in England zu bleiben. 1980 ging<br />
Lotte Reiniger wieder zurück nach Deutschland.<br />
Sie zog zu einem befreundeten Ehepaar<br />
nach Dettenhausen, bei dem sie bis zu ihrem<br />
Lebensende lebte. Am 19. Juni 1981 verstarb<br />
Lotte Reiniger. [Reiniger 1979: S. 5 – 23, 36<br />
- 59; Schobert 1969: S. 99 ff., 112 ff.; Deutsche<br />
Kinemathek 1969: S. 20 - 29]<br />
2 Geschichtlicher Hintergrund<br />
Lotte Reiniger beschäftigte sich sowohl mit<br />
dem <strong>Schatten</strong>spiel, als auch mit den Silhouetten.<br />
Der Silhouettenfilm ist eine völlig neue,<br />
von ihr ins Leben gerufene Form der filmischen<br />
Darstellung. Doch die Idee zu den Silhouetten<br />
und dem nahe verwandten <strong>Schatten</strong>spiel<br />
kommt nicht aus dem Nichts. Im Folgenden soll<br />
daher gezeigt werden, welchen Ursprung das<br />
<strong>Schatten</strong>spiel bzw. die Silhouette haben.<br />
107<br />
2.1 Das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
Das <strong>Schatten</strong>spiel hat in allen Ländern die gleiche<br />
Grundkonzeption: flache Figuren werden<br />
zwischen einer Leinwand und einer Lichtquelle<br />
bewegt. Dabei wird ihr <strong>Schatten</strong> auf der dem<br />
Betrachter zugewandten Seite der Leinwand<br />
sichtbar.<br />
Der Ursprung des <strong>Schatten</strong>spiels liegt in China.<br />
Hier gibt es bereits im 11. Jahrhundert Aufzeichnungen,<br />
die <strong>Schatten</strong>spiele belegen.<br />
Die chinesischen <strong>Schatten</strong>figuren bestanden<br />
aus dünnem, leicht durchlässigem Pergament<br />
- regional auch aus Tierhäuten. Die Führungsstäbe<br />
bestanden aus Eisen oder Horn. Es gab<br />
zahlreiche Figuren, die die Bevölkerung wiederspiegelten,<br />
ebenso wie Buddha und verschiedene<br />
Geister. Bis auf die letzten beiden wurden<br />
die Figuren in der Regel im Profil dargestellt.<br />
Es wurden jedoch auch Tiere und zahlreiche<br />
Requisiten wie Wohnhäuser, Paläste, Bäume,<br />
Felsen, usw. dargestellt. In jeder größeren<br />
Stadt gab es ein festes <strong>Schatten</strong>theater. Neben<br />
diesen zogen jedoch auch Truppen umher, die<br />
auf Märkten und in Privathäusern ihre mobilen<br />
Bühnen aufbauten. Das <strong>Schatten</strong>spiel war<br />
lange die einzige Theaterform, an der auch<br />
ehrbare Frauen und Kinder teilnehmen durften.<br />
Die zwei Stunden und mehr umfassenden<br />
Stücke handelten von buddhistischen und taoistischen<br />
Mythen und Legenden, bildeten historische<br />
Romane, handelten von Begebenheiten<br />
aus der chinesischen Geschichte und Mythologie<br />
oder handelten von Geschichten aus dem<br />
Leben des Volkes. Bereits beim chinesischen<br />
<strong>Schatten</strong>spiel wurde beim Auftreten der Hauptfiguren<br />
Musik gespielt. [Dunkel 1984: S. 9 – 21].<br />
Nach Europa kam das <strong>Schatten</strong>spiel erst im 17.<br />
Jahrhundert. In Italien wurde das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
zur Volksbelustigung an Straßenecken und auf<br />
Jahrmärkten genutzt. 1683 kam das <strong>Schatten</strong>spiel<br />
nach Deutschland. Die Komödiantengesellschaft<br />
bat in diesem Jahr erstmals um die<br />
Erlaubnis „Italienische <strong>Schatten</strong>“ aufführen zu<br />
dürfen. Im 18. Jahrhundert entdeckte anfangs<br />
der Adel das <strong>Schatten</strong>theater als eine Form<br />
der Unterhaltung. Bereits gegen Ende des 18.<br />
Jahrhundert wurde das <strong>Schatten</strong>spiel neben<br />
dem Puppenspiel und der Laterna-magica dann<br />
auch für das Bürgertum zum Unterhaltungsmedium.<br />
Den Inhalt bildeten hier vor allem<br />
Komödien bzw. Schauspiele. Doch es wurde<br />
in den Stücken auch Kritik an den Herrschenden<br />
geübt. Die Figuren bestanden aus Pappe<br />
bzw. Papier. Manche Figuren besaßen bereits<br />
bewegliche Glieder. Auch in Deutschland gab<br />
es eine musikalische Untermahlung der Texte<br />
durch Drehleiern oder Leierkästen. [Dunkel<br />
1984: S. 159 – 169]<br />
2.2 Silhouetten und <strong>Schatten</strong>risse<br />
Silhouetten traten bis zu Lotte Reinigers<br />
Arbeiten nur in Form von <strong>Schatten</strong>rissen in<br />
Erscheinung. Der <strong>Schatten</strong>riss ist auf Etienne de<br />
Silhouette zurückzuführen, der diesen im 18.<br />
und 19. Jahrhundert „als Ersatz für luxuriöse
Abb. 3 Szene aus dem Silhouettenfilm<br />
„Schneeweißchen und-<br />
Rosenrot“ von 1953. [Reiniger<br />
1979, S. 19.]<br />
Abb. 4 Szene aus dem Silhouettenfilm<br />
„Pamina und Papageno“<br />
von 1973. [Reiniger 1979,<br />
S. 44.]<br />
Portraitminiaturen“ propagiert[e]“. [Rodotteé<br />
1979: S. 24] Bei dieser Technik setzen sich eine<br />
Person zwischen eine Lichtquelle und einen<br />
durchscheinenden Schirm. Der <strong>Schatten</strong>riss<br />
bzw. die Silhouette dieser Person wurde damit<br />
auf den Schirm projiziert und konnte auf der<br />
anderen Seite des Schirmes nachgezeichnet<br />
werden.<br />
Ab Mitte des 19. Jahrhundert, nachdem der<br />
Erfindung des Filmes, verlor der <strong>Schatten</strong>riss<br />
jedoch zunehmend an Bedeutung.<br />
2.3 Das <strong>Schatten</strong>spiel, die Silhouette<br />
und Lotte Reiniger<br />
Das <strong>Schatten</strong>spiel bzw. das Spiel mit den <strong>Schatten</strong><br />
war demnach bereits weit verbreitet und<br />
durchaus bekannt, als Lotte Reiniger mit ihren<br />
Silhouetten begann. Auch der Scherenschnitt<br />
und die Silhouetten bzw. <strong>Schatten</strong>risse waren<br />
zwar bekannt, sind jedoch im Laufe der Jahre<br />
ein wenig „aus der Mode gekommen“ [Rodotteé<br />
1979: S.24]. Dennoch bot es sich nach der<br />
Entwicklung des Filmes an, die Silhouette mit<br />
dem Film zu verbinden und auf diese Weise ein<br />
ganz neuartiges <strong>Schatten</strong>theater zu schaffen<br />
bzw. dieses weiterzuentwickeln. Lotte Reiniger<br />
wagte diesen Schritt – mit Erfolg. Hartmut W.<br />
Redotteé beschreibt sie bzw. die Voraussetzungen<br />
für diesen Schritt folgendermaßen: „Ein<br />
Mensch mußte geboren werden, der im 20.<br />
Jahrhundert die aus der Mode gekommene<br />
Kunst des Scherenschnittes, des Silhouettenschneidens<br />
vollendet beherrschte, der eine große<br />
Liebe mitbrachte zur darstellenden Kunst,<br />
der mit den künstlerischen und technischen<br />
Möglichkeiten des Films vollkommen vertraut<br />
war, bei dem sich Besessenheit mit Phantasie,<br />
Geduld und außergewöhnlicher Schaffenskraft<br />
paarte.“ [Redotteé 1979: S. 24]<br />
3 Der Silhouettenfilm<br />
Ein Silhouettenfilm (Abb. 3) entsteht aus einzelnen<br />
Bildern, in denen Silhouetten also Scherenschnitte<br />
dargestellt werden. Somit könnte man<br />
den Silhouettenfilm „auch „Scherenschnittfilm<br />
nennen“. [Reiniger 1979: S. 27] Um einen<br />
Silhouettenfilm herzustellen, muss man erst<br />
einmal wissen was eine Silhouette ist, wie die<br />
Figuren dafür hergestellt werden und wie<br />
ein so genannter Tricktisch funktioniert. Diese<br />
Punkte sollen im Folgenden genauer erläutert<br />
werden.<br />
3.1 Die Silhouette<br />
Eine Silhouette (Abb. 4) entsteht dadurch, dass<br />
ein Gegenstand (im Falle des Silhouettenfilmes<br />
eine Figur) zwischen einer Lichtquelle und<br />
seinem Betrachter steht. Die Konturen des<br />
Gegenstandes bilden eine klare Linie. Ganz im<br />
Gegensatz zu einem einfachen <strong>Schatten</strong>. Denn<br />
dieser ist beweglich. Er ist je nach der Anzahl<br />
der Lichtquellen mehr oder weniger klar abgegrenzt.<br />
Außerdem wird der <strong>Schatten</strong> je nach<br />
Lichteinwirkung länger oder kürzer.<br />
Die Figuren, die Lotte Reiniger erstellt, werden<br />
direkt von unten angeleuchtet, so dass es im<br />
108<br />
Winkel keine Verschiebungen gibt (siehe Punkt<br />
3.2). Die Figuren sind demnach klar zu erkennen.<br />
Dadurch hat Lotte Reiniger die Möglichkeit<br />
Gesichtszüge, Feinheiten in der Kleidung<br />
und auch Ausschmückungen in den Landschaften<br />
genau darzustellen.<br />
3.2 Der Tricktisch<br />
Der Tricktisch (Abb. 5) spielt für den Silhouettenfilm<br />
eine entscheidende Rolle. Nur durch<br />
diesen ist es möglich tatsächlich Silhouetten zu<br />
erhalten. In der Mitte des Tricktisches befindet<br />
sich ein großes Loch, das den Hintergrund<br />
bzw. die für den Film nutzbare Fläche bildet. In<br />
dieses Loch ist eine Glasplatte eingefasst. Unter<br />
dem Tisch befindet sich eine weitere Platte, auf<br />
der 5 Glühbirnen angebracht sind. Diese strahlen<br />
die Glasplatte von unten an. Um die Tischbeine<br />
werden Stoffe oder ähnliches gezogen.<br />
Denn so kann das ganze Licht der Glühbirnen<br />
für die Aufnahmen verwendet werden und es<br />
ist gewährleistet, dass keine anderen Lichtquellen<br />
die Silhouette verzerren.<br />
Die Tischbeine sind nach oben hin „verlängert“<br />
worden und miteinander verbunden. Dieser<br />
Oberbau bildet die Haltung für die Kamera, die<br />
direkt auf die Glasplatte zeigt. Die Halterung ist<br />
sehr wichtig, da nur dadurch gleichmäßige Bilder<br />
entstehen können. Da die Aufnahmen viel<br />
Zeit in Anspruch nehmen, würde eine Kamerahaltung<br />
von Hand schwierig werden.<br />
Zu erwähnen sind nun noch die an der Halterung<br />
angebrachte Kamera und natürlich<br />
die Figuren und Hintergründe. An einigen<br />
Tricktischen befinden sich außerdem jeweils<br />
links und rechts vom Tisch zwei weitere Platten,<br />
die als Ablage für die in der nächsten Szene<br />
verwendeten Figuren, das Storyboard oder andere<br />
Materialien dient. [Reiniger 1979: S. 27ff.;<br />
Reiniger / Koch 1959.]<br />
3.3 Figuren, Szenerie und Hintergrund<br />
Die Figuren werden aus mittelstarker, schwarzer<br />
Pappe und dünngewälztem Blei hergestellt.<br />
Das Blei dient der Beschwerung der Figuren,<br />
da diese richtig auf der Platte liegen müssen<br />
und sich nicht wellen dürfen. Bei dem Entstehungsprozess<br />
einer Figur wird die Silhouette<br />
zunächst skizziert und anschließend im Ganzen<br />
ausgeschnitten. Im nächsten Schritt werden<br />
dann die einzelnen Glieder ausgeschnitten. Für<br />
eine Figur werden dabei in der Regel insgesamt<br />
16 Einzelteile benötigt. Darunter fallen<br />
ein Kopf, ein Hals, ein Brustkorb, ein Bauch,<br />
zwei Oberarme, zwei Unterarme, zwei Hände,<br />
zwei Oberschenkel, zwei Unterschenkel und<br />
zwei Füße. Durch diese vielen Glieder sind die<br />
Figuren besonders beweglich.<br />
Die einzelnen Glieder werden mit Draht zusammengefügt.<br />
Es ist schwierig dabei den richtigen<br />
Punkt zu finden, denn von diesem hängt die<br />
Qua<strong>lit</strong>ät der Bewegung ab. Beim Zusammenfügen<br />
ist es wichtig darauf zu achten, dass der<br />
Draht an einigen Stellen von unten angebracht<br />
wird. Denn muss während der Aufnahmen
Abb. 5 Tricktisch [Reiniger 1979, S. 27.]<br />
beispielsweise der Kopf bewegt werden, so<br />
muss nicht die ganze Figur bewegt werden,<br />
sondern nur der Kopf aus der Befestigung<br />
gelöst und neu angebracht werden. [Reiniger<br />
1979: S. 30f.]<br />
Die Hauptfiguren werden mindestens in drei<br />
verschiedenen Größen angefertigt. Da es<br />
nicht möglich ist mit der Kamera dichter an die<br />
Glasplatte heranzugehen, werden die „Großaufnahmen“<br />
mit einem Trick hergestellt. Die<br />
Figuren werden noch einmal größer ausgeschnitten.<br />
Dadurch entsteht bei dem Betrachter<br />
der Eindruck, dass die Kamera näher an die<br />
Figur herangegangen ist. Dabei muss natürlich<br />
auch der Hintergrund verändert werden. Die<br />
großen Figuren bieten zudem die Möglichkeit<br />
Gesichtszüge oder andere Ausschmückungen<br />
genauer auszuarbeiten. Die Größen schwanken<br />
zwischen 60 cm und 2 ½ cm. [Reiniger /<br />
Koch 1959.]<br />
Der Hintergrund wird auch ausgeschnitten.<br />
Hierfür werden schwarzes Kartonpapier und<br />
verschiedenartige Lagen halbtransparentes<br />
Seidenpapier verwendet. Durch die Überlagerungen<br />
der Seidenpapiere entsteht eine<br />
Tiefenperspektive. Dabei sind so viele Schattierungen<br />
möglich wie Papierlagen vorhanden<br />
sind. [Reiniger 1979: S. 30ff.; White 1931.]<br />
3.4 Das Arbeiten mit dem Tricktisch<br />
Beim Arbeiten mit dem Tricktisch ist einiges zu<br />
beachten. Zu aller erst muss man sich bewusst<br />
werden, dass Hintergrund und Figuren<br />
allesamt auf einer Platte übereinander liegen.<br />
Sie haben in Wirklichkeit keinerlei Abstand zu<br />
einander. Doch eben dieser soll dem Betrachter<br />
suggeriert werden. Eine Tiefenperspektive entsteht<br />
wie bereits erwähnt vor allem durch die<br />
sich überlappenden Seidenpapiere. Doch Lotte<br />
Reiniger hat es auch geschafft, beispielsweise<br />
eine Wasserfläche mittels kleiner Streifen, die<br />
<strong>Schatten</strong> bzw. Spiegelungen darstellen sollen,<br />
anzudeuten (Abb. 6 – 8). Eine weitere Methode<br />
109<br />
bilden die Größen der Figuren. So lässt Lotte<br />
Reiniger beispielsweise eine Reiterin mit ihrem<br />
Pferd als große Figur am unteren Rand des<br />
Bildes von rechts nach links in das Bild hinein<br />
und wieder hinaus laufen. Anschließend wird<br />
die gleiche Figur in klein am oberen Rand von<br />
links in das Bild hinein geführt und am rechten<br />
Rand aus dem Bild heraus. Der Betrachter hat<br />
das Gefühl, er sieht in eine Zirkusmanege.<br />
Um die Figuren auf dem Hintergrund bewegen<br />
zu können, ohne dass dieser sich verschiebt,<br />
wird auf den Hintergrund ein Bogen durchscheinende,<br />
rutschfeste Folie gelegt. Soll eine<br />
Fahrtaufnahme erstellt werden, so bewegt sich<br />
nicht die Kamera, sondern die Landschaft. Für<br />
diesen Fall werden Kulissen erstellt, die länger<br />
als die Glasplatte sind. Diese werden dann<br />
Stück für Stück weitergeschoben.<br />
Die Figuren können nur schritt- bzw. millimeterweise<br />
bewegt werden. Da keine Wirkungen<br />
der Schwerkraft in Richtung Boden (Kulissen-<br />
Abb. 6 bis 8 Szenen aus „Die Abenteuer des<br />
Prinzen Achmed“ von 1926. [Reiniger 1979, S.<br />
53.]
Literatur<br />
Deutsche Kinemathek (Hrsg.).<br />
Lotte Reiniger. Berlin 1969.<br />
Dunkel, Peter F.. <strong>Schatten</strong>figuren,<br />
<strong>Schatten</strong>spiel.<br />
Geschichte – Herstellung<br />
– Spiel. Köln 1984.<br />
Hagen, Louis (Drehbuch) /<br />
Isaacs, John (Regie). Ein<br />
Scherenschnittfilm entsteht:<br />
Lotte Reiniger bei der Arbeit.<br />
Berlin 1971.<br />
Reiniger, Lotte. Die Abenteuer<br />
des Prinzen Achmed.<br />
Tübingen 1972.<br />
Reiniger, Lotte. Silhouettenfilm<br />
und <strong>Schatten</strong>theater. Hrsg.:<br />
Puppen Theater Museum<br />
im Münchner Stadtmuseum.<br />
München 1979.<br />
Reiniger, Lotte / Koch, Carl.<br />
Unser Metier. In: Halas,<br />
John/Manvell, Roger. The<br />
technique of film animation.<br />
London 1959. S. 279 – 286.<br />
Deutsche Übersetzung<br />
in: Deutsche Kinemathek<br />
(Hrsg.). Lotte Reiniger. Berlin<br />
1969. S. 15 – 17.<br />
Rodotteé, Hartmut W.. Die<br />
Geburt des Märchens aus<br />
dem Geiste des Films. In:<br />
Reiniger, Lotte. Silhouettenfilm<br />
und <strong>Schatten</strong>theater.<br />
Hrsg.: Puppen Theater<br />
Museum im Münchner<br />
Stadtmuseum. München<br />
1979. S. 24 – 26.<br />
Schobert, Walter. Die Kunst<br />
der Lotte Reiniger. In: Lotte<br />
Reiniger, David W.<br />
Griffith, Harry Langdon.<br />
Hrsg.: Kommunales Kino<br />
Frankfurt am Main. Frank<br />
furt am Main 1972.<br />
The adventures of prince<br />
achmed, http://filmsociety.<br />
wellington.net.nz/db/<br />
screeningdetail.php?id=187,<br />
Stand10.04.2007.<br />
White, Eric Walter. Walking<br />
<strong>shadows</strong>. London 1931.<br />
S. 16 – 22. Deutsche<br />
Übersetzung in: Deutsche<br />
Kinemathek. Lotte Reiniger.<br />
Berlin 1969. S. 11 – 14.<br />
boden) auf die Körper der Figuren wirken,<br />
liegt hierin eine besondere Herausforderung.<br />
Die Figuren werden auf horizontaler Ebene<br />
bewegt, werden im Film jedoch auf vertikaler<br />
Leinwand gesehen. Wenn die Figuren zu<br />
plump bewegt werden, dann könnte beim<br />
Betrachter der Eindruck einer Bewegung, die<br />
auf den Boden wirkt, verloren gehen. Gerade<br />
diese Schwierigkeit machte für Lotte Reiniger<br />
einen besonderen Reiz aus. So sagte sie in<br />
einem Interview: „Im <strong>Schatten</strong>spiel kann man,<br />
je nach der Entfernung, zwischen Figur und<br />
Lichtquelle, die wundervollsten, magischen Effekte<br />
erzielen. Beim direkten Spiel der Silhouette<br />
hingegen, liegt der Reiz in der Bewegung der<br />
Figur.“. [Reiniger 1979: S. 38]<br />
Jede einzelne Szene wird vor der Aufnahme in<br />
einem Storyboard skizziert. Im Storyboard steht,<br />
wann welche Szene erstellt werden soll, was in<br />
dieser Szene passieren soll, wie der Bildaufbau<br />
sein soll und wie viele Bilder erstellt werden<br />
sollen. Jede erstellte Einzelaufnahme wird<br />
gezählt und notiert, um den Überblick nicht zu<br />
verlieren. 24 Einzelaufnahmen bilden später<br />
eine Sekunde Film. [Reiniger 1979: S.27ff.]<br />
3.5 Vorteile und Schwierigkeiten bei der<br />
Arbeit mit dem Tricktisch<br />
Beim Arbeiten mit dem Tricktisch und den<br />
Silhouettenfiguren liegt ein entscheidender<br />
Vorteil in der Bewegung der Figuren. Die Figuren<br />
sind im Gegensatz zum <strong>Schatten</strong>spiel frei<br />
beweglich. Im <strong>Schatten</strong>spiel ist die Bewegungsquelle<br />
(die Stöcke) sichtbar bzw. schwierig zu<br />
verstecken. Beim Silhouettenfilm kann man die<br />
Figur springen lassen, klettern, knien, liegen,<br />
usw. Durch diese freie Bewegung entsteht<br />
beim Betrachter der Eindruck einer eigenständigen<br />
Bewegung der Figuren.<br />
Schwierigkeiten ergeben sich vor allem aus<br />
dem vertikalen Raum. Die Gesichtszüge können<br />
nur im Profil dargestellt werden. Außerdem<br />
gibt es – wie bereits erwähnt – keine Wirkungen<br />
der Schwerkraft auf den Körper, was die<br />
Bewegungen plump wirken lassen kann. Eine<br />
Herausforderung liegt zudem in der Schaffung<br />
einer Tiefenperspektive. Überdies sind nur<br />
wenige Lichteffekte möglich, um die Spannung<br />
zu steigern.<br />
4 Mozartfilme – Der Silhouettenfilm und<br />
die Musik<br />
Lotte Reiniger war eine begeisterte Mozarthörerin.<br />
Daher lag es nahe, dass sie seine Musik<br />
und seine Opern zu einem Thema ihrer Filme<br />
machte. Die Erarbeitung eines solchen Mozartfilmes<br />
beschrieb sie folgendermaßen.<br />
Zunächst wird die Oper von einem Dirigenten<br />
auf etwa 10 bis 15 Minuten zusammen<br />
gestrichen. Dafür werden besonders bekannte<br />
Melodien aus dieser ausgewählt. Anschließend<br />
wird die Tonspur des Filmes aufgenommen.<br />
Jeder Takt dieser Tonspur wird auf einem Musikdiagramm<br />
festgehalten und analysiert. Dabei<br />
wird jede Takteinheit auf dem Diagramm nach<br />
der Anzahl der benötigten Einzelbilder gemes-<br />
110<br />
sen. Die Bewegung der Figuren muss nun nicht<br />
nur als eine eigenständige Bewegung wirken,<br />
sondern auch mit der Musik und den Takten<br />
übereinstimmen. [Reiniger / Koch 1959.; Reiniger<br />
1979: S. 29f.]<br />
5 Silhouette = <strong>Schatten</strong>?<br />
Wenn Licht auf einen Gegenstand projiziert<br />
wird, dann ergibt sich ein <strong>Schatten</strong>. Doch liegt<br />
im Falle einer Silhouette wirklich ein <strong>Schatten</strong><br />
vor? Eigentlich nicht wirklich. Der eigentliche<br />
<strong>Schatten</strong>, den die Figur wirft, wird nicht gesehen,<br />
sondern lediglich die dabei entstehende<br />
Silhouette. Im Mittelpunkt steht daher nicht<br />
der <strong>Schatten</strong>, sondern sein Erzeuger selbst. Das<br />
Wort „<strong>Schatten</strong>“ könnte man in diesem Fall<br />
symbolisch verwenden. Denn Lotte Reiniger<br />
hat es geschafft leblosen Figuren („<strong>Schatten</strong>“)<br />
über die Bewegung Leben „einzuhauchen“. Sie<br />
schafft mit ihren Silhouetten eine Märchenwelt,<br />
in der aus zweidimensionalen Figuren und Kulissen<br />
eine dreidimensionale Welt erzeugt wird.
