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Jan Schönfelder (Hrsg.)<br />

<strong>Schatten</strong><br />

Reader zu den Veranstaltungen „<strong>Mediale</strong> <strong>Schatten</strong>“ und „<strong>Moving</strong> <strong>shadows</strong>“,<br />

<strong>Universität</strong> 1<br />

Hildesheim, Institut für Bildende Kunst und Kunstwissenschaft


Jan Schönfelder (Hrsg.)<br />

<strong>Schatten</strong><br />

Reader zu den Veranstalzungen „<strong>Mediale</strong> <strong>Schatten</strong>“ und „moving <strong>shadows</strong>“,<br />

<strong>Universität</strong> Hildesheim, Institut für Bildende Kunst und Kunstwissenschaft<br />

AutorInnen<br />

Isabelle Behnke / Thimm Bubbel / Merle<br />

Christmann / Katrin Danne / Silke Gemander<br />

/ Isabel Herling / Tim-Simon Herrmannsen /<br />

Kerstin Kaufhold / Anne Kleingeist / Lena Köh-<br />

ler / Natascha Krutjakova / Isa Lange / Denise<br />

Leonhard / Alexandra Lücke / Hilke Nebendahl<br />

/ Christina Nur / Karolin Oehlmann / Astrid<br />

Oltmann / Monika Sophie Panek / Franziska<br />

Rählert / Christiane Ritter / Lea Schiemann /<br />

Jan Schönfelder / Eileen Scholz / Sarah Schrei-<br />

necke / Saskia Seifer / Michaela Streilein / Julia<br />

Schweppe / Annette Wallmoden / Annika Will<br />

3


Impressum<br />

„<strong>Schatten</strong>“<br />

Herausgeber: Jan Schönfelder<br />

Reader zu den Veranstaltungen „<strong>Mediale</strong><br />

<strong>Schatten</strong>“ und „moving <strong>shadows</strong>“, geleitet von<br />

Jan Schönfelder an der <strong>Universität</strong> Hildesheim<br />

am Institut für Bildende Kunst und Kunstwissenschaft<br />

im WS 2006/07. Die Autoren sind<br />

Studierende der Kunstpädagogik, der Kulturwissenschaften,<br />

der szenischen Künste.<br />

Auflage: offen<br />

Redaktion und Gestaltung: Jan Schönfelder<br />

Mitarbeit: Sabine Kurzweil<br />

Hildesheim, 2007<br />

4


Inhalt<br />

Einleitung 7<br />

5<br />

„Schalenbilder“ 12<br />

<strong>Schatten</strong>fänger 17<br />

„Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ 18<br />

„Der <strong>Schatten</strong>“ von Hans Christian Andersen 23<br />

<strong>Schatten</strong>liebhaber 27<br />

<strong>Schatten</strong>liebhaber: Francisco de Goya 28<br />

<strong>Schatten</strong>liebhaber: René Magritte und Francis Bacon 32<br />

<strong>Schatten</strong>projektionen 37<br />

„Die maschinelle Sonnenfinsternis im Zeitraffer“ 38<br />

Die Camera Obscura und die Entwicklung der Fotografie 41<br />

Auf dem Kopf und seitenverkehrt: Arbeiten mit der Camera obscura 47<br />

Laszlo Moholy-Nagy : Lichtmodulationen 52<br />

„Slow Motion“ 59<br />

„Ich sehe was, was Du nicht siehst“ 64<br />

„Zeichen der Sprache“ 66<br />

„Serviert“ 71<br />

„Draht-Seil-Akt, gescheitert“ 75<br />

Zeitgenössisches <strong>Schatten</strong>theater 77<br />

Balinesische und türkische <strong>Schatten</strong>spiele 90<br />

Tradition und Moderne - chinesische Aspekte des <strong>Schatten</strong>heater 96<br />

Filmschatten 97<br />

„Shades of Emotions“ 98<br />

Lotte Reiniger: Mozartfilme 102<br />

NOSFERATU - Filmschatten des Expressionismus 107<br />

„Film noir“ 111<br />

“Haha Said the Clown” 114<br />

Absolute <strong>Schatten</strong> 117<br />

Dante Alighieri: „Die göttliche Komödie“ 118<br />

Holocaust, Hiroshima 122<br />

Christian Boltanski 123


Einleitung<br />

Ohne Licht kein <strong>Schatten</strong>, eine Binsenweisheit.<br />

Doch nicht nur mit dem Licht kann ein selbiges<br />

aufgehen, auch der <strong>Schatten</strong> ist Werkzeug der<br />

Erkenntis. Sei es die Vermessung des Erdumfangs<br />

durch Eratosthenes im 3. Jh. vor Chr. (vgl.<br />

Abb. 1) durch einen Blick in einen Brunnen und<br />

Abb. 1 Sonnenuhr, Erdvermessung<br />

ein Pendel oder die Erfindung des Thales im 6.<br />

Jh. vor Chr., gennant „Der Satz des Thales“ (vgl.<br />

Abb. 2) zur Bestimmung der Höhe der Pyramiden:<br />

Wenn die Länge des <strong>Schatten</strong>s von Thales<br />

mit seiner Körpergröße übereinstimmt, ist der<br />

Abb. 2 Der Satz des Thales<br />

<strong>Schatten</strong> der Pyramide identisch mit ihrer Höhe.<br />

In diesem Beispiel sehr gut zu sehen, allerdings<br />

müsste bei einer Pyramide als Körper erst die<br />

Länge x bestimmt werden, damit in der Addition<br />

mit y die Höhe der Pyramide bestimmt werden<br />

kann. Das Beispiel illustriert das mathematische<br />

Problem zwar sehr sinnfällig, vereinfacht<br />

die Höhenberechnung jedoch nicht wirklich.<br />

7<br />

x<br />

y<br />

Auch die Zeitmessung basierte über viele Jahrhunderte<br />

auf dem <strong>Schatten</strong> der Sonne (Abb. 3)<br />

Abb. 3 Sonnenuhr am Kloster des Gurker<br />

Doms<br />

sei es als „Wandbefestigung“ oder als „Schüsselmodell“<br />

(Abb. 4). Hier hält eine Schüssel<br />

den Tagesverlauf fest. Wird die Halbkugel bei<br />

Abb. 4 Aristarchs hemisphärische Sonnenuhr<br />

(Skaphe)<br />

Sonnenaufgang horizontal gehalten, wirft der<br />

Stab einen <strong>Schatten</strong>, dessen Spitze den Rand<br />

berührt. Am Mittag wandert die Spitze über<br />

Abb. 5 Aristarchs Sonnenuhr als Himmelsprojektion


Abb. 6 „Lucky Luke, der Mann,<br />

der schneller schießt als sein<br />

<strong>Schatten</strong>“<br />

Abb. 7 Edward Daege, „Die Erfindung der<br />

Malerei“, 1832, Öl auf Leinen, Natiolnalgalerie<br />

Berlin<br />

den tiefsten Punkt wieder dem Rand entgegen.<br />

Stellen wir uns die Schüssel umgekehrt vor, erkennen<br />

wir in diesem Modell ein umgekehrtes<br />

Abbild des Himmels.<br />

Auch die Lichtgeschwindigkeit sei hier in<br />

Erinnerung gerufen. Durch Einsteins Relativitätstheorie<br />

bekommt sie eine Schlüsselrolle im<br />

Verständnis der modernen Physik. Als Konstante<br />

liebevoll karikiert durch Morris, der seinen<br />

Helden Lucky Luke schneller schießen lässt als<br />

seinen <strong>Schatten</strong> (Abb. 6). Der schwebende Hut<br />

bildet ein Paradoxon im zeitlichen Ablauf, das<br />

hier nicht gelöst werden kann.<br />

Im Mythos von der Erfindung der Malerei,<br />

aufgeschrieben durch Plinius den Alten, findet<br />

der <strong>Schatten</strong> eine sowohl romantische, als<br />

auch ästhetische und philosophische Ebene.<br />

(vgl. Abb. 7). In dieser Geschichte ritzt Butade,<br />

einem Mädchen aus Korinth im Schein einer<br />

Lampe, den <strong>Schatten</strong> des Kopfes ihres Geliebten<br />

(er muss in den Krieg) als Umriss in eine<br />

Hauswand. Butade füllt diesen Umriss mit Ton,<br />

nimmt ihn von der Hauswand und brennt den<br />

<strong>Schatten</strong>riss. Damit ist nicht nur die Malerei<br />

(strenggenommen die Zeichnung), sondern<br />

auch die Plastik erfunden. Über diese Fragen<br />

hinaus wird in dem Mythos noch die Frage<br />

nach Figur und Abbildung, Realismus und<br />

Ideal, Zwei- und Dreidimensiona<strong>lit</strong>ät, Aktua<strong>lit</strong>ät<br />

und Erinnerung gestellt. Besondere Delikatessen<br />

sind Anmerkungen wie Komar und<br />

Melamid (Abb. 8), die diese Tatsache intelligent<br />

und gekonnt als „Ursprung des sozialistischen<br />

Realismus“ in karikierender Form aufgreifen.<br />

Angefangen von der Spiegelung des Bildmotivs<br />

über die Verlagerung der Szenerie ins Pathos<br />

römischer Antike bis zur Pfeife a la Magritte<br />

illustrieren sie nicht nur den Mythos, sondern<br />

8<br />

Abb. 8 Vasily Komar / Alexander Melamid, Der<br />

Ursprung des sozialistischen Realismus,<br />

1982-83<br />

Abb. 9 Handnegativformen in der Höhlenmalerei<br />

des Paläo<strong>lit</strong>hikums, ca. 15.000 Jahre v. Chr.,<br />

El Castillo, Spanien<br />

bieten auch eine inhaltliche Auseinandersetzung.<br />

Die Frage nach der Herkunft von Malerei,<br />

Zeichnung und Plastik lässt sich selbstverständlich<br />

nicht beantworten, ihre magische Wirkung<br />

(vgl. Abb. 9) als Selbstbild oder als Abbild<br />

verfehlt auch heute seine Wirkung nicht. Die<br />

Faszination durch den <strong>Schatten</strong> gehört sicher-


Abb. 10 Bei einer Sonnenfinsternis berührt der <strong>Schatten</strong>kegel des Mondes mit seiner Spitze die<br />

Erdoberfläche<br />

lich zu den ältesten Aufgaben für das menschliche<br />

Denken.<br />

So ist das Phänomen Sonnen- und Mondfinsternis<br />

als Naturphänomen nach wie vor beeindruckend,<br />

auch wenn wir uns nicht mehr durch<br />

eine Instrumentalisierung beeindrucken lassen<br />

wie die Eingeborenen durch Kolumbus Wissen<br />

um die nächste Mondfinsternis (Abb. 11). Zu<br />

Abb. 11, 10. März 1504, Christoph Kolumbus<br />

jagt den Einwohnern von Jmaika einen gewltigen<br />

Schrecken ein, indem er ihnen eine Mondfinsternis<br />

ankündigt, die auch prompt eintritt.<br />

beachten ist die falsche <strong>Schatten</strong>linie bei der<br />

Eklipse, die viel weniger stark gekrümmt sein<br />

müsste 1 .<br />

Nach wie vor aktuell ist jedoch die Beweiskraft<br />

Abb. 12 Peary mit seinen Leuten am „Nordpol“<br />

9<br />

des <strong>Schatten</strong>s, vorzugsweise vorgetragen mithilfe<br />

der Fotografie. So konnte nachgewiesen<br />

werden, dass die Fotografie, die die Männer<br />

von Peary am Nordpol (Abb. 12) zeigen, nicht<br />

am Nordpol entstanden sein kann 2 . Die Sonne<br />

stand am 6. April 1909 etwa 6 Grad hoch am<br />

Himmel - die <strong>Schatten</strong> müssten demnach sehr<br />

lang sein.<br />

Der <strong>Schatten</strong> ist demnach eine Sache der<br />

Interpretation, am berühmtesten sicherlich in<br />

Abb. 13, Grafische Darstellung Platons Höhlengleichnis<br />

Platons Höhlengleichnis (vgl. Abb. 13). In der<br />

Vorstellung des Menschen als Gefangener<br />

seiner begrenzten Erkenntnis eröffnen sich<br />

reichlich genug Bezüge für Philosophie und<br />

Medientheorie. Die Frage nach Bild und Abbild,


Abb. 14 Erste Abbildung einer tragbaren „Camera obscura“ Der Zeichner stieg<br />

von unten (F) in die Kammer und konnte zwischen vier Ansichten der äußeren<br />

Welt wählen, diese freilich auf dem Kopf stehend.<br />

Abb 15, Zoetrope von Emile<br />

Reynaud (spätes 19. Jh.)<br />

Fußnoten<br />

1 vgl. Casati, Roberto; Die<br />

Entdeckung des <strong>Schatten</strong>s,<br />

Berlin 2001, S. 121f.<br />

2 ebd. S. 134f.<br />

Zwei und Dreidimensiona<strong>lit</strong>ät, Objekt und<br />

Erkenntnis, Farbe und Farblosigkeit, Hell und<br />

Dunkel werden zur Diskussion gestellt. Diese<br />

Modelle verweisen auf die Camera obscura, die<br />

Lochkamera und filmische Apparaturen (Abb.<br />

14 - 16). Lediglich das Fixieren der so eingefangenen<br />

Bilder bedurfte längerer Zeit. Einmal<br />

gelungen, wurden diese technischen Errungenschaften<br />

jedoch ständig weiterentwickelt und<br />

sind aus unserem heutigen Weltverständnis<br />

nicht mehr wegzudenken. Hier liegen Bewegung<br />

und Stillstand, Magie und Imagination<br />

sehr eng beieinander.<br />

Abb. 16 Lochkamera<br />

Der Reader „<strong>Schatten</strong>“ fasst die Ergebnisse von<br />

zwei Veranstaltungen zusammen, die im WS<br />

06/07 durch Jan Schönfelder an der <strong>Universität</strong><br />

Hildesheim gehalten wurden. Studierende des<br />

Lehramts (PVO 98) und des nachfolgenden<br />

BA-Studiengangs Geistes-, Sprach-, Kultur- und<br />

Sportwissenschaften (GSKS), der Kulturwissenschaften<br />

und der szenischen Künste haben<br />

im Theorieseminar „<strong>Mediale</strong> <strong>Schatten</strong>“ und im<br />

Praxisseminar „<strong>Moving</strong> <strong>shadows</strong>“ das Thema<br />

<strong>Schatten</strong> unter kultur- und medienwissenschaftlichen<br />

sowie ästhetisch-rezeptiven und<br />

ästhetisch-praktischen Aspekten untersucht.<br />

Selbstverständlich können in einer solchen Veranstaltung<br />

nur Facetten des Themas angerissen<br />

werden.<br />

10<br />

Theoretisch spannt sich der Bogen von Platon<br />

bis „Lucky Luke“, von Lavater bis Francis Bacon.<br />

„Nosferatu“ und der Film Noir stehen dem<br />

<strong>Schatten</strong>diebstahl in der Geschichte des Peter<br />

Schlemihl gegenüber. In der Praxis haben die<br />

Studierenden allein oder in Kleinstgruppen Projekte<br />

zum Thema „moving <strong>shadows</strong>“ entwickelt<br />

und umgesetzt. Eine Ausstellung diente der<br />

Präsentation, die fotografischen Aufnahmen<br />

sind bei der Gelegenheit entstanden. Die praktischen<br />

Ergebnisse führen die theoretische Vorarbeit<br />

auf ästhetischem Gebiet weiter. So sind<br />

weibliche Märchenfiguren als „Projektionen<br />

des Inneren“ in Abhängigkeit von Raum und<br />

Zeit im Zelt der „Kindheitserinnerung“ (Abb. 17)<br />

von Janine Conrad und Claudia Hoffmann zu<br />

sehen. Die Außensicht als Modellkosmos zeigen<br />

Abb. 17, „Kindheitserinnerung“ von Janine<br />

Conrad und Claudia Hoffmann<br />

Abb. 18 „Horizontalebene“ Caro Tomaschek, Isa<br />

Lange und Hilke Nebendahl


Abb. 19 „Gefühlter <strong>Schatten</strong> -<br />

wie Blinde sehen“ von Christina<br />

Nur<br />

Abbildungen<br />

Abb. 1 Illustration aus:<br />

Casati, Roberto; Die<br />

Entdeckung des <strong>Schatten</strong>s,<br />

Berlin 2001, S. 129<br />

Abb. 2 a. a. O., S117<br />

Abb. 3 Sonnenuhr am<br />

Kloster des Gurker Doms<br />

www.wikipedia.de, Stand<br />

28.04.07<br />

Abb. 4 Illustration aus:<br />

Casati, Roberto; Die<br />

Entdeckung des <strong>Schatten</strong>s,<br />

Berlin 2001, S. 126<br />

Abb. 5 aa. O., S. 127<br />

Abb. 6 Morris (Maurice de<br />

Bévère), Zeichnung recto<br />

Alben EHAPA Verlag<br />

ab 1977<br />

Abb. 7 Stoichita, Victor I.,<br />

Eine kurze Geschichte des<br />

<strong>Schatten</strong>s,, 1999, S. 135<br />

Abb. 8 Handnegativformen,<br />

Spanien, http://www.<br />

georgpeez.de/texte/<br />

zwraeume.htm,<br />

Stand 28. 04.07<br />

Abb. 9 Stoichita, Victor I.,<br />

Eine kurze Geschichte des<br />

<strong>Schatten</strong>s,, 1999, S. 134<br />

Abb. 10 aus: Casati, Roberto;<br />

Die Entdeckung des<br />

<strong>Schatten</strong>s, Berlin 2001,<br />

S. 120<br />

Abb 11 a.a. O.<br />

Abb. 12 a.a.O.<br />

Abb. 13 ohne Nachweis<br />

Abb. 14 Athanasius Kircher,<br />

Ars Magna Lucis et Umbrae<br />

Rom 1646, S. 807, Tafel 28,<br />

unten<br />

Abb. 15 http://www.dma.ufg.<br />

ac.at/assets/14100/intern/<br />

praxinoscop.jpg<br />

Abb. 16 ohne Nachweis<br />

Abb. 17 - 21 Foto: Jan<br />

Schönfelder<br />

Abb. 22 ohne Nachweis<br />

Abb. 23 ohne Nachweis<br />

Abb. 20 „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ von<br />

Denise Leonhard<br />

mit dem Mobilé „Horizontalebene“ Caro Tomaschek,<br />

Isa Lange und Hilke Nebendahl (Abb.<br />

18). Die „Fühlebene“ wird zum Selberspüren<br />

durch den Begriff „<strong>Schatten</strong>“ in Braille-Schrift<br />

(Abb. 19) vertreten. Vor allem die „Farbebene“<br />

lässt sich hier nicht aufschlüsseln. Dass die visuelle<br />

Wahrnehmung ebenfalls nicht glaubhaft<br />

ist, wird durch die Arbeit „Ich sehe was, was Du<br />

nicht siehst“ (Abb. 20) von Denise Leonhard<br />

gezeigt. Mit Hilfe von zerknülltem Papier wird<br />

sowohl eine Täuschung des Auges als auch die<br />

Auffassung der Skulptur (im Verweis auf den<br />

„Mythos von der Erfindung der Malerei“) ironisch<br />

vorgestellt. Dass das Papier ausgerechnet<br />

auf Bildhauerpodesten liegt, tut sein Übriges.<br />

Das Mittel des „indifferenten <strong>Schatten</strong>s“ wird<br />

ebenfalls eingesetzt von Nora Otte im Film „La<br />

Notte“ (Abb. 21), eine blaue Traumsequenz, die<br />

als Silhouette in einen Extraraum projiziert wurde.<br />

Darin wandelt sich eine amorphe Form in<br />

eine Figur, die einen Raum ausmisst. Im Gegensatz<br />

zu den scharf abgegrenzten Sihouetten in<br />

den Filmen von Lotte Reiniger (Abb. 22) oder<br />

den Scherenschnitten des 18. Jahrhunderts<br />

(Abb. 23) wandelt die Videokamera die Silhouette<br />

in etwas Weiches, Fließendes. Der Mythos<br />

von der Erfindung der Malerei wird damit ins<br />

Technische transformiert.<br />

Jan Schönfelder<br />

11<br />

Abb. 21 „La Notte“ von Nora Otte<br />

Abb. 22 Lotte Reiniger, „Die Abenteuer des<br />

Prinzen Achmed“, 1926, filmstill<br />

Abb. 23, Rosa Maria Assing, „Märchenlandschaft<br />

mit Altan“, um 1830


Eileen Scholz<br />

Silke Gemander<br />

Julia Schweppe<br />

Inhalt<br />

1 Beschreibung der<br />

Arbeit<br />

2 Filmbilder<br />

3 Künstlerische<br />

Bezüge<br />

4 Variationen<br />

5 Fazit<br />

Abbildung 2 - 4: Ausgewählte<br />

„Schalenbilder“<br />

„Schalenbilder“<br />

Abbildung 1: Präsentation der gesamten Arbeit<br />

1 Beschreibung der Arbeit<br />

Die Installation „Schalenbilder“ besteht hauptsächlich<br />

aus zwei Bestandteilen. Diese sind der<br />

Overhead- Projektor mit einer Wasserschale<br />

und der abgespielte Film. Hierbei muss betont<br />

werden, dass die Installation mit dem Overhead-<br />

Projektor und der Schalenbildprojektion<br />

an der Wand den Schwerpunkt der Arbeit<br />

bilden. Der Film, der zusätzlich an der Wand<br />

abläuft, unterstützend das Hauptwerk und hebt<br />

die unterschiedliche Wirkung der verschiedenen<br />

Glasschalen hervor.<br />

Die Schalen stammen alle aus dem Kücheninventar<br />

und haben einen ungefähren Durchmesser<br />

von 30 cm. Die Bilder der Schalenböden<br />

werden an eine weiße, ebene Fläche projiziert.<br />

Zusätzlich wird ein Film in einer Endlosschleife<br />

über einen DVD- Player und Beamer an einer<br />

weiteren Wand abgespielt. Dieser Film besteht<br />

aus Überblendungen von Fotografien von<br />

unterschiedlichen Schalenböden.<br />

2 Filmbilder<br />

Insgesamt wurden Fotografien von sieben<br />

verschiedenen Schalenböden gemacht. Dabei<br />

wurden die Wasserhöhe in den Schalen und<br />

die Schärfeeinstellung des Overhead-Projektors<br />

variiert (Abbildungen 2 - 8).<br />

12<br />

3 Künstlerische Bezüge<br />

Ausgangspunkt für diese Arbeit war die<br />

Verzerrung von <strong>Schatten</strong> auf einer bewegten<br />

Wasseroberfläche. Interessant ist dabei vor<br />

allem der Grad der <strong>Schatten</strong>verzerrung in<br />

Abhängigkeit von der Frequenz und Stärke der<br />

Wellen. Versetzt man die Flüssigkeit in weit auseinander<br />

liegenden Abständen in Bewegung,<br />

so wirkt der <strong>Schatten</strong> auf der Wasseroberfläche<br />

leicht verschwommen und unscharf. Trotzdem<br />

kann der Betrachter den <strong>Schatten</strong> identifizieren.<br />

Wird die Wellenfrequenz erhöht, beginnt der<br />

<strong>Schatten</strong> so stark zu schwingen, dass fast keine<br />

<strong>Schatten</strong>umrisse zu erkennen sind und der<br />

<strong>Schatten</strong> verzerrt ist.<br />

Während der Experimentierphase stellte sich<br />

heraus, dass eine Umsetzung der ersten Idee<br />

nicht sehr zufriedenstellend war. Die Figurenplättchen,<br />

die auf der Wasseroberfläche angeordnet<br />

worden waren, bewegten sich in der<br />

Glasschale auf dem Overhead- Projektor ständig<br />

zum Schalenrand und erzeugten keinen<br />

akzeptablen <strong>Schatten</strong>. Außerdem war die Anbringung<br />

eines Gerätes zur Wellenerzeugung<br />

im Gefäß sehr schwierig. Eine Wasserpumpe<br />

für Aquarien erbrachte zwar die erwünschten<br />

Wasserschwingungen, allerdings konnten die<br />

Frequenzen der Wellen nicht variiert werden.<br />

Die Resultate der Anfangsidee waren nicht sehr<br />

überzeugend.