Astrid Oltmann<br />
Inhalt<br />
1. Expressionismus in<br />
der Malerei<br />
2. Expressionismus im Film<br />
3. Nosferatu – Eine Symphonie<br />
des Grauens<br />
4. Stilmittel des expressionistischen<br />
Films<br />
vs. Stilmittel Nosferatu<br />
5. Der <strong>Schatten</strong> im Film<br />
- Bedeutungsgeschichte<br />
des <strong>Schatten</strong>s<br />
NOSFERATU - Filmschatten<br />
des Expressionismus<br />
Abb. 1: „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“, filmstill<br />
1. Expressionismus in der Malerei und<br />
Weltanschauung<br />
Der Expressionismus wird beschrieben als<br />
Ausdruckskunst des frühen 20. Jahrhunderts.<br />
Er wollte sich als Auflehnung gegen das<br />
bestehende Gesellschaftssystem der Weimarer<br />
Republik (1919 – 1934), gegen den herrschenden<br />
Impressionismus, gegen den Naturalismus<br />
und den Materialismus verstanden wissen. Die<br />
Expressionisten wollten weg von der Empfänglichkeit<br />
hin zur Schöpfung, sie wollten nicht<br />
passiv hinnehmen sondern selbst gestalten und<br />
schöpferisch aktiv sein.<br />
„Im Gegensatz zum Impressionismus, in dem<br />
ein äußerer Eindruck aufgenommen und im<br />
Bild wiedergegeben wurde, sollte im Expressionismus<br />
ein innerer, seelischer Ausdruck in<br />
die Bildgestaltung einfließen. Das Bildmotiv der<br />
Wirklichkeit sollte nicht bloß imitiert werden,<br />
sondern in einem neuen schöpferischen Akt<br />
111<br />
der Selbstverwirklichung des Künstlers eine<br />
neue und suggestive Ausdruckskraft gewinnen.“<br />
1<br />
Der Expressionismus stellt den Gegenstand<br />
nicht in seiner abtastbaren Form dar (keine<br />
bloße rea<strong>lit</strong>ätsnahe Abbildung, einer Fotografie<br />
ähnlich), sondern in einer anderen Ebene<br />
des Daseins. Die künstlerische Welt wird in das<br />
Bewusstsein des Künstlers zurückverlegt:<br />
Vorläufer waren Paul Gauguin, Vincent van<br />
Gogh, die damit begannen auf gegenständliche<br />
Darstellungen zu verzichten.<br />
In Deutschland waren es v.a. zwei bedeutende<br />
Künstlergruppen, die heute stellvertretend<br />
für den expressionistischen Stil stehen. 1905<br />
gründete sich die Malergemeinschaft „Die Brücke“<br />
in Dresden zu der Ernst Ludwig Kirchner,<br />
Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, später auch
Max Pechstein, Otto Mueller und Emil Nolde<br />
gehörten. Diese lehnten den Historismus und<br />
jede Art einer gelehrt-akademischen Kunstausbildung<br />
ab. Sie waren Autodidakten ohne<br />
Malausbildung, die bürgerliche Wertvorstellungen,<br />
Traditionen und den Akademismus<br />
überwinden wollten.<br />
1912 gründete sich „Der Blaue Reiter“ in München<br />
(basierend auf dem Titel des Almanachs,<br />
den Kandinsky und Marc ursprünglich herausgaben),<br />
zu dem Wassily Kandinsky, Alexej<br />
Jawlensky, Franz Marc und August Macke<br />
zählten. Diese begründeten einen stärker auf<br />
formale Probleme konzentrierten, romantischeren<br />
Expressionismus.<br />
2. Expressionismus im Film<br />
Der expressionistische Film hat seine Wurzeln<br />
in Deutschland und die meisten Filme, die<br />
heute zu diesem Genre zählen, wurden in der<br />
Filmhauptstadt Berlin während der Stummfilmzeit<br />
in der ersten Hälfte der 1920 er Jahre<br />
gedreht. Nach dem 1.Weltkrieg wendet man<br />
sich zu Gunsten des subjektiven Ausdrucks von<br />
einer objektiven Weltdarstellung ab. Aufgrund<br />
der Inflation, Hungersnöte und der Wirtschaftskrise<br />
verfügte man über sehr niedrige Budgets.<br />
Das verursachte einen Mangel an Technik und<br />
Ausstattung, die man so durch andere Mittel<br />
kompensieren musste. Die Filmemacher aus<br />
Deutschland und Österreich orientierten sich<br />
also am stark expressionistischen Kunststil, der<br />
sich in den grotesk verzerrten Kulissen und<br />
der kontrastreichen Beleuchtung wiederfand.<br />
Die gemalten <strong>Schatten</strong> (Nosferatu), gemalten<br />
Hintergründe (Caligari) sowie rechte Winkel<br />
erwecken den Eindruck, man befände sich<br />
in einer anderen Bewusstseinsebene. „Durch<br />
eine surrealistische und symbolistische mise-enscène<br />
werden starke Stimmungen und tiefere<br />
Bedeutungsebenen erzeugt.“ 2 Die übertrieben<br />
dargestellte Gestik und Mimik der Darsteller,<br />
die aus dem Vorläufer des Films - dem Theater<br />
- entlehnt ist, ist vor allem kennzeichnend für<br />
diese Filmströmung. Der von fremden Kräften<br />
bestimmte und moralisch nicht haftbare<br />
Mensch ist das Leitmotiv, welches sich durch<br />
den expressionistischen Film der zwanziger<br />
Jahre zieht.<br />
Erst mit dem Auftreten des Autors Carl Mayer,<br />
auf dessen Initiative das Drehbuch zu Das Cabinet<br />
des Dr. Caligari entstand, wird der expressionistische<br />
Film zu einer breiten Strömung mit<br />
internationaler Beachtung.<br />
„Von allen Kunstformen scheint der Film am<br />
wenigsten Kunst und am meisten Natur zu<br />
sein. Schon sein wesentlichstes Mittel, die<br />
Photographie, wird als grundsätzlich unkünstlerisch<br />
gefunden“ 3 , schreibt Kurtz 1926.<br />
Doch das Gegenteil ist der Fall.<br />
„Je naturalistischer ein Film wirkt, je mehr<br />
„Lebensechtheit“ er beansprucht, um so<br />
kunstvoller ist sein Aufbau.“ 4<br />
Diesen Zitaten möchte ich das folgende von<br />
Michael Töteberg, der wiederum Béla Balázs,<br />
112<br />
den wohl bekanntesten Filmtheoretiker der<br />
damaligen Zeit, zitiert hinzufügen:<br />
„...; Murnau hingegen verlasse die Studiowelt<br />
und habe gespürt, daß die „stärkste Ahnung<br />
des Übernatürlichen gerade aus der Natur zu<br />
holen ist“. Nicht der Inhalt der Fabel erzeuge<br />
die unheimliche Spannung, sondern der Stimmungsgehalt<br />
der Bilder - „Naturbilder, in denen<br />
ein kalter Luftzug aus dem Jenseits weht“. 5<br />
Filmmagier Friedrich Wilhelm Murnau inszenierte<br />
das Grauen über die verworrene Zeit der<br />
Weimarer Republik in Gestalt des Vampirs als<br />
subtiles Kammerspiel des Terrors. Sein Nosferatu<br />
– Eine Symphonie des Grauens, zählt mit zu<br />
den ersten Horrorfilmen überhaupt. Folgende<br />
Stilmittel sind übergreifend auf sämtliche Filme<br />
der damaligen Zeit.<br />
Auswirkungen der Kunst auf den expressionistischen<br />
Film:<br />
•grotesk verzerrte Kulissen<br />
(verzerrte Perspektiven)<br />
•schiefwinklige Häuser, Diagonale statt<br />
Senkrechte, Entfesselung ins Chaos<br />
•kontrastreiche Beleuchtung<br />
•gemalte Leinwände und <strong>Schatten</strong> als<br />
Kulissen<br />
•übertrieben dargestellte Mimik und<br />
Gestik der Darsteller<br />
•langsamer Schnittrhythmus, lange<br />
Einstellungen<br />
•Studioaufnahmen, keine Außenaufnahmen<br />
•Außenwelt als Spiegel psychischer Prozesse<br />
•international stilprägende Epoche an<br />
Filmen<br />
Die Filmdekoration muss Graphik werden<br />
(„Du musst Caligari werden!“).<br />
Stilmittel im expressionistischen Film:<br />
Das eindeutigste Stilmittel ist das Kunstlicht:<br />
* als architektonisches Mittel,<br />
* um Tiefenperspektive zu erzeugen<br />
* um die Dekorwirkung zu unterstützen<br />
* Kontrastintensität von hell und dunkel /<br />
dramaturgischer Faktor<br />
* symbolischer Repräsentationscharakter um<br />
Gut und Böse zu unterscheiden<br />
„Das Licht hat den expressionistischen Filmen<br />
die Seele eingehaucht.“ 6<br />
Zwei Arten von Helldunkel sind dominierend:<br />
• scharf kontrastierend<br />
• Chiaroscuro (Umspielung der Konturen)<br />
Der Künstler bedient sich dieses Spiels von Licht<br />
und <strong>Schatten</strong>, um Körper und ihre Formen<br />
deutlicher zu modellieren, dramatische Effekte<br />
zu steigern oder eine geheimnisvolle Stimmung<br />
zu erzeugen. Man nuanciert von gehöhten<br />
Partien mit Glanzlichtern bis zu grellen Schlaglichtern<br />
und Schlagschatten.<br />
„Die Geschichte des expressionistischen Films in<br />
Deutschland ist die Geschichte einer Reihe von<br />
Wiederholungen. Der Anfang ist nicht übertroffen<br />
worden.“ 7
Filmstill aus: Nosferatu – Symphonie des Grauens,<br />
Deutschland 1922: „Ich liebe die Dunkelheit<br />
und die <strong>Schatten</strong>, wo ich mit meinen<br />
Gedanken allein sein kann.” (Graf Dracula)<br />
„Expressionismus und Film fordern sich gegenseitig<br />
heraus.“ Herbert Jhering<br />
“Der Film ist die einzige rechtmäßige Heimat<br />
des Expressionismus.“<br />
1924 Béla Balázs<br />
3. Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens<br />
„Ich liebe die Dunkelheit und die<br />
<strong>Schatten</strong>, wo ich mit meinen<br />
Gedanken allein sein kann.”<br />
(Graf Dracula)<br />
Nosferatu – Symphonie des Grauens<br />
Deutschland 1922<br />
Regie: Friedrich Wilhelm Murnau.<br />
Buch: Henrik Galeen<br />
Kamera: Fritz Arno Wagner, Günther Krampf.<br />
Länge: 96 Min.<br />
s/w mit monochromen Einfärbungen, stumm<br />
Darsteller: Max Schreck,(Graf Orlok, Nosferatu)<br />
Gustav von Wangenheim<br />
Greta Schroeder, Ruth Landshoff, Alexander<br />
Granach<br />
Der erste echte Vampirfilm und zugleich<br />
das erste künstlerische Werk dieser Gattung<br />
entstand nach dem Roman „Dracula“ von<br />
Bram Stoker. Nosferatu – Eine Symphonie des<br />
Grauens wurde 1921/22 von Friedrich Wilhelm<br />
Murnau als deutsche Produktion umgesetzt.<br />
Der Regisseur verfilmte das Buch ohne Einwilligung<br />
von Florence Stoker, der Witwe des<br />
Autors. So lassen sich folgende Änderungen<br />
erklären:<br />
Murnau verlegte die Schauplätze von England<br />
nach Deutschland, von London nach Bremen.<br />
Die Umbenennung der Hauptfiguren ergeben<br />
folgende Abweichungen:<br />
Dracula wurde Graf Orlock alias Nosferatu, aus<br />
Mina wurde Ellen, aus Jonathan Harker Hutter<br />
und der Häusermakler und der Irre Renfield<br />
sind ein und dieselbe Person. Aus dem Vampirjäger<br />
Dr. van Helsing wird Professor Bulwer,<br />
der in Murnaus Verfilmung eine eher unbedeutende<br />
Rolle spielt. Die nicht autorisierte Adap-<br />
113<br />
tion von Stokers Roman erwirkte vor Gericht,<br />
bei dem die Stoker Witwe die Verletzung der<br />
Urheberrechte einklagte, die Vernichtung des<br />
Negativs und sämtlicher Kopien. Die Produzenten<br />
hatten das Negativ jedoch bereits verkauft,<br />
so dass der Film glücklicherweise der Nachwelt<br />
erhalten blieb und als erster großer künstlerischer<br />
Horrorfilm in die Geschichte einging.<br />
Nach den Notizen des Stadtschreibers von<br />
Wisbourg über die Pestepidemie 1838 erzählt<br />
der Film in fünf Akten retrospektiv folgende<br />
Geschichte:<br />
Thomas Hutter ist Angestellter des Maklers<br />
Knock in Wisbourg und lebt dort glücklich mit<br />
seiner Verlobten Ellen. Eines Tages bekommt<br />
er den Auftrag sich auf eine Dienstreise nach<br />
Transsylvanien zu begeben, um den dort in den<br />
Karpaten lebenden Grafen Orlock zu dem Kauf<br />
eines Hauses zu überreden. Ellen, seine Frau,<br />
hat böse Vorahnungen und ahnt die Gefahr in<br />
die Hutter sich begibt, kann ihn aber nicht von<br />
seinem Vorhaben abbringen.<br />
Erst in der Nacht erreicht Hutter das Schloss<br />
und seinen seltsamen Schlossherrn, der in einer<br />
unheimlichen Weise von der Fotografie Ellens<br />
begeistert scheint. Sofort darauf unterzeichnet<br />
Orlock den Kaufvertrag des Hauses, welches<br />
seinem in Wisbourg direkt gegenüber steht. Als<br />
er am nächsten Morgen im Schloss erwacht,<br />
entdeckt er kleine rote Male am Hals und ahnt<br />
bereits das Grauen, dessen Einzug in die Stadt<br />
er nun verholfen hat.<br />
Der Film belegt im expressionistischen Stummfilm<br />
der 20iger Jahre eine Ausnahmeposition.<br />
Im Gegensatz zu Regisseuren, wie Robert Wiene<br />
oder Fritz Lang ist an Originalschauplätzen<br />
gedreht worden.<br />
4. Stilmittel des expressionistischen Films<br />
vs. Stilmittel Nosferatu<br />
Die Diagonalen im Bildaufbau und Bewegungsablauf<br />
erschaffen eine 3. Dimension und<br />
erzeugen somit eine ganz eigene Dynamik und<br />
Unruhe. Murnau hat Teile des Filmmaterials<br />
viragieren (einfärben) lassen um düstere Stimmungen<br />
herzustellen und Tages- und Nachtszenen<br />
erkennbar und damit unterscheidbar zu<br />
machen. Zwischentitel werden dramaturgisch<br />
angewandt um Authentizität zu erzeugen. Der<br />
Dreh an realen Schauplätzen, wie Bremen,<br />
Lübeck und der Slowakei verleihen der Szenerie<br />
einen naturalistischen Look, der seinerseits so<br />
beklemmend und bedrohlich wirkt, weil es so<br />
echt aussieht. Die Visionen mit Ratten, Pestschiffen,<br />
Blutsaugern und dunklen Gewölben<br />
entziehen sich andererseits der naturalistischen<br />
Wiedergabe<br />
Eine Einstellung macht besonders deutlich wie<br />
sich die Welten überschneiden. Die Kutschfahrt,<br />
während der Hutter zu Murnaus Schloss<br />
gelangt, ist sinnbildlich für den Übergang von<br />
der realen in die phantastische Welt. Durch<br />
einen einmontierten Negativstreifen, der in<br />
Slow-Motion-Technik abläuft, ergeben sich<br />
surreale Bewegungsabläufe während der sich<br />
die Kutsche im Zick-Zack Kurs durch den Wald
Quellen<br />
Duden Redaktion: Kunstgeschichte<br />
II. Dudenverlag,<br />
Mannheim 2003<br />
Eisner H., Lotte: Die dämonische<br />
Leinwand. Fischer<br />
Taschenbuch Verlag,<br />
Frankfurt 1980<br />
Eisner H., Lotte: Murnau Der<br />
Klassiker des deutschen<br />
Films. Friedrich Verlag,<br />
Velber/ Hannover 1967<br />
Kabatek, Wolfgang: Imagerie<br />
des Anderen im Weimarer<br />
Kino. transcript Verlag,<br />
Bielfeld 2003<br />
Kurtz, Rudolf: Expressionismus<br />
und Film. Hans Rohr Verlag,<br />
Zürich 1965<br />
Prinzler, Hans Helmut: Murnau<br />
Ein Melancholiker des Films,<br />
Filmmuseum Berlin,<br />
Deutsche Kinemathek,<br />
Berlin 2003<br />
Prodolliet, Ernest: Nosferatu die<br />
Entwicklung des Vampirfilms<br />
von Friedrich Wilhelm<br />
Murnau bis Werner Herzog.<br />
<strong>Universität</strong>sverlag Freiburg,<br />
Schweiz 1980<br />
Ramge, Ralf: Das Dokument<br />
des Grauens: Eine Chronik<br />
des Horrorfilms, 2006<br />
Töteberg, Michael: Metzler Film<br />
Lexikon. Verlag J.B. Metzler,<br />
Stuttgart 2005<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/<br />
Expressionismus_<br />
%28Film%29<br />
Fußnoten<br />
1 Duden Redaktion: Kunstgeschich<br />
te II. Dudenverlag, Mannheim<br />
2003<br />
2 http://de.wikipedia.org/wiki/<br />
Expressionismus_<br />
%28Film%29<br />
3 Kurtz, Rudolf: Expressionismus<br />
und Film. Hans Rohr Verlag,<br />
Zürich 1965 S. 51<br />
4 ebd. S. 51<br />
5 Töteberg, Michael: Metzler<br />
Film Lexikon. Verlag J.B.<br />
Metzler, Stuttgart 2005 S.<br />
463<br />
6 Kurtz, Rudolf: Expressio<br />
nismus und Film. Hans Rohr<br />
Verlag, Zürich 1965 S. 60<br />
7 ebd. S. 62<br />
bewegt, eben wieder auf Diagonalen was eine<br />
unheimliche Unruhe in das Bild bringt.<br />
Murnau arbeitet mit der Verwendung von Zeitraffern.<br />
Besonders in der letzten Szene, als der<br />
Nosferatu von Ellen in ihr Haus gelockt wird,<br />
wo sie sich für das Überleben der Stadt opfert.<br />
Die wirkliche Tat wird nur als <strong>Schatten</strong> gezeigt,<br />
was unwirklich und anonym wirkt. Der Vampir<br />
steigt die Treppe zu Ellens Schlafzimmer hinauf,<br />
wobei der Zuschauer nur den <strong>Schatten</strong> an der<br />
Wand sieht, langsam streckt er die Hände mit<br />
den scharfen Klauen nach ihr aus. Der <strong>Schatten</strong><br />
von Orloks Hand wandert von ihren Knien<br />
aufwärts bis zu ihrem Herzen. Der <strong>Schatten</strong><br />
greift nach Ellens Herz, Ellens Körper bäumt<br />
sich unter Schmerzen auf.<br />
Die Imagination des Zuschauers ersetzt auch<br />
hier das tatsächlich Geschehene, das Murnau<br />
gar nicht wirklich zeigt. Er spielt mit den Ängsten<br />
des Zuschauers. Man muss den Vampir<br />
dazu nicht sehen.<br />
Murnaus Einrahmungen als Spiel aus Licht und<br />
<strong>Schatten</strong> erzeugen eine Gemäldewirkung.<br />
Auch benutzt er –völlig unüblich zu der Zeit-<br />
Zwischenschnitte als Verbindung von Raum<br />
und Zeit zur Steigerung der Dramatik.<br />
Einige Gemeinsamkeiten bestehen zwischen<br />
Das Cabinet des Dr. Caligari und Nosferatu.<br />
In beiden Filmen, wird die Irrenanstalt als Motiv<br />
für „entartete“ Kunst benutzt. In Nosferatu ist es<br />
der Häusermakler Knock, im Caligari wird der<br />
Raum zur Aufschlüsselung benutzt.<br />
Auch wird in beiden Meisterwerken Musik<br />
als dramaturgisches Instrument benutzt, die<br />
Wahnsinn assoziieren soll. Neben primitiven<br />
Farbtönungen, welche in einer Art Grundierung<br />
über verschiedene Strecken des schwarzweißen<br />
Filmmaterials gelegt für eine symbolische<br />
Vertiefung der jeweiligen Stimmung<br />
sorgen, beeindrucken optisch auch diverse<br />
Spezialeffekte wie bewusst eingesetzte, subtil<br />
angelegte Zeitrafferaufnahmen, transparente<br />
Überblendungen, groteske perspektivische<br />
Verfremdungen im Kulissenaufbau - und nicht<br />
zuletzt auch die in Anwesenheit von Nosferatu<br />
Orlok wie von Zauberhand geöffneten und<br />
geschlossenen Türen. Zahlreiche symbolisch<br />
angelegte, und äußerst bedrohlich wirkende<br />
<strong>Schatten</strong>spiele, die scherenschnittartig für<br />
zusätzlichen Grusel sorgen, sowie das stocksteife<br />
Mienenspiel und die morbiden, langsamen<br />
Bewegungen Orloks werden kongenial von<br />
der beeindruckenden Maske ergänzt, die dem<br />
Ungetüm eine Aura des schlaflosen Todes verleihen.<br />
Grandios ist auch das Tempo des Films,<br />
welches zum einen von marternden Verzögerungen,<br />
zum anderen aber auch von perfekten<br />
Schnitten bestimmt ist.<br />
114<br />
Béla Balázs meinte in seiner Filmkritik vom<br />
9.3.1923:<br />
„Nosferatu ist seit Caligari der erste Film, [...]<br />
wo wir nicht vor den gefährlichen Möglichkeiten<br />
der Technik, sondern vor den ungekannten<br />
Mysterien der Natur Angst bekommen.“<br />
Der faszinierende Stimmungsgehalt der Bilder<br />
erzeugt die unheimliche Spannung, derer sich<br />
kaum jemand entziehen kann.<br />
5. Der <strong>Schatten</strong> im Film - Bedeutungsgeschichte<br />
des <strong>Schatten</strong>s<br />
Im Allgemeinen verstehen die Menschen <strong>Schatten</strong>bilder<br />
als Sinnbild für das Böse, für drohende<br />
Gefahr und Mord.<br />
Der <strong>Schatten</strong> und die Schemenhaftigkeit des<br />
Menschen suggerieren Leblosigkeit, Unbewegtheit<br />
und Starre.<br />
„Die gespenstische Unwirklichkeit des<br />
Menschen begreift der Expressionist häufig<br />
sinnbildlich im <strong>Schatten</strong>.“<br />
Bei Nosferatu ist der <strong>Schatten</strong> und damit der<br />
Vampir das zweite Ich Hutters, die Nachtseite<br />
des im hellen Tageslicht braven Bürgers. Die<br />
visuelle Ebene zeigt uns den Vampir als Inkarnation<br />
der Pest und das personifizierte Böse.<br />
Symbolisch stehen auch die Ratten für die Pest.<br />
Sie kommen wie <strong>Schatten</strong> über die Stadt und<br />
infizieren die Bewohner Wisborgs. Der <strong>Schatten</strong><br />
als filmisches Element für die Umsetzung<br />
von technischen, poetischen und emotionalen<br />
Effekten wird bis in die Gegenwart in Thrillern<br />
und Horrorfilmen benutzt. Der expressionistische<br />
Film in Deutschland hat damit Standards<br />
geschaffen von dem heute noch Filmemacher<br />
profitieren und wie Tim Burton beispielsweise<br />
einzelne Stilelemente weiter verfremden und<br />
in Filmen, wie Sleepy Hollow und Nightmare<br />
before Christmas eingesetzt haben. Bei Murnau<br />
steht der <strong>Schatten</strong> für den Einbruch des Dämonischen<br />
in die bürgerliche Idylle. Gleichwohl ist<br />
der <strong>Schatten</strong> auch immer Übergang von der<br />
realen in die phantastische Welt.<br />
Auf der Bedeutungsebene steht der <strong>Schatten</strong><br />
als Sinnbild für die kollektiven Ängste während<br />
der verworrenen Zeit in der Weimarer Republik<br />
und wenn man bedenkt in welcher Zeit er<br />
gedreht wurde –Anfang der 20er Jahre- auch<br />
für die Bewältigung der Schrecken des Ersten<br />
Weltkrieges. Nachträglich wurden Murnau<br />
voraussehende Fähigkeiten im Hinblick auf das<br />
aufstrebende Nazireich zugeschrieben, so dass<br />
die über die Stadt kommende Pest auch für die<br />
braune Pest = Nazireich stehen könnte.