Abbildung 5 - 8: Ausgewählte<br />

„Schalenbilder“<br />

Abbildung 9: Schale“<br />

Ein neuer Sachverhalt, der durch viele Experimente<br />

am Projekt entstanden war, bot<br />

aber auch neue Möglichkeiten. Neben verschiedenen<br />

Figurenplättchen, die ins Wasser<br />

gelegt wurden, wurden auch unterschiedliche<br />

Wassergefäße beschafft. Diese Glasschalen<br />

variierten in Größe, Form und Muster des Schalenbodens.<br />

Durch den Overhead- Projektor<br />

wurden die verschiedenen Böden, die auf den<br />

ersten Blick in den Glasschalen nicht auffallen,<br />

in einem starken Kontrast zum Hintergrund<br />

und interessanten Ausdruck der Muster an der<br />

Projektionswand dargestellt.<br />

Die Assoziiationen zu den entstandenen<br />

Bildern reichten von Kirchenfenstern über<br />

Ornamente bis zu Mandalas.<br />

Die untenstehenden Beispiele für Kirchenfenster<br />

zeigen ähnliche Formen wie die Schalenbilder.<br />

So gibt es hauptsächlich runde Formen,<br />

vereinzelt auch Quadratische. Die meisten Muster<br />

sind vom Mittelpunkt ausgehend angelegt.<br />

Es entsteht eine Wirkung, die so scheint, als ob<br />

die Muster in den Fenstern nach außen zum<br />

Kreisrand strahlen würden (Abb. 9 und 14).<br />

An den drei Beispielen für Ornamente kann<br />

man erkennen, dass sie vom Aufbau klar strukturiert<br />

und geometrisch konstruiert sind. Der<br />

Mittelpunkt des Kreises bildet, wie bei fast allen<br />

Schalenbildern, das Zentrum.<br />

Eine weitere Assoziation, die beim Betrachten<br />

der Schalenbilder aufkommt, ist die Ähnlichkeit<br />

zu Mandalas. Diese stammen vor allem aus dem<br />

Bereich des Buddhismus und Hinduismus. Sie<br />

werden hauptsächlich zu religiösen Zwecken<br />

oder als Symbole bei Riten benutzt. Auch ihre<br />

Konstruktion ist mit der der Kirchenfenster und<br />

Ornamente gleichzusetzen (siehe Abb. 15 - 20).<br />

13<br />

4 Variationen<br />

Das Werk „Schalenbilder“ bieten viele Möglichkeiten<br />

zur Variation. Diese Veränderungen<br />

können sowohl vom Betrachter, als auch vom<br />

Installationsteam vorgenommen werden.<br />

An folgenden Stellen sind Variationen der<br />

Arbeit denkbar. Durch das Auswechseln der<br />

Schalen auf dem Overhead- Projektor kann<br />

ein jeweils neues Bild an der Projektionswand<br />

erzeugt werden. Außerdem kann die Wassermenge<br />

variiert werden, wodurch ein anderer<br />

Kreisrand in der Schale entsteht, der als<br />

<strong>Schatten</strong> auf der Wand dargestellt wird. Durch<br />

unterschiedliche Einstellungen des Overhead-<br />

Projektors wird das entstehende Bild zusätzlich<br />

in Schärfe, Kontrast und Farbe verändert.<br />

Bei der abschließenden Präsentation des Werkes<br />

sind verschiedene Formen und Konstellationen<br />

der Stellung möglich. Zum einen können<br />

Overhead- Projektor und Beamer an die gleiche<br />

Wand gerichtet werden. Der Betrachter wird<br />

dadurch mit beiden Präsentationsformen<br />

gleichzeitig konfrontiert. Er kann Vergleiche<br />

und Bezüge zwischen dem Standbild und<br />

dem ablaufenden Film herstellen. Allerdings<br />

besteht die Gefahr, dass die einzelnen Komponenten<br />

des Werkes (das Schalenbild auf dem<br />

Overhead- Projektor und Film) nicht ihre volle<br />

Wirkung entfalten können und den Betrachter<br />

gegenseitig voneinander ablenken. Deshalb<br />

wäre es möglicherweise besser den Overhead-<br />

Projektor und den Beamer auf zwei unterschiedliche<br />

Wände zu richten. Der Betrachter<br />

kann sich dadurch konzentriert mit dem Schalenbild<br />

des Overhead- Projektors und dem Film<br />

auseinandersetzten. Die zwei Komponenten<br />

des Werkes erhalten somit eine eigenständige


Abbildung 10 - 19 Verschiedene Kirchenfenster, Mandalas und Ornamente<br />

14<br />

Wirkung. Trotzdem wird die thematische<br />

Verbindung nicht unterbrochen oder<br />

gestört, sondern eine Ergänzung der zwei<br />

Bestandteile zueinander herbeigeführt.<br />

5 Fazit<br />

Obwohl die Arbeit aus einem einfachen<br />

Aufbau besteht und leicht zu rekonstruieren<br />

ist, ist die Wirkung der Bilder sehr<br />

beeindruckend.<br />

Das Experimentieren vor Ort und mit entsprechendem<br />

Material hat sich gelohnt.<br />

Abbildungen<br />

1. Reihe, v. l. n. r. Kirchenfenster,<br />

Quelle unbekannt (Abb. 10),<br />

Kirchenfenster, Quelle unbekannt<br />

(Abb. 11), Mandala,http://12koerbe.<br />

de, Stand 18.02.07(Abb. 12),<br />

2. Reihe, v. l. n. r.: Kirchenfenster, www.<br />

ekir.de, Stand 18.02.07 (Abb. 13),<br />

Ornament, www.alles-was-rund-ist.de,<br />

Stand 18.02.07(Abb. 14), Kirchenfenster,<br />

www.krsna.de, Stand<br />

18.02.07(Abb. 15),<br />

3. Reihe, v. l. n. r., Mandala, http://<br />

jacques.prevost.free.fr, Stand<br />

18.02.07(Abb. 16), Mandala, Quelle<br />

unbekannt (Abb. 17), 4.Reihe, li,:<br />

Kirchenfenster, www.lumobox.com,<br />

Stand 18.02.07(Abb. 18), re:,<br />

Ornament, www.tibs.at, Stand<br />

18.02.07 (Abb. 19)


<strong>Schatten</strong>-<br />

fänger<br />

17


Saskia Seifer<br />

Inhalt<br />

1 Kurzbiographie des<br />

Autors<br />

2 Die Erzählung im<br />

Überblick<br />

3 Betrachtung einzelner<br />

<strong>Schatten</strong>szenen<br />

4 Bedeutung des<br />

<strong>Schatten</strong>s<br />

5 Ausgang der<br />

Erzählung<br />

6 Umsetzung der<br />

<strong>Schatten</strong>szenen in der<br />

Literaturverfilmung<br />

7 Schlussbetrachtung<br />

8 Quellen<br />

Abb. 2 Adelbert von Chamisso<br />

„Peter Schlemihls wundersame<br />

Geschichte“<br />

von Adelbert von Chamisso<br />

Abb. 1: Illustration zu „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“<br />

1 Kurzbiographie des Autors<br />

Adelbert von Chamisso (eigentlich Louis<br />

Charles Adélaïde de Chamisso) war ein<br />

deutscher Dichter und Naturforscher, der am<br />

30. Januar 1781 auf Schloss Boncourt in der<br />

Champagne in Frankreich geboren wurde.<br />

Er entstammte einer alten lothringischen<br />

Adelsfamilie, die sich auf der Flucht vor der<br />

Französischen Revolution in Preußen niederließ.<br />

Die Auswanderung des französischen Adels<br />

1790 hatte zur Folge, dass Chamisso und<br />

seine Familie als heimatlose Emigranten in die<br />

Niederlande, nach Holland und Deutschland<br />

reisten. Chamisso diente als Leutnant in einem<br />

preußischen Regiment. Nachdem seine Eltern<br />

wieder zurück nach Frankreich kehrten, blieb<br />

er allein zurück. Mit 25 Jahren verlor Adelbert<br />

von Chamisso seine Eltern. Drei Jahre später,<br />

reiste er nach Frankreich, in die Schweiz und<br />

dann wieder nach Deutschland. 1812 begann<br />

er das Studium der Medizin und Botanik an<br />

der <strong>Universität</strong> in Berlin und 1813 schrieb er<br />

die Erzählung „Peter Schlemihls wundersame<br />

Geschichte“. Zwei Jahre darauf, nahm er als<br />

Botaniker an einer Pazifik- und Arktisexpedition<br />

teil und verwirklichte damit seinen Traum.<br />

18<br />

1819 wurde er Direktor am Botanischen<br />

Garten in Berlin und 1833 am Königlichen<br />

Herbarium. Zwischenzeitlich übernahm er die<br />

Mitherausgabe des Deutschen Muselmanachs.<br />

Am 21. August 1838 starb Chamisso an einem<br />

Lungenleiden. Auf dem Friedhof am Halleschen<br />

Tor in Berlin- Kreutzberg, in der Nähe des nach<br />

ihm benannten Chamissoplatzes , wurde er<br />

begraben. 1<br />

2 Die Erzählung im Überblick<br />

Adelbert von Chamisso erzählt in „Peter Schlemihls<br />

wundersame Geschichte“ von einem Mann, der<br />

seinen <strong>Schatten</strong> für einen unerschöpflichen<br />

Geldbeutel an den Teufel verkauft und dadurch<br />

von der Gesellschaft ausgeschlossen wird.<br />

Seine <strong>Schatten</strong>losigkeit erfährt sofort Aufsehen:<br />

Gassenjungen verspotten ihn, Frauen<br />

bemitleiden ihn und Herren empören sich.<br />

Schemihl versucht den Handel mit dem Teufel<br />

rückgängig zu machen, doch dieser schlägt ihm<br />

einen neuen Tausch vor: Peter Schlemihls Seele<br />

gegen den <strong>Schatten</strong>! Da er die List des Teufels<br />

erkennt, wenn auch nun zu spät, schlägt er das<br />

Angebot aus. Daraufhin versucht der Teufel, in<br />

der Geschichte als ein grauer Mann beschrieben,


Abb. 2 Illustration zu „Peter<br />

Schlemihls wundersame Geschichte“<br />

Abb. 3 Illustration zu „Peter<br />

Schlemihls wundersame Geschichte“<br />

Abb. 4 Illustration zu „Peter<br />

Schlemihls wundersame Geschichte“<br />

Schlemihl mit mehreren Verlockungen vom<br />

zweiten Handel zu überzeugen und seine Seele<br />

zu erlangen. Schließlich nimmt der <strong>Schatten</strong>lose<br />

sein Schicksal selbst in die Hand und wirft den<br />

Goldsäckel in einen Abgrund. Hiermit gelingt es<br />

ihm, sich aus der Abhängigkeit des Grauen zu<br />

lösen, der kurz darauf hinter den Felsenmassen<br />

verschwindet. Ohne <strong>Schatten</strong> und ohne Geld<br />

wandert er durch die Lande und hält sich,<br />

soweit es ihm möglich ist, von den Menschen<br />

fern. In einem Dorf ersteht er für seine letzten<br />

Geldstücke ein paar Wanderstiefel, die sich als<br />

’Siebenmeilenstiefeln’ erweisen. Diese bringen<br />

ihn in wenigen Schritten um die ganze Welt,<br />

sodass er von nun an die Kontinente durchstreift<br />

und als Naturforscher eine neue Lebensweise<br />

findet. Als er zwischen dem Nordmeer und<br />

der Wüste mit seinen Siebenmeilenstiefeln<br />

abstürzt, erkältet er sich lebensgefährlich und<br />

findet sich in einem Krankenhaus, namens<br />

’Schlehmilium’, wieder. Sein zurückgebliebener<br />

Diener und seine Geliebte hatten dieses von<br />

seinem vermachten Geld errichtet. Geheilt und<br />

unerkannt, verlässt Schlemihl jedoch die Anstalt<br />

und vervollkommnet sein Wissen von der<br />

Geografie und der Fauna der Kontinente. 2<br />

3 Betrachtung einzelner <strong>Schatten</strong>szenen<br />

Im Folgenden sollen einige Szenen aus der<br />

Geschichte aufgezeigt werden, die sich<br />

insbesondere mit dem <strong>Schatten</strong> beschäftigen.<br />

Bereits im ersten Kapitel findet der Handel<br />

zwischen Peter Schlemihls <strong>Schatten</strong> und dem<br />

unerschöpflichen Geldbeutel des grauen<br />

Mannes statt. Der graue Mann kommt auf Peter<br />

Schlemihl zu und bewundert dessen <strong>Schatten</strong>:<br />

„(...), hab ich, mein Herr, einige Mal – erlauben<br />

Sie, dass ich es ihnen sage – wirklich mit<br />

unaussprechlicher Bewunderung den schönen,<br />

schönen <strong>Schatten</strong> betrachten können (...), den<br />

herrlichsten <strong>Schatten</strong> da zu Ihren Füßen (...)<br />

Sollten sie sich wohl nicht abgeneigt finden,<br />

mir diesen Ihren <strong>Schatten</strong> zu überlassen?“ 3 .<br />

Der Graue macht Schlemihl ein verlockendes<br />

Angebot : „Ich hab in meiner Tasche manches,<br />

was dem Herrn nicht ganz unwert scheinen<br />

möchte; für diesen unschätzbaren <strong>Schatten</strong> halt<br />

ich den höchsten Preis zu gering“ 4 . Daraufhin<br />

zieht der graue Mann einen Goldsäckel aus<br />

seiner Tasche und Peter Schlemihl nimmt das<br />

Angebot an, ohne zu wissen, welchen Schaden<br />

er davon tragen wird.<br />

(Abb. 2) „Er [der Graue] schlug ein, kniete dann<br />

ungesäumt vor mir [Peter Schlemihl] nieder und<br />

mit einer bewundernswürdigen Geschicklichkeit<br />

sah ich ihn meinen <strong>Schatten</strong>, vom Kopf bis zu<br />

meinen Füßen, leise von dem Grase lösen,<br />

aufheben, zusammenrollen und falten und<br />

zuletzt einstecken“ 5<br />

Schon kurze Zeit später wird Peter Schlemihl<br />

jedoch bewusst, dass er einen großen Fehler<br />

begangen hat. Nicht nur die negativen<br />

Reaktionen von der Gesellschaft, sondern auch<br />

seine Gewissenbisse ließen ihn weinen und<br />

um seinen <strong>Schatten</strong> trauern: „Es musste schon<br />

die Ahnung in mir aufsteigen: dass, um so viel<br />

19<br />

das Gold auf Erden Verdienst und Tugend<br />

überwiegt, um so viel der <strong>Schatten</strong> höher als<br />

selbst das Gold geschätzt werde; und wie<br />

ich früher den Reichtum meinem Gewissen<br />

aufgeopfert, hatte ich jetzt den <strong>Schatten</strong> für<br />

bloßes Gold hingegeben; was konnte, was sollte<br />

auf Erden aus mir werden!“ 6<br />

Verzweifelt versucht Schlemihl seinen <strong>Schatten</strong><br />

wieder zu erlangen, sodass er den berühmtesten<br />

Maler der Stadt beauftragt seinen Schlagschatten<br />

zu malen, woraufhin dieser jedoch entgegnet:<br />

„Der falsche Schlagschatten, den ich ihm malen<br />

könnte (...) würde doch nur ein solcher sein, den<br />

er bei der leisesten Bewegung wieder verlieren<br />

müsste (...) wer keinen <strong>Schatten</strong> hat, der gehe<br />

nicht in die Sonne, das ist das Vernünftigste und<br />

Sicherste“ 7 .<br />

Als der <strong>Schatten</strong>lose seinen Diener beauftragt<br />

nach dem Grauen zu suchen, lässt dieser<br />

Schlemihl mitteilen, dass er nach genau einem<br />

Jahr und einem Tag wieder erscheinen würde.<br />

So geschieht es dann auch in der Heide, wo<br />

ihm der graue Mann den zweiten Handel vorschlägt.<br />

Peter Schlemihl setzt alles daran, den<br />

ersten Handel rückgängig zu machen und dem<br />

Grauen seinen Goldsäckel wieder zu geben,<br />

doch dieser zeigt ihm ein Pergament, auf dem<br />

folgende Aufschrift steht: „ Kraft dieser meiner<br />

Unterschrift vermache ich dem Inhaber dieses<br />

meine Seele nach ihrer natürlichen Trennung<br />

von meinem Leibe“ 8 . Nachdem Schlemihl<br />

erneut vergeblich versucht den Handel durch<br />

den Glückssäckel rückgängig zu machen, lehnt<br />

er das Angebot des Teufels immer wieder ab.<br />

Auch, als der graue Mann den <strong>Schatten</strong> aus<br />

seiner Tasche zieht, um ihm zu beweisen, dass<br />

er ihn jederzeit bei sich trägt.<br />

(Abb. 3) „Er [der Graue] zog sogleich meinen<br />

[Peter Schlemihls] <strong>Schatten</strong> aus seiner Tasche,<br />

und ihn mit einem geschickten Wurf auf<br />

der Heide entfaltend, breitete er ihn auf der<br />

Sonnenseite zu seinen Füßen aus, so, dass er<br />

zwischen den beiden ihm aufwartenden [gehorchenden]<br />

<strong>Schatten</strong>, dem meinen und dem<br />

seinen, daherging, denn meiner musste ihm<br />

gleichfalls gehorchen und nach allen seinen<br />

Bewegungen sich richten und bequemen.“ 9<br />

Hoffnungslos und in Gedanken daran, dass<br />

er seinen <strong>Schatten</strong> nicht mehr wieder sehen<br />

werde, irrt er einsam in der Heide herum. Doch<br />

als Schlemihl plötzlich einen ’Menschenschatten’<br />

auf dem Boden entdeckt, rennt er diesem<br />

voller Sehnsucht hinterher und versucht den<br />

’Menschenschatten’ durch einen Sprung auf<br />

ihn, einzufangen.<br />

(Abb. 4) „<strong>Schatten</strong>, dacht ich [Peter Schlemihl],<br />

suchst du deinen Herrn? Der will ich sein. Und<br />

ich sprang hinzu, mich seiner zu bemächtigen;<br />

ich dachte nämlich, dass, wenn es mir glückte,<br />

in seine Spuren zu treten, so, dass er mir an<br />

die Füße käme, er wohl daran hängen bleiben<br />

würde und sich mit der Zeit an mich gewöhne.“<br />

10<br />

Es stellte sich jedoch heraus, dass der graue<br />

Mann ein übles Spiel mit dem sich verzweifelt<br />

Wehrenden spielte. Mit Hilfe eines ’unsichtba-


Abb. 5 Illustration zu „Peter<br />

Schlemihls wundersame Geschichte“<br />

ren Vogelnests’ ließ der graue Mann seinen<br />

<strong>Schatten</strong> vor Schlemihl herumtanzen, ohne,<br />

dass Schlemihl den Körper des Grauen sehen<br />

konnte. Aber trotz der Verlockungen des grauen<br />

Mannes, lässt sich Peter Schlemihl nicht auf<br />

den Handel ein.<br />

Nachdem sich der <strong>Schatten</strong>lose entschließt sein<br />

Haus und die Stadt zu verlassen, tritt der Graue<br />

immer wieder in Erscheinung und gesellt sich<br />

als ständiger Begleiter zu seinem Opfer. Der<br />

graue Mann schlägt eine neue Taktik ein, indem<br />

er Schlemihl seinen <strong>Schatten</strong> leiht, sodass<br />

diesem der alte Reichtum und die Ehrerbietung<br />

des Volkes vor Augen geführt wird. Da ihm<br />

der Graue nicht mehr von seiner Seite weicht<br />

und er die Absicht des grauen Mannes durchschaut,<br />

sieht Schlemihl die einzige Möglichkeit<br />

ihn loszuwerden darin, das Geldsäckel in einen<br />

Abgrund zu werfen (Abb. 5)<br />

Seine Vorahnung bestätigt sich, denn der<br />

Graue geht fort, sodass sich Peter Schlemihl<br />

von seiner Abhängigkeit befreien kann.<br />

Bezogen auf die Illustrationen der <strong>Schatten</strong>szenen,<br />

ist zu sagen, dass diese die Geschichte<br />

nicht nur untermalen, sondern auch die<br />

Vorstellung darüber, welche Rolle der <strong>Schatten</strong><br />

spielt, verstärken. Meiner Meinung nach,<br />

achten die Menschen auch in Wirklichkeit<br />

kaum auf ihren eigenen <strong>Schatten</strong> bzw. nehmen<br />

diesen nicht bewusst war. Auf Grund<br />

der Zeichnungen wird in einer rea<strong>lit</strong>ätsfernen<br />

Darstellungsweise veranschaulicht, wie es<br />

aussehen könnte, wenn man beispielsweise in<br />

Wirklichkeit den <strong>Schatten</strong> eines Menschen entfernen<br />

und einrollen könnte bzw. wenn man<br />

anstelle eines, zwei <strong>Schatten</strong> hätte und diese in<br />

zwei verschiedenen Richtungen auf den Boden<br />

fallen würden (siehe Abb.2,3).<br />

4 Bedeutung des <strong>Schatten</strong>s<br />

„Peter Schlemihls wundersame Geschichte“<br />

endet mit der folgenden Moral: „... willst du<br />

unter den Menschen leben, so lerne verehren<br />

zuvörderst den <strong>Schatten</strong>, sodann das Geld. Willst<br />

du nur dir und deinem bessern Selbst leben, o so<br />

brauchst du keinen Rat.“ 11 Der <strong>Schatten</strong>verlust<br />

zeigt sich in der Erzählung als sichtbares Zeichen<br />

für einen moralischen Mangel. Peter Schlemihl<br />

ist das Geld wichtiger als sein <strong>Schatten</strong>. Seine<br />

Geldgier lässt ihn den Handel eingehen. Daher<br />

kann man sagen, dass der <strong>Schatten</strong>verlust ein<br />

sichtbares Zeichen für seine Charakterschwäche<br />

ist, die ihn zum Verkauf seines <strong>Schatten</strong>s<br />

verleitet hat. Der <strong>Schatten</strong> könnte außerdem als<br />

ein Symbol für Reichtümer, die nicht materieller<br />

Natur sind, stehen. Ein Beispiel für Reichtum<br />

wäre das Verehren der Gemeinschaft bzw. das<br />

Bemühen nach harmonischem Zusammenleben.<br />

Die Geschichte zeigt, dass dies mehr wert als<br />

alles andere auf der Welt ist, sodann auch<br />

mehr als der unerschöpfliche Geldbeutel. Denn<br />

auf Grund seiner <strong>Schatten</strong>losigkeit erfährt<br />

Schlemihl den Verstoß aus der Gesellschaft,<br />

sodass menschliche Beziehungen nicht mehr<br />

zustande kommen können. Durch den Verkauf<br />

des scheinbar Unwesentlichsten, nämlich den<br />

20<br />

<strong>Schatten</strong>, erweist sich dieser in Wahrheit als<br />

die verhängnisvollste Wirklichkeit, als das, was<br />

gerade für die gesellschaftliche Existenz am<br />

allerletzten entbehrt werden kann und durch<br />

kein Geld der Welt zu ersetzen ist. Der <strong>Schatten</strong><br />

könnte daher auch als ein Symbol für Solidarität<br />

und menschliches Zusammenleben angesehen<br />

werden, was Peter Schlemihl durch den Verlust<br />

des <strong>Schatten</strong>s nicht mehr erfahren kann.<br />

Außerdem könnte der abschließende Satz<br />

der Geschichte bedeuten, dass nicht der<br />

Egoismus des Menschen überwiegen, sondern<br />

das Wahren seiner eigenen Identität und das<br />

Miteinbringen in die Gesellschaft an vorderster<br />

Stelle stehen sollte. Der Mensch sollte demnach<br />

nicht nur an sich selbst denken und zudem<br />

begreifen, dass Geld nicht alles ist bzw. die<br />

Gier danach zu Unglück führen kann. Das was<br />

zählt, ist, dass man nicht zu schnell über Dinge<br />

entscheidet, die einem zunächst als unwichtig<br />

erscheinen, sondern darüber nachdenkt, welche<br />

Konsequenzen dies haben kann.<br />

Trotz seines Reichtums, das seinen Geldbeutel<br />

betrifft, wird Peter Schlemihl durch die Menschen<br />

aus der Gesellschaft verstoßen, indem sie ihn<br />

verspotten, bemitleiden sowie verachten. Der<br />

<strong>Schatten</strong> hat daher bei den Personen in der<br />

Geschichte eine große Bedeutung, sodass er<br />

ohne diesen nicht mehr in der Gesellschaft<br />

leben kann. Da seine Gestalt keinen <strong>Schatten</strong><br />

mehr wirft, ist er zwar noch ein Mensch mit einer<br />

Seele, jedoch ohne gesellschaftliche Existenz.<br />

Seine Seele behält Schlemihl, da er den<br />

zweiten Handel des Teufels nicht eingeht, aber<br />

was bedeutet das? Sind <strong>Schatten</strong> und Seele<br />

voneinander zu trennen oder handelt es sich<br />

dabei um das Gleiche? Zum Beispiel bezeichnet<br />

dasselbe Wort in mehreren Indianersprachen<br />

<strong>Schatten</strong>, Bild und Seele 12 . Außerdem werden in<br />

verschiedenen Jenseitsvorstellungen die Toten<br />

als <strong>Schatten</strong> gedacht 13 .<br />

Was bedeutet dies aber nun für die Geschichte?<br />

Ist Peter Schlemihl auf Grund seiner<br />

<strong>Schatten</strong>losigkeit als leblos zu bezeichnen.<br />

Eine Definition von <strong>Schatten</strong> beschreibt zudem<br />

Folgendes: „Oft wurden aber auch gerade die<br />

Seele u. Lebenskraft als <strong>Schatten</strong> verstanden,<br />

entspr. haben Geister, die in Menschengestalt<br />

erscheinen, oder Menschen, die ihre Seele dem<br />

Teufel verkauft haben, keinen <strong>Schatten</strong>“ 14 .<br />

Diese Definition würde bedeuten, dass Peter<br />

Schlemihl nicht nur seine Seele verkauft, wenn<br />

er den zweiten Handel des Teufels eingegangen<br />

wäre, sondern auch seinen <strong>Schatten</strong> verloren<br />

hätte, sodass eine Zurückerlangung seines<br />

<strong>Schatten</strong>s dadurch auch nicht ermöglicht wäre.<br />

Aber kann man nun auch den Rückschluss<br />

ziehen, dass er durch den Verkauf seines<br />

<strong>Schatten</strong>s bereits seine Seele verloren hat? Diese<br />

Frage lässt Raum zur eigenen Interpretation,<br />

denn auf diese wird in der Erzählung nicht<br />

eingegangen bzw. ist insofern zu beantworten,


Abb. 6 Illustration zu „Peter<br />

Schlemihls wundersame Geschichte“<br />

Abb. 7 Der Graue rollt den<br />

<strong>Schatten</strong> Peter Schlemihls ein,<br />

nachdem dieser den ersten<br />

Handel, „<strong>Schatten</strong> gegen<br />

unausschöpflichen Goldsäckel“,<br />

eingeht.<br />

Abb. 8 und 9 Peter Schlemihls<br />

Geliebte Fanny erkennt,<br />

während eines Abendspaziergangs,<br />

die <strong>Schatten</strong>losigkeit<br />

Schlemihls, woraufhin sie in<br />

Ohnmacht fällt und er die Stadt<br />

verlässt.<br />

dass der Teufel nicht auf den zweiten Handel<br />

beharren hätte müssen, da er sonst sein Ziel,<br />

nämlich die Erlangung der Seele, schon nach<br />

dem ersten Handel erreicht hätte.<br />

5 Ausgang der Erzählung<br />

Wie schon im Überblick (Punkt 3) erwähnt,<br />

endet die Erzählung damit, dass Peter Schlemihl<br />

mit Hilfe alter Wanderschuhe, die sich als<br />

`Siebenmeilenstiefel` entpuppen, durch die Welt<br />

reist und die Natur erforscht: „ Ich habe soweit<br />

meine Stiefel gereicht, die Erde, ihre Gestaltung,<br />

ihre Höhen, ihre Temperatur, ihre Atmosphäre<br />

in ihrem Wechsel, die Erscheinungen ihrer<br />

magnetischen Kraft, das Leben auf ihr,<br />

besonders im Pflanzenreiche, gründlicher<br />

kennen gelernt als vor mir irgendein Mensch. (...)<br />

Ich werde Sorge tragen, dass vor meinem Tode<br />

meine Manuskripte bei der Berliner <strong>Universität</strong><br />

niedergelegt werden“ 15 .<br />

Den Beschreibungen nach zu urteilen, scheint<br />

Peter Schlemihl nach dem <strong>Schatten</strong>verlust den<br />

Sinn seines Lebens darin zu sehen, die Welt zu<br />

bereisen und kennen zu lernen.<br />

Während dieser Zeit hat Schlemihl keinen Kontakt<br />

zu anderen Menschen und es scheint, als würde<br />

er sich nicht lange an ein- und demselben Ort<br />

befinden. Da er mit seinen ’Siebenmeilenstiefeln’<br />

von Kontinent zu Kontinent springen kann, fällt<br />

es ihm leicht, sich schnell zwischen den Orten<br />

zu bewegen. Diese Schnelligkeit impliziert den<br />

Gedanken daran, dass es scheint, Schlemihl<br />

sei zum <strong>Schatten</strong> seiner Selbst geworden. Auf<br />

Grund seiner schnellen Bewegungen bleibt von<br />

ihm auch nur noch ein <strong>Schatten</strong>, sodass er für<br />

die Menschen auf der Welt wahrscheinlich gar<br />

nicht mehr sichtbar ist.<br />

Seine Erfüllung sieht Schlemihl darin, sein<br />

Wissen über die Welt zu vervollkommnen.<br />

Dank der ’Siebenmeilenstiefel’ sieht er den<br />

Reichtum weder in materiellen Dingen noch in<br />

menschlichen Beziehungen. Er erwirbt seinen<br />

Reichtum durch das Anhäufen von Wissen,<br />

sodass ihn die erworbenen Wanderstiefel durch<br />

neue Reichtümer belohnen. Ganz im Gegenteil,<br />

wie zunächst in Punkt 5 angenommen, ist<br />

Schlemihl durch seine <strong>Schatten</strong>losigkeit nicht als<br />

leblos zu bezeichnen, sondern er blüht viel mehr<br />

in seiner neuen Lebensweise auf. Sein Wissen<br />

möchte er der ganzen Welt verkünden und<br />

daher hält er all seine Erkundungen schriftlich in<br />

Manuskripten fest.<br />

6 Umsetzung der <strong>Schatten</strong>szenen in der<br />

Literaturverfilmung von 1981<br />

In den Abbildungen 7 bis 15 werden einige<br />

<strong>Schatten</strong>szenen dargestellt, um aufzuzeigen,<br />

wie diese im Film umgesetzt wurden.<br />

7 Schlussbetrachtung<br />

Das Hauptmotiv in „Peter Schlemihls<br />

wundersamer Geschichte“ ist der <strong>Schatten</strong>. Dieser<br />

wird in der Literatur durch Bilder und in dessen<br />

Verfilmung dargestellt. Die zentrale Bedeutung<br />

des <strong>Schatten</strong>verlustes zieht sich wie ein roter<br />

Faden durch die ganze Geschichte, indem die<br />

21<br />

Abb. 10 und 11 Nachdem Peter Schlemihl den<br />

zweiten Handel, „<strong>Schatten</strong> gegen Seele“, ablehnt,<br />

versucht der Graue ihn zu locken, indem<br />

er den <strong>Schatten</strong> aus seiner Tasche holt, sodass<br />

Schlemihl diesen für kurze Zeit zurückerlangt.<br />

Abb. 12 Peter Schlemihl entdeckt den Menschenschatten<br />

Abb. 13 und 14 (nächste Seite) Der Graue gibt<br />

Schlemihl erneut seinen <strong>Schatten</strong> zurück, um<br />

ihn zu locken und vom zweiten Handel zu<br />

überzeugen.


Fußnoten<br />

1 vgl. von Chamisso 1987, S.<br />

5-11 und http://<br />

de.wikipedia.org/wiki/<br />

Adelbert_von_Chamisso<br />

2 vgl. von Chamisso 1987<br />

3 a.a.O., S. 16<br />

4 a.a.O., S. 17<br />

5 a.a.O., S. 18<br />

6 a.a.O., S.19<br />

7 a.a.O., S.23<br />

8 a.a.O., S.36<br />

9 a.a.O., S.37<br />

10 a.a.O., S.40<br />

11 a.a.O., S.63<br />

12 vgl. Becker 1992, S. 253<br />

13 vgl. ebd.<br />

14 a.a.O., S.253f.<br />

15 von Chamisso 1987, S. 63<br />

Literatur<br />

Becker, Udo: Lexikon der<br />

Symbole, Freiburg im<br />

Breisgau, Verlag Herder,<br />

1992<br />

von Chamisso, Adelbert:<br />

Peter Schlemihls<br />

wundersame Geschichte,<br />

Berlin, Cornelsen Verlag,<br />

1987<br />

Internet<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/<br />

Adelbert_von_Chamisso<br />

Film<br />

Peter Schlemihls wundersame<br />

Geschichte, 1981, 115 min.,<br />

Regie: Peter Beauvais<br />

Abb. 14<br />

Abb. 15 Peter Schlemihl schlägt den Handel<br />

immer wieder aus, sodass der Graue Schlemihls<br />

<strong>Schatten</strong> mit einem Pfiff zu sich ruft und den<br />

<strong>Schatten</strong> wieder in seine Tasche steckt.<br />

Konsequenzen des ersten Handels geschildert<br />

werden. Nur das Ende zeigt schließlich eine<br />

Wendung auf. Peter Schlemihl lernt nach<br />

mehreren Versuchen der Zurückerlangung<br />

seines <strong>Schatten</strong>s, ohne diesen zu leben und<br />

erfährt von Reichtümern, von denen er bisher<br />

nur träumen konnte. Der <strong>Schatten</strong>verlust tritt<br />

in den Hintergrund, bleibt jedoch gegenwärtig,<br />

da man sagen kann, dass Schlemihl mit Hilfe<br />

der erworbenen `Siebenmeilenstiefel` und<br />

auf Grund seiner schnellen Bewegungen von<br />

Kontinent zu Kontinent, zum <strong>Schatten</strong> seiner<br />

Selbst wird.<br />

Fasst man die drei vorgestellten Definitionen aus<br />

Punkt 5 zusammen, so könnte man vermuten,<br />

dass Peter Schlemihl in der Geschichte zu<br />

einem Seelenlosen ohne <strong>Schatten</strong> im Jenseits<br />

geworden ist. Seelenloser ohne <strong>Schatten</strong> dann,<br />

sobald man der Indianersprache nachgehen und<br />

Seele und <strong>Schatten</strong> gleichsetzen würde. Und<br />

Seelenloser ohne <strong>Schatten</strong> im Jenseits daher,<br />

weil in verschiedenen Jenseitsvorstellungen die<br />

Toten als <strong>Schatten</strong> gedacht werden. Dadurch,<br />

dass Schlemihl zum <strong>Schatten</strong> seiner Selbst wird<br />

und nicht mehr am Leben seiner Mitmenschen<br />

teilnimmt, fällt es schwer zu glauben, dass dieser<br />

in der Geschichte trotzdem noch im Diesseits<br />

lebt.<br />

Zudem muss jedoch gesagt werden, dass<br />

die Bedeutung des <strong>Schatten</strong>s sowie des<br />

<strong>Schatten</strong>verlustes nicht eindeutig zu erklären<br />

22<br />

ist, sodass weitere Interpretationsansätze nicht<br />

auszuschließen sind.<br />

Wenn man nun rückblickend die Biografie<br />

des Autors sowie den Inhalt der Geschichte<br />

vergleicht, so könnte man folgende<br />

Zusammenhänge zwischen diesen erkennen.<br />

Adelbert von Chamisso war ein heimatloser<br />

Emigrant, der seine Eltern schon mit 25 Jahren<br />

verlor. Aus diesem Grund war er sehr oft allein<br />

und hatte keinen festen Wohnsitz. Nachdem<br />

Schlemihl seinen <strong>Schatten</strong> verliert, ist er,<br />

genau wie Chamisso, auf sich allein gestellt.<br />

Zudem ist das wissenschaftliche Interesse bei<br />

beiden zu erkennen. Chamisso als Mediziner<br />

und Botaniker, dessen Traum es ist, an einer<br />

Pazifik- und Arktisexpedition teilzunehmen,<br />

den er sich schließlich auch erfüllt und Peter<br />

Schlemihl als Naturforscher, der mit Hilfe der<br />

`Siebenmeilenstiefel` sein Wissen von der<br />

Geografie und der Fauna der Kontinente<br />

vervollkommnt und schriftlich in Manuskripten<br />

verfasst. Als er jedoch zwischen zwei Kontinenten<br />

abrutscht, erkältet er sich lebensgefährlich<br />

und findet sich im Krankenhaus wieder. Im<br />

Gegensatz zu Schlemihl, der die Anstalt geheilt<br />

verlässt, kann Chamisso seinem Lungenleiden<br />

nicht entgehen und stirbt schließlich an diesem.<br />

Moral<br />

„... willst du unter den Menschen leben,<br />

so lerne verehren zuvörderst den <strong>Schatten</strong>,<br />

sodann das Geld.<br />

Willst du nur dir und deinem bessern Selbst<br />

leben, o so brauchst du keinen Rat.“


Michaela Streilein<br />

„Der <strong>Schatten</strong>“<br />

von Hans Christian<br />

Andersen<br />

Was unterscheidet ein Volks- von einem Kunstmärchen?<br />

Einleitung<br />

In der nun folgenden Ausarbeitung, anschließend<br />

an das Referat, das ich am 10.01.07 mit<br />

Denise Leonhardt gehalten habe, möchte ich<br />

das Märchen „Der <strong>Schatten</strong>“ von Hans Christian<br />

Andersen näher untersuchen und einige Bezüge<br />

zum Volksmärchen herstellen und erläutern.<br />

Lebenslauf: Hans Christian Andersen<br />

Hans Christian Andersen wurde am 2. April<br />

1805 in Odense auf der dänischen Insel Fünen<br />

geboren. Mit 14 Jahren „[…] ging er […] nach<br />

Kopenhagen und bemühte sich […] dort als<br />

Schauspieler zum Theater zu kommen.“ 1 Nach<br />

einiger Zeit gelang es ihm eine Anstellung zu<br />

bekommen und wurde dort dann von der Theaterdirektion<br />

und König Friedrich VI. unterstützt<br />

und gefördert. Berühmt wurde Hans Christian<br />

Andersen aber durch seine weitere Begabung<br />

als Schriftsteller, denn er schreib mehr als 160<br />

verschiedene Märchen, u.a. die Prinzessin auf<br />

der Erbse, das Mädchen mit den Schwefelhölzchen,<br />

das hässliche Entlein, des Kaisers neue<br />

Kleider, der <strong>Schatten</strong> u.v.a. Sein Hauptanliegen<br />

beim Schreiben lag in der Vereinfachung und<br />

Bearbeitung der bereits vorhandenen Volksmärchen,<br />

bis sie seinen Ansprüchen genügten<br />

und von Kindern verstanden werden konnten.<br />

Des Weiteren war er aber auch genauso von<br />

den unterschiedlichen Sagen und historischen<br />

Begebenheiten inspiriert und schuf somit eine<br />

ganz neue Form des Märchens, das so genannte<br />

Kunstmärchen. Insgesamt waren und sind<br />

seine Märchen zeitlos, modern und faszinieren<br />

Menschen jeden Alters. Am 4. August 1875 verstarb<br />

der berühmteste Dichter und Schriftsteller<br />

von Dänemark in Kopenhagen. 2<br />

Das Volksmärchen<br />

Die Volksmärchen sind eine traditionelle Form<br />

des allgemeinen Märchens. „Sie basieren auf<br />

mündlich überlieferten […]“ 3 Geschichten,<br />

wobei die Dichter meist unbekannt sind. Sie<br />

sind leicht verständlich und besitzen einfache<br />

Strukturen, sowie bildhafte Darstellungen, aus<br />

diesem Grund sind sie besonders gut für Kinder<br />

geeignet und sehr verständlich.<br />

Der Ausgangspunkt eines Märchens bildet<br />

zumeist „[…] eine Notlage, eine Aufgabe oder<br />

ein Bedürfnis.“ 4 Eine Aufgabe kann u.a. darin<br />

bestehen „[…] einen kostbaren Gegenstand<br />

zu finden, ein Rätsel zu lösen oder einen<br />

verwunschenen Menschen zu erlösen“ 5 ,<br />

23<br />

dabei muss der Held oft sein eigenes Leben<br />

aufs Spiel setzen. „Neben dem Helden treten<br />

[noch] weitere typische Gestalten auf[,] hierzu<br />

gehören der Gegner, der Helfer, der Neider,<br />

der Ratgeber und der Gerettete bzw. der zu<br />

rettende.“ 6 Ein weiteres wichtiges Merkmal<br />

ist der Gegensatz zwischen Gut und Böse,<br />

„[…]wobei in aller Regel die Guten belohnt und<br />

die Bösen bestraft werden.“ 7 Folgende Merkmale<br />

werde ich nur stichwortartig wiedergeben,<br />

weil jeder genau weiß, was damit gemeint ist,<br />

denn charakteristisch für ein Volksmärchen<br />

ist die Formelhaftigkeit, die Wirklichkeitsferne,<br />

die Eindimensiona<strong>lit</strong>ät der Wirklichkeitswahrnehmung,<br />

die Flächenhaftigkeit, der abstrakte<br />

Stil, die Isolation, die Allverbundenheit und die<br />

Zahlensymbolik (z.B. drei und sieben). 8<br />

Das Kunstmärchen<br />

Im Gegensatz dazu steht das Kunstmärchen,<br />

welches aus der Feder eines meist bekannten<br />

Dichters oder Schriftstellers entstammt. Dieses<br />

übernimmt häufig Stil, Themen und Elemente<br />

eines Volksmärchens und gestaltet damit<br />

hauptsächlich für Erwachsene aber/ sowie<br />

auch für Kinder „[…] eine märchenhaft-traumhafte<br />

Gegenwart zur Wirklichkeit“ 9 .<br />

Dennoch sind diese Form von/des Märchen<br />

„in der Regel viel umfangreicher und <strong>lit</strong>erarisch<br />

anspruchsvoller konzipiert.“ 10 Sie „[…] arbeiten<br />

insbesondere häufiger mit Metaphern und liefern<br />

detaillierte Beschreibungen von Personen<br />

und Ereignissen.“ 11 Aber sie enden nicht immer<br />

mit einem Happy End.<br />

Inhaltliche Zusammenfassung des<br />

Märchens „Der <strong>Schatten</strong>“<br />

In dem Märchen „Der <strong>Schatten</strong>“ erzählt Hans<br />

Christian Andersen von einem klugen gelehrten<br />

Mann, der von den kalten in die heißen<br />

Länder gezogen ist. Dort befiehlt der Mann<br />

seinem <strong>Schatten</strong> im Spaß in die mysteriöse<br />

gegenüberliegende Wohnung zu gehen und<br />

nachzuschauen, wer dort wohnt, um ihm<br />

anschließend davon zu berichten. Dieser (der<br />

<strong>Schatten</strong>) jedoch nutzt die erworbene Freiheit,<br />

um sich eigenständig zu entfalten, wie er es<br />

sich schon lange erträumt hat. (Doch) im Laufe<br />

der Zeit entwickelt sich der <strong>Schatten</strong> zu einem<br />

bösartigen, erfolgssüchtigen und gefühlskalten<br />

menschenähnlichem Wesen. Als er dann<br />

nach einigen Jahren seinen ehemaligen Herrn<br />

besucht, erzählt er von seinen Erlebnissen mit


der Jungfrau (der Poesie) aus dem gegenüberliegenden<br />

Haus, dabei verbirgt er ganz<br />

geschickt, dass er sehr selbstständig geworden<br />

ist und sich von niemanden etwas sagen lässt.<br />

Bei seinem zweiten Besuch unterbreitet der<br />

<strong>Schatten</strong> (dann) dem Gelehrten das Angebot<br />

als sein <strong>Schatten</strong> mit ihm auf eine Reise zu<br />

gehen. Dies nimmt der Gelehrte dankbar an,<br />

weil er nur das Positive im/am <strong>Schatten</strong> sieht<br />

und weiterhin/ außerdem seine/die Hoffnung,<br />

den <strong>Schatten</strong> wieder zurück zubekommen<br />

noch nicht aufgegeben hat. Im Kurbad lernt<br />

der <strong>Schatten</strong> dann eine Königstochter kennen<br />

und lieben. (Und) Am Tag der Hochzeit bietet<br />

der <strong>Schatten</strong> seinem Ehemaligen Herrn an, in<br />

seinem Schloss als Diener seinen Lebensunterhalt<br />

zu verdienen. Die folgende Drohung des<br />

Gelehrten, der Königstochter über die Vergangenheit<br />

des <strong>Schatten</strong>s aufzuklären, benutzt der<br />

<strong>Schatten</strong>, um ihn einsperren und anschließend<br />

ermorden zu lassen.<br />

Vergleich zwischen dem Volks- und<br />

Kunstmärchen am Beispiel „Der <strong>Schatten</strong>“<br />

von Hans Christian Andersen<br />

Das Märchen „Der <strong>Schatten</strong>“ von Hans Christian<br />

Andersen beinhaltet Strukturen und Elemente<br />

des Volksmärchens, die ich nun näher<br />

erläutern und daran die Unterschiede zum<br />

Kunstmärchen herausarbeiten möchte.<br />

Der Beginn des Märchens kann als eine Nachahmung<br />

eines Volksmärchens gelesen werden.<br />

Denn zu Beginn wird erst einmal die Szene<br />

beschrieben, in der die Geschichte stattfindet,<br />

d.h. dem kluge gelehrten Mann, der gegenüber<br />

eines geheimnisvollen Hauses wohnt, erscheint<br />

eines Abends auf dem gegenüberliegenden<br />

Altan12 eine wunderschöne Jungfrau, in die er<br />

sich sofort verliebt, die ihm aber unerreichbar<br />

scheint. „Dies[er Anfang] erinnert ganz stark<br />

an eine eingesperrte Prinzessin, in die sich der<br />

Held bei ihrem bloßen Anblick verliebt und die<br />

unerreichbar scheint […]“ 13 aus einem Volksmärchen.<br />

Als erstes bricht der Text mit dem Hauptkennzeichen<br />

des Volksmärchens, der Wunscherfüllung,<br />

denn eigentlich „[…] müssen der Held<br />

und die Heldin einander am Schluss bekommen,<br />

[…] nachdem sie zweierlei Hindernisse<br />

aus dem Weg geräumt haben.“ 14 Erstens die<br />

Überwindung der dämonischen Kräfte in ihrem<br />

Inneren und zweitens die Überzeugung der<br />

Umwelt. Hier in diesem Märchen bekommt der<br />

<strong>Schatten</strong> am Ende die Prinzessin, nachdem er<br />

die folgenden zwei Hindernisse überwunden<br />

hat. 15 Als erstes überwindet der <strong>Schatten</strong> sein<br />

<strong>Schatten</strong>dasein und wird ein menschenähnliches<br />

Wesen und zweitens kann er auch noch<br />

seine Umwelt (z.B. die Königstochter, dessen<br />

Vater und die Patienten des Kurbades) von<br />

seinen Lügenmärchen überzeugen und ihnen<br />

weiß machen, dass er der Richtige ist. Dies kann<br />

man auch daran sehen, dass er am Schluss die<br />

Königstochter heiratet und mit ihr glücklich ist.<br />

Doch eigentlich gewinnt in einem Volksmär-<br />

24<br />

chen am Ende immer das Gute über dem<br />

Bösen und hier ist genau das Gegenteil der Fall<br />

bzw. ist es anders herum, weil der bösartige<br />

<strong>Schatten</strong> durch seine Intrigen und Lügereien<br />

den gelehrten Mann hintergeht und ihn so um<br />

die Hand der Prinzessin betrügt. Das heißt der<br />

<strong>Schatten</strong> erreicht dasselbe wie der traditionelle<br />

Held in einem Volksmärchen und steht mit der<br />

Welt und sich selbst im Einklang.<br />

Im verlaufe des Textes bedient sich Hans Christian<br />

Andersen wiederholend am Muster des<br />

Volksmärchens. Als sich der <strong>Schatten</strong> mit dem<br />

gelehrten Mann auf die Reise in ein Kurbad<br />

macht, um dort das Problem seines nicht einsetzenden<br />

Bartwuchses zu behandeln. Während<br />

der Reise kehrt sich das Herr- Diener- Verhältnis<br />

zwischen dem gelehrten Mann und dem <strong>Schatten</strong><br />

ins Gegenteil um. Während der <strong>Schatten</strong><br />

den Herrn spielt und der gelehrte Mann den<br />

<strong>Schatten</strong> des <strong>Schatten</strong>s repräsentiert. Im Kurbad<br />