Christina Nur<br />
Inhalt<br />
1. Expressionismus und Film<br />
2. Der expressionistische<br />
Film „ Das Cabinet des Dr.<br />
Caligari“<br />
3. Verschiedene Darstellungen<br />
von <strong>Schatten</strong> im Film<br />
„Caligari“ und deren<br />
Bedeutungen<br />
Filmschatten:<br />
„ Das Cabinet des<br />
Dr. Caligari“ ( 1919 )<br />
Abb.1 Wie ein <strong>Schatten</strong> an der Wand, Standbild aus „Das Cabinet des Dr. Caligari“<br />
1. Expressionismus und Film<br />
„Expressionismus und Film forderten sich<br />
gegenseitig heraus. Der Film verlangte als letzte<br />
Konsequenz die Übersteigerung und Rhytmisierung<br />
der Gebärde, der Expressionismus die<br />
Darstellungs- und Variationsmöglichkeiten der<br />
Leinwand“ ( Ihering, 1920. In: Belach/ Bock<br />
1995: 145 ).<br />
Nach der Frage, was der Expressionismus im<br />
Film zu tun habe antwortete der Caligari- Regisseur<br />
Robert Wiene „ Kunst ist überall, wo<br />
Künstler schaffen, und weil der Film wertvolle<br />
künstlerische Kräfte in seinen Dienst gestellt<br />
hat, ist er Kunst- und mußte in seiner Entwicklung<br />
notwendigerweise zum Expressionismus<br />
gelangen“ ( Zitiert nach Wiene: Expressionismus<br />
im Film, 1922. In: Belach/ Bock 1995: 150 ).<br />
Bevor der Expressionismus auf der großen<br />
Leinwand zum Leben erwachte, hatte er sich<br />
bereits seinen Weg durch die bildende Kunst,<br />
Theater und Literatur gebahnt.<br />
„ Naturalismus und Impressionismus hatten ein<br />
115<br />
Menschalter für sich gehabt, als es 1909/10<br />
plötzlich allenthalben zu einer unaufhaltsamen<br />
Gegenbewegung kam, die sich auch gegen die<br />
Reste des Historiszismus, kurz gegen alle Wirklichkeitskunst<br />
wendete. Diese Gegenbewegung<br />
heißt Expressionismus. Man faßt heute vielerlei<br />
unter diesem Namen zusammmen: gemeinsam<br />
ist allen Richtungen des Expressionismus: das<br />
Negative, der Gegensatz zur Wirklichkeitskunst.<br />
Für den expressionistischen Künstler bedeutet<br />
das Äußere zugleich das Äußerliche. Er aber<br />
will das Innerliche widergeben, den stärksten<br />
( malerischen oder dichterischen) Ausdruck<br />
finden, für das, was er erlebt hat“ ( Zitiert nach<br />
Wiene: Expressionismus im Film, 1922. In: Belach/<br />
Bock 1995: 150 ).<br />
Häufige Themen im Expressionismus waren<br />
– Großstadtleben, Wahnsinn, Leiden, Tod und<br />
Abstraktion. Im Expressionismus als künstlerisches<br />
Aufbegehren gegen die Wirklichkeit galt<br />
es auf eine getreue Abbildung der Wirklichkeit<br />
zu verzichten und die subjektiven Innenwelten<br />
und Empfindungen zum Ausdruck zu bringen.<br />
„ Indem die expressionistische Inszenierung des
Abb. 2 und 3 Expressionismus<br />
im Film, Standbilder „Caligari“<br />
Films seelische Ereignisse nach außen projizierte,<br />
symbolisierte sie... jenen allgemeinen<br />
Rückzug in die Innenwelt, der in Deutschland<br />
nach dem Kriege erfolgte“ ( Kasten 1990: 30 ).<br />
Expressionistische Filme können also als Reaktion<br />
auf die gesellschaftliche Krise des Anfangs<br />
des 19.Jahrhunderts interpretiert werden ( Kasten<br />
1990: 30 ). Die Weimarer Republik mit ihrer<br />
patriarchalisch-autoritären Struktur und dem<br />
vorherrschenden Patriotismus und Mi<strong>lit</strong>arismus<br />
sowie die Grauen des ersten Weltkrieges lagen<br />
hinter den Menschen. Die Kunst war dabei eine<br />
Aufschrei gegen die etablierte Gesellschaft,<br />
gegen herrschende Konventionen und den<br />
Wahnsinn des Krieges.<br />
„ Für das Filmdrama entstand ... die Frage, ob<br />
es entschlossen auf Wirklichkeitsdarstellung<br />
verzichten und im Reiche des Unwirklichen- der<br />
Geistigkeit, des Gefühlsausdrucks, neue Aufgaben<br />
finden könnte“ ( Zitiert nach Wiene, 1922.<br />
In: Belach/ Bock 1995: 151 ). Ein Kritiker fragte<br />
„ nach der Premiere des Stummfilms „ Das<br />
Cabinet des Dr. Caligari“, wie man wohl „ die<br />
konturverschwommene Stimmung des Unwirklichen,<br />
seelisch verzerrten auf der Leinwand<br />
ausdrücken“ könne. Die Antwort gab er selbst:<br />
„ nur mit malerischen Mitteln.““ ( Zitiert nach<br />
Hamburger Abendblatt, 2007 ). „ Der künstlerische<br />
Film, das wird der unnaturalistische sein!“ (<br />
Zitiert nach: Kasten 1990: 185 ) Als „ Phantastische<br />
Kulissen in Bewegung“ ( Kasten 1990: 27<br />
) wird das Filmkunstwerk angesehen. Dies geschieht<br />
im Übertragen der abstrakten Malerei<br />
auf den Film, in der Weise, dass ein Bild gezeigt<br />
wird, dessen Formen in ständiger Bewegung<br />
sind ( vgl.ebd. und Abb. 1 u. 2).<br />
„Der Film ist die einzige rechtmäßige Heimat<br />
116<br />
des Expressionismus“ 1924 Bela Balazs (ebd ).<br />
Denn „ das Lichtspiel ist Gefühlskunst, keine<br />
Gedankenkunst. Wer ins Lichtspiel geht, will<br />
nicht denken, sondern fühlend erleben“ ( Zitiert<br />
nach: Kasten 1990: 180 ). Und „ im Film ist die<br />
stärkste Körperlichkeit vergeistigt, und der Geist<br />
erhält den durchsichtigen, schattenhaften Körper,<br />
durch den er bildlich wird“ ( Wiene 1922:<br />
Belach/ Bock 1995: 151 )<br />
Dem Medium Film war es vorbehalten das<br />
populärste Bild des Expressionismus zu verbreiten.<br />
In der Malerei war der expressionistische<br />
Höhepunkt längst überschritten, als Robert<br />
Wiene 1919 den Stummfilm „ Das Cabinet des<br />
Dr. Caligari“ drehte. Die Kunst etablierte sich im<br />
Film und Film wurde als Kunst angesehen. „ Die<br />
Frage, ob Kunst im Film möglich ist“ ( Kasten<br />
1990: 50 ) wurde durch den Film Caligari<br />
„endgültig entschieden“ ( ebd. ).Der Bereich<br />
der Modernen Kunst war zum Zeitpunkt des Erscheinens<br />
des Caligari-Films eine Sache für die<br />
intellektuelle Avantgarde, während diese auf<br />
die Filmindustrie eher verächtlich denn begeistert<br />
herabschauten ( vgl. Remge 2006 : 96 ).<br />
Der expressionistische Film brachte die abstrakte<br />
Kunst einem breiten Publikum nahe und<br />
erzielte damit internationale Erfolge.Außerdem<br />
gewährleistete „ Kunst ...Export“ ( Kracauer<br />
1979: 72 ), den die deutsche Filmindustrie nach<br />
dem 1. Weltkrieg dringend wieder brauchte.<br />
Im Medium Film verbinden sich die unterschiedlichsten<br />
Elemente aus Literatur, Kunst,<br />
Theater und Musik. Carl Hauptmann, Verfasser<br />
expressionistischer Lyrik und Prosa, erkannte<br />
als wesentliches ästhetisches Element des Films<br />
die theatrale Gebärde im Stummfilm. „ Die<br />
Gebärde das ist das Urbereich aller seelischen<br />
Mitteilung“( Zitiert nach Kasten 1990: 27 )<br />
Die ansonsten als filmtechnischer Mangel<br />
betrachtete stumme Darstellungsmöglichkeit<br />
kann damit als wichtiges expressionistisches<br />
Seelenartikulationsmittel gesehen werden (<br />
ebd.).<br />
2. Der expressionistische Film „ Das Cabinet<br />
des Dr. Caligari“<br />
„Das Cabinet des Dr. Caligari löste einen<br />
wahren Boom an expressionistischen Filmen<br />
aus und sein Einfluß auf die Filmindustrie ist<br />
unerreicht“ ( Remge 2006: 96 ). Unter dem Begriff<br />
„ Caligarisme“ ( Kracauer 1979: 78 ) war all<br />
das gemeint, was im Film als expressionistisch<br />
gelten konnte. Stilmittel des expressionistischen<br />
Films „ Das Cabinet des Dr. Caligari“sind:<br />
- antinaturalistische Ästhetik, expressive Bildhaftigkeit<br />
- Studioaufnahmen ( gebautes und gezeichnetes<br />
Dekor )<br />
- gemalte Licht- und <strong>Schatten</strong>effekte ( starke<br />
Hell-Dunkel-Kontraste)<br />
- Licht als graphisches Element „ Das Filmbild<br />
muss Graphik werden“<br />
- bizarres und irreales Dekor / verschobene<br />
Perspektiven ( spitzwinklig)
- zerbrochene Typografie und Ornamentik der<br />
Zwischentitel<br />
- theatralische Ausdrucksweise in Mimik und<br />
Gestik<br />
- Viragieren ( farbliche Tönung) des Filmmaterials,<br />
um Stimmung zu unterstreichen<br />
- Musik als dramaturgisches Instrument- assozziert<br />
Wahnsinn<br />
- Statische Kamera, lange Einstellungen, Einrahmung<br />
des Filmbildes durch Masken, Auf /<br />
Abblenden der Szenen<br />
Für den „ Expressionismus emblatisch verbindet<br />
der Film „ Das Cabinet des Dr. Caligari“ die perspektivische<br />
Verzerrung und Ablehnung rechter<br />
Winkel mit Geisteskrankheit und Verbrechen“ (<br />
Dokumentation „ Aufschrei des Ichs“ auf Arte ).<br />
Dieser Film „ ist der modernste, aktuellste,<br />
gewagteste Film, den die Welt je gesehen hat.<br />
Man wird zugeben müssen, daß der Regisseur<br />
Robert Wiene die Trennung zwischen Leben<br />
und Kunst vollzogen hat. Was dieser Film<br />
darstellt, ist restlos stilisiertes Erleben, ist ein Versuch,<br />
vom Film zur Wirklichkeit Stellung zu nehmen,<br />
wie es bisher nur die reine Kunst versucht<br />
hat“( Zitiert nach: Belach / Bock 1995: 140 ).<br />
Das Thema des Films „ ist für den Aufbau einer<br />
expressionistischen Umwelt sehr geeignet. Die<br />
Dekorationen erwachsen aus der Handlung<br />
und Stimmung des Augenblicks: Schiefwinklige<br />
Aufbauten, absichtlich verzeichnete Perspektiven,<br />
matte und harte Konturen, auf den<br />
Szenenmittelpunkt konzentrierte Lichtquellen<br />
wirken gespenstische, grausig, friedlich, lieblich,<br />
nüchtern, aufregend, wie es die Situation jeweils<br />
erfordert“( Belach / Bock 1995:142 ).<br />
Der Film machte mit einer großen Werbekampagne<br />
auf sich aufmerksam, die in die<br />
Filmgeschichte einging. In der Filmzeitschrift<br />
„ Der Film-Kurier“ wurde eine Woche vor der<br />
Premiere täglich der Slogan „ DU MUSST CALI-<br />
GARI WERDEN“ annonciert ( vgl. Kasten 1990:<br />
39 ). Auch im Stadtbild Berlins kam die Bevölkerung<br />
nicht an dieser mystischen Aussage<br />
vorbei, denn die Werbung für den Film prangte<br />
von vielen Litfaßsäulen und Anzeigetafeln der<br />
U-Bahnstationen. Die Gestaltung des Plakates<br />
war im expressionistischen Stil gehalten. Mit „<br />
zerbrochenen, unruhig-spiralförmigen Schriftzügen“<br />
( Kasten 1990: 39 ) lenkte der Slogan<br />
die Aufmerksamkeit auf sich, zumal aus dem<br />
Plakat nicht zu schließen war, wofür geworben<br />
wurde. Erst bei der Premiere wurde aufgelöst,<br />
dass es sich um einen expressionistischen Film<br />
handelte.<br />
„Das Cabinet des Dr. Caligari“ - Inhalt<br />
Der Film erzählt die Geschichte des Schaustellers<br />
Caligari, der mit Hilfe seines schlaf-wandlerischen<br />
Mediums Cesare grausame Morde<br />
begeht. Der Somnambule Cesare wird auf dem<br />
Jahrmarkt als zukunftsvoraussagendes Schauobjekt<br />
ausgestellt. Die Freunde Francis und<br />
Alan wollen den geheimnisvollen Mörder, der<br />
117<br />
in der Stadt Holstenwall sein Unwesen treibt,<br />
ausfindig machen. Alan wird unter mysteriösen<br />
Umständen ermordet. Erst am Ende des Films<br />
erfährt der Zuschauer, dass die Geschichte das<br />
Hirngespinst eines Irrenhausinsassen ( Francis)<br />
darstellt, dessen Direktor wiederum Caligari ist.<br />
Dieser ist in Francis Vorstellungen besessen von<br />
den hypnostischen Experimenten eines alten<br />
Mystikers namens Caligari, der einen Somnambulen<br />
zu Morden anstiftete.Die ineinander<br />
verschachtelten Geschichten, die über<br />
Rückblenden erzählt werden und die Rahmenhandlung<br />
verwirren den Zuchauer zusätzlich.<br />
Abb.4 Theatralik, Standbild aus „Caligari“<br />
Der zeitgenössischer Filmtheoretiker Bela Balasz<br />
schrieb über den Film „ Caligari“:<br />
„ Expression bedeutet Ausdruck. Jedes Gefühl,<br />
das sich auf einem Gesicht spiegelt, ist so<br />
und deshalb so zu sehen, weil es die normalen<br />
Züge des Gesichtes verändert, sie anders ausdrückt,<br />
aus ihrer Ruhestellung erhebt. Je stärker<br />
das Gefühl, umso mehr wird sich<br />
das Gesicht verzerren.“ Der unheimliche Gesichtsausdruck<br />
des Dr. Caligari und sein<br />
„ zwielichtiges Äußeres“ ( Kasten 1990: 46 )<br />
wurden durch eine angeschminkte Nase<br />
sowie Bartstoppeln und einen verschlagen<br />
über den Brillenrand lugenden Blick, verstärkt.<br />
Durch das Deformieren der Gesichtsform wurde<br />
eine neue Ausdrucksmöglichkeit erstrebt,<br />
in welcher der akademisch festgelegten Kunstform<br />
der realistischen Abbildung eine innere<br />
und gefühlsbetonte Form des Ausdrucks entgegengesetzt<br />
wurde.<br />
Die Figur des Caligari wird folgendermaßen<br />
beschrieben: „ Jeder Naturalismus der Bewegung<br />
ist streng vermieden: alles Wirkliche ist<br />
aus dieser Figur herausgepumpt zum Besten<br />
einer höheren Wirklichkeit, die bedeutsamer<br />
und wesentlicher als unsere gelebte Welt ist.<br />
Auf absolut gleicher Höhe steht Veidt, der einer<br />
Vision Fleisch und Blut gibt, wie man sie im Film<br />
niemals gesehen hat. Grauen und Schwermut<br />
verschwistern sich in ihm, ein Blick dieser toten,<br />
leeren und doch strahlenden Augen dringt bis<br />
ins Herz“ ( Zitiert nach: Lichtbild-Bühne, Nr.9,<br />
28.2.1920; In: Belach / Bock 1995: 141) Vgl<br />
Abb. 5 und 6
Abb.5 und 6 Dunkle Gestalten, Standbilder aus „Caligari“<br />
2.1. Expressionistische Dekoration<br />
„ Alle expressionistischen Produktionen sind im<br />
Studio in gebauten Dekorationen mit zumeist<br />
aufgemalten Konturen, Formausgestaltungen<br />
und Details realisiert, der Materialcharakter<br />
aus Pappe und Leinwand ist häufig nicht nur<br />
unübersehbar, sondern regelrecht ausgestellt“<br />
( Kasten 1990: 140 ). Deshalb wurden expressionistische<br />
Filmdekors auch häufig als Theaterdekorationen<br />
empfunden. „ Kein Zuschauer<br />
erwartete in bizarr verzerrten Architekturen<br />
alltägliche Geschehnisse, sondern die gespannte<br />
Aufmerksamkeit für seltsame Ereignisse war<br />
bereits in die Dekors signalhaft geschärft“ (Kasten<br />
1990: 140 ). Das bizarre Dekor im Film „ Das<br />
Cabinet des Dr. Caligari“ erschafft eine dunkle<br />
und schaurige Atmosphäre. Eine unwirkliche<br />
118<br />
Geschichte braucht auch einen unrealistischen<br />
Raum, in der sie spielt. Merkwürdige Mordgeschichten,<br />
tragische Schicksale und der Wahnsinn<br />
ließen sich in einer expressionitischen antinatura<strong>lit</strong>ischen<br />
Ästhetik am wirkungsvollsten<br />
ausdrücken. Der Filmarchitekt des Caligari-Films<br />
Hermann Warm formulierte dazu „ der Expressionismus<br />
als Stil dient am besten der Welt und<br />
den Figuren dieses Filmes, ihren Halluzinationen,<br />
sowie den absonderlichen Geschehnissen.<br />
So erhält alles eine gespenstische-albtraumhafte<br />
Wirkung“ ( Kasten 1990: 45 ).<br />
Das Städtchen Holstenwall, wo die Geschichte<br />
des Films „ Das Cabinet des Dr. Caligari“ spielt<br />
„ glich... jenen Städte-Visionen, die der Maler<br />
Lyonel Feininger durch seine kantigen, kristallinischen<br />
Kompositionen heraufbeschworen<br />
hatte“ ( Kracauer 1979:75).<br />
Die zeitgenössische avantgardistische Malerei<br />
und Graphik ( vgl. Kasten 1990: 140 ) wurde<br />
auf den Film übertragen. Dabei waren „ die<br />
Fassaden und Räume des Architekten ... nicht<br />
nur Hintergründe, sondern Hieroglyphen. Sie<br />
drückten die Struktur der Seele in Raumverhältnissen<br />
aus“ ( Kracauer 1979: 82 ). ( Abb. 7 und<br />
8)<br />
Der expressionistische Künstler Schmidt-Roltuff<br />
definierte seine Kunstrichtung so: „ Wer Expressionismus<br />
sagt, meint Dramatik der Bildstruktur“<br />
( Kasten 1990: 182 ). Expressionistische Stilmittel<br />
sind: schräge, schiefe Hauswände / Dächer;<br />
Abb.7 und 8 Antinaturalistische Ästhetik erschafft<br />
eine unwirkliche Welt, Standbilder aus<br />
„Caligari“
Abb.9 (li), 10 (re) Eine artifiziell gesteigerte Bilddramatik und eine aus den Fugen<br />
geratene Welt: Standbild aus „ Caligari“, Ludwig Meidner, 1913 „ Das Eckhaus“<br />
perpektivische Verzerrungen; keine rechten<br />
Winkel, nur spitze; formale Brüche; keine getreue<br />
Abbildung der Wirklichkeit, sondern subjektiver<br />
Ausdruck; Deformierung, wodurch gesteigerte<br />
Ausdruckskraft verdeutlicht wird (Abb.<br />
9, 10). Auch in der Typografie der Zwischentitel<br />
spiegelt sich der expressionistische Stil des<br />
Films wider.( Abb.11 und 12 ) Die Schrift wirkt<br />
zerbrochen, zittrig und mit seelischem Aufruhr<br />
geschrieben. „ Und das Wort erscheint auch,<br />
Stileinheit wahrend, im Titel in spitzer, hingespritzter,<br />
fast körper-lich schreiender Linienführung“<br />
( Belach / Bock 1995: 143 ).<br />
Abb.11 und 12, Zwischentitel in expressionistischer Ausdrucksweise aus „Caligari“<br />
119<br />
Abb.10<br />
2.2 Licht und <strong>Schatten</strong> im expressionistischen<br />
Film „ Das Cabinet des Dr. Caligari“<br />
„ Dieser Film will die expressionistische Malerei<br />
im Kinoatelier lebensfähig machen“<br />
(Belach / Bock 1995: 140)<br />
„ Zu einem wesentlichen ästhetischen Mittel<br />
expressionistischer Filme entwickelte sich die<br />
Lichtgestaltung. Da alle diese Produktionen in<br />
Studios realisiert wurden, bestand zum einen<br />
die produktionstechnische Notwendigkeit,<br />
künstliche Lichtquellen zu benutzen, zum<br />
anderen aber auch die Dispotion, Licht als<br />
stilisierendes Mittel einzusetzen, um artifizielle<br />
Dekor-wirkungen zu unterstützen. Die Mitarbeit<br />
der Architekten an der Lichtgestaltung ist denn<br />
auch unübersehbar, was Lotte H.Eisner Anlaß<br />
zu der generalisiernden Vermutung gab, daß<br />
deren „ Skizzen bereits alle Licht- und <strong>Schatten</strong>effekte<br />
aufweisen“ „ ( Kasten 1990: 150 )<br />
In dem Film „ Das Cabinet des Dr. Caligari“ sind<br />
Licht- und <strong>Schatten</strong>effekte aufgemalt.<br />
„ Die enge Verbindung von Licht-und Dekor
Abb.13 und 14, Aufgemalte<br />
Licht und <strong>Schatten</strong>effekte<br />
schaffen Tiefenperspektive und<br />
Räumlichkeit, Standbilder aus<br />
„Caligari“<br />
gestaltung ist bei den aufgemalten Licht- und<br />
<strong>Schatten</strong>effekten des CALIGARI unübersehbar.<br />
Geboren wurde diese Idee aus produktionstechnischen<br />
Notlagen und Zwängen, da das<br />
Stromkontingent der Produktion sich dem Ende<br />
neigte, und das Studio nur über wenige Hochleistungsscheinwerfer<br />
verfügte“ ( Kasten 1990:<br />
150 ). Das Lixie-Atelier in Berlin gewann als Glasatelier<br />
noch einen großen Teil des Lichtbedarfs<br />
– durch Vorhänge und Blenden reguliert- aus<br />
Naturlicht. „ Kontrastreiche, scharf gegeneinandergesetzte<br />
und eng umrissene Lichteffekte<br />
ließen sich mit der Beleuchtungstechnik des<br />
Lixie-Ateliers nur unzureichend erzielen, da mit<br />
Naturlicht sowie schwach und diffus aufhellenden<br />
Jupiterlampen gearbeitet werden mußte.<br />
Die malerische Ausgestaltung übernahm es<br />
deshalb, scharf abgegrenzte Helldunkel-Effekte<br />
zu vermitteln, etwa wenn Lichtsterne auf dem<br />
120<br />
Boden dunkel umrahmt sind, oder im dunklen<br />
Hintergrund von Straßen oder Räumen ein<br />
helles Fenster leuchtet. Obwohl nicht in jeder<br />
Szene realisiert und durch unzureichende Produktionstechnik<br />
erschwert, ist doch die Idee für<br />
scharfe Helldunkel-Kontraste der Beleuchtung<br />
in CALIGARI entworfen, so daß tendenziell<br />
‚this clash and this pitiless struggle between<br />
light and darkness... key principle of Expressionist<br />
lightning technique‘“wurde (Kasten 1990:<br />
150) „Die Rolle der Lichtfarbe als kondensierendes<br />
ästhetisches Mittel übernahmen im Film<br />
<strong>Schatten</strong>, die zuweilen , z.B. in CALIGARI ...<br />
sogar aufgemalt waren“ ( Kasten 1990: 153 )<br />
Licht wurde als architektonisches Mittel benutzt<br />
und brachte demnach eine Tiefenperspektive<br />
in das zweidimensionale Filmbild (vgl. Kasten<br />
1990: 151). (siehe Abb.13 und 14). „In der<br />
betonten Erzeugung dunkler Kontrastflächen<br />
verstärkten die Beleuchter und Architekten<br />
expressionistischer Filme besonders <strong>Schatten</strong>.<br />
Licht erschien in schattenreichen Bildkompositionen<br />
wie „ a frenzied cry of anguish devourced<br />
by the greedy maws of the <strong>shadows</strong>“ (Kasten<br />
1990: 151) „Der wesentliche Stimmungsgehalt<br />
dieser stürzenden Flächen und aufreizenden<br />
Linien fließt aus dem Licht her, das kunstvoll<br />
Hell und Dunkel scheidet, das, aufgemalt,<br />
die Flächen bewegt und ihre Neigung unterstreicht.<br />
Einer der Architekten des Films,<br />
Hermann Warm, hat erklärt „ Das Filmbild muß<br />
ein lebendige Graphik werden“. Diese Tendenz<br />
gibt der Architektur ihre innere Lebendigkeit“<br />
( Kasten 1990: 23 ). „ Das Licht hat den expressionistischen<br />
Filmen die Seele eingehaucht“<br />
(ebd.) Dabei ist „ die Seele ... in jenen Filmen die<br />
eigentliche Quelle des Lichts“ ( Kracauer 1979:<br />
82 ).<br />
3. Die Bedeutung des <strong>Schatten</strong> im Expressionismus<br />
und im Film „ Das Cabinet des<br />
Dr.Caligari“<br />
„Die gespenstische Un-Wirklichkeit des Menschen<br />
begreift der Expressionist häufig sinnbildlich<br />
im <strong>Schatten</strong>“ ( Rothe 1977: 439 ). Die symbolischen<br />
Bedeutungen von <strong>Schatten</strong> in der<br />
expressionistischen Literatur dienen meistens<br />
zur Beschreibung von Scheinwesen, Gespenstern<br />
oder Lebendig-Toten. Diese führen ein<br />
<strong>Schatten</strong>- und Nachtdasein, entstammen einem<br />
dunklen Reich und verbreiten als schehmenhafte<br />
Phantome Angst und Schrecken. <strong>Schatten</strong>bilder<br />
werden demnach als Sinnbild für das Böse,<br />
die drohende Gefahr, Leid und Tod gesehen.<br />
„ Als <strong>Schatten</strong> , Schemen und Scheinwesen ist<br />
der Mensch von jeder Wirklichkeit entleert, der<br />
leere und nichtige Mensch“ (ebd). Eine „ Welt<br />
der ,<strong>Schatten</strong>‘ und des puren ,Scheins‘, welche<br />
einen „ gespenstigen, bodenlosen, schwankenden<br />
Charakter“ ( Rothe 1977: 34 ) annimmt und<br />
unwirklich wirkt, wird im Expressionismus hervorgehoben.<br />
„Die Verfassung eines ,lebend tot‘<br />
manifestiert sich für die Expressionisten jeodch<br />
nicht allein in ,Gespenst‘ und ,<strong>Schatten</strong>‘, den<br />
Sinnbildern entleerter menschlicher Existenz.