angekommen, ist die Königstochter nicht wirklich<br />

von der Richtigkeit des <strong>Schatten</strong>s überzeugt<br />

und möchte aus diesem Grund sein Wissen<br />

überprüfen und befragt ihn. Die ersten Fragen<br />

kann er noch ganz einfach beantworten, weil<br />

er gut bei seinem alten Herrn aufgepasst hat.<br />

Doch es wird immer schwieriger für ihn und<br />

bevor es auffliegt, dass er nur der <strong>Schatten</strong> ist,<br />

bedient sich der <strong>Schatten</strong> am Wissen seines alten<br />

Herrn. Mit einer List schickt er die Prinzessin<br />

zu seinem eigenen „<strong>Schatten</strong>“ (dem gelehrter<br />

Mann), um ihr zu beweisen, dass sogar sein<br />

<strong>Schatten</strong> diese „einfache“ Frage beantworten<br />

kann. Dies überstimmt und beeindruckt die<br />

Königstochter und sie ist von der Richtigkeit des<br />

<strong>Schatten</strong>s überzeugt.<br />

Diese Variante des Volksmärchens (des sich zur<br />

Hilfe Nehmens einer List) wird zusätzlich mit<br />

einer anderen ähnlichen kombiniert, nämlich<br />

der, die Prinzessin zu gewinnen, indem er (der<br />

<strong>Schatten</strong>) sie von ihrer Krankheit heilt. Hier<br />

setzt Andersen gekonnt bei der Beschreibung<br />

der Krankheit der Königstochter die Ironie ein.<br />

Denn die Krankheit der Königstochter liegt<br />

darin begründet, dass sie das wahre Problem<br />

des <strong>Schatten</strong>s erkannt hat, dass heißt, dass<br />

er selber keinen <strong>Schatten</strong> werfen kann. Aus<br />

diesem Grund muss der <strong>Schatten</strong> nun die<br />

Königstochter, wie schon oben beschrieben,<br />

durch eine List überzeugen. „Andersen benutzt<br />

die[se] Variante des Volksmärchens, bei der<br />

Rätsel gelöst werden müssen, um die Prinzessin<br />

[für sich] zu gewinnen.“ 16 Als die Prinzessin gewonnen<br />

ist und der gelehrte Mann die wahren<br />

Verhältnisse aufdecken möchte, besiegelt dies<br />

sein Schicksal, denn „[…] der <strong>Schatten</strong> und die<br />

Königstochter einigen sich darauf, ihn heimlich<br />

aus dem Weg zuschaffen.“ 17<br />

Weiterhin ist es in einem Volksmärchen üblich,<br />

dass der Held über einen oder mehrere Helfer<br />

verfügt, die spezielle Fähigkeiten haben18<br />

und dadurch z.B. Hindernisse aus dem Weg<br />

räumen, Rätsel lösen oder aus kniffligen Situationen<br />

helfen können, damit der Held das Objekt


Literatur<br />

Casati, Roberto/ Johansen,<br />

Jürgen,, Dines/ Sadowsky,<br />

Thorsten/ Wagner, Anslem:<br />

„Shadow Play“,<br />

Internet<br />

www.wiktionary.org/wiki/<br />

Altan (11.12.06)<br />

www.wikipedia.org/wiki/<br />

Volksm%C3%A4rchen<br />

(25.01.07)<br />

www.wikipedia.org/wiki/<br />

Kunstm%C3%A4rchen<br />

(04.04.07)<br />

www.wikipedia.org/wiki/<br />

Hans_Christian_Andersen<br />

(04.04.07)<br />

Fußnoten<br />

1 www.wikipedia.org/wiki/<br />

Hans_Christian_Andersen<br />

(04.04.07)<br />

2 vgl. Ebd.<br />

3 www.wikipedia.org/<br />

wiki/Volksm%C3%A4rchen<br />

(25.01.07)<br />

4 www.wikipedia.org/<br />

wiki/Volksm%C3%A4rchen<br />

(25.01.07)<br />

5 Ebd.<br />

6 Ebd.<br />

7 Ebd.<br />

8 vgl. Ebd.<br />

9 www.wikipedia.org/wiki/<br />

Kunstm%C3%A4rchen<br />

(04.04.07)<br />

10 Ebd.<br />

11 Ebd.<br />

12 Altan ist ein an der Seite<br />

offener, überdachter<br />

Sommerwohnraum, der aus<br />

einem der oberen<br />

Stockwerke eines Gebäudes<br />

herausragt<br />

www.wiktionary.org/wiki/<br />

Altan (11.12.06)<br />

13 “Shadow Play”, S. 57<br />

14 „Shadow Play“, S. 57<br />

15 vgl. „Shadow Play“, S. 57<br />

16 “Shadow Play”, S. 59<br />

17 “Shadow Play”, S. 62<br />

18 vgl. “Shadow Play”, S. 57<br />

19 “Shadow Play”, S. 60<br />

20 “Shadow Play”, S. 60<br />

21 “Shadow Play”, S. 62<br />

22 vgl. „Shadow Play“, S. 57<br />

23 “Shadow Play”, S. 59<br />

24 “Shadow Play”, S. 61<br />

25 “Shadow Play”, S. 58<br />

26 vgl. “Shadow play”, S. 58<br />

27 vgl. “Shadow Play”, S. 64<br />

28 vgl. “Shadow Play”, S. 63<br />

29 vgl. “Shadow Play”, S. 64<br />

seiner Begierde erlangt. „Es ist auch üblich, dass<br />

der Held verschwindet, nachdem [er] die Aufgabe<br />

gelöst hat. Was jedoch im Volksmärchen<br />

absolut nicht üblich ist, […] dass der Held (der<br />

<strong>Schatten</strong>) und die Prinzessin, den Helfer des<br />

Helden (den gelehrten Mann) umbringen.“ 19<br />

Doch in diesem Fall wird der gelehrter Mann<br />

selber zu einem unwissentlichen Helfer, weil<br />

er sich weigert als <strong>Schatten</strong> des <strong>Schatten</strong>s zu<br />

arbeiten. 20 Aus diesem Grund wird der gelehrte<br />

Mann vom Helfer zum Gegenspieler, denn er<br />

will den Betrug des <strong>Schatten</strong>s der Königstochter<br />

gegenüber aufdecken und ihr die Wahrheit<br />

sagen. Doch dies möchte der <strong>Schatten</strong> unbedingt<br />

verhindern und zwingt sich selber zusätzlich<br />

zum Betrügen des gelehrten Mannes auch<br />

die Königstochter zu betrügen. „Der <strong>Schatten</strong><br />

muss also gegenüber der Prinzessin, die ihn ja<br />

bereits durchschaut hat, vorgeben, der gelehrte<br />

Mann sei sein <strong>Schatten</strong>.“ 21 Doch dem gelehrten<br />

Mann selbst kommt sein eigener <strong>Schatten</strong> in die<br />

Quere und lässt ihn am Ende umbringen.<br />

Der <strong>Schatten</strong>, der den niedrigsten Status der<br />

Gesellschaft entstammt, kämpft sich auf der<br />

sozialen Leiter nach oben und heiratet am<br />

Ende die Prinzessin. 22 „Die Lebensläufe des<br />

gelehrten Mannes und des <strong>Schatten</strong>s zeigen<br />

eine gegenläufige Bewegung [auf], denn während<br />

es für [den] Letzteren bergauf geht, geht<br />

es für den Ersteren bergab.“ 23 Dies kann man<br />

auch äußerlich sehr gut beobachten, denn<br />

während der <strong>Schatten</strong> immer dicker und dicker<br />

wird, nimmt der gelehrte Mann immer mehr<br />

ab und wird schließlich so dünn und abgemagert<br />

wie ein <strong>Schatten</strong>. Was auf den Umstand<br />

zurück zuführen ist, dass sich niemand mehr<br />

um sein Wissen bzw. um das was er zu sagen<br />

hat, kümmert, dies macht den gelehrten Mann<br />

krank und unglücklich. „Sicherlich sind auch<br />

Volksmärchen brutal und zynisch, doch das<br />

zentrale Strukturmotiv ist [immer] die Versöhnung<br />

von Gegensätzen des sozialen Status, des<br />

Alters oder des Geschlechts […].“ 24 Doch dies ist<br />

in diesem Fall nicht Andersens Anliegen, denn<br />

in diesem Text ist am Ende keine Versöhnung<br />

möglich und das Böse (der <strong>Schatten</strong>) gewinnt<br />

über dem Guten.<br />

Der <strong>Schatten</strong> hat traditionell gesehen eine doppelte<br />

Symbolik, die ich hier nun näher erläutern<br />

möchte. Zum einen hat der <strong>Schatten</strong> eine enge<br />

Verknüpfung mit dem Tod und ist traditionell<br />

eng verbunden mit der Seele eines Menschen.<br />

Aus diesem Grund bedeutet der Verlust des<br />

<strong>Schatten</strong>s kein vollständig, menschliches Wesen<br />

mehr zu sein. „Der <strong>Schatten</strong> ist Garant […]“ 25 für<br />

seine Existenz, denn er ist verbunden mit dem<br />

Licht. Gibt es kein Licht, so gibt es auch keinen<br />

<strong>Schatten</strong>, deshalb ist das Subjekt mit dem Licht<br />

d.h. dem Göttlichen verbunden. Aber dennoch<br />

gibt es auch die andere Seite, bei der das<br />

Subjekt genauso mit dem Dunkel verbunden<br />

ist. Dies spiegelt die unbewussten, ungezähmten<br />

und gefährlichen Kräfte im menschlichen<br />

Verstand wieder. Beide Seiten sind existentiell<br />

25<br />

bzw. Vorraussetzung für den <strong>Schatten</strong>, denn<br />

er kann nicht ohne Licht, aber auch nicht ohne<br />

<strong>Schatten</strong> existieren. 26<br />

Fazit<br />

„Der <strong>Schatten</strong>“ von Hans Christian Andersen<br />

ist kein traditioneller, sondern ein eher modern<br />

gehaltener Text. 27 Man erkennt hier deutlich,<br />

dass Andersen die Merkmale eines Volksmärchens<br />

bewusst einsetzt und sie dabei dreht,<br />

wendet und sogar ins Gegenteil umkehrt, ohne<br />

sie jedoch ernst zu nehmen. Er setzt dabei viel<br />

Ironie seinerseits ein, z.B. in der Darstellung der<br />

Beziehung zwischen <strong>Schatten</strong> und Königstochter,<br />

damit es überhaupt Wirkung zeigt.<br />

Die Hauptaussage dieses Märchens ist nicht<br />

die über das Wahre, das Schöne und das Gute<br />

in der Welt nachzudenken, sondern Andersen<br />

versucht die Menschen zum Nachdenken anzuregen<br />

sich für die Ideale der Welt einzusetzen.<br />

Denn dieser Text von Andersen macht deutlich,<br />

dass man auch mit Betrügerei in der Welt bzw.<br />

im Leben weiter kommen kann. 28 Er beschreibt<br />

dort eine manipulierte Welt, die von Ehrgeiz,<br />

Machtwillen und gewissenlosen Betrug<br />

beherrscht wird. Weiterhin zeigt er deutlich<br />

das individuelle Streben einer Person und das<br />

Verschaffen von eigenen Vorteilen, welches in<br />

diesem Text mit allen Mitteln durch den <strong>Schatten</strong><br />

versucht und auch geschafft wird.<br />

Diese übertriebene Darstellung des gelehrten<br />

Mannes mit seinem <strong>Schatten</strong>, bei der im Laufe<br />

der Geschichte der <strong>Schatten</strong> den Spieß umdreht<br />

und sich selber zum Herrscher macht,<br />

soll uns Leser auf unsere heutige Gesellschaft<br />

aufmerksam machen und zum Nachdenken<br />

anregen. Denn Andersen übt Kritik an unserer<br />

heutigen Gesellschaft, die er als „[…] anonym,<br />

sensationslüstern, schadenfroh und gutgläubig“<br />

29 darstellt.