Abb.15, Unwirkliche <strong>Schatten</strong>, Standbild aus „Caligari“<br />
Abb.16, Foto aus dem Hamburger<br />
Abendblatt, Rubrik „ Kultur<br />
und Medien“ vom 18.5.2007<br />
Vielmehr verrät sie sich mindestens ebensosehr<br />
in einer Starre, deren bevorzugte Allegorien die<br />
Maschine, der Automat und die Puppe sind“<br />
(Rothe 1977: 443).<br />
3.1 Verschiedene Darstellungen von<br />
<strong>Schatten</strong> im Film „Caligari“ und deren<br />
Bedeutungen<br />
Anhand mehrerer Filmbeispiele aus dem Film „<br />
Das Cabinet des Dr. Caligari“ werden die unterschiedlichen<br />
visuellen wie auch symbolischen<br />
Darstellungen und Bedeutungen von <strong>Schatten</strong><br />
in diesem expressionistischen Film untersucht.<br />
Filmbeispiele<br />
„Nur vereinzelt erscheinen wirkliche <strong>Schatten</strong> in<br />
der Bildkomposition. Doch wenn sie eingesetzt<br />
werden, haben sie herausragende filmbildnerische<br />
Qua<strong>lit</strong>äten und dramaturgische Bedeutung“<br />
(Kasten 1990: 46).<br />
121<br />
Mehrere unwirkliche <strong>Schatten</strong><br />
Als ein Beispiel aus dem Film „ Das Cabinet des<br />
Dr. Caligari“ ist die Szene zu nennen, in welcher<br />
Caligari als Jahrmarktaussteller seinen Somnambulen<br />
Cesare der neugierigen Menschenmenge<br />
über Ausrufe angepriesen hat und nun bereit<br />
ist sein Schauobjekt live zu präsentieren. Die<br />
Stimmung ist in dieser Szene aufgeladen durch<br />
die erwartungsvolle Anspannung des Publikums<br />
im Zeltkabinett und dessen Erwartungen,<br />
wie der Somnambule aussehen wird und ob<br />
die Versprechungen des Caligari, der Somnambule<br />
könne die Zukunft voraussagen, eintreffen<br />
werden. Caligari zögert den Moment des Öffnens<br />
des Sarges, in welchem sich Cesare befindet,<br />
hinaus und gestikuliert mit weit ausladenden<br />
und expressiven Gesten. Dabei wird er von<br />
mehreren Lichtquellen von unten gleichzeitig<br />
angestrahlt, wobei er drei unwirkliche <strong>Schatten</strong><br />
an unterschiedliche Stellen der Zeltbühne wirft.<br />
Auf dieser visuellen Ebene wird das Einsetzen<br />
von <strong>Schatten</strong> im Film dazu verwendet eine mystische<br />
und unheimliche Stimmung zu unterstreichen.<br />
Die Tatsache, dass Caligari drei <strong>Schatten</strong><br />
gleichzeitig wirft, jedoch für den Rezipienten<br />
des Films nur eine Lichtquelle erschließbar ist,<br />
unterstützt die Wirkung des unwirklichen und<br />
mystischen Moments.(Abb.15) „Mystik und Groteske<br />
sind Wirkungserscheinungen expressionistischen<br />
Ausdruckswillens...“ ( Belach / Bock<br />
1995: 139 ). Denn „die Groteske erwies sich als<br />
ein besonders geeignetes und beliebtes Mittel<br />
für die Darstellung des Un-Wirklichen, Gespenstigen<br />
des Menschen“ ( Rothe 1977: 436 ).<br />
„Nur Caligari und Cesare werfen bedrohliche<br />
<strong>Schatten</strong>, während sie bei den übrigen Personen<br />
meist undeutlich oder ganz vermieden<br />
sind“ (Kasten 1990: 46). Diese ästhetische und<br />
gezielte Darstellung von <strong>Schatten</strong> bei den<br />
beiden von dunklen Mächten beherrschten<br />
Charakteren unterstreicht deren böse Absichten<br />
(Abb. 16).<br />
Das Erwachen des <strong>Schatten</strong>wesens<br />
Cesare<br />
Der erste Auftritt des Somnambulen Cesare im<br />
Film wird dramaturgisch hinausgezögert und<br />
bei Cesares Erwachen bleibt die Kamera allein „<br />
27 Sekunden auf seinem Gesichtsausdruck“<br />
(Kasten 1990 : 49). In zeitgenössischen Kritiken<br />
wurde hervorgehoben, dass in dieser Szene<br />
laute erschreckte Ausrufe aus dem Publikum zu<br />
hören waren und sogar Frauen in Ohnmacht<br />
fielen (vgl. Dokumentation „ Aufschrei des Ichs“<br />
auf Arte). Die die Dramatik der Szene steigernde<br />
Musik unterstützt die kaum auszuhaltende<br />
Atmosphäre des hier vorgeführten Wahnsinns.<br />
Das langsame Erwachen des <strong>Schatten</strong>wesens<br />
aus seiner „ dunklen Nacht“ (Auszug aus Zwischentitel<br />
im Film) und die weit aufgerissenen,<br />
starr ins Leere blickenden Augen, heben das<br />
gespenstisch-unheimliche der Figur Cesares<br />
hervor. Die theatralische Darstellung der Mimik<br />
und das stark kontrastreiche geschminkte Gesicht<br />
Cesares sind Stilmittel für die expressio
Abb. 17 und 18, Cesare, das<br />
<strong>Schatten</strong>wesen erwacht aus<br />
seiner dunklen Nacht, Standbilder<br />
aus „Caligari“<br />
nistischen Filme der Zeit des Caligari-Films. Das<br />
schwarz-weiß geschminkte Gesicht der Figur<br />
Cesare unterstreicht dessen Abhängigkeit von<br />
Caligari. Cesares Blick scheint nicht real zu sein,<br />
er schaut einen nicht direkt an, sondern durch<br />
einen hindurch. ( Abb.18 ) Ein aus dem Reich<br />
der <strong>Schatten</strong> auferstandendes Wesen, welches<br />
eher lebendig-tot als lebend durch die Gegend<br />
geistert. In einer Art Tranczustand ist er nur ein<br />
<strong>Schatten</strong> seiner selbst. Wie Caligari auf dem<br />
Jahrmarkt angekündigt hat, schläft Cesare die<br />
meiste Zeit seines Lebens und erwacht nur auf<br />
Befehl seines Meisters. Damit ist er manipulierbar<br />
und nur das marionettenhafte Instrument<br />
seines Gebieters Caligari. Das <strong>Schatten</strong>wesen<br />
verkörpert das Mystische und Übersinnliche<br />
nicht nur dadurch, dass es ununterbrochen<br />
schläft, sondern auch dadurch, dass es die<br />
Zukunft prophezeihen kann.<br />
Der Begriff Somnambulismus lässt sich aus<br />
dem Lateinischen „somnus“ – der Schlaf und<br />
„ambulare“- wandern, ableiten. „ Das Schlafwandeln<br />
oder Nachtwandeln ist ein Zustand,<br />
in dem der Schlafende aufsteht, umhergeht<br />
und Tätigkeiten verrichtet. Nach dem Aufwachen<br />
kann er sich oft an nichts mehr erinnern“<br />
( vgl.Wikipedia ) Während des Schlafwandelns<br />
befindet sich der Wandelnde in einem anderen<br />
Bewußtsein und verrichtet Dinge, die er im<br />
wachen Zustand niemals tun würde. „ In der<br />
Hypnose bezeichnet man Somnambulismus<br />
als den Zustand der durch Hypnose hervorgebrachten<br />
tiefsten Form der Trance. Es sind sogar<br />
absolute Einzelfälle bekannt, wo während<br />
des Schlafwandelns Straftaten- sogar Morde-<br />
verübt wurden“ (ebd). So ist der Somnambule<br />
Cesare im Film „ Das Cabinet des Dr. Caligari“<br />
nur das ausführende Objekt und die Marionette<br />
von Caligari, der ihn für seine mörderischen<br />
Absichten missbraucht. Cesare wird wie eine<br />
Maschine oder Puppe von „Gewalten und<br />
Mächten außerhalb ihrer selbst angetrieben<br />
bzw. gesteuert“ (Rothe 1977: 443).<br />
Mord als <strong>Schatten</strong>spiel<br />
Ein weiteres Beispiel für die bewußt eingesetzte<br />
Darstellung von <strong>Schatten</strong> und der daraus entstehenden<br />
Dramatik für den Film „ Das Cabinet<br />
des Dr. Caligari“ ist die Mordszene an Alan. Hier<br />
spielt die visuelle Einsetzung von <strong>Schatten</strong> eine<br />
dramaturgisch wichtige Rolle und unterstützt<br />
die bedrohliche Stimmung der Szene.<br />
122<br />
In der angesprochenen Mordszene liegt Alan in<br />
seinem Bett, als er plötzlich aufschreckt, denn<br />
ein überdimensionaler <strong>Schatten</strong> baut sich an<br />
der Wand neben seinem Bett auf. ( Abb.19 )<br />
Es ist Nacht, wie im Zwischentitel des Films an-<br />
Abb.19, Ein überdimensionaler <strong>Schatten</strong><br />
wächst an der Wand, Standbild aus „Caligari“<br />
Abb.20, 21, 22, Der Mord als <strong>Schatten</strong>spiel,<br />
Standbilder aus „Caligari“
gekündigt und die damit verbundene düstere<br />
Atmosphäre und die Voraussetzung, dass wenig<br />
Licht vorhanden ist, haben den Zuschauer<br />
in eine unheimliche Stimmung versetzt. Des<br />
Nachts im Dunkeln geschehen die grausamen<br />
Verbrechen. Die Aussage des Somnambulen<br />
Cesare, dass Alan nur noch bis zum Morgengrauen<br />
zu leben hat, schwebt als dunkle Vorahnung<br />
im Raum. In Detailaufnahmen sieht der<br />
Zuschauer Alans entsetztes Gesicht und seine<br />
sich verteidigenden abwehrenden Hände. Der<br />
überdimensionale <strong>Schatten</strong> packt Alan und<br />
versucht ihn mit einem spitzen Gegenstand zu<br />
töten (Abb. 20, 21). Der Mörder ist dabei nur<br />
als schehmenhafte Silhouette erkennbar. Beide<br />
Figuren in dieser Szene, sowohl der Mörder als<br />
auch der Ermordete sind nur noch als <strong>Schatten</strong><br />
an der Wand sichtbar. Die <strong>Schatten</strong> sind<br />
in dieser Szene autonom und unabhängig<br />
von ihrer gegenständlichen Rea<strong>lit</strong>ät dargestellt.<br />
Der <strong>Schatten</strong> besitzt in dieser Szene die<br />
Symbolik des anonymen und nicht greifbaren<br />
Mörders. Anhand der <strong>Schatten</strong>umrisse lässt<br />
sich für den Zuschauer nur erahnen, wer der<br />
wirkliche Mörder Alans zu sein scheint. Diese<br />
Ungewißheit verstärkt die bedrohliche Atmosphäre<br />
der Mordszene. Der Ermordete kennt<br />
das wahre Gesicht des Mörders, der ahnungslose<br />
Zuschauer jedoch nicht und ist nun den<br />
weiteren Verlauf des Films über in angstvoller<br />
Spannung. Die Aufgabe ist es sowohl für die<br />
Hauptfigur des Films als auch für den Zuschauer<br />
den Mörder zu suchen und zu entlarven. Die<br />
visuelle Darstellung einer <strong>Schatten</strong>figur spielt<br />
auf die düstere und bedrohlich-unheimlich Bedeutungsebene<br />
von <strong>Schatten</strong> an. Ein <strong>Schatten</strong><br />
wird mit der drohenden Gefahr, mit Angst und<br />
Schrecken assoziiert. Der <strong>Schatten</strong> besitzt eine<br />
Anonymität, die ihn zu etwas Gespenstischem<br />
macht, da nicht erkennbar wird, wer sich hinter<br />
diesem <strong>Schatten</strong> verbirgt. Das Unbekannte, in<br />
dem hier besprochenen Fall der unbekannte<br />
<strong>Schatten</strong> eines Wesens, erzeugt die Emotionen<br />
von Schrecken und Unheil. Da die Ermordung<br />
Alans nur durch <strong>Schatten</strong>bilder an der Wand<br />
inszeniert ist, ergänzt der Zuschauer im Kopf<br />
das Mord-geschehen. Dadurch erfährt die nur<br />
indirekte Darstellung des Mordes erst ihre Grausamkeit<br />
(Abb.22). „<strong>Schatten</strong> begleiten fast alle<br />
expressionistischen Helden in der Antizipation<br />
ihrer obsessiven Taten. Dramatische, zur Klimax<br />
gesteigerte Handlungsläufe, etwa der Mord an<br />
Alan in CALIGARI, sind durch <strong>Schatten</strong> inszeniert“<br />
( Kasten 1990: 153 ). Dabei wird der<br />
„ dramatische Höhepunkt, der Mord an Alan,<br />
... gänzlich durch an die Wand geworfene<br />
<strong>Schatten</strong> dargestellt und wirkt in der indirekten<br />
Darstellung noch unheimlicher“ (Kasten 1990:<br />
46 ). Die indirekte Darstellung des Mörders<br />
in der bloßen <strong>Schatten</strong>darstellung ist auch<br />
noch in gegenwärtigen Filmen ein beliebtes<br />
filmisches Stilmittel, um Angst und Spannung<br />
beim Zuschauer zu erzeugen. Ein berühmtes<br />
Beispiel ist die Mordszene unter der Dusche in<br />
Alfred Hithocks Psycho, der vierzig Jahre später<br />
als der Caligari Film entstand und auf ähnliche<br />
123<br />
filmische Mittel des Schreckens-Inszenierens<br />
zurückgreift (vgl. Kasten 1990: 49 ).<br />
Filmbeispiele: Gemalte <strong>Schatten</strong><br />
Licht und <strong>Schatten</strong>effekte im Film sind aufgemalt<br />
und wirken als graphisches Element.<br />
„ Das Filmkunstwerk muss eine lebendige<br />
Graphik werden“ dabei entsteht eine gesteigerte<br />
bildhafte Dramatik, die unwirklich und<br />
albtraumhaft erscheint. „ Gemalte <strong>Schatten</strong>,<br />
die nicht mit den zu erwartenden Lichteffekten<br />
übereinstimmen“ ( Kracauer : 75 ) unterstützen<br />
die irreale Wirkung der Geschichte. Außerdem<br />
prägen „ starke Helldunkel-Kontraste ... die<br />
Lichtgestaltung“ ( Kasten 1990: 46 ) „ Aufgemalte<br />
helle Lichtflecke bilden häufig den Schwerpunkt<br />
der Bildkomposition“ ( Kasten 1990: 46 )<br />
Sternförmige aufgemalte Lichtausstrahlungen<br />
der Straßenlaternen zum Beispiel (Abb.23). „<br />
Licht ist“ dabei „ als helles Blumenmuster unter<br />
der Laterne aufgemalt und die Schlagschatten<br />
der Häuser sind als dunkel gemalte Rhomben<br />
wiedergegeben“ ( ebd.)<br />
Abb.23 und 24 Gemalte Licht- und <strong>Schatten</strong>effekte,<br />
Standbilder aus „Caligari“<br />
„ Es war ihre expressionistische Einstellung, die<br />
immer wieder deutsche Kamermänner dazu<br />
trieb, <strong>Schatten</strong> zu erzeugen, die wie Unkraut<br />
wucherten“ ( Kracauer 1979: 82 ). Licht und<br />
dazugehöriger <strong>Schatten</strong> können voneinander<br />
unabhängig betrachtet werden und besitzen<br />
durch das gemalte eine Autonomie. „In der<br />
betonten Erzeugung dunkler Kontrastflächen<br />
verstärkten die Beleuchter und Architekten<br />
expressionistischer Filme besonders <strong>Schatten</strong>.<br />
Licht erschien in schattenreichen Bildkompositi
Abb. 25 Cesare wirkt wie ein <strong>Schatten</strong> an der<br />
Mauer, Standbild aus „Caligari“<br />
onen wie „ a frenzied cry of anguish devourced<br />
by the greedy maws of the <strong>shadows</strong>“ ( Kasten<br />
1990: 151 ) Und er stellte „ der Phantastik des<br />
Sujets auch die gesamte Dekoration zur Verfügung.<br />
In diesem Film ist alles von der Bana<strong>lit</strong>ät<br />
des Alltags losgelöst. Straßen und Plätze, Dachfenster<br />
und Stühle erscheinen in einer besonderen<br />
Form betont, seltsam, bedeutungsvoll und<br />
wichtig. Die Dekorationen in DR. CALIGARI sind<br />
nicht gebaut, wie man die Dingen sieht, sondern<br />
wie man sie in besonderen seelisch stark<br />
gespannten Augenblicken empfindet“ (Belach /<br />
Bock 1995: 143 ).<br />
Cesare als wandelnder <strong>Schatten</strong><br />
Eine schattenhafte Gestalt huscht durch die<br />
Stadt. Der Somnambule Cesare ist auf dem<br />
124<br />
Abb. 26 Flucht in den Wahnsinn, Standbild aus<br />
„Caligari“<br />
Weg zu Jane, um sie zu töten. Wie ein schwarzes<br />
Phantom durchstreift Cesare die Gegend<br />
um den Holstenwall und besitzt dabei etwas<br />
Animalisches und Gespenstisches. Er wirkt an<br />
Janes Haus wie ein <strong>Schatten</strong> an der Wand. „<br />
Wenn Conrad Veidts Cesare an einer Mauer<br />
entlangstreifte, so war es nicht anders, als habe<br />
die Mauer ihn ausgedünstet“ ( Kracauer 1979:<br />
S.76, Abb. 25). Conrad Veidt als Cesare „ stelzt<br />
dünn und nicht von dieser Erde durch seine<br />
wirre Welt: einmal ein herrlicher Augenaufschlag,<br />
einmal wie von Kubin, schwarz und<br />
schattenhaft und ganz lang an einer Mauer<br />
hingespensternd“ ( Zitiert nach: Tucholsky: Dr.<br />
Caligari. In: Die Weltbühne, 1920. In: Belach/<br />
Bock 1995: 147). Sinnbildlich schleicht sich<br />
das Böse und Bedrohliche auf leisen Sohlen<br />
Abb.27 Der expressionistische Darsteller wird eins mit dem expressionistischem Dekor, Standbild<br />
aus „Caligari“
Belach, Helga / Bock, Hans-<br />
Michael ( Hrsg.): Das<br />
Cabinet des Dr. Caligari:<br />
Drehbuch von Carl Mayer<br />
und Hans Janowitz zu<br />
Robert Wienes Film von<br />
1919/20 mit einem einf.<br />
Essay von Siegbert S.<br />
Prawer und Materialien<br />
zum Film von Uli Jung<br />
und Walter Schatzberg,<br />
München, edition text +<br />
kritik, 1995.<br />
Frankfurter, Bernhard ( Hrsg.):<br />
Carl Mayer: Im Spiegelkabinett<br />
des Dr. Caligari:<br />
Der Kampf zwischen Licht<br />
und Dunkel, Wien,<br />
Promedia, 1997.<br />
heran. Cesare, ganz in schwarz gekleidet, verkörpert<br />
die dunkle Seite des Menschen. Seine<br />
hölzernen Bewegungen und seine langsame<br />
Gangart wirken abgehakt und starr, als sei alles<br />
Menschliche aus ihm gewichen und er wandle<br />
nur noch wie ein lebender Toter durch die<br />
Stadt. Hier wird im expressionistischen Sinn der<br />
Mensch als leblose Marionette und agierende<br />
Puppe inszeniert ( vgl. Rothe 1977: 35 ). Statt<br />
Jane zu töten, hält Cesare jedoch einen Moment,<br />
in dem er fast aus seinem Schlafwandeln<br />
erwacht inne, ergreift Jane und flüchtet mit ihr<br />
über die Dächer der Stadt. Die schrägen, spitzwinkligen<br />
Dächer, die im expressionistischen<br />
Stil gebaut und gezeichnet sind, führen in die<br />
Irre und zeigen den Weg in den Wahnsinn. „<br />
Dachfenster haben spitze, verzerrte Winkel.<br />
Dächer überschneiden sich in scharfen Linien,<br />
und wir fühlen ( ohne daß es uns gesagt wird),<br />
daß dahinter der Absturz droht“ ( Zitiert nach:<br />
Proskauer: Das Kabinett des Dr. Caligari. In:<br />
Film-Kurier, 1920. In: Belach/ Bock 1995: 144<br />
). Cesare ist nur noch als schwarzer Schehmen<br />
erkennbar. Die verschobenen Perspektiven<br />
der Szenerie verdeutlichen dem Zuschauer in<br />
einer irrealen und phantastischen Welt zu sein<br />
(Abb. 26). Kurz bevor Cesare auf seiner Flucht<br />
vor Erschöpfung zusammenbricht, bäumt sich<br />
sein Körper auf und seine Arme wirken wie die<br />
silhouettenhaften Konturen der dargestellten<br />
Äste und Bäume der expressionistischen Dekoration<br />
Abb. 27). „Der Darsteller Conrad Veidt<br />
ahmt hier die Bäume nach, ...“(Remge 2006:<br />
94). Er bildet „nahezu eine Einheit mit den als<br />
125<br />
Kulisse dienenden Gemälden karger ( kranker?)<br />
Bäume“ ( ebd.), wird also „eins mit der Kulisse“<br />
( ebd.).<br />
Irrenanstaltinsassen führen ein <strong>Schatten</strong>dasein<br />
Auf einer weiteren symbolischen Ebene von<br />
<strong>Schatten</strong> im Film „ Das Cabinet des Dr. Caligari“<br />
lassen sich die Insassen der Irrenanstalt betrachten.<br />
Diese führen ein <strong>Schatten</strong>dasein ihrer<br />
Existenz, welche sie vor der Einlieferung in die<br />
Anstalt besaßen. An mehreren Beispielen wie<br />
z.B. Cesare, der gedankenverloren eine Blume<br />
streichelt oder Jane, die glaubt eine Königin<br />
zu sein, lässt sich schließen, dass die Personen<br />
nicht mehr richtig anwesend und da zu sein<br />
scheinen. Sie besitzen nur noch eine Schehmenhaftigkeit<br />
ihres füheren Lebens und wirken<br />
abgeklärt, fast leblos. Eine in ihrem Dunkel der<br />
Seele spielende Handlung, die für den Außenstehenden<br />
nicht sichtbar erscheint, findet in<br />
ihrem Innnern statt. Wie Scheinlebende führen<br />
sie nur noch ein schattenartiges Dasein ( vgl.<br />
Rothe 1977: 436f., Abb. 28 u. 29). Der Vergleich<br />
von expressionistischen Künstlern mit<br />
Irreninsassen wird in dieser Szene überspitzt<br />
aufgegriffen. Die Bilder von Expressionisten<br />
wurden häufig mit Bildern von Geisteskranken<br />
verglichen. Der expressionistische Mensch und<br />
seine Kunst wurden von den Nationalsozia<strong>liste</strong>n<br />
als „ entartet“ betrachtet. Der Vorwurf<br />
an die expressionistischen Künstler war, dass<br />
sie unfähig seien, die Wirklichkeit rea<strong>lit</strong>ätsnah<br />
abzubilden und die Gesetze der Literatur<br />
Abb. 28 Irrenanstaltinsassen, die nur noch ein <strong>Schatten</strong>dasein ihrer eigentlichen Existenz führen,<br />
Standbild aus „Caligari“
Ihering, Herbert: Ein expressionitischer<br />
Film. In:<br />
Berliner Börsen-Cou rier,<br />
1920. In: Belach/ Bock<br />
1995: 144-145.<br />
Jung, Uli / Schatzberg, Walter:<br />
Robert Wiene der Caligari-<br />
Regisseur, Berlin<br />
1.Aufl. Henschel, 1995.<br />
Kasten, Jürgen: Der expressionistische<br />
Film. Abgefilmtes<br />
Theater oder avantgardistisches<br />
Erzählkino?<br />
Eine stil-, produktions- und<br />
rezeptionsgeschichtliche<br />
Untersuchung, Münster,<br />
MAKS, 1990.<br />
Kracauer, Siegfried: Von<br />
Caligari zu Hitler. Eine<br />
psychologische<br />
Geschichte des<br />
deutschen Films,<br />
Frankfurt am Main,<br />
suhrkamp taschenbuch,<br />
1979.<br />
Ramge, Ralf: Das Dokument<br />
des Grauens: Eine Chronik<br />
des Horrorfilms, 2006.<br />
Rothe, Wolfgang: Der<br />
Expressionismus. Theologische,<br />
soziologische<br />
und anthropologische<br />
Aspekte einer Literatur,<br />
Frankfurt am Main,<br />
Klostermann, 1977.<br />
Proskauer, Martin: Das Kabinett<br />
des Dr. Claigari. In: Film-<br />
Kurier, Nr. 51, 29.2.1920.<br />
In: In: Belach/ Bock<br />
1995:143-144.<br />
Tucholsky, Kurt: Dr.Caligari.<br />
In: Die Weltbühne, 1920,<br />
347-348. In: Belach/Bock<br />
1995: 146-147.<br />
Wiene, Robert: Expressionismus<br />
im Film. In: Berliner Börsen-Courier,<br />
1920.<br />
In: Belach/ Bock 1995:<br />
148-153.<br />
Hamburger Abendblatt,<br />
Rubrik „Kultur und<br />
Medien“ vom 18.5.07<br />
Dokumentation „ Aufschrei<br />
des Ichs – Wahnsinn,<br />
Liebe, Rausch“, Arte,<br />
Januar 2007<br />
Abb. Irrenanstaltinsassen, die nur noch ein <strong>Schatten</strong>dasein ihrer eigentlichen Existenz führen,<br />
Standbild aus „Caligari“<br />
Perspektive zu beachten. „1912 wurden auf<br />
den ersten großen Ausstellungen expressionistischer<br />
Bilder als „Gemälde eines Irrenhauses“<br />
geschmäht. Genau dieses Vorurteil illustriert<br />
der Film und prägte damit kurioserweise die<br />
populäre Expressionismus-Vorstellung“ (vgl.<br />
Kasten 1990: 47). Im Untertitel sollte der Film „<br />
Das Cabinet des Dr. Caligari“ „Wie ein Irrer die<br />
Welt sieht“ heißen. Die Tatsache, dass sich am<br />
Ende herausstellt, dass die gesamte Geschichte<br />
des Films dem Hirngespinst eines Anstaltsinsassen,<br />
Francis, entsprungen ist, hat zu vielerlei<br />
Diskussion geführt. „Es ist bezeichnend, daß das<br />
Filmspiel DAS CABINET DES DR. CALIGARI ...<br />
nur deshalb expressionistisch durchgearbeitet<br />
wurde, weil es im Irrenhaus spielt. Man setzt<br />
also der Vorstellung der gesunden Wirklichkeit<br />
die Vorstellung der kranken Unwirklichkeit entgegen.<br />
Oder: der Wahnsinn als Entschuldigung<br />
für eine künstlerische Idee“ (Zitiert nach Ihering:<br />
Ein expressionistischer Film. In: Berliner Börsen-<br />
Courier, 1920. In: Belach/ Bock 1995: 145). Ein<br />
weiterer zeitgenössischer Filmkritiker schrieb<br />
über den Caligari-Film „Die Idee, die Vorstellung<br />
in den kranken Gehirnen... in expressionistischen<br />
Bildern auszudrücken, ist ebenso<br />
glücklich gewählt wie gelöst. Hier hat dieser Stil<br />
eine Berechtigung, ergibt sich von selbst mit<br />
restloser Logik“ (Kracauer 1979: 76 ).<br />
126
Thimm Bubbel<br />
Inhalt<br />
1 Genre oder Epoche?<br />
2 Neo Noir<br />
3 Themen & Archetypen.<br />
4 Stilmittel<br />
„Film noir“<br />
1 Genre oder Epoche?<br />
Es gibt keine allgemein anerkannte Definition<br />
für den Film noir, die Filmwissenschaftler streiten<br />
sich seit jeher darüber ob der Film noir ein<br />
„Genre“ ist, oder eine bestimmte „Epoche der<br />
Filmgeschichte“ mit diesem Begriff bezeichnet<br />
wird.<br />
Laut Paul Werner gilt der Film noir „als amerikanisches<br />
„Genre“, das eigentlich keins ist“<br />
(Werner 1985: 7). Nach ihm bedient sich der<br />
Film noir gleich mehrerer Genres: „Kriminalfilm,<br />
Gangsterfilm, Detektivfilm, Thriller, Melodram“<br />
(ebd.). Für ihn ist der Film Noir eine Stilrichtung,<br />
„wahrscheinlich die einzige Stilrichtung oder<br />
künstlerische Bewegung, die Hollywood je<br />
hervorgebracht hat“ (ebd.). Die ersten Filme<br />
wurden zu Beginn des zweiten Weltkriegs<br />
produziert. Oft von europäischen Regisseuren,<br />
die vor dem Terror der Nationalsozia<strong>liste</strong>n in<br />
Hollywood Zuflucht suchten. Der Film noir<br />
heißt nicht nur `noir` (frz. für schwarz), da<br />
seine Stilistik besonders mit den Mitteln Licht<br />
127<br />
Abb. 1: „ Das typische Setting des Film noir<br />
und <strong>Schatten</strong> arbeitet, sondern auch auf Grund<br />
seiner Protagonisten: „Nachtgeschöpfe“ und<br />
„Antihelden“, die „das Licht scheuen wie die<br />
Vampire die Sonne“ (Werner 1985: 8).<br />
Herkunft des Namens<br />
Aufgrund eines Importverbots sahen die Franzosen<br />
erst nach dem 2. Weltkrieg erstmals wieder<br />
amerikanische Filme, und stellten fest, dass<br />
sich Stimmung und Stoff der amerikanischen<br />
Filme verdunkelt hatten. Der Begriff `Film noir´<br />
wurde von dem französischen Filmkritiker Nino<br />
Frank geprägt, der zusammen mit Jean-Pierre<br />
Chartier 1946 den ersten Artikel über den Film<br />
noir schrieb (Vgl. Silver und Ursinini 2004, S.10).<br />
Als erster Film Noir gilt allgemein `Die Spur<br />
des Falken (The Maltese Falcon) von 1941, der<br />
letztveröffentlichte Film noir ist `Im Zeichen<br />
des Bösen (Touch of Evil)` aus dem Jahre 1958<br />
(Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Film_noir).
Abb.2 Jalousien.jpg<br />
2 Neo Noir<br />
Mit dem Begriff `Neo-Noir` werden solche<br />
Filme bezeichnet, „die die Tradition des<br />
klassischen Film noir fortführten“ (Vgl. http://<br />
de.wikipedia.org/wiki/Film_noir), also all jene<br />
Filme im gleichen Stil, die nach 1958 veröffentlicht<br />
wurden. Wikipedia sieht ´Wenig Chancen<br />
für morgen´ von Robert Wise als einen der<br />
ersten Neo-Noirs, der bereits 1959 veröffentlicht<br />
wurde (ebd.). Nach Silver und Ursinini<br />
hingegen beginnt diese Stilepoche erst 1974<br />
mit Polanskis `Chinatown`. Zu den aktuelleren<br />
Neo-Noirs zählt er unter anderem Tarantinos<br />
`Reservoir Dogs` (1992) und `Pulp Fiction`<br />
(1994), Singers `Die üblichen Verdächtigen`<br />
(1995), Finchers ´Sieben´ (1995) und Frears`<br />
`Dirty Pretty Things`(Vgl. Silver und Ursinini<br />
2004, S. 9).<br />
3 Themen & Archetypen.<br />
Themen<br />
Bestimmendes Element fast aller Films noirs ist<br />
die Krimina<strong>lit</strong>ät, insbesondere Mord. Häufige<br />
Motive sind Geldgier und Eifersucht. Die Aufklärung<br />
des Verbrechens, durch Privatdetektive,<br />
Polizeikommissare und Privatpersonen „ist ein<br />
häufiges, aber dennoch nicht vorherrschendes<br />
Thema“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Film_<br />
noir). Weitere Themen sind Überfälle, Betrügereien,<br />
Verschwörungen und Affären. Ein Happy<br />
End im Film noir ist selten.<br />
Typen<br />
Films noirs präsentieren dem Zuschauer<br />
Antihelden, „die ungewöhnlich lasterhaft und<br />
moralisch fragwürdig sind“ (ebd.). Sie sind<br />
128<br />
meist pessimistische Einzelgänger, die in der<br />
Anonymität der Großstadt `vegetieren`. Sie<br />
haben keine Freunde, keinen Partner und<br />
keine Familie. Anstatt sich auf einfache Gutund-Böse-Konstruktionen<br />
zu beschränken, baut<br />
der Film noir moralische Zwickmühlen auf, die<br />
ungewöhnlich uneindeutig sind, zumindest<br />
fürs typische Hollywood-Kino. Unter den archetypischen<br />
Charakteren des Film noir finden<br />
sich hartgesottene Detektive, Femmes fatales,<br />
korrupte Polizisten, eifersüchtige Ehemänner,<br />
unerschrockene Versicherungsangestellte und<br />
heruntergekommene Schriftsteller. Der Detektiv<br />
und die Femme fatale werden am ehesten mit<br />
dem Film noir assoziiert, doch nicht alle ´Films<br />
noirs´ zeigen diese beiden Charaktere (Vgl.<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/Film_noir).<br />
Setting<br />
Typische Schauplätze für den Film noir sind die<br />
Metropolen Amerikas. „Die Stadt steht meist<br />
sinnbildlich für ein Labyrinth, in dem die Protagonisten<br />
gefangen sind“ (http://de.wikipedia.<br />
org/wiki/Film_noir). Sie verirren sich in Bars,<br />
Nachtclubs und Spielhöllen. Es ist nach weitläufiger<br />
Meinung zwar so, dass Films noirs<br />
quasi immer bei Nacht und im Regen spielen (s.<br />
Abb.1). Dagegen gibt es aber bei einer Reihe<br />
von Neo-Noirs den Trend, Geschichten über<br />
Betrug, Verführung und Verrat in hellen, offenen<br />
Szenen zu platzieren.<br />
4 Stilmittel<br />
Einige Films noirs sind versehen mit Kommentaren<br />
aus dem Off, der so genannten Voice-Over-<br />
Erzählung (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/
QUELLEN<br />
Abbildungen<br />
Abb.1: Heinzelmeier, Adolf/<br />
Memmingen, Jürgen/<br />
Schulz, Berndt: Kino der<br />
Nacht: Hollywoods<br />
schwarze Serie, Hamburg,<br />
1985, S. 149<br />
Abb. 2 Werner, Paul: Film<br />
Noir – Die <strong>Schatten</strong>spiele<br />
der „schwarzen Serie“,<br />
Frankfurt am Main, 1985, S.<br />
101<br />
Abb. 3: Heinzelmeier, Adolf/<br />
Memmingen, Jürgen/<br />
Schulz, Berndt: Kino der<br />
Nacht: Hollywoods<br />
schwarze Serie, Hamburg,<br />
1985, S. 76<br />
Abb. 4: Alain Silver/ James<br />
Ursini. Paul Duncan (Hrsg.):<br />
Film Noir ,Köln, 2004, S.51<br />
Literatur<br />
Heinzelmeier, Adolf/ Memmin<br />
gen, Jürgen/ Schulz, Berndt:<br />
Kino der Nacht: Hollywoods<br />
schwarze Serie, Hamburg,<br />
1985<br />
Werner, Paul: Film Noir – Die<br />
<strong>Schatten</strong>spiele der „schwar<br />
zen Serie“, Frankfurt am<br />
Main, 1985<br />
Alain Silver/ James Ursini. Paul<br />
Duncan (Hrsg.): Film Noir<br />
,Köln, 2004<br />
Internet<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/<br />
Film_noir, Stand 02.03.2007<br />
Abb.3 Extreme Schrägsicht<br />
Film_noir).<br />
Der häufige Gebrauch von Schrägsichten (s.<br />
Abb. 2) verstärkt den Eindruck Chaos und<br />
Desorientierung in der sich die Protagonisten<br />
befinden (Vgl. Heinzelmeier, Menningen und<br />
Schulz 1985, S79). Eine oft eingesetzte niedrige<br />
Kameraperspektive vermittelt das Gefühl von<br />
Enge und Bedrückung.<br />
4.1 Licht und <strong>Schatten</strong><br />
Laut Silver und Ursini macht den Film noir vor<br />
allem eines aus: Das Spiel von (gedämpftem)<br />
Licht und <strong>Schatten</strong>, und das nicht nur in „nächtlichen<br />
Außenaufnahmen, sondern auch in<br />
halbdunklen Innenräumen“ (Silver und Ursinini<br />
2004: 16). Spannung wird erzeugt durch Tageslicht<br />
fernhaltende Jalousien (s. Abb.3) und<br />
eine „harte, ungefilterte Ausleuchtung von der<br />
Seite (s. Abb. 4) oder von hinten“ (ebd.). Dieser<br />
Beleuchtungsstil „trägt im Amerikanischen den<br />
Namen low key“ (Werner 1985: 91).<br />
Die Dunkelheit im Film noir ist jedoch nicht<br />
nur die physikalische Abwesenheit von Licht,<br />
vielmehr steht sie metaphorisch für die schwarze<br />
Sicht der Dinge und das finstere Weltbild, zur<br />
Zeit des Nationalsozialismus.<br />
Eine weitere Besonderheit des Film noir ist<br />
laut Werner ebenfalls der Verzicht auf das<br />
Beleuchtungsprinzip der `amerikanischen<br />
Nacht`, welches sonst bei den Hollywoodproduktionen<br />
verwendet wurde. Hierbei werden<br />
Nachtszenen tagsüber mit geringer Belichtung<br />
aufgenommen. Der Film noir verwendet im<br />
Gegenzug die viel aufwendigeren, `echten`<br />
Nachtszenen (Vgl. Werner 1985, S. 92).<br />
129<br />
Abb.4 Seitenlicht
Franziska Rählert<br />
Abb. 2 Filmbetrachter<br />
Abb. 3 Einzelbilder<br />
Abb. 4 zerkratztes Filmbild<br />
“Haha Said the Clown”<br />
Super 8mm Scratch-Film<br />
Abbildung 1: „HAHA said the Clown“<br />
Anfangs ergriff mich der Ehrgeiz zur Entwicklung<br />
einer interaktiven Arbeit. Ich wollte den<br />
Betrachter in die Erfahrung der Kunst mit<br />
einbeziehen. Jedoch waren meine Überlegungen<br />
zu kompliziert und verworren um in die<br />
Tat umgesetzt zu werden. Beispielsweise sollte<br />
ein Super-8mm Film auf eine Wand projiziert<br />
werden und die <strong>Schatten</strong> der Betrachter sollten<br />
beim Vorbeigehen den Film vervollständigen.<br />
Es sollte so aussehen, als ob eine Silhouette<br />
eben Bestandteil dieses Films sei. Durch die<br />
Lichtquelle aber, die den <strong>Schatten</strong> auf der<br />
Wand (und somit auf dem Film) erzeugen<br />
sollte, wäre der Film angestrahlt worden und<br />
deshalb kaum mehr sichtbar. So entschied ich<br />
mich, auf die Interaktivität zu verzichten und<br />
mich nunmehr ausschließlich dem Medium des<br />
Super-8mm Films für diese Projekt zu widmen.<br />
Schließlich bevorzuge ich auch im Privaten die<br />
analoge Foto- und Filmtechnik. Aus persönlichen<br />
Erfahrungen war ich schon vertraut mit<br />
der Super-8 Filmerei. Doch ein eigenes Filmscript<br />
viel mir nicht ein, so dass ich kurz und<br />
gut beschloss einen schon gedrehten Film zu<br />
besorgen und zu bearbeiten. Diesen wollte ich<br />
dann mit einem Messer zerkratzen. Um eine<br />
guten Effekt zu erhalten musste es ein Film sein<br />
der Menschen beinhaltete.<br />
Als erstes musste ein schon <strong>fertige</strong>r Super 8mm<br />
Film her. Da ich nicht genug eigene Bildstreifen<br />
130<br />
besaß, kaufte ich einen Stapel bei eBay - ein<br />
gutes Portal zum beschaffen von Materialen zur<br />
künstlerischen Weiterverarbeitung. Die Katze<br />
im Sack kaufend wartete ich ab auf die Lieferung<br />
des Päckchens. Da ich nicht wusste, was<br />
auf den Filmen war, musste ich sie nacheinander<br />
anschauen und Unnützes aussortieren.<br />
Endlich fand ich, worauf ich gewartet hatte,<br />
einen Film mit menschlichen Wesen. Es war<br />
ein Modefilm erstellt für den Otto-Versand.<br />
Faszinierend war dabei, dass es sich um eine<br />
Dokumentation aus den 70er Jahren hielt, passend<br />
also zum Medium selbst. Man sah Frauen<br />
die Mode präsentierten, aber später auch eine<br />
lange Sequenz, in der sich Kinder vor der Kamera<br />
zeigten. Letzteres sollte für meine Arbeit<br />
interessant sein. Nun begann ich einzelne Szenen<br />
mit Hilfe des Super 8mm Betrachters (Abb.<br />
2) herauszusuchen. Am intensivsten waren sie<br />
Close-Ups der Kinder, die die Mode präsentieren.<br />
Die Kratzer an der Stelle der Gesichter hätten<br />
die gewünschte Wirkung. Da die einzelnen<br />
Frames bei dieser Filmart sehr klein sind, war<br />
die Arbeit besonders schwierig und es musste<br />
Geduld bewiesen werden (Abb. 3). Mit einem<br />
Skalpell, manchmal mit einer Nadel, wurde<br />
die beschichtete Seite des Streifens sozusagen<br />
beschädigt. Der Prozess des Zerkratzens ging<br />
recht schnell vonstatten. Nur die Masse der<br />
Bilder forderte Zeit. Da es recht anstrengend<br />
war, ständig auf die Miniaturköpfe zu starren
Abb. 5 scratched filmstill<br />
Abb. 6 scratched filmstill<br />
Abb. 7 scratched filmstill<br />
und das Messer an dem dünnen Griff zu halten,<br />
achtete ich zwischendurch auf weitwinklige<br />
Szenen, die ich nicht gebrauchen konnte, und<br />
trennte sie von den anderen. Danach fügte ich<br />
diejenigen Filmstreifen, die ich weiter zerkratzen<br />
wollte, mit einer Klebepresse zusammen.<br />
So hatte ich nach einer Weile die Arbeit fertig<br />
und sah sie mir mit dem Projektor an. Weiter<br />
sollten schwarze zerkratzte Filmstreifen den<br />
Film unterbrechen. Eine Überlegung im Vorfeld<br />
bestand aus einem vollständig zerkratzen und<br />
anschließend koloriertem Film. Dies Vorhaben<br />
scheiterte an dem nicht auffindbaren geeigneten<br />
Material. Trotzdem besaß ich selbst kleine<br />
Stücke schwarz gebliebenem Super 8mm Film,<br />
den ich für meine Zwecke benutzen konnte.<br />
Im Endeffekt gelang mir die Bearbeitung dieser<br />
dunklen Ausschnitte und ich setzte sie zwischen<br />
die einzelnen Szenen des jetzt unkenntlich<br />
gemachten Modefilms.<br />
Der editierte Film zeigt Kinder in Sachen der<br />
siebziger Jahre. Sie werden mal zusammen<br />
mal einzeln dem Zuschauer präsentiert. Sie<br />
stehen nicht einfach nur da, sondern spielen<br />
mit neuen Baukästen, Rollern, Handpuppen,<br />
Luftballons oder Puppenwägen. Die Kamera<br />
zoomt ihre Gesichter heran. Dann schwenkt<br />
sie von Kopf bis Fuß. Die Gesichter sind ganz<br />
und gar oder nur Teilweise bedeckt von hellen<br />
Kritzeleinen, mal kreisförmig mal x-förmig. Diese<br />
Kratzer sind gelblich grün, nicht weiß, wie<br />
man annehmen würde (Abb. 5 bis 7). Durch<br />
den Farbfilm blieben Restspuren erhalten. Das<br />
Skalpell hinterließ unsaubere Spuren. Nicht<br />
zerkratzt wurde das Clownsgesicht, welches<br />
während des Filmes auftaucht, ohne speziellen<br />
Grund - eine Figur, die als lustig und vertraut<br />
verstanden, hier jedoch auf eine andere Weise<br />
erfahren wird.<br />
Der Farbfilm wird auf eine weiße Betonwand<br />
projiziert. Auf ihr sieht man Risse. Der Film<br />
selbst zeigt durch die Bearbeitung kleine unbeabsichtigte<br />
Kratzer, die normal sind für jeden<br />
Super 8mm Film.<br />
Der Bezug zum <strong>Schatten</strong> ist möglicherweise<br />
nicht gleich ersichtlich aus der Arbeit. Der<br />
<strong>Schatten</strong> hier ist auf einer anderen Ebene als<br />
auf der buchstäblichen offensichtlichen zu<br />
suchen. Ein Film ist eine Projektion des Lebens,<br />
sichtbar im projizierten Bild. Ein <strong>Schatten</strong> in<br />
jedem einzelnen Filmbild. Als eine Art <strong>Schatten</strong><br />
der Rea<strong>lit</strong>ät kann demzufolge jeder einzelne<br />
Frame aufgefasst werden. Zerkratzt man den<br />
Film, verzerrt man die Rea<strong>lit</strong>ät des Films.<br />
Der Inhalt des Films fließt durch die verletzliche<br />
und unschuldige Ausstrahlung der Kinder ein,<br />
aus heutiger Perspektive nehmen sie eine Opferrolle<br />
ein, wenn sie mit der Kamera sozusagen<br />
verfolgt werden. Auffällig ist, dass die Kamera,<br />
einzelne Kinder oft ganz nah zeigt und - was<br />
besonders anzüglich erscheint - von oben bis<br />
unten an ihren Körpern entlangfährt. Das Missverständnis<br />
der Präsentation von Mode und<br />
131<br />
vom Modell ist damit möglich. Gerade dann<br />
führt die Vorstellung zu Kindesmissbrauch,<br />
Kindesmisshandlung oder Kindesmissachtung.<br />
Insbesondere die Kratzer könnten diese<br />
Vermutungen bestätigen. Die Kratzer auf den<br />
Gesichtern der Kinder haben den Effekt der<br />
Zerstörung. <strong>Schatten</strong> sind hierbei die negativen<br />
Seiten des Lebens. Der metaphorische Sinn<br />
wird bekräftigt durch das Clownsgesicht bzw.<br />
den Clown, der ab und zu auftaucht, der im<br />
Original eigentlich komisch und freundlich sein<br />
soll, in diesem Film aber eher Furcht einflößend<br />
und gefährlich wirkt. So werden die Kinder<br />
noch mehr als schutzlos und bedrängt angesehen.