<strong>Schatten</strong>-<br />

liebhaber<br />

27


Lea Schiemann<br />

<strong>Schatten</strong>liebhaber:<br />

Francisco de Goya<br />

Abbildung 1: „Blinde Kuh“<br />

Einleitung:<br />

Goya ein <strong>Schatten</strong>liebhaber ? Die Ausarbeitung<br />

ist zunächst eine Annäherung an verschiedene<br />

Lebensstationen Goyas anhand ausgewählter<br />

Bilder. Im folgenden Text werden einige biografische<br />

Punkte zusammengefasst und die dazu<br />

gehörenden Bilder dargestellt. Der Schlussteil<br />

beschäftigt sich dann wieder mit der Frage:<br />

Goya ein <strong>Schatten</strong>liebhaber?<br />

Nach heutiger Betrachtung zählt der am 30.<br />

März 1746 geborene Francisco José Goya<br />

zu den bedeutendsten Künstlern überhaupt.<br />

Geboren in dem kleinen Dorf Fuendetodos bei<br />

Saragossa verlebte er dort als Sohn eines Handwerkers<br />

seine Kindheit. Erst später zog er mit<br />

seiner Familie Nach Saragossa, wo er 4 Jahre<br />

lang die an ein Kloster angeschlossene Schule<br />

Escuelas besuchte. Mit 13 Jahren begann er<br />

eine Lehre bei dem Maler José Luzán. Erste<br />

Versuche eine Ausbildung an einer Akademie<br />

zu bekommen scheiterten. Im Jahr 1770 reiste<br />

er nach Italien, in der Hoffnung dort mehr<br />

Erfolg zu haben. Nur ein Jahr später kehre er<br />

nach Spanien zurück und bekam trotz schlechter<br />

Ausbildung einen großen Auftrag. Er schuf<br />

28<br />

Fresken für die Kathedrale Nuestra Senora del<br />

Pilar. So begann seine Karriere als Freskenmaler.<br />

1774 wurde Goya nach Madrid berufen um<br />

dort in der königlichen Teppichmanufaktur zu<br />

arbeiten. Hierbei stand er unter der Leitung von<br />

Francisco Bayeu. Die Entwürfe für die Wandteppiche<br />

waren in den meisten Fällen Ölgemälde,<br />

die anschließende möglichst genau von<br />

den Teppichwebern kopiert werden. Auf den<br />

Wandteppich waren in den meisten Fällen<br />

Szenen der aristokratischen spanischen Gesellschaft<br />

dargestellt. Hier zum Beispiel ist das Spiel<br />

blinde Kuh (Abb. 1). Ziel dieser Bilder war es die<br />

Erwartungen von Francisco Bayeu und somit<br />

seine eigene Stellung zu behaupten. Einen<br />

persönlichen Hintergrund hatten diese Bilder<br />

nicht. In erster Linie waren sie Auftragsarbeiten,<br />

die einen dekorativen Zweck erfüllten. Goya<br />

konnte durch diese Arbeit seinen Lebensunterhalt<br />

finanzieren. In zweiter Linie dienten die<br />

Wandteppiche der Isolation der Palastwände.<br />

Doch die Teppichmanufaktur hatte auch ihre<br />

Vorteile. Durch seine Arbeit konnte er Kontakte<br />

zum spanischen Hof knüpfen und wurde<br />

1780 Mitglied der königlichen Akademie San<br />

Fernando. 5 Jahre später gab man ihm den


Abb. 2, Die Familie Karls IV<br />

1800/ 01 280x336cm; Prado<br />

Abb. 3 und 4, „Die bekleidete Maja“ 1798-1805,<br />

„Die nackte Maja“ 1798-1805.<br />

Posten als stellvertretender Leiter der Malklasse.<br />

Das spanische Königshaus war von seinen<br />

Arbeiten begeistert und er wurde zum angesehenen<br />

Porträtmaler was ihm erst den Titel<br />

„Kammermaler „ und anschließend „ Hofmaler<br />

des Königs) brachte. Jetzt war es seine Aufgabe<br />

zahlreiche Porträts der Familie mit all ihren<br />

Besitztümer (Kleider und Schmuck) anzu<strong>fertige</strong>n.<br />

Das Gemälde „Die Familie Karls IV“<br />

beispielsweise ist geprägt von Kontrasten. Zum<br />

einen besteht sie auf das äußere Gehabe der<br />

Personen, aber auf der anderen Seite strahlt es<br />

auch eine starke familiäre Intimität aus. Rechts<br />

im Bild wird die Infantin Maria Luisa Josefina<br />

gezeigt, die gegen aller Förmlichkeit mit ihrem<br />

Baby abgebildet ist. Links hinten im Bild hat sich<br />

Goya selbst gemalt. Durch die Position seines<br />

Selbstbildes macht er die Hierarchie deutlich.<br />

Goya galt als großartiger Beobachter. Er stellte<br />

Alltagsszenen so dar, wie sonst keiner vor ihm.<br />

Im Gegensatz zu andern Malern hat Goya seine<br />

Modelle auch nie verschönt dargestellt. Infantin<br />

Maria Josefa (links im Bild) wird beispielsweise<br />

rea<strong>lit</strong>ätsnah dargestellt. Mit ihrem Federhaarschmuck<br />

erscheint sie lächerlich und auch ihre<br />

Gesichtszüge erinnern an einen Vogel (Abb. 2).<br />

Doch er vergaß auch das einfache Volk nicht,<br />

was eventuell auf seine einfache Herkunft<br />

zurück zu führen ist. Goya war ein begeisterter<br />

Beobachter. Seine Umwelt nahm er sehr<br />

genau wahr und stellte sie auch unverschönt<br />

dar. Während seiner Zeit am spanischen Hof<br />

musste dies natürlich im Rahmen bleiben. Aber<br />

bei genauen Betrachtungen seiner Bilder stellte<br />

er im Gegensatz zu seinen Künstlerkollegen<br />

seine porträtierten Personen so naturalistisch<br />

wie möglich dar. Er zeigt nicht nur die Stärken,<br />

sondern auch die Schwächen (<strong>Schatten</strong>seite)<br />

zum Beispiel bezüglich des Aussehens. Des<br />

Weiteren bezieht er auch die andere Seite des<br />

Menschen mit ein, was bei Königsbildern seiner<br />

Zeit reichlich untypisch war. „So verzichtet<br />

etwa die Darstellung der Infantin María Luisa<br />

Josefina auf repräsentative Förmlichkeit- sie<br />

wird mit ihrem Baby gezeigt.“ (Wright, Patricia:<br />

Goya- …. Seite 35)Zu seinen Motiven gehörten<br />

des Weiteren ebenso Handwerker, Arbeiter<br />

und Opfer der Armut. Er nahm auch den<br />

bürgerlichen Alltag mit all einen Schwierigkeiten<br />

war und skizzierte auch diese Szenen. Das<br />

Goya ein sehr vielseitiger Künstler war zeigte<br />

seine bekannten „Maja-Bilder“. Zum einen die<br />

bekleidete und die nackte Maja (Abb. 3 und 4).<br />

29<br />

1798 gab Manuel Godoy bei Goya einen Akt in<br />

Auftrag. Dies war eine heikle Sache, da zu der<br />

Zeit Aktporträts äußerst unüblich waren und als<br />

obszön galten. Darüber hinaus war „ die nackte<br />

Maja“ das erste Aktbild in der spanischen Kunst<br />

auf dem Schamhaar zu sehen war, welches<br />

den Skandal nur noch steigerte. Lange wurde<br />

darüber gemunkelt wer denn nun diese nackte<br />

Frau sei. Es wurde vermutet, dass die Herzogin<br />

von Alba Modell gewesen wäre. Nachträglich<br />

geht man davon aus, dass es sich bei der Dame<br />

um Pepita Tudó gehandelt hat, die Geliebte Godoys.<br />

Dieses Gemälde brachte Goya um 1800<br />

vor die Inquisition, da der spanische Klerus es<br />

als skandalös und unzüchtig bezeichnete. Kurz<br />

nach der Entstehung „der nackten Maja“ malte<br />

Goya „die bekleidete Maja“. Beide Gemälde<br />

durch ein Scharnier miteinander verbunden,<br />

welches durch einen Zugmechanismus mal<br />

das eine und mal das andere Bild zeigte. So<br />

blieb die nackte Maja den engeren Freunden<br />

Godoys vorbehalten.<br />

Eine besondere Sammlung von Radierungen<br />

begann im Jahr unter dem Titel „Los Caprichos“<br />

Abb. 5, „Bis zu seinem Großvater“


Abb. 6, Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer<br />

(Launen, Einfälle). Goya vermischt bei diesen<br />

Bildern Phantasie und Wirklichkeit. Satire und<br />

Karikatur, die Waffe der liberalen Intellektuellen,<br />

durchziehen diese Blätter und erregen<br />

extreme Gefühle, zu denen auch Angst und<br />

Entsetzen gehören (Sarah Carr- Gomm: Goya,<br />

Seite 148), Häufig können Goyas Bilder nicht<br />

eindeutig gedeutet werden. Dennoch sind sie<br />

in den meisten Fällen mit Sprichwörtern oder<br />

Titeln unterlegt. Diese, so vermutet man, sind<br />

allerdings er nachträglich beschriftet worden<br />

und tragen teilweise nicht zur Deutung des<br />

Bildes bei, sondern verrätseln sie zusätzlich.<br />

Goya unterteilte auch innerhalb der Caprichos<br />

seine Bilder noch einmal. So entstand beispielsweise<br />

die „Eselfolge“, wo er anhand von Eseln<br />

das Volk oder bestimmte Personen des öffentlichen<br />

Geschehens darstellt und sie durch die<br />

Art und Weise ins Lächerliche zieht. Hierbei<br />

setzt er sich kritisch mit Erziehung, Prostitution,<br />

Aberglaube und den Ehesitten seiner Zeit<br />

auseinander (Abb. 5). Das bekannteste und<br />

programmatischste Bild der „Caprichos“ kreierte<br />

Goya 1797/98 unter dem Titel „El sueno de<br />

la razon produce monstruos“, was übersetzt<br />

bedeutet: Der Schlaf der Vernunft gebiert<br />

Ungeheuer (Abb. 6). Goya setzte dies zu der<br />

Reihe „suenos“ (Träume), innerhalb der Caprichos.<br />

Er selbst sprach häufig davon, dass die<br />

Geister oder Monster häufig in seinen Träumen<br />

auftauchten und er sie anschließend zeichnete.<br />

Zu ihm waren seine Geister stets freundlich<br />

und er stellte häufig auf seinen Bildern die von<br />

dem Volk gefürchtete <strong>Schatten</strong>welt dar. Daher<br />

kann man ihm auch die Bezeichnung „<strong>Schatten</strong>liebhaber“<br />

zuordnen. Goya tauschte Gut<br />

30<br />

und Böse. Er zeigt zum einen die so angebliche<br />

prunkvolle Welt der Monarchie, überzieht diese<br />

aber mit einem <strong>Schatten</strong>, indem er Bilder „daneben<br />

stellt“, welche die tatsächliche Rea<strong>lit</strong>ät<br />

der damaligen Zeit widerspiegeln. In seiner<br />

Taubheit gefangen nimmt er diese viel deutlicher<br />

wahr und bildet sein Urteil. Welche Rolle<br />

die Monster oder die Wesen der <strong>Schatten</strong>welt<br />

in seinem Leben gespiegelt haben ist fragwürdig,<br />

dennoch kann man versuchen auch sein<br />

Werk „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer<br />

„ zu deuten. Hierbei ist zu wissen, dass<br />

es eines der wenigen Bilder ist, welches von<br />

schon bei der Entstehung einen Titel trug. Ob<br />

der Titel allerdings den Hintergrund des Bildes<br />

darstellt ist allerdings zu bezweifeln. Bei „Der<br />

Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ geht<br />

man allerdings von parallelen zwischen Titel<br />

und Bild aus. Die Zeichnung zeigt den Künstler,<br />

der während der Arbeit eingeschlafen ist<br />

und seinen Kopf auf den Tisch gestützt hat. Er<br />

ist dabei seinen Träumen ausgeliefert und im<br />

Hintergrund des Bildes tauchen die Wesen aus<br />

der Unterwelt auf. Man bekommt das Gefühl<br />

als würde der Künstler von der <strong>Schatten</strong>welt<br />

überrannt werden und kann sich nur durch<br />

Aufwachen daraus befreien. Die Nachtvögel<br />

signalisieren hierbei Ignoranz und Aberglaube.<br />

„Der Traum ist die Inspirationsquelle des Künstlers<br />

und zugleich sein Mittel, in den Schwächen<br />

der Menschen die Wahrheit zu entdecken.“<br />

(Gäßler, Walter: Francisco de Goya, Seite 66).<br />

Eine besondere Serie Goyas begann im Jahre<br />

1810. In diesem Jahr besetzte Napoleon große<br />

Teile Spaniens und für das spanische Volk begann<br />

eine Zeit des Schreckens. Goya der Meister<br />

der Beobachtung dokumentierte in seinen<br />

Zeichnungen die Gräueltaten und es entstand<br />

die Serie „Los Desastres de la Guerra„ (Die<br />

Schrecken des Krieges). Goya zeigte auf seinen<br />

Bildern „ (…) weder besondere Schlachten oder<br />

Ruinen noch die patriotischen Taten einzelner<br />

Helden, sondern das schreckliche Leid, das<br />

Menschen sich gegenseitig antun. Goya greift<br />

dabei auf die Ereignisse zurück, deren Zeuge<br />

er auf seiner Reise von und nach Saragossa<br />

gewesen war, seine visuelle Kraft ist durch<br />

seine Taubheit nun zweifellos noch stärker ausgeprägt.“<br />

(Sarah Carr- Gomm: Goya, Seite 130)<br />

Goya verschönte keine dieser Erinnerungen<br />

auf seinen Bildern und so waren Verwundete,<br />

Leichenberge und sinnloses Töten seine Motive.<br />

Zum Entsetzen der Regierung zeigt Goya<br />

die bewusst „<strong>Schatten</strong>seite“ des gesellschaftlichen<br />

Lebens seiner Zeit. Daher war es nicht<br />

verwunderlich, dass diese Radierungen erst<br />

wesentlich später veröffentlicht wurden. Ein<br />

recht bekanntes und gleichzeitig sehr aufwühlendes<br />

Werk, ist das Bild mit dem Titel „Grande<br />

Hazaña! Con muertos!“ (Eine große Heldentat!<br />

Mit Toten!). Goya verstärkt mit seinen sarkastischen<br />

Bemerkungen, wie dem Titel des Bildes,<br />

den Anblick seiner Bilder. Auf diesem Bild ist im<br />

Vordergrund ein nackter Mann zu sehen, gefesselt<br />

an einen Baum. Sein Kopf ist geneigt. Man


Literatur<br />

Wright, Patricia; Goya- Eine<br />

faszinierende Entdeckungs<br />

reise durch die Welt des<br />

Künstlers,<br />

Zürich, 1994<br />

Carr-Gomm, Sarah; „Goya“,<br />

2000 Parkstone Verlag<br />

Gassier Pierre; „Francisco de<br />

Goya“, 1983 Arena Verlag<br />

Georg Popp<br />

Abbildungen<br />

„Fresco“ ; www.zelos.zeit.<br />

de/.../2003/33/<strong>lit</strong>eratur/<br />

goya_300.gif<br />

„Blinde Kuh“;<br />

Guillaud,Jaqueline undMau<br />

rice: Goya- Die phantasti<br />

schen Visionen, Abb. 38<br />

,Seite 45<br />

„Die nackte Maja“;<br />

Guillaud,Jaqueline undMau<br />

rice: Goya- Die phantasti<br />

schen Visionen, Abb. 44<br />

,Seite 51<br />

„Die bekleidete Maja“;<br />

Guillaud,Jaqueline undMau<br />

rice: Goya- Die phantasti<br />

schen Visionen, Abb. 43<br />

,Seite 51<br />

„Bis zu seinem Großvater“;<br />

Aquatinta, 1797/98<br />

Bildgröße: 200x138 mm, Los<br />

Caprichos 39<br />

„Der Schaf der Vernunft ge<br />

biert Ungeheuer“<br />

Radierung und Aquatinta,<br />

1797/98, Bildgröße:<br />

181x121 mm, Los Caprichos<br />

43<br />

www.wga.hu/art/g/<br />

goya/4/408goya.jpg<br />

kann nicht erkennen, ob er überhaupt noch<br />

lebt. Rechts neben ihm hängt ein verstümmelter<br />

Köper. Kopf und Arm sind abgetrennt und<br />

ebenfalls an den Baum gebunden, bzw. der<br />

Kopf aufgespießt. Links im Hintergrund ist ein<br />

dritter Mann erkennbar. Ebenfalls nackt und an<br />

den Baum gefesselt. Beim Anblick dieses Bildes<br />

lässt sich leicht erahnen welchen Qualen die<br />

Männer vor ihrem Tod ausgesetzt waren. Goya<br />

dokumentiert auf eine drastische Art und Weise<br />

seine Erfahrungen und Erinnerungen dieser<br />

Zeit, wie kaum ein anderer Künstler. Somit<br />

liefert er auch wichtiges Beweismaterial für<br />

die Geschichte, welches vielleicht so nicht ans<br />

Tageslicht gekommen wäre. Goya stellt somit<br />

in seinen Werken Licht und <strong>Schatten</strong> gegenüber.<br />

Seine Bilder stehen im starken Kontrast<br />

zueinander. Im Vordergrund die prunkvollen<br />

Gemälde der Königsfamilie und leicht in den<br />

Hintergrund gerückt, die Greueltaten unter der<br />

napoleonischen Herrschaft.<br />

Goya ein <strong>Schatten</strong>liebhaber?<br />

Diese Frage habe ich mir vor und während der<br />

Arbeit häufig gestellt. Zu Beginn der Arbeit sah<br />

ich die verschiedenen Perioden und Kunstwerke<br />

im starken Kontrast zueinander. Bei der ersten<br />

Betrachtung von „Der Schlaf der Vernunft<br />

gebiert Ungeheuer“ war ich etwas abgeschreckt,<br />

die dunklen Farben und die Monster<br />

erzeugten bei mir das Gefühl der Ablehnung.<br />

Doch bei weiteren Betrachtungen und beim<br />

Lesen Goyas Biographien stellte ich fest, dass<br />

dem nicht so war. Goya sah die <strong>Schatten</strong>welt<br />

der Phantasie als ein Teil seiner Person. Er hat<br />

keine Angst gegenüber den Monstern gezeigt,<br />

sondern sie hingenommen, als ein Teil seiner<br />

Rea<strong>lit</strong>ät. Dies diente wahrscheinlich auch zur<br />

Verarbeitung der „wahren“ Rea<strong>lit</strong>ät. So taucht<br />

in seinem Werk die Frage nach der „Wahrheit“<br />

der Bilder sehr wohl auf, das Gegenüber von<br />

Farbe und Licht in der Malerei und dessen<br />

Fehlen in den Radierungen stehen für künstlerische<br />

Arbeiten, in denen sehr wohl der <strong>Schatten</strong><br />

zu sehen ist.<br />

31<br />

„Los Desastres“ de Goya<br />

(Pag.16)Aquel mural era el resultado final de<br />

todo ello ...


Lena Köhler<br />

<strong>Schatten</strong>liebhaber:<br />

René Magritte und<br />

Francis Bacon<br />

Abb. 1: René Magritte: “Ceci n´est pas une pipe.”, 1928-1929, Maße: 59x80 cm<br />

Abb. 6: Francis Bacon: „Mann mit Hund.“, 1953, Maße: 152,5x117 cm<br />

Abb. 2: René Magritte: „Das<br />

Reich der Lichter“, 1950, Maße:<br />

79x99 cm<br />

Abb. 3: René Magritte: „Der<br />

Salon Gottes.“, 1958, Maße:<br />

43x59 cm<br />

René Magritte<br />

René Magritte ist am 21. November 1898 in Belgien<br />

geboren und zählt mit zu den wichtigsten<br />

Vertretern des belgischen Surrealismus.<br />

„Die Hauptaufgabe des Surrealismus war es,<br />

herkömmliche Erfahrungs-, Denk- und Sehgewohnheiten,<br />

zu erschüttern und Wirklichkeit<br />

mit Traum zu vermischen.“ (Torczyner, 1977.).<br />

Magritte stellte die Wirklichkeit, die wir wahrnehmen,<br />

in Frage und macht uns bewusst, dass<br />

bloße Abbilder keinesfalls dem ursprünglich<br />

realen Gegenstand entsprechen, ähneln sie<br />

diesem auch noch so stark. So schreibt er unter<br />

eine gemalte Pfeife „Ceci n`est pas une pipe“<br />

(„Dies ist keine Pfeife“; Abb. 1). Seine nüchterne<br />

und sachliche Art des Zeichnens und Malens<br />

ist eines seiner Markenzeichen und lässt die<br />

gemalten Gegenstände sehr real und naturgetreu<br />

erscheinen, ebenso als könne man sie<br />

anfassen und aus dem Bild entfernen. Aber<br />

dieses ist nicht der Fall. Magritte stellt unser<br />

Sehen in Frage, die Pfeife auf dem Bild sieht<br />

zwar aus wie eine, aber dennoch ist sie keine,<br />

sie ist nur das Abbild einer Pfeife. Man kann sie<br />

eben nicht anfassen und sie dient auch nicht<br />

ihrem eigentlichen Sinn des Tabakrauchens. Sie<br />

ist zweckentfremdet und nur noch als Abbild<br />

zu sehen, doch unser Auge und unsere Sehgewohnheiten<br />

täuschen uns, wir registrieren<br />

„Pfeife“, weil wir sie als solche identifizieren.<br />

32<br />

Über diese Infragestellung des Gegenstandes<br />

hinaus stellt Magritte ungewohnte Zusammenstellungen<br />

und Anordnungen von Gegenständen<br />

in seinen Bildern her. Hierfür lassen sich<br />

viele Beispiele finden, doch aufgrund unseres<br />

Themas „<strong>Schatten</strong>“ entschied ich mich bei<br />

unserem Referat für zwei Bilder aus der Reihe<br />

„Reich der Lichter“ (Abb. 2 und 3). „Reich der<br />

Lichter“ zeigt eine Stadt bzw. Straße bei Nacht,<br />

denn die Häuser sind nur noch als Silhouetten<br />

mit erleuchteten Fenstern zu erkennen und<br />

eine Straßenlampe erhellt die Dunkelheit vor<br />

den Häusern ein wenig. Der Himmel dagegen<br />

spiegelt einen sonnigen Tag wieder.<br />

Magritte abstrahiert hierbei die Gegenstände<br />

selber nicht weiter, sondern gibt sie exakt so<br />

wieder, wie wir gewöhnt sind sie zu sehen.<br />

Jedoch bringt seine Kombination von Himmel<br />

und Erde bzw. Tag und Nacht den Betrachter<br />

in Staunen und stiftet Verwirrung. Da beides<br />

nicht gleichzeitig auftreten kann, fragt man<br />

sich, was ist nun Rea<strong>lit</strong>ät und was ist Illusion.<br />

Doch auch diese Überlegung ist irreführend,<br />

da es sehr wohl Situationen an sonnenreichen<br />

Tagen gibt, die eine Silhouettierung der Bäume<br />

vor einem strahlenden Himmel ermöglichen.<br />

Unsere Wahrnehmung vermag den Kontrastumfang<br />

jedoch nicht aufzulösen. Insofern lässt<br />

sich dieses Bild nicht eindeutig als „unwirklich“<br />

beschreiben.


Abb. 4: René Magritte: „Die<br />

unmögliche Reproduktion.“<br />

1937-1939, Maße: 81,3x65 cm<br />

Abb. 5: René Magritte: „Das<br />

Prinzip der Unsicherheit“<br />

1944, Maße: 65x51 cm<br />

In einem anderen Werk, „Der Salon Gottes“<br />

von 1958 versucht er die umgekehrte Wirkung<br />

durch einen Nachthimmel gekoppelt mit<br />

sonniger Landschaft zu erzeugen. Hierzu findet<br />

sich ein Zitat von Ihm selber: „Ich kann mir eine<br />

besonnte Landschaft unter nächtlichem Himmel<br />

denken, sie aber zu sehen und in Malerei<br />

umzusetzen: nur einem Gott ist das möglich. In<br />

der Erwartung, einer zu werden, lasse ich das<br />

Projekt fallen…“ (Torczyner, 1977, S. 179). In<br />

der Tat lässt sich der Widerspruch nicht lösen<br />

- unsere Seherfahrung findet kein Äquivalent,<br />

auch nicht teilweise, für die dargestellte Situation.<br />

„Die unmögliche Reproduktion“ (Abb. 4) zeigt<br />

einen Mann in Rückenansicht, der schräg vor<br />

einem Spiegel steht. Entgegen der erwarteten<br />

Ansicht erblickt man im Spiegel dieselbe<br />

Rückenansicht und nicht die Vorderansicht von<br />

ihm. Magrittes Malstil ist hier auch wieder sehr<br />

sachlich und naturalistisch. Uns beunruhigt jedoch<br />

die falsche Spiegelansicht, wir können das<br />

Gesicht des Mannes nicht sehen. Magritte gibt<br />

seinen Bildern eine innere Spannung durch das<br />

Fehlen von Deutungsansätzen. Nach Magritte<br />

sind seine Arbeiten erst dann erfolgreich, wenn<br />

keine Erklärung die Neugierde des Betrachters<br />

befriedigen kann. Die innere Unruhe ist ebenfalls<br />

notwendig, um zum Denken angeregt<br />

zu werden. „Wer in der Malerei nur das sucht,<br />

was er zu finden wünscht, wird niemals etwas<br />

finden, dass über seinen Wunsch hinausgeht.<br />

Wenn aber jemand einmal vom Geheimnis<br />

eines Bildes, das sich jeder Erklärung widersetzt,<br />

eingefangen wird, kann zuweilen ein Augenblick<br />

der Panik eintreten. Diese Augenblicke der<br />

Panik sind es, die für Magritte zählen. Für ihn<br />

sind sie die besten, weil sie aus dem Mittelmäßigen<br />

hinausführen.“ (Gablik, 1971, S.10.). Deutlich<br />

wird hierbei bereits, dass Magritte keine<br />

Interpretation seines Bildes haben möchte, so<br />

dass man zu einem abschließenden Ergebnis<br />

kommt, vielmehr soll man rätseln ohne zu<br />

einem Ende oder einer Lösung zu gelangen<br />

und die Neugierde des Betrachters soll nicht<br />

verloren gehen (siehe oben).<br />

Auf dem Bild „Das Prinzip der Unsicherheit“<br />

(Abb. 5) von 1944 sieht man eine Frau, die vor<br />

einer Wand steht und stark angeleuchtet wird.<br />

Ein Vorhang verstärkt die Bühnensituatuion.<br />

Doch an Stelle ihres eigenen <strong>Schatten</strong>s wirft sie<br />

den eines Vogels mit ausgebreiteten Flügeln<br />

an die Wand. Magritte entfremdet die Situation<br />

erneut mit „einfachsten“ Mitteln. Seine naturalistische<br />

Malweise macht uns die abgebildeten<br />

Gegenstände sehr vertraut. Man muss sich nun<br />

entscheiden: ist entweder die Frau real und der<br />

<strong>Schatten</strong> Illusion, oder ist es doch umgekehrt.<br />

Natürlich meint Magritte damit auch die „echte“<br />

Umwelt. Stellt man sich hier die Frage, gelangt<br />

man zu Überlegungen nach Manipulation und<br />

Rea<strong>lit</strong>ät. In diesem Fall macht uns die gezeigte<br />

Bühnensituation den Gegenstand jedoch<br />

scheinbar einfach. Das Prinzip der Unsicherheit<br />

33<br />

zwischen Körper, Körpergefühl, Abbild und Betrachterposition<br />

kann nicht aufgelöst werden.<br />

Bezogen auf den <strong>Schatten</strong> ist in weiterem Sinne<br />

dessen Nicht-Rea<strong>lit</strong>ät fe4stzuhalten, denn man<br />

kann ihn nicht wie den Gegenstand, von dem<br />

er ausgeht, anfassen und benutzen. Weiter<br />

existiert er nur in Verbindung mit dem Gegenstand<br />

und einer Lichtquelle und kann manipuliert<br />

werden, indem man diese Lichtquelle<br />

verändert. Der <strong>Schatten</strong> kann andere Formen<br />

und Gestalten annehmen, indem man z. B. den<br />

Lichteinfall variiert (bei tragbarer Lichtquelle)<br />

und somit den <strong>Schatten</strong> „streckt“ oder „kürzt“<br />

und weiter kann man den Gegenstand selber<br />

in einem anderen Winkel dem Licht aussetzen<br />

(vergleiche <strong>Schatten</strong>spiel mit den Fingern).<br />

Magrittes Bilder sind ähnlich zu lesen. Seine<br />

Abbilder sind ebenfalls nicht real, sie bilden einen<br />

Gegenstand nach aber sind nicht identisch<br />

mit dem Original, denn auch das Abbild kann<br />

man nicht anfassen und benutzen, gleich dem<br />

<strong>Schatten</strong>. Sie sind unerreichbar für uns und<br />

Magritte manipuliert sie weiter, nicht durch<br />

eine Lichtquelle, aber durch seine Anordnung<br />

im Bild. Bezogen auf Plinius und dem „Mythos<br />

von der Erfindung der Malerei“ stellt Magritte<br />

ebenfalls die Frage nach dem Ursprung des<br />

Abbildes, handelt es sich doch auch hier um die<br />

zweidimensionale Abbildung eines<br />

dreidimensionalen Vorganges.<br />

Francis Bacon<br />

Francis Bacon ist am 28. Oktober 1898 in<br />

Belgien geboren. Er hat vor allem großformatige<br />

Ölgemälde hergestellt, die in Goldrahmen<br />

hinter Glas präsentiert werden. Finden sich bei<br />

Magritte noch realistische Darstellungen der<br />

Gegenstände sind diese bei Bacon undeutlich,<br />

bizarr und verschwommen. Er manipuliert den<br />

Raum, indem er ihn meist stark einschränkt<br />

und das Gefühl erzeugt es existieren mehrere<br />

Räume gleichzeitig, die ähnlich der Figuren,<br />

miteinander verbunden sind und sich im selben<br />

Atemzug duellieren. Den größten Einfluss auf<br />

sein Werk hatte wohl die Fotografie, wobei<br />

Bacons Interesse hier in der Bewegung liegt,<br />

insbesondere der Bewegung des Menschen.<br />

Wie in einem Filmabspann isoliert er die<br />

einzelnen Bewegungen, doch entgegen der<br />

aufeinander folgenden Bilder im Film setzte er<br />

sie übereinander und lässt sie zu etwas Neuem<br />

zusammenfließen, wobei er zum Teil einzelne<br />

Sequenzen einer Bewegung weglässt. „Diese<br />

Gleichzeitigkeit der eigentlich nacheinander<br />

vollzogenen Bewegungen konfrontiert den<br />

Betrachter mit einem unlösbaren Widerspruch,<br />

woraus Irritation erfolgt.“ (Schmied, 1985. S.<br />

50/51.).<br />

Die Bewegung innerhalb der Bildern steht für<br />

das menschliche Leben und dessen Spuren, die<br />

hinterlassen werden, Bacon nennt es Erinnerungsspur.<br />

„Ich möchte, dass meine Bilder<br />

so aussehen, als sei ein menschliches Wesen<br />

durch sie hindurchgegangen, wie eine Schne-


Abb. 7: Francis Bacon: „Triptychon von 1972“, Maße: je Tafel 198x147,5 cm<br />

Literatur<br />

Deleuze, Gilles: Francis Bacon<br />

– Logik der Sensation.<br />

München 1995.<br />

Gablik, Suzi: Magritte.<br />

München, Wien, Zürich,<br />

1971.<br />

Hammacher, A. M.: René<br />

Magritte. New York 1985.<br />

Leiris, Michael: Francis Bacon.<br />

Full face and in profile.<br />

Oxford, 1983.<br />

Schmied, Wieland: Francis<br />

Bacon – Vier Studien zu<br />

einem Porträt. Berlin, 1985<br />

Schneider, Helmut: Francis<br />

Bacon. Meine Bilder.<br />

München 1983.<br />

Staatsgalerie Stuttgart und<br />

Nationalgalerie Berlin<br />

(Herausgeber): Francis<br />

Bacon, 1985.<br />

Torczyner, Harry: René<br />

Magritte: Zeichen und<br />

Bilder. DuMont, 1977.<br />

cke, eine Spur von menschlicher Anwesenheit<br />

und die Erinnerung an vergangene Ereignisse<br />

zurücklassend, so wie die Schnecke ihrem<br />

Schleim zurücklässt.“ (Schmied, 1985, S. 49).<br />

Durch die Bewegung werden wir weiter auf<br />

die Vergänglichkeit des Menschen hingewiesen.<br />

Bewegung und Verletzbarkeit liegen dicht<br />

beieinander. Dargestellt wird diese Wirkung<br />

durch das Unscharfe, bzw. das Verwischte in<br />

Bacons Bildern, welches er mit nachträglich gezogenen<br />

Pinselhieben oder durch verwischen<br />

mit einem Wischlappen erzeugt. Die Unschärfe<br />

entfremdet das Dargestellte und wirft es in ein<br />

anderes, animalisches Licht. Wir können und<br />

wollen zum Teil keine menschlichen Gestalten<br />

in seinen Werken erkennen. In seinen Werken<br />

tauchen häufig Tod und Schmerz auf, oftmals<br />

repräsentiert und verstärkt durch Tierkadaver<br />

im Hintergrund. Hierfür besuchte er Schlachthäuser<br />

und schien geradezu fasziniert von<br />

ihnen zu sein. Bacon gilt als ein Künstler, der<br />

stark von Gewalttätigkeit angezogen schien<br />

und schon seine Kreuzigungsdarstellungen<br />

erinnerten weniger an das Leiden Jesu als<br />

Erlöser, als an eine anschauliche Peinigung<br />

eines Menschen, der andere Leute beiwohnten<br />

und zuschauen. Hierbei unterschied er nicht<br />

immer zwischen Mensch und Tier. Er stellte einmal<br />

fest: „Wir sind ja schließlich selbst Fleisch,<br />

potentielle Kadaver. Jedes Mal, wenn ich einen<br />

Fleischladen betrete, bin ich in Gedanken überrascht,<br />

dass ich nicht dort an Stelle des Tieres<br />

hänge.“ (Wieland, 1985. S. 64). In „Mann mit<br />

Hund“ (Abb. 6) (wobei man den Titel eventuell<br />

umdrehen müsste, es stellt sich die Frage, wer<br />

hier mit wem spazieren geht), ist der Hund ist<br />

noch gut sicht- und erkennbar, der Mann ist<br />

jedoch nur noch ein <strong>Schatten</strong> seiner selbst. Er<br />

lässt sich eher erahnen, als dass er wirklich zu<br />

erkennen ist. Die angeschnittene Figur legt die<br />

Vorstellung nahe, dass nur noch ein paar Minu-<br />

34<br />

ten vergehen müssten, damit er verschwunden<br />

wäre, verblasst, vom <strong>Schatten</strong> zum Nichts.<br />

Bacon erreicht in seinen Bildern eine mehrdimensionale<br />

Zeit. Zum einen wird das Gefühl<br />

einer Momentaufnahme erzeugt, der man<br />

beiwohnt, zum anderen stellt er einen Bewegungsablauf<br />

dar, der in Gedanken weitergeführt<br />

werden kann. Die Personen oder Wesen<br />

scheinen sich weiterzuentwickeln, allein durch<br />

ihre eigene Darstellung, innerhalb eigener Zeit-<br />

und Raumgesetze.<br />

Im Triptychon von 1972 (Abb. 7) ist in der Mitte<br />

ein Liebesakt in fast tödlicher Umarmung, geradezu<br />

Verschlingung, zu sehen, denen jeweils<br />

auf dem linken und rechten Flügel eine Figur<br />

beiwohnt, die aber kein Interesse an ihnen<br />

zeigen und wegschauen.<br />

Zu Recht kann die Frage gestellt werden, ob<br />

diese „fleischfarbenen Ausflüsse“ noch als<br />

<strong>Schatten</strong> gehandelt werden kann. John Russel<br />

fand für sie einmal eine passende Bezeichnung.<br />

„Er sprach von schmelzenden Kerzen, die in ihr<br />

eigenes Wachs hineinrinnen. Formlos wie ausgeronnenes<br />

Wachs – so sehen diese <strong>Schatten</strong><br />

aus. Das auslaufende Leben klebt fest auf dem<br />

Boden des Bildes.“ (Schmied, 1985. S. 67/68.).<br />

Sind sie fest verbunden mit der jeweiligen<br />

Figur, entsprechen sie jedoch nicht deren<br />

Konturen, bzw. Umrissen. Sie sehen selbst aus<br />

wie Fleisch und bekommen dadurch einen Eigenwert<br />

oder auch ein Eigenleben. Sie können<br />

in Anlehnung an den „Kerzenvergleich“ als<br />

„auslaufendes Leben“ bezeichnet werden. Auf<br />

dem Leben zum Tod hin (siehe oben) wird man<br />

immer „weniger“ Person und immer „mehr“<br />

<strong>Schatten</strong>.<br />

„Bacon hat oft gesagt, dass im Bereich der<br />

Figuren der <strong>Schatten</strong> genauso viel Gegenwart<br />

hatte wie der Körper; aber der <strong>Schatten</strong> erlangt<br />

diese Gegenwart nur, weil er sich dem Körper<br />

entwindet, er ist der Körper, der durch diesen


Abbildungen<br />

René Magritte: “Ceci n´est pas<br />

une pipe.” 1928-1929,<br />

Maße: 59x80 cm (aus: Torc<br />

zyner, Harry: René Magritte:<br />

Zeichen und Bilder. DuMont<br />

Buchverlag Köln, 1977. Seite<br />

119. Tafel 206.)<br />

RenéMagritte: „Das Reich der<br />

Lichter“ 1950, Maße: 79x99<br />

cm<br />

(aus: Torczyner, Harry: René<br />

Magritte: Zeichen und Bil<br />

der. DuMont Buchverlag<br />

Köln, 1977. Seite 177. Tafel<br />

382.)<br />

René Magritte: „Der Salon Got<br />

tes.“ 1958, Maße: 43x59 cm<br />

(aus: Torczyner, Harry: René<br />

Magritte: Zeichen und Bil<br />

der. DuMont Buchverlag<br />

Köln, 1977. Seite 181. Tafel<br />

391.)<br />

RenéMagritte: „Die unmögliche<br />

Reproduktion.“ 1937-1939,<br />

Maße: 81,3x65 cm (aus:<br />

Torczyner, Harry: René<br />

Magritte: Zeichen und Bil<br />

der. DuMont Buchverlag<br />

Köln, 1977. Seite 55. Tafel<br />

74.)<br />

René Magritte: „Das Prinzip<br />

der Unsicherheit“ 1944,<br />

Maße: 65x51 cm (aus: Torc<br />

zyner, Harry: René Magritte:<br />

Zeichen und Bilder. DuMont<br />

Buchverlag Köln, 1977. Seite<br />

159. Tafel 326.)<br />

Francis Bacon: „Mann<br />

mit Hund.“, 1953, Maße:<br />

152,5x117 cm, (aus: Schnei<br />

der, Helmut: Francis Bacon.<br />

Meine Bilder. Prestel Verlag,<br />

München 1983. Tafel 12.)<br />

Francis Bacon: „Triptychon von<br />

1972“, Maße: 198x147,5<br />

cm, (aus: Leiris, Michael:<br />

Francis Bacon. Full face<br />

and in profile. Phaidon Ver<br />

lag, Oxford 1983. Tafel 89.)<br />

Francis Bacon: „Kopf I“, 1948,<br />

Maße: 103x75 cm<br />

(aus: Schneider, Helmut:<br />

Francis Bacon. Meine Bilder.<br />

Prestel Verlag, München<br />

1983. Tafel 51.)<br />

oder jenen auf der Kontur lokalisierten Punkt<br />

entwichen ist.“ (Deleuze, 1995. S. 17).<br />

Neben dem Aspekt des „fleischgewordenen“<br />

<strong>Schatten</strong>s gibt es bei Bacon noch seine Figuren,<br />

die nur noch ein <strong>Schatten</strong> eines menschlichen<br />

Lebewesens sind. Er reduziert z. B. beim „Kopf I“<br />

(Abb. 8) aus dem Jahre 1948 den Schrei eines<br />

Menschen auf das Wesentliche und Markante,<br />

nämlich den Mund. Die Gestalt selber können<br />

wir nur noch erahnen und uns vorstellen, wie<br />

die Person beim Schrei den Kopf in den Nacken<br />

wirft, denn diese Bewegung stellt Bacon unscharf<br />

dar. Das einzige was gut und deutlich<br />

erkennbar ist, ist der Mund der Gestalt, doch<br />

erinnert dieser durch die langen und scharfen<br />

Eckzähne eher an ein Tier und tatsächlich hat<br />

er für diese als Vorlage die Zähne eines Schimpansen<br />

verwendet. Wie oben bereits erwähnt<br />

unterschied Bacon nicht immer differenziert<br />

zwischen Mensch und Tier.<br />

Es ist möglich, dass Bacon sich von den Texten<br />

Batailles inspirieren ließ, der schreibt in seinem<br />

„Kritischen Wörterbuch“: „Bei großen Ereignissen<br />

konzentriert sich das menschliche Leben<br />

ganz tierisch auf den Mund; der Zorn lässt<br />

einen die Zähne zusammenbeißen, die Angst<br />

oder fürchterliches Leiden machen den Mund<br />

zum Organ gellender Schreie. Es lässt sich dabei<br />

leicht beobachten, dass der Betroffene seinen<br />

Hals reckt, seinen Kopf ungestüm zurückwirft,<br />

so dass der Mund, soweit dies möglich ist,<br />

an eine Stelle gerät, die einer Fortsetzung des<br />

Rückgrats gleichkommt, mit anderen Worten<br />

in die Position, in der er sich normalerweise bei<br />

Tieren befindet.“ (Stuttgart und Berlin, 1985. S.<br />

13). Bacon anonymisiert die Personen durch<br />

seine Darstellungsweise, manchmal kann man<br />

nicht mehr zwischen Mann und Frau differenzieren.<br />

Die Gestalten scheinen in ihrer Pein<br />

gefangen auf der Schwelle zwischen dieser<br />

(unserer) Welt und dem Leben nach dem Tode<br />

zu stehen. Es ist ein idealer, quälenden Schrei<br />

durch Bacons abstrakte Darstellungsweise seinem<br />

Wesen gemäß umgesetzt. Die Darstellung<br />

erschüttert mehr als ein Foto von einem schreienden<br />

Menschen, vielleicht liegt das Geheimnis<br />

in dem Verschwommenen bei Bacon. Durch<br />

das Anonyme schreit nicht ein bestimmter<br />

Mensch, sondern es wirkt wie der personifizierte<br />

Schrei selber. Man spürt den Schrei und den<br />

Schmerz regelrecht. In dieser Qual unterscheidet<br />

sich der Mensch nicht mehr vom Tier.<br />

„Das gewaltsame Zusammenbringen von<br />

Mensch/Tier in einer Weise, die den herkömmlichen<br />

Unterschied zwischen beiden in Frage<br />

stellt, war Teil von Batailles fortwährenden Angriffen<br />

auf die „idealistische Selbsttäuschung“,<br />

die der Mensch an sich verübt. In diesem Fall<br />

geht es um die Enthüllung des Tierischen oder<br />

Fast-Tierischen im Menschen, vor allem in<br />

Situationen, in denen er glaubt, sich von seiner<br />

menschlichsten oder edelsten Seite zu zeigen.“<br />

(Stuttgart und Berlin, 1985. Seite 14).<br />

35<br />

Abb. 8: Francis Bacon: „Kopf I“, 1948, Maße:<br />

103x75 cm


<strong>Schatten</strong>-<br />

projektionen<br />

37


Karolin Oehlmann<br />

Michaela Streilein<br />

Inhalt<br />

1. Die Entstehung der<br />

Arbeit<br />

2. Künstlerischer<br />

Bezug zu Fischli und<br />

Weiss – philosophische<br />

Ansätze und Überlegun-<br />

gen zur Interpretation<br />

Literatur<br />

Quellen<br />

„Die maschinelle<br />

Sonnenfinsternis im<br />

Zeitraffer“<br />

Abb. 1: „Die maschinelle Sonnenfinsternis im Zeitraffer“<br />

1. Die Entstehung der Arbeit<br />

1.1 Theoretische Vorüberlegungen<br />

Die Idee, welche am ehesten umsetzbar zu sein<br />

schien und uns nach persönlichem, subjektivem<br />

Empfinden am meisten zusagte, war die<br />

Darstellung eines kleinen Planetariums. Die<br />

Idee bestand im Nachbau eines Himmelszeltes,<br />

an dem man die sich bewegenden Himmelskörper<br />

betrachten könnte. Unter dem Einfluss<br />

eines Besuchs des Planetariums Wolfsburg<br />

ergänzten wir unseren Grundgedanken mit<br />

um dem auf- und untergehenden Mond, der<br />

durch die Verdeckung der Sonne eine Sonnenfinsternis<br />

verursacht. Die Entscheidung für die<br />

Umsetzung dieser Idee liegt in der Faszination<br />

der einzelnen Himmelskörper sowie des Zusammenspiels<br />

dieser begründet. Sowohl der Mond<br />

als auch die Sonne sind für das Leben auf der<br />

Erde und somit für die Menschheit unverzichtbar.<br />

Am Zeitraum von 29,5 Tagen, in dem der<br />

Mond regelmäßig seine Phasen durchläuft,<br />

orientieren sich die Kalendermonate. Demzufolge<br />

gliedert die Natur mit der Bewegung<br />

des Mondes die Zeit im Zusammenspiel mit<br />

der Sonne. Nicht nur, dass deren Licht und<br />

Wärme zu unserem Wohlbefinden beiträgt,<br />

38<br />

sondern ohne diesen besonderen Himmelskörper<br />

wäre das Leben in seinen verschiedensten<br />

Formen auf der Erde gar nicht erst möglich.<br />

Als besonders faszinierend erachte ich das<br />

Zusammenspiel der Himmelskörper in Form der<br />

Sonnenfinsternis, bei dem die Sonne, der Mond<br />

und die Erde auf spezielle astronomische Weise<br />

zusammentreffen(vgl. Cerrot, Robin: Der Sternenführer<br />

– Der Nachthimmel Stern für Stern,<br />

Steiger Verlag, Augsburg, 1998, S. 118ff).<br />

„Von allen Naturphänomenen, die wir auf der<br />

Erde beobachten, ist keines aufsehenerregender<br />

und erfurchtgebietender als eine totale<br />

Sonnenfinsternis. Während einer Sonnenfinsternis<br />

wird der Tag plötzlich zur Nacht; die Luft<br />

kühlt ab, die Vögel hören auf zu singen und<br />

hocken sich zum Schlafen nieder (ebd. S. 128).<br />

„Dieser Beschreibung nach scheint dies ein<br />

ganz besonderes Phänomen zu sein, welches<br />

sicherlich Anlass gibt, über den Sinn des Lebens<br />

und die eigene menschliche Existenz nachzudenken.


Abb. 2 Die Enstehung der<br />

Arbeit I: Laken<br />

Abb. 3 Die Enstehung der<br />

Arbeit II: Lampe<br />

Abb. 4 Die Enstehung der<br />

Arbeit III: Motor<br />

1.2 Die praktische Umsetzung<br />

Nach den theoretischen Vorüberlegungen<br />

stellte sich nun die Frage nach der praktischen<br />

Umsetzung. Der geeigneteste Platz für unser<br />

Vorhaben erschien die Nische unter der Kellertreppe.<br />

Zunächst erstellten wir ein reines Provisorium,<br />

indem wir ein faltiges, weißes Bettlaken mit<br />

Paketklebeband an der Schräge unter der<br />

Kellertreppe aufhingen. Eine Glühbirne als<br />

Lichtquelle erfüllte gleichzeitig die Funktion der<br />

leuchtenden Sonne. Eine große Pappe, später<br />

als Halbkreis ausgeschnitten, welche wir hinter<br />

dem Laken positionierten, sollte die Erdkugel<br />

darstellen. Hinter dieser Pappe stellten wir Kartons<br />

auf, auf die wir eine Glühbirne als Sonne<br />

befestigten. Das Anbringen einer Lichterkette<br />

hinter dem Laken erweckte beim Betrachten<br />

den Eindruck eines Sternenhimmels. Dieses vorerst<br />

aufgebaute Provisorium sollte ursprünglich<br />

nur einer ersten Orientierung dienen und im<br />

Nachhinein perfektioniert, bzw. „verschönert“<br />

werden. Die bisherige Arbeit besaß jedoch in<br />

ihrer banalen und provisorischen Ausführung<br />

eine ganz eigene Ästhetik. Jede Veränderung<br />

im Sinne einer „Verschönerung“ würde Gefahr<br />

laufen, ins Plakative und Kitschige überzugehen<br />

- so entschieden wir uns, diese besondere<br />

Ästhetik beizubehalten, stand sie doch im herrlichen<br />

Gegensatz zu „Größe und Majestät“ des<br />

Sternenhimmels. Demzufolge entfernten wir<br />

die Lichterkette und behielten den Rest so bei,<br />

wie er war. An einem kleinen Motorbefestigten<br />

wir einen Pappkreis, welcher den Mond darstellen<br />

sollte. Die erste Idee, diesen mit einem<br />

dünnen Faden an dem sich rotierenden Zeiger<br />

einer batteriebetriebenen Uhr zu befestigen,<br />

ließ sich praktisch nicht verwirklichen, da der<br />

Motor einer Uhr zu schwach gewesen wäre.<br />

Der kleine Motor eines Spielzeugautos tat seinen<br />

Dienst (Abb. 2 bis 4).<br />

1.3 Das Endergebnis<br />

So konnten wir beobachten, wie der Mond auf-<br />

bzw. untergeht und dabei die Sonne verdeckt.<br />

Zwar war der Motor aufgrund der Art der<br />

Anbringung durch seinen <strong>Schatten</strong> zu sehen,<br />

doch unterstützte dies zusätzlich die beabsichtigte<br />

provisorische, banale Ästhetik. Somit war<br />

unsere <strong>Schatten</strong>installation mit dem Titel „Die<br />

maschinelle Sonnenfinsternis im Zeitraffer“<br />

(Abb.1 und 5), Maße: ca. 140cm x 200cm x<br />

150cm; Materialien: Bettlaken, Pappkarton,<br />

Motor, Glühbirne, Karton, Eimer vollendet und<br />

stellte uns vollends zufrieden.<br />

39<br />

2 Bezug: Fischli und Weiss<br />

Im Nachhinein konnten wir Parallelen zu den<br />

Arbeiten des Künstlerduos Peter Fischli (*8.<br />

Juni 1952 in Zürich) und David Weiss (*21. Juni<br />

1946 in Zürich) ziehen. In ihrer Kunst spielt das<br />

Spielerische, die Persiflage, das Provisorisch eine<br />

große Rolle. Auch haben ihre Arbeiten etwas<br />

„Kindliches“ an sich, Art und Aufbau ihrer Arbeiten<br />

können mit kindlichem Spielenverhalten<br />

verglichen werden. Nach Siegmund Freud spielen<br />

Kinder am liebsten mit Gegenständen, mit<br />

denen sie die Welt der Erwachsenen imitieren<br />

können. Ihr Einfallsreichtum und ihre Kreativität<br />

besteht darin, dass sie Alltagsgegenstände in<br />

Dinge transformieren, die sie für ihr Spielen benötigen;<br />

sie entfremden Dinge und machen sie<br />

sich zu ihrem eigenen Nutzen (vgl. Fischli, Peter<br />

und Weiss, David: In a restless world, Wallace<br />

Carlson Company, Mineapoles,<br />

S. 98f). Diese Ideen werden durch Fischli und<br />

Weiss aufgegriffen zitiert. Ihre bekannteste Arbeit,<br />

der experimentelle Kunstfilm „Der Lauf der<br />

Dinge“ (1985-1987) (Abb. 5 bis 7) spielt konsequent<br />

mit diesem Ansatz. Hier scheinen in einer<br />

Lagerhalle Gegenstände aus dem Alltag linear<br />

auf einer Länge von 20 bis 30 m so aneinandergereiht,<br />

dass sie durch die Erzeugung z.B. von<br />

Flammen, Bewegung, chemischen Reaktionen<br />

oder Dampf einen kontinuierlichen Ablauf<br />

mehrerer unterschiedlicher Bewegungszustände,<br />

eine dynamische kausale Kette erzeugen.<br />

Dabei werden Gegenstände wie Konservendosen,<br />

Reifen, Plastikflaschen, Luftballons etc.<br />

verwendet und gleichzeitig zweckentfremdet.<br />

Auf ähnliche Weise haben auch wir Dinge<br />

aus dem Alltag umfunktioniert bzw. adaptiert.<br />

Indem wir z.B. ein Bettlaken als Himmelzelt,<br />

eine Glühbirne als Sonne oder den Motor<br />

eines Spielzeugautos als Antrieb des Mondes<br />

verwendeten, verloren all diese Dinge ihre<br />

ursprüngliche Funktion und erhielten eine<br />

neue Bedeutung. Allerdings besteht ein wesentlicher<br />

Unterschied der beiden Arbeiten in<br />

der Erzeugung von Bewegung bei uns bewegt<br />

sich der Mond durch einen batteriebetriebenen<br />

Motor, die Bewegung in der Arbeit von Fischli<br />

und Weiss hingegen wird durch die Weitergabe<br />

eines Bewegungsimpulses erzeugt, so dass<br />

eine Kettenreaktion entsteht. Dabei ist „[...]die<br />

Verkettung grundlegender physikalischer<br />

Prinzipien [...]“ (vgl. http://de.wikipedia.org/<br />

wiki/Peter_Fischli_und_David_Weiss) sowie<br />

chemische Reaktionen von großer Bedeutung,<br />

ohne die der kontinuierliche Bewegungsablauf<br />

nicht funktionieren würde. Somit besteht eine<br />

Abb. 5 „Die maschinelle Sonnenfinsternis im Zeitraffer“ , Bewegungsstudien


Literatur<br />

Fischli, Peter und Weiss, David:<br />

In a restless world, Wallace<br />

Carlson Company, Minea<br />

poles.<br />

Cerrot, Robin:<br />

Der Sternenführer – Der<br />

Nachthimmel Stern für<br />

Stern, Steiger Verlag, Augs<br />

burg, 1998.<br />

Quellen<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/<br />

Peter_Fischli_und_David_<br />

Weiss<br />

http://www.medienkunstnetz.<br />

de/werke/the-way-ofthings/<br />

ständige Spannung, ob sich die Kettenreaktion<br />

reibungslos weiterhin fortführt, oder irgendwann<br />

unterbrochen wird. Ähnlich verursachte<br />

auch unsere <strong>Schatten</strong>installation eine bis zum<br />

Ende anhaltende Spannung, ob der Motor<br />

über die gesamte Zeit der Ausstellung die Kraft<br />

aufwenden kann, den Mond auf- und untergehen<br />

zu lassen und ob die Batterie des Motors<br />

so lange halten wird. Demzufolge liegt bei den<br />

besagten Arbeiten auch eine gewisse Ästhetik<br />

auf dem Funktionieren, auf dem reibungslosen<br />

Bewegungsablauf der einzelnen Gegenstände<br />

( vgl. http://www.medienkunstnetz.de/werke/the-way-of-things/).<br />

Im Vordergrund stehen<br />

jedoch die Dinge selbst – ganz gleich, ob das<br />

Bettlaken faltig ist oder der Pappkreis nicht<br />

ganz rund, denn genau das, die nackte Darstellung<br />

der Dinge so, wie sie sind, macht die<br />

Arbeit individuell. Gleichzeitig verliert die Arbeit<br />

an gewisser Ernsthaftigkeit, gewinnt jedoch im<br />

gleichen Maße sowohl an Liebenswürdigkeit<br />

als auch an Unschuld (vgl. ebd., S. 97). So kam<br />

es, dass sich viele Besucher der Werksausstellung<br />

bei der Betrachtung unserer Arbeit ein liebevolles<br />

Schmunzeln nicht verkneifen konnten<br />

– insbesondere dann nicht, wenn sie hinter das<br />

Laken schauten und ihnen auf diese Weise der<br />

Gebrauch der alltäglichen Dinge offenbart wurde.<br />

Denn mit dieser Trivia<strong>lit</strong>ät, die buchstäblich<br />

hinter dieser Arbeit steht, haben die meisten<br />

Betrachter nicht gerechnet. Diese ironische und<br />

humorvolle Adaption der alltäglichen Dinge<br />

in einen künstlerischen Kontext kann bei dem<br />

Betrachter Irritationen und Verwunderung<br />

verursachen sowie „philosophische und theoretische<br />

Fragen nach der Erklärung der Welt“ (<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Fischli_und_<br />

David_Weiss) aufwerfen (vgl. ebd.).<br />

40<br />

Abb. 5 bis 7, Peter Fischli und David Weiss, „Der<br />

Lauf der Dinge“, 1987


Christiane Ritter<br />

Inhalt Seite<br />

1. Einleitung<br />

2. Abbildung der<br />

Wirklichkeit - Die<br />

Camera obscura<br />

3. Der Guckkasten<br />

4. Projizierte Bilder –<br />

Die Laterna magica<br />

5. Die Anfänge der<br />

Fotografie<br />

Literatur<br />

Abbildungen<br />

Die Camera Obscura<br />

und die Entwicklung<br />

der Fotografie<br />

Abbildung 1: links: In: Mario Bettini, Apiaria Universae Philosophiae Mathematicae. Bologna 1642,<br />

S. 38. rechts: Die größte Kamera der Welt, 1900 in Chicago gebaut. 600 kg, jede Platte (135 x 240<br />

cm) 225 kg. Das Ungetüm wurde von 15 Männern bedient.<br />

1. Einleitung<br />

Die Geschichte der Fotografie beginnt mit der<br />

Entdeckung der Camera Obscura. Der Name<br />

Camera obscura umschreibt nichts anderes<br />

als einen dunklen Raum mit einem Loch zur<br />

hellen Außenwelt. In diesem Raum wird nun<br />

auf der gegenüberliegenden Wand zum Loch<br />

das Abbild der Außenwelt linear projiziert.<br />

Damit ist der Grundgedanke für die Fotografie<br />

gelegt: Ein möglichst naturgetreues Abbild der<br />

Wirklichkeit festzuhalten. Bis die Möglichkeiten<br />

durch die Chemie geschaffen ist, ein mechanisches<br />

Bild entstehen zu lassen, bleibt erstmal<br />

nur das Abbild durch zeichnerisches Geschick.<br />

Auf einer transparenten Leinwand wird das<br />

Bild so ‚eingefangen‘. Erst dadurch wird die<br />

perspektivische Zeichnung entdeckt und kann<br />

nun in der Malerei und damit auch in der<br />

Bühnenmalerei der dreidimensionalen Wirkung<br />

beisteuern.<br />

41<br />

Die Projektionskunst beginnt in Anlehnung<br />

dessen als die Bilder anstatt auf Papier auf<br />

Glasplatten gemalt werden und mit Hilfe der<br />

Laterna magica in einem dunklen Raum auf<br />

eine Wand geworfen werden. Sie findet sich in<br />

der heutigen Dia-Projektion wieder. Auch die<br />

Laterne kommt auf der Bühne in der Phantasmagorie<br />

zum Einsatz.<br />

Als der Grundstein der Chemie schließlich<br />

durch die Entdeckung von lichtempfindlichen<br />

Substanzen gelegt ist, steht auch der Entwicklung<br />

der Fotografie nichts mehr im Wege.<br />

2. Abbildung der Wirklichkeit – Die Camera<br />

obscura<br />

Der erste Nachweis des Camera obscura Prinzips<br />

ist aus dem 4. Jahrhundert - durch Aristoteles<br />

festgehalten. Dieser beobachtet, wie sich<br />

Abb. 2 Zeichnung einer Camera obscura zur Betrachtung der Sonnenfinsternis (Holzschnitt in: „De<br />

radio astronomico & geometrico“, Antwerpen 1545, aus: Thomas Ganz 1994, S. 20, unten)


Abb. 3 Tragbare Camera obscura<br />

in Form einer Holzkiste mit<br />

Tragegriffen und Einstiegsloch<br />

von unten. Eine Camera obscura<br />

in Form eines einfachen<br />

Raums beschränkte den Künstler<br />

auf die direkte Umgebung,<br />

so dass man tragbare Cameras<br />

erfand. Diese war eine der<br />

ersten Formen.<br />

Abb. 4 Camera obscura als<br />

Zeichenhilfsmittel in Zeltform.<br />

Sie wurde von dem Künstler an<br />

Ort und Stelle aufgestellt, an<br />

dem das Zeichenobjekt (Gebäude<br />

o. ä.) war. Um Dunkelheit<br />

zu erzeugen, wurde der<br />

schwarze Zeltumhang umgelegt,<br />

das Bild wurde durch das<br />

an der Zeltspitze angebrachte<br />

Objektiv mit Hilfe eines Spiegels<br />

im 45° Winkels auf die<br />

Zeichenunterlage projiziert.<br />

Abb. 5 Tragbare Camera obscura<br />

im handlichen Format.<br />

Abb. 6 Zeichen-Camera-obscura, bei der der Sichtwinkel verstellbar ist, um eine andere Perspektive<br />

einstellen zu können. Ein weiterer Vorteil ist, dass durch die ineinander verschiebbaren Teile ein<br />

„Heranzoomen“ ermöglicht wird. Zeichenfläche: Matt geschliffene Glasscheibe.<br />

die Sonnenfinsternis durch das Blattwerk einer<br />

Platane auf dem Boden abbildet (vgl. Bodo von<br />

Dewitz; Werner Nekes 2002, S. 11).<br />

Wie bereits oben erwähnt tritt der Camera<br />

obscura Effekt dann ein, es wird also dann<br />

ein Abbild der Wirklichkeit erzeugt, wenn<br />

ein dunkler Raum mit einem Loch zur hellen<br />

Außenwelt gegeben ist. Das Bild wird dann wie<br />

in Bild 1 linear, seitenverkehrt und kopfüber auf<br />

einer Wand gegenüber dem Loch abgebildet.<br />

Vornehmlich wurde die Camera obscura dementsprechend<br />

im 13. Jh. für die Beobachtung<br />

von Sonnenfinsternissen benutzt. Sie hatte den<br />

Vorteil, dass das Abbild lichtreduziert und somit<br />

unschädigend für die Augen projiziert wurde<br />

(vgl. ebd., S. 49).<br />

Über dieses Wissen hatte jedoch nicht allein die<br />

westliche Welt Zugang: Auch in China<br />

existiert es bereits im 9. und in der arabischen<br />

Welt im 10. Jh.<br />

Die Camera diente den Menschen darüber<br />

hinaus zur Unterhaltung, indem sie sich hineinsetzten<br />

und die äußere Umwelt kopfstehend<br />

oder auch durch einen Spiegel richtig herum<br />

voyeuristisch beobachteten.<br />

2.1 Die Camera obscura als Zeicheninstrument<br />

Die Camera obscura wird bald von Künstlern<br />

gerne als Zeicheninstrument benutzt. Diese<br />

Technik beschreibt Lenardo da Vinci 1490:<br />

„Wenn die Bilder angeleuchteter Gegenstände<br />

eine kleine runde Öffnung passieren und in einem<br />

sehr dunklen Raum gelangen, und wenn<br />

man sie auf einem Stück weißen Papiers, das<br />

senkrecht in dem Raum in einiger Entfernung<br />

42<br />

von der Öffnung aufgestellt ist, empfängt, dann<br />

sieht man auf dem Papier all jene Objekte in<br />

ihren natürlichen Formen und Farben. Sie sind<br />

jedoch in ihrer Größe reduziert und stehen<br />

auf dem Kopf, weil sich die Strahlen an der<br />

Öffnung überkreuzen. Wenn diese Bilder von<br />

einem Ort kommen, der von der Sonne beleuchtet<br />

ist, erscheinen sie wie auf dem Papier<br />

gemalt, welches sehr dünne sein muss und von<br />

der Rückseite zu betrachten ist. Die Öffnung<br />

sollte aus einer sehr dünnen Scheibe Eisenblech<br />

geschnitten werden.“ (Gernsheim, Helmut<br />

und Alison: The History of Photography,<br />

from the Camera Obscura to the Beginning of<br />

the Mordern Era. New York 1969, S. 19. Zitiert<br />

nach: Bodo von Dewitz, Werner Nekes 2002,<br />

S. 48).<br />

Das künstlerische Geschick verlangt nun noch,<br />

dieses zweidimensionale und perspektivisch<br />

völlig korrekte Abbild eines dreidimensionalen<br />

Gebildes auf dem Papier festzuhalten. Für die<br />

Künstler hatte dieses Verfahren den wirtschaftlichen<br />

Vorteil, Auftragsarbeiten in viel kürzerer<br />

Zeit an<strong>fertige</strong>n zu können. (vgl. Thomas Ganz<br />

1994, S. 18)<br />

Allerdings hatte es auch den Nachteil, dass<br />

ihre Kunst einen negativen Beigeschmack<br />

bekam: Es entstand das Vorurteil, dass für die<br />

Malerei ab nun an kein künstlerisches Geschick<br />

benötigt würde. Mit anderen Worten: Jeder<br />

könne mit Hilfe einer Camera obscura zeichnen<br />

(vgl. Bodo von Dewitz, Werner Nekes 2002, S.<br />

49/50).<br />

Eine Auswahl Camera obscurae als Zeicheninstrumente<br />

ist auf den Bildern 2 bis 5 zu sehen.