132
Absolute<br />
<strong>Schatten</strong><br />
133
Tim - Simon Herrmannsen<br />
Monika Sophie Panek<br />
Inhalt<br />
1. Biographie Dante<br />
Alighieris<br />
2. „Die göttliche Komödie“<br />
3. Der Aufbau von Dante<br />
Alighieris Jenseitsreich<br />
4. Verknüpfung der<br />
göttlichen Komödie<br />
mit dem Thema „<strong>Schatten</strong>“<br />
Dante Alighieri: „Die<br />
göttliche Komödie“<br />
Abb. 1: „Maler unbekannt 1530 Florenz: Portrait von Dante Alighieri<br />
1. Biographie Dante Alighieris<br />
Dante (Durante) ALighieri ist im Jahre 1265 in<br />
Florenz geboren, das genaue Geburtsdatum ist<br />
nicht überliefert. Seine Familie war nach seinem<br />
eigenen Zeugnis adelig. Über seine Kindheit<br />
ist wenig bekannt, als zehnjähriger verlor er<br />
seine Mutter, sein Vater starb, bevor Dante das<br />
19. Lebensjahr erreichte. Das bedeutsamste<br />
Ereignis seiner Jugend war nach Dantes Bekundungen<br />
die Begegnung mit der Florentinerin<br />
Beatrice im Jahr 1274. Beatrice war die Tochter<br />
des Adeligen Portinari und starb 1290 im Alter<br />
von nur 24 Jahren. Sie hat sein Leben und sein<br />
dichterisches Schaffen bedeutend beeinflusst.<br />
Über seine schulische Ausbildung liegen keine<br />
134<br />
gesicherten Angaben vor. Doch kann man<br />
sagen das seine Werke von einer Gelehrsamkeit<br />
zeugen, die nahezu das gesamte Wissen des<br />
Mittelalters umfassen. Man kann aber sicher<br />
sagen, dass er von Brunetto Latini unterrichtet<br />
wurde, einem bedeutenden Philosophen und<br />
Rhetoriker. Möglicherweise studierte er auch<br />
Jura an der dortigen <strong>Universität</strong>. Er heiratete<br />
1295 Gemma Donati, die einer Guelfenfamilie<br />
angehörte. Um sich po<strong>lit</strong>isch betätigen zu können,<br />
trat er der Ärzte- und Apothekerzunft bei.<br />
Durch po<strong>lit</strong>ische Spannungen zwischen zwei<br />
Fraktionen der Guelfen, den Schwarzen, die im<br />
Papst einen Verbündeten gegen die Kaiser-
Abb. 2 Gustave Doré: Dante und Vergil im 9. Kreis der Hölle<br />
Abb. 3 Sandro Botticelli: Das Inferno<br />
macht sahen, und den Weißen, die entschlossen<br />
waren vom Papst als auch vom Kaisertum<br />
unabhängig zu bleiben. Florenz geriet ganz in<br />
die Hände der „Schwarzen“, hunderte von Weißen<br />
wurden verbannt, darunter auch Dante.<br />
Er verbrachte eine lange Zeit in Verona und in<br />
der Toskana. Um 1309 besuchte Dante für ein<br />
Jahr Paris, wo er sich philosophischen Studien<br />
widmete. Im Jahre 1315 machte Florenz<br />
Dante ein Angebot zur Rückkehr in die Stadt,<br />
doch Dante lehnte ab. Dante lebte weiterhin<br />
im Exil und verbrachte die letzten Jahre seines<br />
Lebens im Dienst des Fürsten Guido da Polenta<br />
in Ravenna, wo er nach einer Erkrankung, die<br />
er sich bei seiner diplomatischen Mission nach<br />
Venedig zugezogen hatte. Am 14.September<br />
1321 verstarb Dante, er wurde in der Franziskanerkirche<br />
Santa Pier Maggiore beigesetzt.<br />
135<br />
2. „Die göttliche Komödie“<br />
Allgemeines<br />
Die göttliche Komödie gehört zu den bedeutendsten<br />
Hauptwerken der Italienischen Literatur<br />
und ist das erste dichterische Werk in der<br />
italienischen Sprache von solch einem Umfang.<br />
Dieses epische Gedicht hat über Jahrhunderte<br />
hinweg bildende Künstler wie Sandro Botticelli<br />
(1480), William Blake (1827) und Gustave Doré<br />
(1861) zu Illustrationen inspiriert (Abb. 2). Dante<br />
Alighieri hat die göttliche Komödie in der<br />
Zeit von 1307 bis 1321 verfasst, er war damals<br />
35 Jahre, was gemäß den Vorstellungen jener<br />
Zeit etwa der Mitte seines Lebens entspricht.<br />
Die göttliche Komödie ist ein sehr breit angelegtes<br />
Gedicht und durch eine große harmonische<br />
Geschlossenheit charakterisiert, wobei es<br />
sich in drei Teile aufgliedert. Inferno (die Hölle),<br />
Purgatorio (der Läuterungsberg) und Paradiso (<br />
das Paradies) Jeder dieser Abschnitte wird in je<br />
33 Gesängen von Dante durchwandert und ist<br />
in jeweils neun Stufen unterteilt.<br />
Inhalt<br />
Die Göttliche Komödie stellt eine große Vision<br />
Dantes dar, die ihm im Traum erschienen ist.<br />
In ihr schildert er das persönliche Erlebnis einer<br />
Wanderung durch das Jenseits. Diese Reise ist<br />
für Dante notwendig, da er „vom Rechten Weg<br />
abgekommen ist“.<br />
Dante verliebte sich mit neun Jahren unsterblich<br />
in ein Mädchen namens Beatrice. Beide trafen<br />
sich nur zwei- oder dreimal und niemand weiß,<br />
was sie über ihn dachte bzw. für ihn empfand<br />
und ob sie seine Liebe teilte. Dante verlor sich in<br />
dieser Liebe und so wurde Beatrice, die Quelle<br />
seiner Inspiration. Die Reise dient also der<br />
Läuterung und ist zugleich eine große Gnade,<br />
da Dante als Lebender durch die Welt der Toten<br />
reisen darf.<br />
Die ganze Reise hindurch wird Dante, erst vom<br />
<strong>Schatten</strong> des von ihm am meisten bewunderten<br />
Dichters Vergil, dann durch Beatrice selbst<br />
und zuletzt durch den Heiligen Bernhard von<br />
Clairvaux geführt. Dante durchschreitet mit dem<br />
römischen Dichter Vergil, der auf Geheiß von<br />
Beatrice zu ihm geschickt wurde, um ihn zum<br />
Ort der Erlösung zu führen, erst das Inferno (die<br />
Hölle), angefangen vom Limbos (die Vorhölle),<br />
wo sich die unschuldig schuldig Gewordenen,<br />
die ungetauften Kinder sowie die antiken Dichter<br />
und Denker aufhalten, bis hin zur innersten<br />
Hölle. Anschließend gelangen Dante und Vergil<br />
in das zweite Reich des Jenseits, auf den Läuterungsberg<br />
(Purgatorio). Hier befinden sich die<br />
Verstorbenen mit den größten Vergehen. Es ist<br />
immer noch ein Ort des Leidens, aber auch eine<br />
Region der Liebe und der Freude, denn dort<br />
sind die Seelen schon auf ihrer Reise zu Gott und<br />
die Ängste, die Verzweiflungen und Schrecken<br />
der Hölle sind vorbei. Auf dem Gipfel des Läuterungsberges<br />
übernimmt Beatrice die Führung,<br />
sie wird als eine engelsgleiche, idealisierte Frauengestalt<br />
dargestellt. Mit ihr durchschwebt Dante<br />
das Paradiso (Paradies), wo er ganz zuletzt<br />
die Trinität und Gott selbst erahnen darf.
Abb. 4 Illustrationon aus: Die Himmelstür zum Cyberspace, Wertheim, 1999<br />
Abb. 5 Sandro Botticelli: Achter Kreis Bestrafung der Kuppler, Verführer,<br />
Schmeichler und Huren<br />
136<br />
3. Aufbau von Dante Alighieris Jenseitsreich<br />
Seit der Renaissance haben die Menschen<br />
immer wieder komplizierte Karten mit genauen<br />
Maßangaben der drei Jenseitsreiche angefertigt.<br />
Eine riesige Höhle unter der gesamten<br />
nördlichen Erdhalbkugel, so stellt sich Dante<br />
das Inferno vor (Abb. 3). Nach einem Vorhof<br />
und dem Grenzfluss Acheron verengt es sich<br />
um die Achse des Planeten über acht konzentrische<br />
Kreise bis hin zum tiefsten, neunten Bezirk.<br />
Dieser neunte Bezirk markiert, bestehend aus<br />
einer Eisfläche, den Mittelpunkt der Welt.<br />
Genau dort hat Luzifer seinen Sitz. Mit Hilfe<br />
von Figuren und Handlungen stellt Botticelli im<br />
Höllentrichter stark vereinfacht den Ablauf der<br />
Danteschen Erzählung dar (Abb. 4).<br />
Die Hölle<br />
Die Hölle ist im Erdinnern gedacht, als ungeheurer,<br />
sich nach unten verengender Trichter;<br />
Je tiefer es hinab geht, umso kleiner werden<br />
die Kreise, aber umso größeres Leid umschließen<br />
sie. In der Vorhölle, am obersten Rand des<br />
Schlundes, drängen sich die „lauen Seelen“, das<br />
Jammervolk, das nie recht lebend war, ohne<br />
Ruhm und Schande lebten sie, die Gleichgültigen<br />
und Wertlosen ,die weder Himmel noch<br />
die Hölle haben will.<br />
1. Im ersten der Höllenkreise weilen in stiller<br />
Sehnsucht die Weisen, Dichter und Helden des<br />
Altertums, von Christus unerlöst.<br />
2. Im zweiten, der Liebeshölle, werden die vom<br />
Sinnentrug betörten, die Sünder aus Liebesleidenschaft<br />
von furchtbaren Orkanen durch<br />
die Ewigkeit gepeitscht: Semiramis, Kleopatra,<br />
Helena, Achill, Paris, Tristan, tauchen im Zug<br />
der heulenden, vorüberbrausenden <strong>Schatten</strong><br />
auf.<br />
3. Im dritten Höllenkreis, von ewigem, kalten<br />
gottverfluchten Regen überschauert, schleppen<br />
sich die Schlemmer, deren Gott der eigene Leib<br />
war, durch ekelhaften Kot.<br />
4. Im vierten wälzen Geizige und Verschwender<br />
heulend Steinlasten auf sich zu, fühlen sich<br />
durch den gegenseitigen verhassten Anblick<br />
doppelt gestraft.<br />
5. Der fünfte Kreis wird durch den Stygischen<br />
Sumpf gebildet, in dessen stinkenden Wassern<br />
die Zornigen einander zerfleischen. Dieser<br />
Sumpf liegt vor der brennenden Stadt Dis.<br />
(In den oberen Stufen büßen die Sünder aus<br />
Schwachheit, die mehr passiven, so leiden in<br />
den tieferen die Sünder aus Bosheit, die aktiv<br />
Bösen.)<br />
6. Im sechsten Kreis beginnt die untere Hölle.<br />
In feurigen Grüften liegen still die Ketzer, die<br />
von der Kirche Geächteten:<br />
Kaiser Friedrich II, der große Ghibelline Farinata<br />
degli Uberti, auch ein Papst, Anastasius II.<br />
7. Der siebte Höllenkreis zeigt die in einer<br />
schauerlichen, von blutigen Wassern<br />
durchrauschten Schlucht eingeschlossenen<br />
Tyrannen, Mörder, und Straßenräuber, den<br />
düsteren Wald der Selbstmörder, die glühende,
Abb. 6 Illustration aus: Die Himmelstür zum Cyberspace, Wertheim, 1999<br />
Quellen<br />
Literatur:<br />
Wertheim, Margaret (1999):<br />
Die Himmelstür zum<br />
Cyberspace, Eine<br />
Geschichte des Raumes<br />
von Dante zum Internet,<br />
Zürich: Ammann (2000)<br />
Busse, Carl: Geschichte der<br />
Welt<strong>lit</strong>eratur; Bielefeld<br />
u.a.: Velhagen & Klasing<br />
(1910-1913)<br />
Internet:<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/<br />
Die_Göttliche_Komödie<br />
http://www.klassiker-derwelt<strong>lit</strong>eratur.de/dante.<br />
htm<br />
von feurigem Regen überströmte Wüste, in der<br />
die Gotteslästerer, Wucherer und die der unnatürlichen<br />
Laster Schuldigen gequält werden.<br />
8. Im achten Höllenkreis findet man Kuppler<br />
und Verführer, Schmeichler und Buhlerinnen,<br />
bestechliche Beamte und Priester, die ihr Amt<br />
erschacherten, Heuchler und Diebe, Sektenstifter<br />
und ähnliche Sünder, und für jede einzelne<br />
Kategorie ist mit raffinierter Grausamkeit eine<br />
andere Folter erdacht (vgl. Abb. 5).<br />
9. Der neunte Kreis wird von der Eishölle gebildet;<br />
blau gefrorene Köpfe und Leiber starren in<br />
der grünen durchsichtigen Tiefe umher. Dort<br />
sind die Verräter, die Bruder- und Vatermörder.<br />
Im Erdmittelpunkt dann, von den Himmeln am<br />
weitesten entfernt, steht als Abschluss der Hölle<br />
Luzifer; riesenhaft ragen seine drei Häupter, deren<br />
Mäuler fortwährend, von Ewigkeit zu Ewigkeit,<br />
die drei schrecklichsten Sünder zermalmen:<br />
Judas Ischariot, den Verräter Christi; Brutus<br />
137<br />
und Cassius, die Verräter und Mörder Cäsars.<br />
Nach diesen Höllenkreisen voll schauerlicher<br />
Phantasie, wahnwitziger Strafen, gelangt man<br />
zur anderen Hemisphäre, der des unendlichen<br />
Wassers, zum Fuße des auf Inselmitten sich<br />
erhebenden Läuterungsberges (Purgatorio).<br />
Der Läuterungsberg ragt über neuen Ebenen<br />
kegelförmig nach oben, und auf jeder Ebene<br />
sind die Seelen geläuterter als auf der darunter<br />
liegenden. Während es aus dem Inferno kein<br />
Entrinnen gibt, sind hier die Seelen „in Bewegung“<br />
und haben eine Chance, die höchste<br />
Ebene, das Paradies doch noch zu erreichen.<br />
Deshalb ist der Läuterungsberg auch ein „Ort<br />
der Hoffnung“ (vgl. Abb. 6).<br />
4. Verknüpfung der göttliche Komödie<br />
mit dem Thema <strong>Schatten</strong><br />
“Die Erde ist nur ein <strong>Schatten</strong> der ewigen<br />
Reiche, sie sind der Schlüssel zum Verständnis<br />
unseres Lebens.“ Auszug aus dem Prolog<br />
der göttlichen Komödie. In Dantes göttlicher<br />
Komödie wird das Leben auf der Erdoberfläche<br />
zu einem <strong>Schatten</strong>. Das physische, reale<br />
Leben erscheint hier als eine <strong>Schatten</strong>welt im<br />
Gegensatz zu dem darauf folgenden, spirituellen<br />
Leben in der Hölle und dem Paradies.<br />
Unser heutiges wissenschaftliches Weltbild<br />
erfasst „nur“ den Körper und damit „nur“ den<br />
Raum der Lebenden. Das christlich geprägte,<br />
mittelalterliche Weltbild zu Dante Alighieris<br />
Zeit, schloss sowohl die Räume der Lebenden<br />
als auch die der Toten mit ein. In diesem System<br />
spiegeln Körper-Raum und Seelen-Raum einander.<br />
Dieses vorherrschende mittelalterliche<br />
Weltbild und die damit zusammenhängenden<br />
Grundzüge von einem dualistischen System,<br />
aufgeteilt in das reale Leben und das spirituelle<br />
Leben, spielen in Dantes Werk eine entscheidende<br />
Rolle und sind somit Grundlage für die<br />
göttliche Komödie. Unser Leben auf der Erdoberfläche<br />
wirft in diesem Sinn einen <strong>Schatten</strong>,<br />
der für unser Leben danach entscheidend ist.<br />
Das Leben, welches auf der Erde stattfindet ist<br />
hier eine Bewährungsprobe für das eigentliche<br />
„ewige“ Leben in der Hölle oder dem Paradies.<br />
Was nach dem Leben im physikalischen Raum<br />
geschieht, wird durch unsere dortigen Handlungen<br />
bestimmt und ist somit nur ein <strong>Schatten</strong><br />
unseres eigentlichen Lebens. Dante schreibt<br />
dazu im Prolog: „Das Heil des Menschen ist auf<br />
Erden nicht zu finden“ Dante Alighieris Genia<strong>lit</strong>ät<br />
verdeutlicht sich in der göttlichen Komödie<br />
in der Verbindung zwischen seinem realen und<br />
persönlichen Leben mit dem gesamten christlichen<br />
Epos. Die gesamte Reise hindurch trifft<br />
er auf reale und bekannte Persönlichkeiten mit<br />
denen er spricht und Fragen der Philosophie<br />
und Theologie erörtert. Hier zeigt sich wieder<br />
die Verbindung zum Thema „<strong>Schatten</strong>“, da für<br />
Dante Alighieri die physikalische Welt immer<br />
und jederzeit ein Spiegelbild und somit ein<br />
<strong>Schatten</strong> des Seelenlebens darstellt.
Isabelle Behnke<br />
Holocaust, Hiroshima<br />
Abb. 1: „Die maschinelle Sonnenfinsternis im Zeitraffer“<br />
Einleitung<br />
In dieser kurzen Ausarbeitung zum Thema<br />
„Holocaust und Hiroshima- Die Kunst danach“,<br />
wird ein kurzer Rückblick in die Zeit des zweiten<br />
Weltkrieges geworfen. Anhand von Bildern<br />
soll verdeutlicht werden, welche Ausmaße die<br />
Judenverfolgung zur damaligen Zeit angenommen<br />
hat und welche Folgen der Atombombenabwurf<br />
über Hiroshima am 09.08.1945 mit<br />
sich brachte. Zu den Bildern werden wichtige<br />
geschichtliche Daten und Umstände genannt<br />
um die Realisierung des Ausmaßes zu verdeutlichen.<br />
Anschließend soll über die etwa<br />
zwanzigminütige Diskussion berichtet werden.<br />
Eigene Eindrücke und Überlegungen bilden<br />
den Schluss der Arbeit.<br />
1933-1935 Machtergreifung und Gleichschaltung<br />
des deutschen Reiches<br />
In den Jahren 1933-1935 fand in Deutschland<br />
die Machergreifung und die Gleichschaltung<br />
statt. Am 30.01. 1933 wurde Adolf Hitler durch<br />
P. v. Hindenburg zum Reichkanzler ernannt.<br />
Durch dieses Ereignis wurde das Ende der Weimarer<br />
Republik markiert und der Beginn der<br />
Diktatur wurde von den Nationalsozia<strong>liste</strong>n als<br />
Machtergreifung gefeiert. Nach den Neuwahlen<br />
am 5.3.1933 wurde Deutschland gleichgeschaltet.<br />
Die hoheitlichen Aufgaben der Länder<br />
wurden von Parteien, Gewerkschaften, Organisationen<br />
und Verbänden übernommen. Die<br />
freie Presse und Kultur wurde ebenfalls durch<br />
die NS-Propaganda ersetzt. Die Bevölkerung<br />
Deutschlands wurde in ihren Grundrechten<br />
eingeschränkt als Reichspräsident Hindenburg<br />
138<br />
die Reichstagsbrandverordnung verabschiedete.<br />
Der Reichstagsbrand war außerdem eine<br />
passende Begründung für die Verhaftung<br />
vieler Parlamentsmitglieder und war Grund<br />
genug die KPD zu verbieten. Die Inszenierung<br />
des Tages von Potsdam am 21. März 1933<br />
verschaffte den Nationalsozia<strong>liste</strong>n bezüglich<br />
der Machtübernahme weiteren Rückhalt im<br />
In- und Ausland. Kurz darauf folgte am 23.März<br />
die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetztes,<br />
welches für die Regierung eine nahezu<br />
uneingeschränkte Gesetzgebungsbefugnis<br />
ermöglichte.<br />
Nach der Unterdrückung der linken Parteien,<br />
der Einschränkungen im öffentlichen und auch<br />
beruflichen und wirtschaftlichen Handlungsbereich<br />
der Juden und der Nötigung aller<br />
liberalen und demokratischen Gruppierungen<br />
wurde 1933 das erste Konzentrationslager in<br />
Dachau eingerichtet. Hier wurden zunächst<br />
allerdings eher po<strong>lit</strong>ische Gegner des Systems<br />
untergebracht. Dieses KZ und viele andere im<br />
Gebiet des deutschen Reiches wurden durch<br />
eine Polizeimaßnahme gerechtfertigt. Am 01.<br />
April 1933 wurde durch die SA ein Boykott<br />
jüdischer Geschäfte organisiert. Dessen Folge<br />
war die Ausschließung aller Juden aus dem<br />
öffentlichen Leben und die Entlassung jeglicher<br />
jüdischer Beamter aus dem Staatsdienst (Abb.<br />
1). Am 02.08.1934 wird Hitler schließlich nach<br />
Hindenburgs Tod Führer und Reichskanzler.<br />
Die Reichswehr musste einen Führereid ablegen,<br />
ebenso das gesamte Berufsbeamtentum.<br />
So stellte Hitler sicher, dass Systemgegner oder<br />
Systemkritische ihr Amt ablegen mussten.
Abb. 2 Isolierung der in<br />
deutschland lebenden Juden<br />
1935-1939 Stabilisierung der Macht, Aufrüstung<br />
und Vergrößerung des<br />
deutschen Reiches<br />
1935 wurden auf dem Reichsparteitag der NS-<br />
DAP die Nürnberger Rassegesetze beschlossen.<br />
Demnach wurde die bereits 1933 begonnene<br />
Ausgrenzung und Isolierung der in Deutschland<br />
lebenden Juden bestätigt, wodurch<br />
Rassismus und Antisemitismus als Staatsgesetze<br />
verankert wurden. Nach dem 07.11.1938<br />
wurden aufgrund eines Anschlages auf Ernst<br />
E. v. Rath die Novemberpogrome von den<br />
Nationalsozia<strong>liste</strong>n inszeniert. Mitglieder der SA<br />
und SS legten in vielen Synagogen Feuer und<br />
zerstörten Häuser und Wohnungen zahlreicher<br />
Juden. Etliche Juden ließen ihr Leben durch<br />
Ermordungen und Misshandlungen der SA<br />
und SS vor den Augen der Polizei, welche laut<br />
Befehl nicht eingreifen sollten. Ab dem 10.<br />
November nach den Pogromen begannen die<br />
Deportationen vieler Juden in Konzentrationslager.<br />
1939-1945 Zweiter Weltkrieg<br />
Der zweite Weltkrieg wurde durch den Einfall<br />
der Wehrmacht in Polen ausgelöst. Während<br />
des „B<strong>lit</strong>zkrieges“ fiel die Wehrmacht nach<br />
Dänemark, Norwegen und in die Beneluxstaaten<br />
ein. Auch Frankreich wurde 1940 besiegt,<br />
wodurch Hitlers „Karriere“ seinen Höhepunkt<br />
erreichte, da nun das Versailles-Problem ausgelöscht<br />
war. Beim Unternehmen Barbarossa (ab<br />
dem 22.Juni 1941) drang die Wehrmacht bis<br />
Moskau, Stalingrad und Leningrad vor.<br />
Es folgte eine systematische Ausplünderung<br />
der besetzten Ostgebiete. Die Nahrungsmittel<br />
der dortigen Bevölkerung wurden für die<br />
Wehrmacht verwendet, welche somit nicht<br />
gezwungen war sich aus dem weit entfernten<br />
deutschen Reich zu versorgen. Dabei waren<br />
die auf die Plünderung folgenden Hungersnöte<br />
der Bevölkerung einkalkuliert, da die dort<br />
lebende Bevölkerung als „Untermenschen“<br />
bezeichnet wurden. Die gesamte jüdische<br />
Bevölkerung wurde in Konzentrationslager<br />
deportiert. Sie mussten ihr Eigentum der<br />
Wehrmacht überlassen, welche dadurch über<br />
finanzielle Mittel in der damaligen Landeswährung<br />
verfügte.<br />
Die erste Niederlage musste das Deutsche<br />
Reich im Winter 1941/1942 verbuchen, in<br />
dem die Schlacht um Stalingrad durch falsche<br />
Entscheidungen Hitlers verloren wurde. Im<br />
Dezember 1941 wurde auch den USA der Krieg<br />
erklärt. Die Rote Armee eroberte bis Ende des<br />
Jahres 1943 weite deutsch- besetzte Gebiete<br />
zurück. Die deutsche Wehrmacht musste in<br />
Nordafrika kapitulieren.<br />
Währenddessen war der schon lange geplante<br />
Völkermord an den Juden, der sog. Holocaust<br />
in vollem Gange. Ab September 1941 mussten<br />
alle Juden als Kennzeichnung einen Judenstern<br />
an der Kleidung tragen. Es fanden Massenerschießungen<br />
statt. Die jüdische Bevölkerung<br />
wurde entrechtet, enteignet und in sog. „Judenwohngebieten“<br />
untergebracht. Nachdem<br />
139<br />
1942 auf der Wannseekonferenz die „Endlösung<br />
der Judenfrage“ beschlossen wurde,<br />
errichtete man im Osten die Vernichtungslager<br />
Auschwitz, Treblinka und Majdanek. Bis zum<br />
Kriegsende wurden in diesen Vernichtungslagern<br />
6 Millionen Menschen erschossen und zu<br />
Tode gefoltert. Sie verhungerten, starben an<br />
den Folgen medizinischer Versuche oder starben<br />
durch die Verbreitung von Krankheiten,<br />
wie Typhus oder Tuberkulose u. a..<br />
Nachdem die Bombardierung deutscher Städte<br />
durch die Alliierten 1943 begonnen hatte,<br />
nahmen sich Hitler und Goebbels das Leben.<br />
Generaloberst Jodl unterzeichnete am 7. Mai<br />
1945 die bedingungslose Gesamtkapitulation<br />
des deutschen Reiches.<br />
Atombombenabwürfe über Hiroshima<br />
und Nagasaki<br />
Am 06.August und am 09.August geschahen<br />
die beiden Atombombenabwürfe über Hiroshima<br />
und Nagasaki. Der damalige US-Präsident<br />
Harry S. Truman befahl sie und ließ sie von<br />
US- amerikanischen Bombern durchführen.<br />
Diese beiden Atombomben gehörten zu den<br />
ersten drei einsatzfähigen Atomwaffen, welche<br />
in einem Krieg gezündet wurden. Obwohl<br />
beide Atombombenabwürfe als Kriegsverbrechen<br />
bezeichnet werden, wurden sie niemals<br />
derart untersucht oder geahndet. Als Grund<br />
für die Abwürfe wurde von der US-Regierung<br />
die schnellere Kapitulation Japans zur Lebensrettung<br />
vieler amerikanischer Soldaten als<br />
Grund hervorgebracht. Diese Rechtfertigung ist<br />
jedoch bis heute sehr umstritten. Geschwächt<br />
von den Folgen der Atomexplosionen kapitulierte<br />
Japan am 16.August 1945, wodurch der<br />
zweite Weltkrieg auch in Südostasien beendet<br />
wurde. Als globale Folge der Atombombenabwürfe<br />
begann ein Rüstungswettlauf zwischen<br />
den USA und der Sowjetunion, welcher ein<br />
großer Bestandteil des Kalten Krieges war aber<br />
auch Friedensbewegungen ins Leben rief. Wie<br />
man an den aktuellen Diskussionen bezüglich<br />
des Iraks erkennen kann, sind die Folgen von<br />
Atombomben als Drohmittel und Kriegswaffe<br />
noch heute zu spüren.<br />
Ablauf des Atombombenabwurfes,<br />
Auswirkungen und Details<br />
Das japanische Frühwarnsystem entdeckte<br />
eine Stunde vor dem Abwurf gegen 7.00 Uhr<br />
Ortszeit drei Flugzeuge der US-Luftwaffe. Durch<br />
dieses beabsichtigte Täuschungsmanöver der<br />
USA wurden in Japan Radiosendungen unterbrochen<br />
und Alarm ausgerufen. Eine Stunde<br />
später gegen 8.00 Uhr hob die Radarüberwachung<br />
den Alarm wieder auf, da die Enola Gay,<br />
der US-Bomber mit der Atombombe an Bord,<br />
lediglich für ein Aufklärungsflugzeug gehalten<br />
wurde, da sie sehr hoch flog. Bereits einige<br />
Tage zuvor, hatte die US-Waffe einzelne Flugzeuge<br />
in den Luftraum über Hiroshima fliegen<br />
lassen, um die Reaktion der Entwarnung von<br />
Seiten Japans hervorzurufen.<br />
Um Punkt 08:15:17 Uhr Ortszeit wurde die
Abb. 3 The Hospital Block<br />
Courtyard at Auschwitz<br />
(Photo: Alan Jacobs 1980,<br />
1996)<br />
Abb. 4 Scheinwerfer am Hauptturm<br />
(Photo: Alan Jacobs)<br />
Abb. 5 Ein jüdischer Mann vor<br />
seinem Tod in der Gaskammer<br />
(Photo: Main Commission<br />
fort he Investigation of Nazi<br />
Crimes)<br />
Abb. 6 Kinder die in Auschwitz<br />
für medizinische Versuche<br />
missbraucht wurden<br />
(Photo: Yitzhak Arad)<br />
Atombombe von einem US-Bomber namens<br />
Enola Gay in 9.450 Metern Höhe über der Stadt<br />
ausgeklinkt. Sie detonierte um 08:16:02 Uhr in<br />
580 Metern Höhe über der Stadt. Die dadurch<br />
entstehende Druckwelle machte innerhalb von<br />
43 Sekunden 80% der Innenstadtfläche dem<br />
Erdboden gleich. Gleichzeitig entstand ein<br />
Feuerball mit einer Innentemperatur weit über<br />
einer Million C°. Die unglaubliche Hitze dieses<br />
Feuerballs ließ noch in 10 Km Entfernung<br />
Bäume in Flammen aufgehen. Der durch die<br />
Detonation entstandene, aus aufgewirbeltem<br />
Material bestehende Atompilz stieg 13Km in die<br />
Höhe auf und ging 20 min. später als radioaktiver<br />
Niederschlag über Hiroshima und Umgebung<br />
nieder.<br />
Gemeinsam mit dem Atombombenabwurf<br />
über Nagasaki wurden bei diesen Explosionen<br />
etwa 155.000 Menschen sofort getötet.<br />
110.000 Menschen starben schon wenige<br />
Wochen später an den Folgen radioaktiver<br />
Strahlung und Verbrennungen. Bis zu 100.000<br />
Menschen starben noch Jahre und Jahrzehnte<br />
später an den Folgeschäden, welche zum Großteil<br />
aus radioaktiven Verbrennungen bestehen,<br />
bei denen die langsame Zersetzung der inneren<br />
Organe hervorgerufen wird.<br />
Abb. 3 bis 12 Bildteil Holocaust und Hiroshima<br />
Unterhaltung über Gefühle und Eindrücke<br />
während des Betrachtens<br />
Nachdem ich meine Powerpoint- Präsentation<br />
vorgetragen hatte, zeigte ich erneut die Fotografien<br />
zu beiden Themen um die Eindrücke<br />
der anderen zu erfahren und zu sammeln.<br />
Ich entschied mich zunächst dafür die Bilder (s.<br />
o.) ohne Worte zu zeigen und auf Wortmeldungen<br />
zu warten.<br />
Es stellte sich heraus, dass die Bilder auf denen<br />
Gesichter zu sehen waren (Abbildungen: 5, 6<br />
7, 8) im Falle unserer Gruppe am meisten Wortmeldungen<br />
auslösten. Die Abbildungen zum<br />
Thema Hiroshima, besonders die Abbildungen<br />
15 und 16, lösten bei den meisten Personen<br />
großes Entsetzen aus, da sie noch nie Fotos mit<br />
einem solchen Inhalt gesehen hatten.<br />
Um zum Thema zu gelangen, schickte ich die<br />
Frage voraus, wo in den Bildern der Bezug zum<br />
Thema <strong>Schatten</strong> gesehen werden kann.<br />
Gemeinsam stellten wir fest, dass „<strong>Schatten</strong>“ in<br />
diesen Bildern mehrere Bedeutungen haben<br />
können.<br />
Zum einen stellen sie sicherlich etwas Bedrohliches<br />
dar, wie man z.B. in Abbildung 3 sehen<br />
kann. Dort wird der freie Blick auf den kitschig<br />
roten Abendhimmel durch dunkle Gemäuer<br />
versperrt. Türen, Fenster und Mauervorsprünge<br />
werfen dunkle, bedrohlich wirkende <strong>Schatten</strong>.<br />
Zum anderen versperren <strong>Schatten</strong> in einigen<br />
Bildern, den Blick ins Innere des Menschen.<br />
In den bereits erwähnten Abbildungen 5-8,<br />
spiegeln die <strong>Schatten</strong> für einen Großteil der<br />
Betrachter die Leere der gezeigten Personen<br />
wieder.<br />
140<br />
Abb. 7 Ein Überlebender des KZs in Dachau am<br />
Tag der Befreiung (Photo: US National Archives)<br />
Abb.8 Ein Kind, das den Holocaust überlebte...<br />
(Photo: Holocaust Museum Houston)<br />
Abb. 9 Überbleibsel eines in Babi Yar exekutierten<br />
Juden (Photo: www.ncssm.edu)
Abb. 10 25.000 Paar Schuhe,<br />
von den in Auschwitz ermordeten<br />
Juden (Photo: Alan Jacobs)<br />
Abb. 11 Auschwitz: Ein Berg<br />
aus Besteck... (Photo: Alan<br />
Jacobs)<br />
Abb. 13 Der Dom von Hiroshima<br />
nach der Detonation der<br />
Atombombe (Photo: www.<br />
justwartheory.com)<br />
Abb. 14 Manche Menschen lassen<br />
nur ihren <strong>Schatten</strong> zurück<br />
(Photo: www.lenoci.org)<br />
Abb. 12 Innenstadt von Hiroshima nach der Detonation der Atombombe (Photo: www.justwartheory.com)<br />
Obwohl man sagen muss, dass sich die<br />
genannten Bilder durch etwas Wesentliches<br />
unterscheiden.<br />
In Abbildung 5 stellen die <strong>Schatten</strong> in der nahen<br />
Umgebung der Person etwas Bedrohliches<br />
dar, das immer näher kommt. Im Gesicht des<br />
Mannes hingegen, verdecken die <strong>Schatten</strong> eher<br />
einen widerstandlosen Blick des gebrochenen<br />
Willens und nicht eine eher panisch zu erwartende<br />
Haltung. Das Bevorstehende wird durch<br />
die <strong>Schatten</strong> aufgezeigt.<br />
In Abbildung 6-8 spiegeln die <strong>Schatten</strong> in den<br />
Gesichtern der abgebildeten Personen das Erlebte<br />
nahezu wieder. Es handelt sich ebenfalls<br />
um den gebrochenen Willen, jedoch zusätzlich<br />
um das Elend, welches hinter den Personen<br />
liegt. Die nahe Vergangenheit hat nicht nur<br />
körperliche, sondern auch tiefe seelische Wunden<br />
gerissen, welche für den Betrachter durch<br />
die <strong>Schatten</strong> angedeutet werden.<br />
Bei Abbildung 15 und 16 fällt es schwer zu<br />
glauben, dass es sich tatsächlich um Fotos und<br />
nicht um Fotomontagen oder gar Zeichnungen<br />
handelt. Die Form des <strong>Schatten</strong>s aus Asche<br />
und Rauch ist das Einzige, was auf die vergangene<br />
Existenz eines Menschen hindeutet. Sie<br />
lässt den Betrachter erahnen, dass anstelle des<br />
<strong>Schatten</strong>s einmal ein Mensch existierte.<br />
Eigene Empfindungen<br />
Abschließend möchte ich nun von meinen<br />
eigenen Eindrücken bezüglich der Bilder<br />
berichten. Als ich im Internet recherchierte und<br />
die Bilder zum Thema fand, hatte jedes Bild auf<br />
141<br />
Abb. 15 Manche Menschen wurden bei der<br />
Arbeit von der Druckwelle und dem Feuerball<br />
erfasst (Photo: www.lenoci.org)
Panorama der Weltgeschichte,<br />
Band III Die Moderne, Von<br />
Napoleon bis zur<br />
Gegenwart; Hrsg. H.<br />
Pleticha, G.Siefer,<br />
P.Stromberger, W. Teichert,<br />
Gütersloh 1976<br />
Internet<br />
Krzysztof Antonczyk, Ryszard<br />
Domasik, Marek Lach,<br />
Jarosław Mensfelt, Teresa<br />
Swiebocka: www.auschwitz.<br />
org.pl, 1999-2003; Stand<br />
28.12.2006<br />
Holocaust Community: www.<br />
remember.org, 1995, Stand<br />
28.12.2006<br />
Abbildungen<br />
Abb. 1: Boykott jüdi<br />
scher Geschäfte, www.<br />
ncssm.edu/holocaust/<br />
images/20210thumb.jpg;<br />
Stand: 15.01.07<br />
Abb. 2: Gettoisierung der<br />
jüdischen Bevölkerung;<br />
www.ncssm.edu/holocaust/<br />
images/37316_thumb.jpg;<br />
Stand: 15.01.2007<br />
Abb. 3:The Hospital Block cour<br />
tyard at Ausschwitz, Alan Ja<br />
cobs, Photografie, 1979-<br />
1981; www.remember.<br />
org/jacobs/index.html<br />
Abb. 4:Black Flower, Alan Ja<br />
cobs, Photografie, 1979-<br />
1981; www.remember.<br />
org/jacobs/index.html<br />
Abb. 5: Jewish man awaiting<br />
death in a gas van, Photo<br />
grafie: Main Comission<br />
for the Investigation of Nazi<br />
Crimes; www.othervoices.<br />
org/2.1/images/chelmno.<br />
jpg<br />
Abb. 6: Childrem subjec<br />
ted to medical experiments<br />
in Ausschwitz, Photografie:<br />
The Pictorial History of<br />
Holocaust, ed. Yitzhak Arad<br />
NY: Macmillan 1990; www.<br />
english.uiuc.edu/.../medical<br />
exp.jpg<br />
Abb. 7: Dachau survivor on the<br />
day of liberation, Photo<br />
grafie: US National Archives,<br />
Francis Robert Arzt collec<br />
tion; www.isurvived.org/.../<br />
dachau-survivor.GIF<br />
Abb. 8: Holocaust Child;<br />
www.isurvived.org/.../holo<br />
caust-child.GIF<br />
Abbildung 9:b Babi Yar, 33.771<br />
mich eine erschütternde Wirkung. Die in Lexika<br />
gesammelten schriftlichen Informationen lagen<br />
nun in Bildform vor und machten die Fakten<br />
vorstellbar. Die Ausmaße und Folgen beider<br />
Katastrophen wurden sichtbar und in gewisser<br />
Weise nachvollziehbar.<br />
Zunächst stellte sich der Bezug von Holocaust<br />
und Hiroshima auf das Thema <strong>Schatten</strong> für<br />
mich als schwierig dar. Ich stellte jedoch fest,<br />
dass es nahe liegender war als gedacht.<br />
<strong>Schatten</strong> in jeglicher Form, sind Räume in die<br />
kein Licht einfallen kann. Gegenstände und<br />
Personen, die sich in einem <strong>Schatten</strong> befinden<br />
sind nahezu unsichtbar. Alles was ein Mensch<br />
nicht sehen kann, was also im Verborgenen<br />
bleibt, macht unweigerlich Angst oder löst zumindest<br />
Verunsicherung aus, da Licht, welches<br />
zum Leben notwendig ist, im <strong>Schatten</strong> nicht<br />
vorhanden ist.<br />
In allen gezeigten Bildern deuten <strong>Schatten</strong><br />
meines Erachtens, also auf eine Katastrophe<br />
hin und spiegeln Leid wieder, wodurch beim<br />
Betrachter Erschütterung und Traurigkeit ausgelöst<br />
wird.<br />
Literatur<br />
Print<br />
142<br />
Jews executed,<br />
what is left behind; www.ncssm.edu/holo<br />
caust/images/83559.jpg<br />
Abbildung 10: Shoe Heap, Alan Jacobs, Photo<br />
grafie, 1979-1981; www.remember.org/ja<br />
cobs/index.html<br />
Abbildung 11: Small Spoons, Alan Jacobs, Pho<br />
tografie, 1979-1981; www.remember.org/ja<br />
cobs/index.html<br />
Abbildung 12: Hiroshima- der Tag danach;<br />
www.justwartheory.com<br />
Abbildung 13: Hiroshima Dom- der Tag da<br />
nach; www.atomwaffena-z.info/bilder/hi<br />
roshima_dom.jpg<br />
Abbildung14: Hiroshima 09.08.1945, vorhernachher;<br />
www.freigeister-forum.de/blogs/silent_whis<br />
pering/vorher-nachher.html<br />
Abbildung 15: Hiroshima- eingebrannte Schat<br />
ten 1 (Treppe);<br />
www.stauff.de/matgesch/bilder/shdw.jpg<br />
Abbildung 16: Hiroshima- eingebrannte Schat<br />
ten 2 (Leiter);<br />
www.lenoci.org/megafono/imgs/Hiroshi<br />
ma.jpg
Annette Wallmoden<br />
Sarah Schreinecke<br />
Inhalt<br />
Inhalt Seite<br />
1 Christian Boltanski<br />
2 Boltanskis Leben und<br />
die Auswirkungen<br />
auf die Kunst<br />
3 Die Werke Boltanskis<br />
4 Les regards<br />
5 La maison manquante<br />
6 Inventaire des objets<br />
avant appartenu a<br />
une femme de Bois<br />
– Colombes<br />
7 Liste des artistes ayant<br />
participé a la Biennale<br />
de Venise 1895-1995<br />
8 Reconstitution d’un<br />
accident qui ne m’est<br />
pas encore arrive et<br />
ou j´ai trouvé la<br />
mort<br />
9 Schlusswort<br />
Literatur<br />
Christian Boltanski<br />
ausgesuchte Werke<br />
Abbildung 1: Beil, Ralf. S. 30<br />
1 Christian Boltanski<br />
Christian Boltanski wurde am 6. September<br />
1944 in Paris geboren. Es war zu einer Zeit<br />
in der Krieg herrschte. In seiner Familie gab<br />
es deshalb Probleme und so wuchs er unter<br />
erschwerten Bedingungen auf.<br />
Seine Eltern waren juristisch gesehen getrennt,<br />
weshalb sein Vater bei der Meldung im Rathaus<br />
auch angab, dass es keine Papiere der Mutter<br />
gäbe und er keine Ehefrau habe. Dadurch kam<br />
es auf Christian Boltanskis Papieren zu dem<br />
Vermerk „Mutter unbekannt“, der auch noch<br />
häufig in Boltanskis Werken auftaucht.<br />
Ein Jahr später haben seine Eltern wieder<br />
geheiratet. Seine beiden Brüder aus erster Ehe<br />
und Christian Boltanski selber waren bei der<br />
Hochzeit dabei. Alle hatten dieselben Eltern,<br />
jedoch nicht die gleichen Papiere. Dieses verwirrende<br />
Ereignis seiner Kindheit machte Boltanski<br />
zur Grundlage und zum Kontext seiner<br />
heutigen Werke.<br />
Seine außergewöhnliche Kindheit, so sagt er<br />
selbst, hat ihn geprägt. Obwohl er sich immer<br />
eine ganz normale Kindheit gewünscht hat, ist<br />
das Gegenteil eingetreten. Er lebte mit seiner<br />
Familie in einem großen Haus in Paris. Sie nutzten<br />
jedoch nur ein Zimmer. Alle hatten Angst<br />
und <strong>lit</strong>ten sehr unter der Vorstellung verfolgt<br />
zu werden. Nach dem Krieg hat sich sein Vater<br />
nicht mehr auf die Straße getraut. Obwohl er<br />
143<br />
ein angesehener Arzt war, ging der jüdisch-ukrainische<br />
Mann nicht mehr vor die Tür.<br />
Boltanskis Kindheit war geprägt von dem Gedanken,<br />
dass die Welt gefährlich sei. Während<br />
der Besatzungszeit wurden seiner Familie viele<br />
Rechte abgesprochen. Sie hielten sich an diese<br />
Verbote aus Angst verfolgt und bestraft zu<br />
werden.<br />
Schulzeit<br />
Christian Boltanski ging nicht zur Schule. Stattdessen<br />
saß er stundenlang in seinem Zimmer<br />
ohne etwas zu tun. Eines Tages begann er<br />
jedoch mit dem Schnitzen kleiner Holzstücke.<br />
Darin fand er eine Beschäftigung. Seine Eltern<br />
meldeten ihn von der Schule ab und zwangen<br />
ihn nicht einmal dazu eine Ausbildung zu<br />
machen. Sie ließen ihm die Freiheit sich mit Dingen<br />
zu beschäftigen die ihm Freude bereiteten.<br />
Seine Ticks, sich stundenlang im Zimmer einzuschließen<br />
und Zuckerstückchen zu schnitzen,<br />
oder gar Erdkugeln zu Formen, wurden glücklicherweise<br />
von seinen Eltern akzeptiert und sein<br />
Verhalten als künstlerische Phase ausgelegt.<br />
Seinem intellektuellen Elternhaus hat er es zu<br />
verdanken, dass er schon früh mit der Kunst in<br />
Berührung kam. Denn in einem Interview sagt<br />
Boltanski selbst, dass ihn die Kunst vor dem<br />
Wahnsinn bewahrt hat.