Abb. 7 Ein Guckkasten. Durchlicht<br />

wird hier mit Hilfe von<br />

Kerzenlicht erzeugt. Holland,<br />

um 1720.<br />

Abb. 8 Guckkastenblatt, dass<br />

bei Durchlicht mit Hilfe der<br />

transparenten Partien den<br />

Anschein einer Nachansicht<br />

von Den Haag zeigt. Handkolorierter,<br />

zur Durchleuchtung<br />

perforierter und hintermalter<br />

Kupferstich für Tag- und Nachtansichten.<br />

30,4 x 36,5 cm.<br />

Holland, um 1700.<br />

Abb. 9 Der Engelbrechtsche<br />

Guckkasten. Mehrere Ebenen<br />

erzeugen beim Betrachter eine<br />

Tiefenwirkung.<br />

Abb. 10 Der Engelbrechtsche<br />

Guckkasten als Reisesouvenir.<br />

3. Der Guckkasten<br />

So genannte Guckkastenmänner, es handelte<br />

sich um fahrende Künstler, zogen von Stadt<br />

zu Stadt umher und stellten Guckkästen auf<br />

Märkten zur Schau, in die das Publikum für<br />

wenig Geld hineingucken konnte (vgl. Thomas<br />

Ganz 1994, S. 53). Es handelte sich um perspektivische<br />

Zeichnungen, die Ansichten ferner Länder,<br />

berühmter Bauten, historischer Ereignisse<br />

und Naturkatastrophen zeigten (vgl. Bodo von<br />

Dewitz, Werner Nekes 2002, S. 83) und den<br />

Eindruck von Dreidimensiona<strong>lit</strong>ät vermittelten.<br />

Sie entstanden vermutlich mit Hilfe einer Camera<br />

obscura. Die Dreidimensionale Wirkung der<br />

perspektivischen Ansicht wurde im Guckkasten<br />

durch eine Vergrößerungslinse unterstützt.<br />

Wer durch das Guckloch in den Guckkasten<br />

hinsah, machte eine kleine Reise durch die<br />

ganze Welt, die zu dieser Zeit im wahren Leben<br />

schon allein aus finanziellen Gründen gar nicht<br />

umsetzbar gewesen wäre. Der Guckkasten<br />

wurde deshalb auch von Ulrike Hick als Fernsehen<br />

des 18. Jahrhunderts bezeichnet (vgl. ebd.,<br />

S. 78, 79).<br />

Seit dem 18. Jh. wurden Guckkastenblätter als<br />

Kupferstiche zu Massen produziert (vgl. Thomas<br />

Ganz 1994, S. 55). Es wurden Tag-Nacht- und<br />

Winter-Sommer-Effekte erzeugt, indem mit Auf-<br />

und Durchlicht gearbeitet wurde. So wurde ein<br />

Guckkastenblatt beispielsweise doppelt und auf<br />

beiden Seiten andersfarbig bedruckt, um ein<br />

und dasselbe Bild einmal in eine Winter- und<br />

einmal in eine Sommerlandschaft zu verwandeln.<br />

Für den Tag-Nacht-Effekt wurden einzelne<br />

Partien wie bspw. Fenster ausgeschnitten<br />

und mit transparentem Papier hinterklebt, um<br />

bei Durchlicht den Eindruck einer Nachtansicht<br />

zu vermitteln (vgl. Thomas Ganz, S. 56 und<br />

Bodo von Dewitz, Werner Nekes 2002, S 83).<br />

Engelbrecht entwickelte die Tiefenwirkung des<br />

Guckkastens weiter, indem er das anzuschauende<br />

Bild auf mehrere Ebenen, ähnlich dem<br />

Barocken Bühnenbild, verteilte (Bild 8 und 9).<br />

Im 19. Jh. wurde der Engelbrecht‘sche Guckkasten<br />

in zusammenfaltbarer Form gerne als<br />

Reisesouvenir aus fernen Städten mitgebracht<br />

(vgl. Thomas Ganz 1994, S. 54).<br />

3.1 Das Guckkastenblatt als Bühnenbild<br />

- Das Diorama<br />

Der französische Theatermaler und Schausteller<br />

Jaques Louis Mandé Daguerre lässt 1822 ein<br />

Gebäude bauen, das er Diorama nennt. Eine<br />

riesige Leinwand zeigt dem Publikum eine<br />

Landschaftsansicht, die durch Dosierung von<br />

Auf- oder Durchlicht, den Einsatz von Spiegeln,<br />

Tüchern und Filtern ins Abendrot, in Lichterglanz,<br />

in Dämmerung,<br />

Sturm und Gewitter versetzen, aber auch<br />

Mondaufgänge inszenieren lässt. Die Untermalung<br />

von musikalischer Beschallung lässt<br />

die Wirkung auf das Publikum täuschend<br />

echt erscheinen. Die vielfache Vergrößerung<br />

der Landschaftsansicht löst die Wirkung des<br />

Vergrößerungsglases im Guckkasten ab (vgl.<br />

Thomas Ganz 1994, S. 58).<br />

43<br />

4. Projizierte Bilder – Die Laterna magica<br />

Die Laterna magica bekam ihren Namen, weil<br />

sich Viele die Technik der Projektion nicht<br />

erklären konnten: Die Laterne zauberte ein Bild<br />

an die Wand. Sie wurde auch Angstlaterne<br />

genannt, was mit ihrem späteren Einsatz auf<br />

der Bühne im Zusammenhang steht.<br />

Die Laterna magica kann als die Umkehrung<br />

der Camera Obscura angesehen werden: In<br />

einem kleinen hellen Raum ist ein Loch, durch<br />

das das Abbild einer Glasscheibe auf die gegenüberliegende<br />

Wand eines dunklen Raums<br />

projiziert wird.<br />

Genauer beschrieben befindet sich im Inneren<br />

der Laterne ein Hohlspiegel, der das Licht einer<br />

Kerze oder Petroleumlampe konzentriert (vgl.<br />

Thomas Ganz 1994, S. 27). Zwischen dem Loch<br />

und dem Objektiv (es handelt sich um ein doppellinsiges<br />

Objektiv, um das Licht nochmals zu<br />

intensivieren) befindet sich eine Halterung für<br />

die Bilder. Sie sind auf eine Glasscheibe gemalt.<br />

Bewegte Bilder entstehen durch eine rasche<br />

Abfolge von Bildern und einen Kurbelmechanismus,<br />

der zwei hintereinander angeordnete<br />

drehbare Glasbilder in Bewegung versetzt und<br />

einen Seiltänzer tanzen lässt (vgl. ebd., S. 33).<br />

Im 18. Jh. werden die Glasbilder vornehmlich<br />

als Kupferstiche hergestellt, die von Hand koloriert<br />

werden (vgl. ebd., S. 33).<br />

Wie die Guckkastenschausteller waren auch die<br />

Vorführer der Projektionskunst fahrende Savoyener,<br />

die für Familien und kleine Gruppen im<br />

18. und 19. Jh. und spontan an Straßenecken,<br />

in Wirtshäusern und in bürgerlichen Wohnhäusern<br />

Vorführungen gaben (vgl. Bodo von<br />

Dewitz, Werner Nekes 2002, S. 141).<br />

Wer es sich leisten konnte, ließ sich „den<br />

Laterna-magica-Mann von der Straße ins Haus<br />

holen“ (zitiert aus: Thomas Ganz 1994, S. 80).<br />

Die Savoyener waren seit Jahrzehnten als Jongleure,<br />

Geschichtenerzähler, Sänger und Vorführer<br />

optischer Neuheiten in Europa unterwegs.<br />

Mit anderem fahrenden Künstlervolk galten sie<br />

als Außenseiter und Ausländer, was die Laterna<br />

magica Kunst in ein schlechtes Ansehen rückte<br />

(vgl. Bodo von Dewitz, Werner Nekes 2002, S.<br />

141).<br />

4.1 Verbindung von Theater und Laterne<br />

- Die Phantasmagorie<br />

Ein Mann namens Robertson setzt die Laterna<br />

magica für eine Vorführung ein.<br />

1798, Paris: „In einem dunklen Gewölbe,<br />

wo Ketten, Eulen, Gerippe und Totenköpfe<br />

schwach leuchten, beschwört Zauberer Robertson<br />

Hexen und Teufel, aber auch die Ahnen<br />

der Zuschauer. Und die Figuren erscheinen<br />

tatsächlich, ganz klein vorerst, dann wachsen<br />

sie, begleitet von B<strong>lit</strong>z und Donner, werden<br />

übermenschlich groß. Eine dröhnende Stimme<br />

fordert die Zuschauer auf, den Geistern Fragen<br />

zu stellen. Doch der Schrecken ist groß: Damen<br />

fallen in Ohnmacht, Offiziere ziehen den Säbel.<br />

Das Publikum ist jeweils dermaßen erschüttert,<br />

dass es nicht feststellen kann, worin der Spuk<br />

besteht.“ (Thomas Ganz 1994, S. 76)


Abb. 11 Paul Philippoteaux:<br />

Anfertigung des Cycloramas<br />

der Schlacht von Gettysburg.<br />

120 x 15 m.<br />

Abb. 12 Bewegliche Glasbilder<br />

für die Laterna magica<br />

mit Schnurmechanismus, der<br />

Windmühlenflügel drehen,<br />

Trinker schwanken, Mann Augen<br />

rollen, Equilibrist auf Seil<br />

nach vorn und hinten bewegen<br />

und Dame hüpfen lässt.<br />

Petrus Musschenbroek, 1729.<br />

Abb. 13 Zeichnung eines Laternamagica<br />

Mannes.<br />

Robertson gibt der Laterne Rollen und schafft<br />

damit den Zoom-Effekt, was eine Bewegung<br />

der projizierten Geistererscheinungen (dt. Übersetzung<br />

des griech. Phantasmagorie) erscheinen<br />

lässt (vgl. ebd., S. 76).<br />

Im Gegensatz zur bisherigen Schaustellung der<br />

Laterne bindet die Phantasmagorie das Publikum<br />

an feste Theaterräume.<br />

Johann Georg Schröpfer hat die Laterne schon<br />

vor Robertson für eine Theateraufführung<br />

eingesetzt. Durch eine Spiegelprojektion lässt<br />

er die Geister neben den Schauspielern auf<br />

der Bühne tanzen (s. Bild 16 und 17). Hohle<br />

Stimmen aus Sprechröhren, Klänge von einer<br />

Glasharmonika und das Grollen von Bühnendonner<br />

untermalen sein Schauspiel akustisch<br />

(vgl. Bodo von Dewitz, Werner Nekes 2002, S.<br />

141/ 142).<br />

4.2 Ansehen der Laterne<br />

Wie die Laterne technisch funktioniert, wissen<br />

um die Wende vom 17. zum 18. Jh. zunächst<br />

nur Gelehrte (vgl. Thomas Ganz 1994, S. 32).<br />

Der Großteil der Bevölkerung hält die Projektionskunst<br />

in dieser Zeit für Zauberei, was der<br />

Laterne ihren Namen gegeben hat (Laterna<br />

magica = Zauberlaterne) (vgl. ebd., S. 77).<br />

In dieser Zeit wird die Zauberlaterne oftmals<br />

für die Unterhaltung und somit für unwissenschaftliche<br />

Zwecke eingesetzt, was sie in einen<br />

trivialen Verruf geraten lässt (vgl. Bodo von<br />

Dewitz, Werner Nekes 2002, S. 137). Gelehrte<br />

belächeln diese Laterne:<br />

William Molyneux beschreibt die Tricks der<br />

Laterna-magica-Vorstellungen als „meist (…)<br />

lächerliche oder entsetzliche Darstellung,<br />

um die Zuschauer besser zu unterhalten“ (in:<br />

William Molineux: Dioptricks Nova. A Treatise<br />

of Diopticks, In zwei Bänden, London 1690, I,<br />

S. 183. Zietiert nach: Bodo von Dewitz, Werner<br />

Nekes 2002, S. 139). Erst in Anlehnung an die<br />

französische Revolution wird auch hier große<br />

Aufklärungsarbeit geleistet (vgl. Thomas Ganz<br />

1994, S. 33).<br />

Karl Philipp Moritz schreibt in seinem Roman<br />

1786: Nach einem Abend einer Laterna magica<br />

Aufführung: “Da sie aber am Morgen aufstanden,<br />

da waren all die schönen Bilderchen aus<br />

der Zauberlaterne verschwunden, die kahle<br />

Wirklichkeit mit allen ihren unvermeidlichen<br />

Unannehmlichkeiten stand wieder vor ihrer<br />

Seele da.“ (Zitat nach: Thomas Ganz 1994, S.<br />

79). Er beschreibt hier, wie die Laterne den<br />

Menschen in eine andere Welt eintauchen und<br />

die Rea<strong>lit</strong>ät vergessen lässt. Die Laterne dient<br />

dem gleichen Zweck wie der Guckkasten, der<br />

auch als Fernsehen des 18. Jh. bezeichnet<br />

wurde: Der Unterhaltung. Hier ist eine Übertragung<br />

zur heutigen Zeit zu sehen. Menschen<br />

schalten den Fernsehapparat ein, um die<br />

schreckliche Wirklichkeit um sich herum ‚abzuschalten‘<br />

und tauchen ein in eine ‚schönere‘<br />

Welt in der Schauspieler von Soaps und Filmen<br />

44<br />

Abb. 14 Laterna magica Vorführung. Der Laterna<br />

magica Mann wurde „von der Straße ins<br />

Haus“ geholt. (Zitat s. o.). Radierung von Baron<br />

Francois Joseph Bosio (1768-1845), um 1810.<br />

oben: Mechanische Apparatur zur Erzeugung<br />

von beweglichen Bildern. Mittels einer Kurbel<br />

konnten Teile des Bildes gedreht werden.<br />

oftmals ein heiles oder spannendes Leben spielen.<br />

Sobald der Fernseher abgeschaltet ist, sind<br />

sie wieder mit der Rea<strong>lit</strong>ät konfrontiert.<br />

Wie der Guckkasten wurde auch die Laterna<br />

magica im 19. Jh. in bürgerlichen Häusern zum<br />

Kinderspielzeug. Die Lichtqua<strong>lit</strong>ät und ihre<br />

Umhüllung der Laterne wurde immer weiter<br />

verbessert, bis schließlich ihr Ansehen eine<br />

Wandlung vornimmt. Als metallene Laterne<br />

taucht sie im Bereich der Erziehung und<br />

Bildung auf, wo sie in Klassenzimmern oder bei<br />

Lehrveranstaltungen eingesetzt wird (vgl. Bodo<br />

von Dewitz, Werner Nekes 2002, S. 143).<br />

Man kennt sie heute als Dia-Projektor vornehmlich<br />

in Schulen, wo sie seit der zweiten Hälfte<br />

des 19. Jh. als Unterrichts- und Belehrungsmittel<br />

benutzt wird. Ebenfalls fand sie ihre Funktion<br />

als volkshygienische und missionarische<br />

Aufklärung (vgl. Thomas Ganz 1994, S. 76).<br />

Die Laterne hat somit ihr Bild von Unwissenschaftlichkeit<br />

und Trivia<strong>lit</strong>ät zur Wissenschaftlichkeit<br />

und ihre Funktion von Schaulust und<br />

Unterhaltung zu Erziehungs- und Bildungszwecken<br />

erfolgreich gewandelt. Im Gegensatz zur<br />

Kupferstichbildproduktion, werden die heutigen<br />

Dias mit Hilfe fotografischer Verfahren auf<br />

das „Glas“ gebannt.


Abb. 15 Zeichnung einer Phantasmagorien-Vorführung<br />

von<br />

E. G. Robertson.<br />

Abb. 16 Einsatz der Laterna<br />

magica in einer Theateraufführung.<br />

Durch die Projektion<br />

auf einen im 45°-Winkel<br />

installierten Spiegel erscheint<br />

das Gespenst aus der Sicht des<br />

Zuschauers auf der Bühne.<br />

Abb. 17 Frontansicht der Theaterleinwand.<br />

Das Gespenst<br />

der Laterna magica Projektion<br />

scheint mit dem Darsteller auf<br />

der Bühne zu kämpfen.<br />

Abbildungen<br />

Abb.1 Hans Reichardt 1993,<br />

S. 7<br />

Abb. 2 Holzschnitt in: „De radio<br />

astronomico & geometrico“,<br />

Antwerpen 1545, aus:<br />

Thomas Ganz 1994, S. 20,<br />

unten<br />

Abb. 3 In: Mario Bettini,<br />

Apiaria Universae<br />

Philosophiae Mathematicae.<br />

Bologna 1642, S. 38, aus:<br />

Bodo von Dewitz, Werner<br />

Nekes 2002, S. 40, oben<br />

Abb. 4 Bodo von Dewitz,<br />

Werner Nekes 2002, S. 37,<br />

oben<br />

5. Die Anfänge der Fotografie<br />

1725 stellt der Anatomieprofessor Johann<br />

Heinrich Schulze durch Zufall fest, dass Silbernitrat<br />

durch Lichteinwirkung geschwärzt wird<br />

(vgl. Thomas Ganz 1994, S. 89). Er heftete<br />

Buchstabenschablonen auf ein Glasgefäß mit<br />

der lichtempfindlichen Substanz und einem<br />

breiigen Kreidegemisch und belichtete diese.<br />

Für kurze Zeit entstanden im Glas lesbare Buchstaben<br />

(vgl. Jutta Hülsewig-Johnen, Gottfried<br />

Jäger, J. A. Schmoll gen. Eisenwerth 1989, S.<br />

22), danach schwärzte sich jedoch das ganze<br />

Gemisch. Dieses Wissen über lichtempfindliche<br />

Substanzen wurde jedoch erst Ende des 18. Jh.<br />

in Zusammenhang mit dem Camera obscura<br />

Prinzip betrachtet. Der englische Forscher<br />

Thomas Wedgwood und der französischer<br />

Marineoffizier Nicéphore Niépce arbeiteten an<br />

dem fotografischen Verfahren. Jedoch gelang<br />

es ihnen noch nicht, das Bild zu fixieren, so dass<br />

es sich bei erneuter Lichteinwirkung gänzlich<br />

schwärzte (vgl. Thomas Ganz 1994, S. 89).<br />

Niépce gelang es 1826 einen Kupferstich durch<br />

Sonneneinwirkung auf eine zuvor mit Silbernitrat<br />

beschichtete Zinnplatte zu reproduzieren<br />

(vgl. Jutta Hülsewig-Johnen, Gottfried Jäger, J.<br />

A. Schmoll gen. Eisenwerth 1989, S. 22).<br />

Die Beiden sind nicht die einzigen, die zu jener<br />

Zeit an dem fotografischen Verfahren interessiert<br />

sind. Der Wunsch, die Abbildung der Wirklichkeit<br />

festzuhalten, scheint nun der Einlösung<br />

immer näher zu rücken.<br />

In dem Geschäft des damals berühmten Optikers<br />

Charles Chevalier in Paris lernt Nicéphore<br />

Niépce 1827 den französische Theatermaler<br />

und Schausteller und Erbauer des Dioramas<br />

Jaques Louis Mandé Daguerre kennen (vgl.<br />

Thomas Ganz 1994, S. 89). Ab 1828 arbeiten<br />

sie gemeinsam (vgl. Bodo von Dewitz, Werner<br />

Nekes 2002, S. 52/53).<br />

Dagurre schafft es, die Fotos 1838 zu fixieren,<br />

die Bilder nach seinem Verfahren werden Daguerrotypien<br />

genannt (vgl. Thomas Ganz 1994,<br />

S. 90). Dagurres Erfolg und die Begeisterung<br />

der Menschen wird 1839 ersichtlich, als sein<br />

Verfahren in Frankreich bekannt gegeben wird:<br />

Eine Stunde danach sind die Optikergeschäfte<br />

voll mit Kunden, die Daguerresche Apparate<br />

erwerben möchten (vgl. ebd., S. 91).<br />

Auch der englische Naturwissenschaftler<br />

William Henry Fox Talbot sehnt sich danach,<br />

die Abbilder der Wirklichkeit festzuhalten. Sein<br />

Misserfolg im Zeichnen mit optischen Hilfsmitteln<br />

bringt ihn 1833 auf die Idee, ebenfalls am<br />

fotografischen Verfahren zu arbeiten. Schnell<br />

kommt er zu dem Schluss, dass die Projektion<br />

nichts anderes ist als eine Abfolge von unterschiedlichen<br />

Helligkeitsgraden. Talbots Wissen<br />

über lichtempfindliche Materialien bringt ihn<br />

innerhalb weniger Monate dazu, Silbernitrat<br />

als eine besonders lichtempfindliche Substanz<br />

herauszustellen.<br />

Da die Linse für seine Versuche zu wenig lichtdurchlässig<br />

ist, macht er seine ersten Versuche<br />

45<br />

Abb. 18 Daguerreotypie auf versilberter Kupferplatte,<br />

etwa um 1845.<br />

Abb. 19 Zeitgenössische Nachbildung einer<br />

Kamera für Daguerrotypen. 50X37x32 für das<br />

Bildformat: 16x22 cm. Schärfe durch Verschiebung<br />

der beiden in einander gleitenden<br />

Kastenhälften. Expositionszeit anfänglich 5 – 12<br />

min.<br />

Abb. 20 Erstes Foto, das noch existiert, von<br />

Niépce 1826. Es wurde ca. 8 Std. auf einer Kupferplatte<br />

belichtet.