Boltanski heute<br />
Christian Boltanski ist einer der wichtigsten Gegenwartskünstler<br />
weltweit und wurde im Jahr<br />
2006 für sein Lebenswerk mit dem Praemium<br />
Imperiale, dem „Nobelpreis der Künste“ der Japan<br />
Art Association, ausgezeichnet, den er aus<br />
den Händen des japanischen Prinzen Hitachi<br />
entgegennehmen durfte. 1<br />
In seinen Werken beschäftigt sich Christian<br />
Boltanski immer wieder mit den „zentralen<br />
Parametern menschlichen Daseins“ 2 . Diese sind<br />
für ihn Lebenszeit, Identität, Körper, Tod und<br />
Vermächtnis.<br />
Für ihn ist Kunst „ein Abenteuer, in das man mit<br />
Haut und Haaren eintaucht“ 3 .<br />
Christian Boltanski ist ein Meister der Inszenierung<br />
von Situationen und Räumen. In der<br />
Ausstellung „Zeit“ auf der Mathildenhöhe in<br />
Darmstadt (12. November 2006 bis zum 11.<br />
Februar 2007), zeigt Boltanski einige seiner<br />
bereits schon länger vorhandenen, sowie<br />
eigens für die Ausstellung entwickelte Werke.<br />
Der Besucher wird von einem Ereignis zum<br />
Nächsten durch die Ausstellung gebracht und<br />
hat dadurch Teil an Boltanskis Leben.<br />
In seinen Arbeiten verwendet er Bilder und<br />
Szenarien, die ersetzt werden können und austauschbar<br />
sind. Fotos und austauschbare Bilder<br />
deshalb, um die eigene Identität zu schützen,<br />
zu wahren und stellvertretend für eine breite<br />
Masse von Menschen, denen dasselbe Leid<br />
widerfahren ist.<br />
Häufig hat Boltanski, der als Maler begann, auf<br />
Bildmaterial, vor allem Fotografien zurückgegriffen<br />
und holt in vielen seiner Arbeiten, die in<br />
der Ausstellung in Darmstadt zu sehen sind, die<br />
Toten, die Vergessenen und das Verschollene<br />
ans Licht.<br />
Boltanski beschreibt sich selbst als ein Künstler,<br />
der Gefühle wecken möchte. Ihm ist es wichtig,<br />
dass die Betrachter seiner Werke in das „Innere“<br />
des Kunstwerkes vordringen und sich hineinversetzten<br />
können.<br />
Kunst bedeutet für Boltanski nicht nur Fragen<br />
zu stellen, sondern es geht ihm vielmehr<br />
darum, dass das Publikum ihn versteht. Das<br />
Publikum soll „kommen und fühlen“. Die Kunst<br />
als ein Abenteuer erleben, in das man mit Haut<br />
und Haaren eintauchen muss.<br />
Um nicht vergessen zu werden wünscht<br />
Boltanski sich, dass seine Kunst weitergegeben<br />
wird und dass seine Werke noch nach seinem<br />
Tod in einem angemessenen Rahmen gezeigt<br />
werden. Für ihn sind es Werke, die immer<br />
wieder in einem passenden Kontext gezeigt<br />
werden können. Er beschreibt sich als Pianist,<br />
der seine eigenen Kompositionen immer wieder<br />
aufführt. Und er wünscht sich, dass seine<br />
„Musik“ später auch von anderen gespielt wird.<br />
2. Boltanskis Leben und die Auswirkungen<br />
auf die Kunst<br />
Die Erlebnisse und Ereignisse seiner Kindheit<br />
haben ihn geprägt. Die Erinnerungen kommen<br />
immer wieder und ein Vergessen gibt es bei<br />
ihm nicht. Er arbeitete zu Themen seiner Kind-<br />
144<br />
heit, in der Hoffnung sie dadurch verarbeiten<br />
und vergessen zu können. Das Thema Kindheit<br />
ist ihm wichtig, denn diese Zeit ist es, die in<br />
jedem Menschen zu erst stirbt. Er beruft sich dabei<br />
auf das Zitat von dem Dramaturg, Tadeusz<br />
Kantor „ Wir alle tragen ein totes Kind in uns“ 4 .<br />
In den gesamten Arbeiten über die ersten<br />
Lebensjahre verwendete Boltanski Bilder und<br />
Szenarien, die an eine gewöhnliche Kindheit eines<br />
französischen Kindes erinnern. Nie verwendet<br />
er Details, die mit seiner eigenen Kindheit<br />
zu tun haben. Diese wären ihm, so sagt er<br />
selbst, viel zu speziell gewesen. Er entschied<br />
sich deshalb zu einem völlig austauschbaren<br />
Album, in dem man hätte alle Fotos mit denen<br />
einer weiteren französischen Familie ersetzen<br />
können. Der gewisse Marcel Durand war<br />
stellvertretend in diesem Werk zu finden. Ein typischer<br />
französischer Junge, dessen Name der<br />
wohl geläufigste Nachname in Frankreich war,<br />
erlebte eine ganz normale Kindheit, wie sie sich<br />
Christian Boltanski immer wünschte. Dieses Leben<br />
und Klischee stand an Stelle seiner eigenen<br />
erlebten Kindheit.<br />
Christian Boltanski kann sich noch sehr gut<br />
an den Moment erinnern, in dem ihm deutlich<br />
wurde, dass seine Kindheit von diesem<br />
Zeitpunkt an zu Ende war und ein neuer<br />
Lebensabschnitt begann. Im Prinzip versucht<br />
er dadurch Dinge zu erhalten und die Vergangenheit<br />
wieder zu finden, obwohl er weiß, dass<br />
das unmöglich ist. Davon handeln auch seine<br />
Werke. Die Dinge zu bewahren im Wissen um<br />
ihre Vergänglichkeit.<br />
Was bedeutet Zeit?<br />
Es geht dem Künstler Christian Boltanski nicht<br />
um die Zeit, es geht ihm um den Tod. Doch das<br />
eine ist untrennbar mit dem anderen verbunden.<br />
Jeder Mensch ist so einzigartig, aber doch<br />
so vergänglich. Was bleibt von den Menschen?<br />
Mit dieser Frage beschäftigt sich Boltanski häufig<br />
in den Werken. Er hat sich die Frage nach<br />
dem Tod schon immer gestellt, jedoch hat sie<br />
sich im Laufe der Zeit verändert. In dem Werk<br />
„ Mes morts“ (meine Toten) schafft Boltanski<br />
eine Arbeit, in der er den Tod seiner Freunde<br />
aufgreift. Die Wandinstallation aus dem Jahr<br />
2002 ist ein Werk mit den Todesdaten seiner<br />
Bekannten und Freunde. Auf sechzehn Metalltafeln<br />
hat Boltanski mit schwarzer Farbe in<br />
schmalen Zahlen die Geburts- und Sterbedaten<br />
seiner Angehörigen und Freunde geschrieben.<br />
Als ob es sich um neuzeitliche Grabstätten<br />
handelt, ist das ewige Licht durch eine Neonleuchte<br />
ersetzt worden. Das sterile Licht symbolisiert<br />
nicht etwa den ewigen Frieden und<br />
das ewige Leben, sondern das definitive Ende<br />
der verstorbenen Menschen. Kein Foto, kein<br />
Souvenir, nur die bloßen Zahlen. Das ist das<br />
was bleibt. Ein Menschenleben wird somit auf<br />
Jahreszahlen reduziert. Sie markieren lapidar<br />
Anfang und Ende. Nur der kleine Bindestrich<br />
verweist auf die Dauer und Intensität eines<br />
gelebten Lebens. Doch auch bald werden auch<br />
diese Jahreszahlen nichts mehr bedeuten. Was
Abbildung 2: Beil, Ralf. S. 44<br />
am Ende von uns bleibt sind zwei Daten und<br />
ein kurzer schwarzer Strich. Und dadurch tritt<br />
Boltanski immer näher an die Frage nach dem<br />
eigenen Tod und macht sich Gedanken über<br />
sein eigenes Verschwinden.<br />
Der Tod<br />
Die Frage nach dem was nach dem Tod bleibt,<br />
beschäftigt Boltanski zunehmend in seinen<br />
Werken. Ihm ist bewusst, dass er ins völlige<br />
Vergessen gerät, sobald sich nachfolgende<br />
Generationen nicht mehr an ihn erinnern. „Die<br />
wahre Radika<strong>lit</strong>ät ist es, dass wir alle vergessen<br />
werden. Egal ob arm, ob reich, ob alt, ob jung,<br />
im Laufe der Zeit erlischt die Erinnerung an<br />
einen jeden Menschen“ 5 .<br />
<strong>Schatten</strong><br />
1985 zeigt Boltanski bei der Pariser Biennale<br />
seine „<strong>Schatten</strong>“: zerbrechliche Figürchen aus<br />
Pappe und Metall, die, von Lichtprojektoren<br />
angestrahlt, große schemenhafte <strong>Schatten</strong> an<br />
die Wand werfen. Verschiedene <strong>Schatten</strong>spiele<br />
werden in diesen Jahren zur Grundlage der<br />
Monumente- Serie, in denen vergrößerte Porträtfotografien<br />
mit Kabeln und Glühbirnen zu<br />
großen Wandbildern werden- Andachtsbilder<br />
einer Epoche, der die Andacht mit den Massenmedien<br />
verloren ging.<br />
Er selbst machte die Erfahrung in einer Basler<br />
Ausstellung, in der er einen Fußboden mit<br />
alten Kleidungsstücken bedeckte. Während die<br />
Erwachsenen sich kaum trauten einen Fuß darauf<br />
zu setzten, spielten die Kinder munter auf<br />
diesem riesigen Berg von Kleidungstücken. Sie<br />
dachten dabei nicht an Leichen und Kleidungsstücke<br />
von Verstorbenen.<br />
Das hat ihm gezeigt, wie unterschiedlich seine<br />
Werke betrachtet und wahrgenommen werden,<br />
je nach persönlichen Vorgeschichten und<br />
Erfahrungen. Jeder sieht das was er sehen will.<br />
3 Die Werke Boltanskis<br />
„Was bleibt am Ende vom Leben? Zwei Daten<br />
und ein kurzer schwarzer Strich.“ 6<br />
(Christian Boltanski)<br />
Die Kunst Boltanskis beschäftigt sich mit dem<br />
Alltäglichen und doch so Unalltäglichem. In der<br />
Gegenwart leben wir, die Zukunft erwarten wir<br />
und die Vergangenheit vergessen wir. Boltanskis<br />
Kunst weist auf dieses Vergessen hin und<br />
auf die Tatsache, dass niemand davor gefeit<br />
ist. Wir alle sind vergänglich und sterben. Zum<br />
einen den biologischen Tod, zum anderen den<br />
Tod des Vergessens. Diesen sterben wir, wenn<br />
alle Menschen, in deren Erinnerung wir lebten<br />
auch aus der Gegenwart in die Vergangenheit<br />
geschieden sind. Mit einfachen Mitteln zeigt<br />
uns Boltanski, das was wir verdrängen, dass ein<br />
jeder von uns irgendwann in Vergessenheit<br />
gerät.<br />
Die folgenden Werke sollen ein Beispiel für die<br />
Intentionen des Künstlers sein und die Gedanken,<br />
die dem Betrachter kommen (könnten)<br />
darlegen und beschreiben.<br />
145<br />
4 Les regards<br />
Riesige Augenpaare blicken von Werbetafeln<br />
und Litfasssäulen in europäische Innenstädte.<br />
Hinein in das Leben und Treiben von Paris<br />
(1998), Warschau (2001), Bremen (2004), sowie<br />
Darmstadt und Frankfurt am Main (jeweils<br />
2006).<br />
Les regards (Die Blicke) heißen die in aller<br />
Öffentlichkeit ausgestellten Plakate, die ohne<br />
jegliche Erklärung auf die vorübergehenden<br />
Menschen blicken.<br />
Plakate, die die Menschen unangenehm berühren.<br />
Auf riesigen Werbeflächen angebracht,<br />
ohne Werbung zu machen oder Aufforderungen<br />
mit grellen Lettern in die Welt schreiend.<br />
Schreien können sie nicht – der Mund fehlt. Sie<br />
bleiben stumm. Stumm blicken sie die Menschen<br />
an und doch nicht verstummend. Den<br />
Passanten fällt auf, dass es sich um ältere Fotos<br />
handeln muss. So alt, dass die Menschen die<br />
zu den Augenpartien gehören vielleicht schon<br />
nicht mehr unter uns weilen.<br />
Die Augen werfen Blicke aus der Vergangenheit<br />
in die Gegenwart. Und wir blicken zurück.<br />
Zurück in Gesichterpartien, die wir weder kennen<br />
noch zuordnen können, in eine Zeit, die<br />
uns nicht vertraut und schon längst vergangen<br />
ist.<br />
Dieses ist das verstörende Element an diesem<br />
Werk Boltanskis. In hundert Jahren vielleicht<br />
sind wir der zukünftigen Generation genauso<br />
fremd, wie diese Menschen, diese Blicke uns<br />
nun. 7 (vgl. Abb. 2)<br />
5 La maison manquante<br />
Das 1990 von Boltanski in Berlin geschaffene<br />
La maison manquante (Das fehlende Haus) beeindruckt<br />
den Betrachter durch die Größe und<br />
die eigentliche Abwesenheit des Kunstwerks.<br />
Boltanski holt ein Gebäude, welches nur noch<br />
in den Erinnerungen einiger Menschen besteht,<br />
wieder in unser aller Gedächtnis zurück.<br />
Und nicht nur das, er belebt die Geschichte des<br />
Hauses und der Bewohner wieder. Durch an<br />
die Brandmauern der Nachbargebäude angebrachte<br />
Namenstafeln der ehemaligen Hausbewohner,<br />
wird wieder lebendig was schon tot<br />
war: Erinnerungen an Vergangenes.<br />
Erinnerungen an Vergangenes, das uns jedoch<br />
durch eine Gegebenheit aufschrecken lässt:<br />
die meisten der ehemaligen Bewohner des<br />
Hauses waren Juden. Sie wurden während der<br />
Zeit des Dritten Reiches in Vernichtungslager<br />
deportiert und verschwanden aus ihrem Haus,<br />
aus ihrer Stadt, aus den Gedächtnissen ihrer<br />
Mitmenschen, aus dem allgemeinen Leben.<br />
Doch wohin verschwanden sie? So provokativ<br />
und einfach, wie sich diese Frage zunächst<br />
darstellt, ist sie nicht. Uns allen sind wohl die<br />
Bilder von KZs wie Auschwitz gut und „lebendig“<br />
in Erinnerung. Doch sehen wir immer nur<br />
die Masse der Menschen, die dort ihre Würde<br />
sowie ihr Leben verloren (vgl. Abb.1)<br />
Selten, wenn nicht sogar nie, sehen wir einzelne<br />
Personen, individuelle Schicksale. Die<br />
Bewohner des Hauses, die Namen, Gesichter,
Abbildung 3 Beil, Ralf. S. 24.<br />
Literatur<br />
Print<br />
Beil, Ralf (Hrsg.): Boltanski Zeit.<br />
Hatje Cantz Verlag. Ostfil<br />
dern. 2006.<br />
Darmstädter Echo, Samstag,<br />
11. November 2006, Seite<br />
3ff.<br />
Interview Ralf Beil, Direktor<br />
der Mathildenhöhe Darm<br />
stadt mit Christian Boltanski,<br />
24.Mai 2006 im Atelier des<br />
Künstlers in Malakoff bei<br />
Paris.<br />
Frankfurter Allgemeine Zei<br />
tung, Montag, 30. Oktober<br />
2006, Nr. 252, Seite B4<br />
Berufe, ja Persönlichkeiten hatten, wurden dort<br />
von der Masse der Anonymität verschluckt<br />
und verschwanden mit dieser im kollektiven<br />
Vergessen.<br />
Doch durch Boltanski gelangen die vierundzwanzig<br />
ehemaligen Bewohner wieder in das<br />
Gedächtnis der Menschen. Doch dieses tut er<br />
nicht in Form einer genauen Rekonstruktion<br />
der Leben der einzelnen Personen – er erweckt<br />
sie nicht wieder. Jedoch was er zum Leben,<br />
also in die Gegenwart, erweckt sind eher die<br />
<strong>Schatten</strong> der Personen. Man weiß nun die<br />
Namen, die Adresse, die, durch die jüdische<br />
Herkunft, vermuteten Schicksale. Doch wirklich<br />
wissen tut man nichts über die Personen.<br />
Und das ist das unheimliche an der Arbeit Boltanskis.<br />
Er holt die Leute nicht in die Gegenwart<br />
zurück, er lässt sie nicht im Vergessenen ruhen.<br />
Er öffnet eine „Zwischenwelt“: dadurch, dass<br />
er auf die vergessenen Menschen aufmerksam<br />
macht, werden die <strong>Schatten</strong> dessen, was sie<br />
einmal waren, wieder lebendig und bleiben<br />
doch tot. 8<br />
6 Inventaire des objets avant<br />
appartenu a une femme de Bois<br />
– Colombes<br />
(vgl. Abb.3). Beim Ansehen des Werkes Inventaire<br />
des objets avant appartenu a une femme<br />
de Bois – Colombes (Inventar der Dinge, die<br />
einer Frau in Bois – Colombes gehörten) kom-<br />
men in dem Betrachter beklemmende Gefühle<br />
auf. Sechzig Kästen mit unterschiedlichen<br />
Alltagsgegenständen sind das, was von der Besitzerin<br />
nach ihrem Tod zurückgelassen wurde.<br />
Alltagsgegenstände wie Kleidung, Schuhe,<br />
Schmuck. Alltagsgegenstände, die jeder in seinem<br />
Besitz hat. Alltagsgegenstände, die nicht<br />
individuell sondern austauschbar sind.<br />
Das ausgestellte Inventar könnte zu jeder Frau<br />
gehören, die zu der entsprechenden Zeit im<br />
entsprechenden Land gelebt hat. Ist das also<br />
unser Leben, unser Schicksal? Ist es das, was<br />
von unserer Existenz bleibt? Sechzig Gegenstände,<br />
die zu jedem gehören könnten?<br />
Diese und ähnliche Fragen wirft Boltanski mit<br />
seinem Werk auf. Ein anonymes Schicksal, dass<br />
einerseits durch die austauschbaren Gegen-<br />
146<br />
stände anonym bleibt, andererseits aber, durch<br />
das Bewusstsein des Betrachters, dass es sich<br />
um die getragenen Besitztümer einer Frau aus<br />
Bois – Colombes handelt, erschreckend persönlich<br />
wird. Durch diese Vermischung sieht sich<br />
der Betrachter plötzlich selbst von der Thematik<br />
betroffen, was letztendlich von einem bleibt.<br />
Und was bleibt –so wird überdeutlich – sind<br />
Anonymität, Vergessen, das Verschwinden von<br />
Personen in Gegenstände, die irgendwann<br />
auch in den Tiefen von Speichern, Altkleidersammlungen<br />
oder Deponien verloren gehen.<br />
Was von uns bleibt ist also lediglich ein <strong>Schatten</strong><br />
von dem, was wir waren und auch dieser<br />
wird eines Tages unbemerkt verschwinden.<br />
Boltanski „…entwirft ein <strong>Schatten</strong>theater, das<br />
das Leben des Betrachters in die Vergangenheit<br />
projiziert. Wir stehen neben den eigenen<br />
<strong>Schatten</strong>.“ 9<br />
Das ist das Erschreckende an der Kunst Boltanskis.<br />
Ihm gelingt es, das zu thematisieren, was<br />
jedem bewusst ist, sich aber niemand einzugestehen<br />
traut. Er tut dieses ohne verschleiernde<br />
Elemente oder mit einem religiösen Pathos.<br />
Stattdessen greift er zu armen, alltäglichen Materialien<br />
und einer sachlichen Nüchternheit.<br />
Vor allem hiermit trifft Boltanski den Kern der<br />
Sache, durch die Verwendung von Alltäglichem<br />
wird hier das Alltägliche in seiner ganzen<br />
Auswirkung oder eher Grausamkeit deutlich. 10<br />
7 Liste des artistes ayant participé a la<br />
Biennale de Venise 1895 – 1995<br />
Die Liste des artistes ayant participé a la Biennale<br />
de Venise 1895 – 1995 (Liste der Künstler,<br />
die auf der Biennale in Venedig präsent waren<br />
1895 – 1995) macht das Thema des Vergessens<br />
dem Betrachter auf eine neue Art und Weise<br />
präsent.<br />
Wieder einmal schafft es Boltanski mit einfachsten<br />
Mitteln zum Denken anzuregen und die<br />
Vergänglichkeit des Seins ungeschönt und<br />
präzise darzustellen.<br />
Doch wie gelingt das, mag man sich jetzt fragen,<br />
wenn man lediglich den Titel des Werkes<br />
vor Augen hat. Schließlich ist die Biennale in<br />
Venedig der „Oscar“ der Künstler und diejenigen,<br />
die ihn bekommen sind bekannt und<br />
durch ihre Werke vor dem Vergessen gesichert.<br />
Oder etwa nicht?<br />
In der von Boltanski aufgeführten Liste finden<br />
sich tausende und abertausende Künstlernamen<br />
wieder. Selbst der fachkundige Leser muss<br />
schon nach kurzer Zeit erkennen, dass er von<br />
den aufgeführten Namen kaum einen kennt.<br />
Die bekannten Künstler tauchen nur ab und<br />
an in der großen Masse der Anonymität auf<br />
und wirken seltsam fehl am Platz. Nach und<br />
nach wird dieses „Wiedererkennungsgefühl“<br />
von einem anderen, verstörenden Eindruck<br />
überdeckt.<br />
Der Eindruck vermittelt dem Betrachter nämlich<br />
auf klare Art, dass selbst Personen, die bekannt<br />
sein sollten nicht vor dem Vergessen geschützt<br />
sind. Und nun holt wieder die harte Rea<strong>lit</strong>ät<br />
den Betrachter unvermittelt ein: wenn es schon
Internet<br />
http://www.hr-online.de/web<br />
site/rubriken/kultur/<br />
index.jsp?rubrik=2055&<br />
key=standard_document_<br />
27878334,12.01.2006<br />
Titelbild<br />
http://images.google.<br />
de/imgres?imgurl=http://<br />
www.experimentoscultu<br />
rales.com/textos/boltanski.<br />
jpg&imgrefurl=http://www.<br />
experimentosculturales.<br />
com/textos/Boltanski.<br />
html&h=500&w=351&sz=4<br />
7&hl=de&start=8&tbnid=zs<br />
g06qJMlVrONM:&tbnh=130<br />
&tbnw=91&prev=/images<br />
%3Fq%3Dboltanski%26svn<br />
um%3D10%26hl%3D<br />
de%26client%3Dfirefoxa%26rls%3Dorg.mozilla:de:<br />
official%26sa%3DN<br />
Stand: 02.03.07<br />
Fußnoten<br />
1 http://www.hronline.de/web<br />
site/rubriken/kultur/index.<br />
jsp?rubrik=2055&key=stand<br />
ard_document_27878334<br />
2 Frankfurter Allgemeine Zei<br />
tung, (30.10.2006), Seite B 4<br />
3 Darmstädter Echo, Samstag,<br />
11. November 2006, Seite 5<br />
4 Darmstädter Echo, Samstag,<br />
11. November 2006, Seite<br />
10<br />
5 Darmstädter Echo, Samstag,<br />
11. November 2006, Seite 3<br />
6 Beil, Ralf. S. 65<br />
7 vgl.: Darmstädter Echo,<br />
Samstag, 11. November<br />
2006, Seite 5<br />
8 vgl. Beil, Ralf. S. 29.<br />
9 Beil, Ralf: S.24<br />
10 vgl.: Beil, Ralf: S. 29f.<br />
11 vgl.: Beil, Ralf: S.29<br />
12 Beil, Ralf: S.29<br />
13 vgl.: Beil, Ralf: S.31<br />
14 Beil, Ralf: S. 64<br />
prämierten Künstlern, die mit ihrem Werken<br />
über Generationen hinaus präsent sind, nicht<br />
gelingt im Geiste des Betrachters weiterzuexistieren<br />
und so den Staus der „Unsterblichkeit“<br />
zu erlangen, wie soll es dann ein „einfacher“<br />
Mensch schaffen?<br />
Die Antwort, die niemand hören will, aber von<br />
dem Werk Boltanskis in die Welt geschrieen<br />
wird ist einfach: gar nicht. Überall ein sachliches<br />
„Memento mori“, überall ein „bedenke,<br />
dass du sterben musst“. Niemand ist vor dem<br />
eigentlichen, biologischen Tod und dem endgültigen<br />
Tod durch das Vergessen geschützt,<br />
auch in diesem Werk macht der Künstler dieses<br />
deutlich. 11 Denn auch hier sind es „Namen oder<br />
Gesichter, die kein Gedächtnis vor dem Vergessen<br />
behütet.“ 12<br />
8 Reconstitution d’un accident qui ne<br />
m’est pas encore arrive et ou j´ai<br />
trouvé la mort<br />
In seinen späteren Werken beschäftigt sich<br />
Botanski nicht mehr mit dem allgemeinen Tod<br />
und Vergessen, sondern mit seiner eigenen<br />
Vergänglichkeit. Reconstitution d’un accident<br />
qui ne m’est pas encore arrive et ou j´ai trouvé<br />
la mort (Rekonstruktion eines Unfalls, der mir<br />
noch nicht zugestoßen ist und bei dem ich den<br />
Tod gefunden habe) ist ein typisches Beispiel<br />
hierfür.<br />
Ein Polizeibericht der seinen fiktiven Tod<br />
behandelt. Wobei, fiktiver Tod? Der Tod eines<br />
jeden ist so alltäglich wie das Leben auch und<br />
doch so unalltäglich, dass wir ihn verdrängen,<br />
vergessen, versuchen nicht darüber nachzudenken.<br />
Doch grade das zwingt uns Christian Boltanski<br />
zu tun. Er konstruiert einen – seinen – Tod und<br />
was letztendlich von ihm bleibt ist eine Polizeiakte<br />
in einem Meer von anderen Dokumenten.<br />
Diese drastische Weise sich mit dem eigenen<br />
Tod zu beschäftigen und ihn darzustellen<br />
berührt den Betrachter. Er bringt das auf den<br />
Punkt, was eigentlich ein Tabu ist. Wer möchte<br />
schon daran erinnert werden, dass er sterblich<br />
ist und eines Tages zu der Vergangenheit gehört?<br />
Boltanski bringt dieses unsentimental und<br />
durch die Tatsache, dass es sein Tod ist, klar<br />
und deutlich zu Worte.<br />
Er holt das Verdrängen des Zukünftigen in die<br />
Gegenwart, um das Vergessen des Vergangenen<br />
präsent zu machen. 13<br />
9 Schlusswort<br />
„Ich bin ein Künstler der Gefühle wecken will.“ 14<br />
(Christian Boltanski)<br />
Dieser Ausspruch Boltanskis ist wohl als Tatsache<br />
zu bewerten. Seine Werke wecken Gefühle.<br />
Jedoch nicht die angenehmen Empfindungen<br />
werden in dem Betrachter wach, vielmehr<br />
werden die unangenehmen, verdrängten, tief<br />
in einem verschütteten Emotionen wieder an<br />
das Tageslicht gebracht.<br />
Und dieses ist schockierend. Man sieht sich mit<br />
Tatsachen konfrontiert, die so drastisch einwir-<br />
147<br />
ken, dass man ihnen nicht entkommen kann.<br />
Tod, Vergessen, Vergangenheit. Wir alle wissen<br />
um diesen Kreislauf, jedoch wagen wir nicht<br />
darüber nachzudenken. Boltanski präsentiert<br />
uns diese Rea<strong>lit</strong>ät mit einfachen Mitteln und<br />
emotionslos und bewirkt damit eine Lawine<br />
von Emotionen.<br />
Wenn man sich aus dieser Lawine befreit hat,<br />
bleibt die Erkenntnis zurück, dass was von<br />
einem bleibt lediglich ein <strong>Schatten</strong> der Person<br />
ist und auch dieser bald von dem großen, anonym<br />
machenden <strong>Schatten</strong> der Vergangenheit<br />
eingeholt wird.