Abb. 5 Thomas Ganz 1994,<br />

S. 23, oben, rechts<br />

Abb. 6 Erfinder: Georg<br />

Friedrich Brander,<br />

Mechanicus zu Augsburg<br />

(1713 – 1783), „Kurze<br />

Beschreibung einer<br />

ganz neuen Art einer<br />

Camera obscurae“ 1767,<br />

aus: Thomas Ganz 1994,<br />

S. 21, unten<br />

Abb. 7 Bodo von Dewitz,<br />

Werner Nekes 2002, S. 92,<br />

oben<br />

Abb. 8 Bodo von Dewitz,<br />

Werner Nekes 2002, S. 90,<br />

oben<br />

Abb. 9 Thomas Ganz 1994,<br />

S. 64, oben, rechts<br />

Abb. 10 Bodo von Dewitz,<br />

Werner Nekes 2002, S. 113,<br />

unten<br />

Abb. 11 in: Albert A. Hopkins,<br />

Magic. Stage Illusions And<br />

Scientific Diversions, London<br />

1897, S. 357. Aus: Bodo von<br />

Dewitz, Werner Nekes<br />

2002, S. 284<br />

Abb. 12 Thomas Ganz 1994,<br />

S. 26<br />

Abb. 13 in: Petrus<br />

Musschenbroek :<br />

„Grundlehren der<br />

Naturwissenschaft“, der<br />

ersten deutschen<br />

Musschenbroek-<br />

Übersetzung, Leipzig 1747.<br />

Aus: Thomas Ganz 1994,<br />

S. 33<br />

Abb. 14 In: „Cris de Paris<br />

dessinés d‘après Nature,<br />

par M. Poisson“, Paris ca.<br />

1775. Aus: Thomas Ganz<br />

1994, S. 40, links<br />

Abb. 15 Thomas Ganz 1994,<br />

S. 38, unten<br />

Abb. 16 in: Robertsons<br />

Mémoires, Paris 1840.<br />

Aus: Thomas Ganz 1994,<br />

S. 41, unten<br />

Abb. 17 Hans Reichardt 1993,<br />

S. 30, oben<br />

Abb. 18 Hans Reichardt 1993,<br />

S. 30, unten<br />

Abb. 19 Hans Reichardt 1993,<br />

S. 13, oben, links<br />

Abb. 20 Hans Reichardt 1993,<br />

S. 12<br />

Abb. 21 Jutta Hülsewig-<br />

Johnen, Gottfried Jäger, J.<br />

A. Schmoll gen. Eisenwerth<br />

1989, S. 49, oben<br />

Abb. 21 Fotogramm bzw. Kalotypie eines Spitzenstoffes. Faksimile nach William Henry Fox Talbots<br />

sehr verblasstem Original von 1840. 16,9 x 20,8 cm. Aufgenommen durch Steffen Wolff.<br />

in Form von Fotogrammen (vgl. Bodo von<br />

Dewitz, Werner Nekes 2002, S. 52/53)<br />

(s. Bild 21). Er bildete Blüten, Stängel, Blätter<br />

und Spitzenstoffe ab und nennt sie Photogenic<br />

drawings = Photogenische, durch Licht<br />

entstandene Zeichnungen (vgl. Jutta Hülsewig-Johnen,<br />

Gottfried Jäger, J. A. Schmoll gen.<br />

Eisenwerth 1989, S. 11).<br />

Im Unterschied zu eigentlichen <strong>Schatten</strong>bildern<br />

erzeugt die größte Lichtstärke beim Fotogramm<br />

die tiefste Schwärze und die hellen Abbildungen<br />

sind ihrer Entstehung nach <strong>Schatten</strong>bilder<br />

(vgl. ebd., S. 16/ 17).<br />

Das Negativ-Positiv-Verfahren, das wir heute<br />

von der analogen Fotografie kennen, basiert<br />

auf der Arbeit Talbots. Sein Verfahren nennt er<br />

Kalotypie, oder auch Talbotypie. Im Gegensatz<br />

zu seinen Vorgängern benutzt er statt Glas-<br />

oder Metallplatten beschichtetes Papier (vgl.<br />

ebd., S. 11).<br />

Das fotografische Verfahren, was Daguerre,<br />

Niépce und Talbot entwickelten hatten,<br />

hatte zwar dazu beigetragen, dass ein Abbild<br />

geschaffen wurde, jedoch hatten sie alle drei<br />

zu Beginn ihrer Versuche mit Sicherheit eines<br />

nicht bedacht: Dass sie nicht die natürlichen<br />

Farben wiedergeben konnten. Stattdessen<br />

mussten sie sich mit einer Grauskala zufrieden<br />

geben (vgl. Thomas Ganz 1994, S. 90).<br />

46


Kerstin Kaufhold<br />

Inhalt<br />

1 Zur Camera obscura<br />

2 Thomas Bachler<br />

3 Vera Lutter<br />

4 Günter Derleth<br />

5 Im Inneren der<br />

Camera obscura<br />

Quellen<br />

Abb. 2: Wirkungsweise der<br />

Camera obscura<br />

Auf dem Kopf und<br />

seitenverkehrt:<br />

Arbeiten mit der Camera obscura<br />

Abbildung 1: Auf dem Kopf stehendes und seitenverkehrtes Bild in einer Lochkamera<br />

1 Zur Camera obscura<br />

„Die Camera obscura (lat. »dunkle Kammer«) ist<br />

die Urform der fotografischen Aufnahmekamera.“<br />

(Jäger 1996, S. 24). Obwohl sie technisch<br />

nicht im Geringsten mit den heutigen Kameras<br />

mithalten kann, wird sie noch von vielen Künstlern<br />

gern verwendet, da sie sich dadurch dem<br />

Fortschritt entziehen und wieder mit einfachsten<br />

Mitteln umgehen können. Die Lochkamera<br />

funktioniert relativ einfach: Wenn Licht durch<br />

eine sehr kleine Öffnung fällt, verwandelt es<br />

diesen Durchlass in eine Lochblende. Demzufolge<br />

wird das Innere des Raumes nicht wie<br />

üblicherweise erhellt. Stattdessen wird ein verkehrt<br />

herum gestelltes Abbild der Außenwelt<br />

im Inneren reflektiert (vgl. Bachler 2001, S. 8).<br />

Ganz (1994, S. 13) beschreibt diesen Vorgang<br />

folgendermaßen: „Durch ein kleines Loch fällt<br />

das Tageslicht in den geschlossenen Kasten der<br />

Camera obscura. Das Abbild der Aussenwelt<br />

erscheint Kopf stehend und seitenverkehrt auf<br />

der gegenüberliegenden Kastenwand.“ Durch<br />

diese und weitere Kennzeichen der Lochkamera<br />

ist es für Künstler immer wieder interessant,<br />

mit ihr zu arbeiten und stets neue Wege zu<br />

gehen. Durch unterschiedliche Handhabungen<br />

und Bauweisen können die abwechslungsreichsten<br />

Werke entstehen. Und diese Vielfalt<br />

möchte ich an einigen Beispielen von Künstlern<br />

vorstellen. Beginnen möchte ich mit Arbeiten<br />

von Thomas Bachler, der sich in sehr vielfältiger<br />

Weise mit der Lochkamera auseinander setzt.<br />

Immer wieder probiert er die Technik und<br />

damit sich selbst aus und entwirft neue Ideen<br />

47<br />

und Zugänge. In der folgenden Arbeit werden<br />

mehrere Serien von ihm präsentiert. Im<br />

Anschluss daran werde die Künstler Vera Lutter<br />

und Günter Derleth vorstellen. Da ich zu ihnen<br />

kaum Literatur gefunden habe, werde ich je<br />

nur ein Projekt beschreiben. Abschließend<br />

möchte ich einige Werke von Abelardo Morell<br />

zeigen, um zu verdeutlichen, wie es tatsächlich<br />

in einer Camera obscura aussieht.<br />

2 Thomas Bachler<br />

Thomas Bachler, 1961 geboren, ist ein sehr<br />

vielseitiger Künstler.„Schwerpunkt seiner künstlerischen<br />

Arbeit sind [jedoch] die sogenannten<br />

experimentellen Fototechniken, insbesondere<br />

Fotogramm und Camera obscura. Zahlreiche<br />

Ausstellungen und Veröffentlichungen im<br />

In- und Ausland weisen ihn als Experten für die<br />

künstlerische Dimension der Camera obscura<br />

aus.“ (Bachler 2001, S. 95) Im nun folgenden<br />

Teil meiner Arbeit werde ich einige ausgewählte<br />

Serien von ihm näher vorstellen.<br />

2.1 Reiseerinnerungen<br />

„Eine Paket–Lochkamera, auf Reisen geschickt,<br />

verhält sich durchaus touristisch: sie fotografiert<br />

ihren Ausflug.“ (Bachler 2001, S. 35) Der Unterschied<br />

ist jedoch, dass diese Kamera nicht, wie<br />

viele Reisende Dutzende von Fotos mit nach<br />

Hause bringt, sondern lediglich ein einziges.<br />

Und auf diesem einen „Schnappschuss“ wird<br />

die gesamte Reisezeit festgehalten. Die Rede ist<br />

hier von Bachlers Reiseerinnerungen, die 1985<br />

entstanden. Für die zwölf Motive baute er eine


Abb. 3: Eine der verwendeten<br />

Lochkameras.<br />

Abb. 4: Von Hannover nach<br />

Kassel<br />

Abb. 5: Von Frankfurt nach<br />

Kassel<br />

Abb. 6: Neben den Bahngleisen<br />

Abb. 7: Schulhof<br />

Lochkamera, welche gleichzeitig ein Postpaket<br />

darstellte und die für wenige Tage in Deutschland<br />

unterwegs war. Das Paket nahm seine Reise<br />

beispielsweise von Bonn, München, Berlin,<br />

Köln, Essen oder Bremen nach Kassel )Abb. 3).<br />

Die Belichtung des Bildes beginnt mit der<br />

Abgabe am Postschalter und endet erst nach<br />

etwa zwei Tagen an der Haustür des Empfängers<br />

Thomas Bachler. Demzufolge bringt das<br />

Päckchen eine Langzeitbelichtung der Reise mit<br />

nach Hause, welche zufälliger Art ist, da durch<br />

das Verschicken jegliche Kontrolle der Motivsuche<br />

verloren geht (Abb. 4 und 5). Aus diesem<br />

Grund ist es auch völlig absurd etwas in diese<br />

Bilder hineininterpretieren zu wollen. Jeglicher<br />

Versuch des Verstehens wäre zum Scheitern<br />

verurteilt.<br />

2.2 Tatorte – geschossene Camera obscura<br />

Fotografien<br />

Wenn hier die Rede von „geschossenen“<br />

Lochkamera-Fotografien ist, dann ist dieses<br />

ausnahmsweise wörtlich zu nehmen. Die 22 im<br />

Jahr 1995 entstandenen Bilder nahmen ihren<br />

Anfang in einer geschlossenen Camera obscura,<br />

die mit Hilfe eines Pistolenschusses<br />

geöffnet wurde. „Der Auslöser der Waffe ist<br />

Auslöser der Kamera – durch den Schuss wird<br />

der Ort zum Tatort.“ (Bachler 2001, S. 51)<br />

Erst durch den Schuss wird aus einer einfachen<br />

Kiste eine Lochkamera, wobei darauf geachtet<br />

werden muss, die Lochblende wieder zu schließen,<br />

um das Bild zu sichern. Die Kugel geht<br />

durch die Vorder- und Rückseite des Behältnisses<br />

und trifft dabei auch das Negativ, welches<br />

durch das Einschussloch das Zeichen der<br />

Tat festhält. Als Schauplätze wählt Bachler<br />

möglichst belanglose Orte, die eigentlich von<br />

den Menschen kaum noch wahrgenommen<br />

werden, wie beispielsweise Parkplätze, Bahnhöfe<br />

oder Grünanlagen. Diese Orte werden erst<br />

dann wieder bemerkt und betrachtet, wenn<br />

sich plötzlich auf dem Bild eines Schulhofes ein<br />

Einschussloch befindet und rund herum keine<br />

Menschenseele zu sehen ist. Dann erst werden<br />

wir zum Nachdenken angeregt (Abb. 6 und 7).<br />

2.3 Am Fenster<br />

„Jedes Zimmer ist mehr oder weniger eine<br />

camera obscura: ein dunkler Raum mit einem<br />

Fenster als Öffnung zur Außenwelt.“ (Bachler<br />

2001, S. 61) Aus diesem Grund denkt Bachler in<br />

seinem Projekt Am Fenster über das Verhältnis<br />

von Innen- und Außenwelt nach. In den etwa<br />

250 Bildern, die seit 1999 entstanden sind, zeigt<br />

er Innen- und Außenraum zugleich, indem er<br />

die Kamera dazwischensetzt (Abb. 8 und 9)<br />

Auf einem Fensterbrett eines geöffneten<br />

Fensters platziert er seine Lochkamera, welche<br />

dann die Trennung der beiden Räume darstellt,<br />

trotzdem aber die „Innenwand des Interieurs<br />

wie die Außenwand des jeweiligen Hauses“<br />

(Bachler 2002, S. 13) in einem Bild festhält.<br />

„Mit ihrer Weitwinkelperspektive – einer<br />

gebogenen Rückwand im Innern der Camera<br />

obscura – ahmt die Kamera die Raumschleife<br />

48<br />

Abb. 8: Treppenhaus in der Innenstadt<br />

Abb. 9: Teehäuschen an der Dammaschwiese<br />

zwischen Innen und Außen nach.“ (Bachler<br />

2002, S. 13)<br />

2.4 Bon Voyage!<br />

Für das Projekt Bon Voyage!, zu dem 1998 15<br />

Motive entstanden, baute Bachler einen LKW<br />

zu einer fahrenden Lochkamera um. Während<br />

der Reise mit diesem Fahrzeug wurde die zurückgelegte<br />

Strecke, welche je nach Licht- und<br />

Wegverhältnissen zum Teil bis zu 100 Kilometer<br />

lang war, aufgenommen. „Das Fahrtziel war<br />

immer der Fluchtpunkt, doch der entzog sich<br />

konsequent dem Erreichen.“ (http://www.thomasbachler.de/german/themen/obscura/o<br />

bscura.htm). Für die Fotos wurde Filmmaterial<br />

verwendet, welches nur für dieses Projekt<br />

angefertigt wurde. Sie scheinen nachts aufgenommen<br />

zu sein, vereinen trotzdem Licht und<br />

Finsternis in sich. Gleichzeitig scheint es keinen<br />

Abb. 10: Bon Voyage!


Abb. 11: Bon Voyage!<br />

Abb. 12: Selbstportrait<br />

Abb. 13: Selbstportrait<br />

Quellen<br />

Bachler, Thomas: Arbeiten mit<br />

der Camera obscura, Kassel,<br />

2001<br />

Derleth, Günther: Venedig.<br />

Camera obscura, Zürich,<br />

2000<br />

Ganz, Thomas: Die Welt im<br />

Kasten, Zürich, 1994<br />

Jäger, Gottfried: Primärform<br />

fotooptischer Gestaltung:<br />

die Camera obscura. In: Zwi<br />

schenzeit – Camera obscura<br />

im Dialog, Siegen, 1996<br />

Lutter, Vera: Light in Transit,<br />

Berlin, 2002<br />

Bachler, Thomas: Kunst und<br />

Fotografie, http://thomas<br />

Unterschied zwischen Bewegung und Stille<br />

zu geben (Abb. 10 und 11). „Thomas Bachler<br />

hat mit seiner Serie Langzeitbelichtungen und<br />

Langzeitfahrten [...] jeweils zu einem einzigen<br />

Bild des Straßenraums [...] verdichtet.“ (Bachler<br />

2001, S. 14)<br />

2.5 Das dritte Auge<br />

Thomas Bachler hatte die Idee, sich selbst als<br />

Kamera zu dienen. Dazu legte er ein Stück Film<br />

in den Mund und öffnete ihn kurz, um ihn als<br />

Lochblende zu nutzen. In dieser Art machte<br />

er 1999 etwa 50 Selbstportraits. Bachler selbst<br />

sagt über das Projekt: „Meinen eigenen Körper<br />

als Kamera nutzend, trat ich mit einem Stück<br />

Fotopapier im Mund vor den Spiegel. Die leicht<br />

geöffneten Lippen funktionierten als Lochblende<br />

und nahmen das Spiegelbild auf – ein Bild<br />

von mir in mir.“ (http://www.thomasbachler.<br />

de/german/themen/obscura/ob scura.htm)<br />

(Abb. 12 und 13). Kamera und Fotograf sind in<br />

dieser Serie eins. So ist die Kamera, wie eigentlich<br />

bei Selbstportraits vor dem Spiegel, nicht<br />

sichtbar, sie bleibt verborgen. „Oder erscheint<br />

die Kamera nicht doch in diesem Selbstportrait?<br />

Schließlich ist der Kopf das Gehäuse der Kamera,<br />

Aufnahmeraum die Mundhöhle, „Objektiv“<br />

der geschürzte Mund.“ (Bachler 2001, S. 15).<br />

In dieser Serie jedoch entstanden nicht nur<br />

Portraits des Künstlers selbst, sondern auch<br />

Aktaufnahmen, für die sich Bachler mit dem<br />

Filmstück vor Modellen postierte. Zwischen<br />

1998 und 2000 entstanden so acht Motive, in<br />

den hauptsächlich die Licht- und <strong>Schatten</strong>zonen<br />

in den Vordergrund treten und nicht die<br />

Umrisse des Körpers (Abb. 14und 15).<br />

Abb. 14: und 15 Aktaufnahmen<br />

3 Vera Lutter<br />

Die 1960 geborene Künstlerin Vera Lutter<br />

fotografiert unterschiedliche Formen von Beförderungsmitteln.<br />

In ihrem Langzeitprojekt „Void<br />

Transfer“ beschäftigt sie sich mit der Mobi<strong>lit</strong>ät in<br />

der heutigen Zeit. In dieser Arbeit möchte ich<br />

jedoch nur einen Ausschnitt dieses Projektes<br />

vorstellen. Lutter gibt diesem Teil, in welchem<br />

sich alles um den Frankfurter Flughafen dreht,<br />

den Namen „Light in Transit“.<br />

3.1 Light in Transit<br />

Lutter fotografiert in ihrem Projekt Flugzeuge<br />

auf dem Frankfurter Flughafen. „Was das<br />

Papier einfängt, hängt davon ab, wie lange<br />

das Objekt im »Blickfeld« bleibt. Leute, die sich<br />

schnell bewegen, verschwinden. Gebäudeteile<br />

49<br />

hingegen zeichnen sich messerscharf im Licht<br />

des Negativs ab.“ (Lutter 2002, S. 51) Durch<br />

dieses Phänomen herrscht auf den Bildern<br />

von einem der belebtesten Flughäfen der Welt<br />

völlige Stille. Als Kamera wählt Lutter Behältnisse<br />

aus, die assoziativ mit dem Reisen verknüpft<br />

sind. Bei kleineren Fotos entschied sie sich für<br />

einen alten Reisekoffer, in dem das Fotopapier<br />

direkt befestigt war. Größere Bilder entstanden<br />

in Containern, die zum Verschicken von Waren<br />

genutzt werden. Das Fotopapier, welches sich<br />

in diesen Kameras befand, war bis zu 148 cm<br />

breit. Teilweise brachte Lutter auch drei dieser<br />

Bahnen nebeneinander an, um größere Werke<br />

zu erhalten (Abb. 16). Die Fotos wurden zwi-<br />

Abb. 16: Frankfurt Airport IV<br />

schen dem 1. April und dem 20. Mai 2001 aufgenommen<br />

und hatten eine äußerst ausführliche<br />

Belichtungszeit. Zwischen zwei Stunden<br />

und fünf Tagen stellte die Künstlerin ihre Kameras<br />

vor dem zu fotografierenden Gegenständen<br />

auf. „Die extrem lange Belichtungszeit lässt eine<br />

Situation entstehen, die sowohl Traum als auch<br />

Wachheit kennt, derweil das kleine Loch alles<br />

Licht in sich bündelt und es auf dem Fotopapier<br />

fixiert.“ (Lutter 2002, S. 53) (Abb. 17 und 18).<br />

Abb. 17: Frankfurt Airport VIII<br />

Abb. 18: Frankfurt Airport, Engine


achler.de<br />

/german/themen/obscura/<br />

obscura.htm, Stand<br />

26.03.2007<br />

Ohne Autor: Abelardo Morell<br />

– Photographs, http://www.<br />

abelardo<br />

morell.net/camera_ob<br />

scura1.html, 2005, Stand<br />

28.03.2007<br />

Ohne Autor: arte fino, http://<br />

www.artefino.ch/ARTISTS/<br />

Guenter_<br />

Derleth/derleth_bio_frame.<br />

html, Stand 28.03.2007<br />

Abbildungen<br />

Abb. 01: Ohne Autor: http://<br />

www.lonet.de/home/1wolf/<br />

geogebra/<br />

lochkamera.html, Stand<br />

26.03.2005<br />

Abb. 02: Krahmer: Multimedia<br />

Physik, http://www.schul<br />

physik.de<br />

/java/lochkamera.html,<br />

30.05.2006, Stand<br />

26.03.2007<br />

Abb. 03: Camera obscura als<br />

Postpaket. In: Bachler, Tho<br />

mas:<br />

Arbeiten mit der Camera<br />

obscura, Kassel, 2001, S. 34<br />

Abb. 04: Thomas Bachler: Von<br />

Hannover nach Kassel, Unikate<br />

(Barytpapiernegative), 21 x<br />

29,5 cm, 1985<br />

Abb. 05: Thomas Bachler: Von<br />

Frankfurt nach Kassel, Unika-<br />

te (Barytpapiernegative),<br />

21 x 29,5 cm, 1985<br />

Abb. 06: Thomas Bachler: Ne<br />

ben den Bahngleisen, Abzü<br />

ge auf Barytpapier,<br />

selengetont, ca. 17 x 23 cm,<br />

1995<br />

Abb. 07: Thomas Bachler: Schul<br />

hof, Abzüge auf Barytpapier,<br />

selengetont,<br />

ca. 17 x 23 cm, 1995<br />

Abb. 08: Thomas Bachler:<br />

Treppenhaus in der Innen<br />

stadt, Kontaktkopien<br />

auf Barytpapier, 20,5 x 25<br />

cm, 1999<br />

Abb. 09: Thomas Bachler:<br />

Teehäuschen an der Dam<br />

maschwiese,<br />

Kontaktkopien auf Barytpa<br />

pier, 20,5 x 25 cm, 1999<br />

Abb. 10: Thomas Bachler: Bon<br />

Voyage!, S/W-Film, 105 x<br />

150 cm, 1998<br />

Abb. 11: Thomas Bachler:<br />

Abb. 19: Canale di San Marco<br />

4 Günter Derleth<br />

Der 1941 geborene Günter Derleth arbeitet seit<br />

1993 intensiv mit der Lochkamera. „Den technischen<br />

Ballast hinter mir lassen, wieder sehen<br />

und fühlen lernen. - So begründet der Fotograf<br />

Günter Derleth seine Faszination für die archaische<br />

Lochkamera.“ (http://www.artefino.ch/<br />

ARTISTS/Guenter_Derleth/derle th_bio_frame.<br />

html) Unter anderem entstanden die Projekte<br />

„Cinque Terre”, „Ruta de la Plata”, „Botanik I und<br />

II” mit der Camera obscura. Seine wohl bekannteste<br />

Serie aber werde ich nun näher vorstellen.<br />

4.1 Venedig<br />

Wie der Titel schon vermuten lässt, zeigt die<br />

Serie Venedig Fotos der Lagunenstadt. „Wer<br />

schon einmal in Venedig gewesen ist, bei dem<br />

Abb. 21: Canal Grande<br />

50<br />

Abb. 20: Fondamenta dei Frari<br />

werden diese [Bilder] eine zauberhafte und<br />

geheimnisvolle Erinnerung wachrufen; für alle<br />

anderen werden sie eine unwiderstehliche<br />

Einladung sein, eine der wohl verlockendsten<br />

Städte der Welt zu besuchen. Der Fotograf<br />

Günter Derleth hat die Essenz und den Geist<br />

dieser Verlockung eingefangen [...].“ (Derleth<br />

2000, S. 4) Fotografiert hat er die Stadt nicht<br />

mit einer selbst gebauten Lochkamera, sondern<br />

mit „The Robert Rigby Pinhole Cameras“.<br />

Das besondere der Camera obscura ist, dass<br />

das Loch Dinge sieht, die der Linse verborgen<br />

bleibt. Durch den Umstand, dass ein Sucher<br />

gänzlich fehlt, zeigen die Bilder immer wieder<br />

ein überraschendes Element, erst nach dem<br />

Entwickeln kann der Fotograf sagen, was er<br />

eigentlich fotografiert hat. Immer wieder ist er<br />

Abb. 22: Campo San Stefano, vetrina


Bon Voyage!, S/W-Film,<br />

105 x 150 cm,<br />

1998<br />

Abb. 12: Thomas Bachler:<br />

Das dritte Auge - Selbst<br />

portrait: Unikate<br />

auf S/W-Positivpapier, ca.<br />

3,5 x 5 cm, 1999<br />

Abb. 13: Thomas Bachler:<br />

Das dritte Auge - Selbst<br />

portrait: Unikate<br />

auf S/W-Positivpapier, ca.<br />

3,5 x 5 cm, 1999<br />

Abb. 14: Thomas Bachler:<br />

Das dritte Auge - Aktauf<br />

nahmen: Abzüge<br />

auf Barytpapier, 60 x 50<br />

cm, 1998-2000<br />

Abb. 15: Thomas Bachler:<br />

Das dritte Auge - Aktauf<br />

nahmen: Abzüge<br />

auf Barytpapier, 60 x 50<br />

cm, 1998-2000<br />

Abb. 16: Vera Lutter: Frank<br />

furt Airport IV: April 13,<br />

2001,<br />

ca. 218 cm x 426 cm<br />

Abb. 17: Vera Lutter: Frank<br />

furt Airport VIII: April 28,<br />

2001,<br />

208 cm x 142 cm<br />

Abb. 18: Vera Lutter: Frank<br />

furt Airport, Engine: April<br />

19,<br />

2001, ca. 48 cm x 56 cm<br />

Abb. 19: Günter Derleth:<br />

Canale di San Marco,<br />

2000<br />

Abb. 20: Günter Derleth:<br />

Fondamenta dei Frari,<br />

2000<br />

Abb. 21: Günter Derleth:<br />

Canal Grande, 2000<br />

Abb. 22: Günter Derleth:<br />

Campo San Stefano, vetri<br />

na, 2000<br />

Abb. 23: Abelardo Morell:<br />

Camera Obscura Image of<br />

Boston‘s Old<br />

Customs House in Hotel<br />

Room, Boston, MA, 1999<br />

Abb. 24: Abelardo Morell:<br />

Camera Obscura Image of<br />

The Philadelphia<br />

Museum of Art East Ent<br />

rance in Gallery #171<br />

with a deChirico Painting,<br />

2005<br />

Abb. 25: Abelardo Morell:<br />

Camera Obscura Image of<br />

Tuscan Landscape<br />

in Large Bedroom, Flo<br />

rence, Italy, 2000<br />

ahnungslos, weiß nicht, was das Negativ letztlich<br />

festhält. Ein weiteres Merkmal der Kamera<br />

ist, dass durch die lange Belichtungszeit bewegte<br />

Gegenstände nicht erfasst werden oder<br />

durchsichtig erscheinen. So kommt es dazu,<br />

dass Derleths Bilder ein Venedig zeigen, wie es<br />

wohl kaum jemand kennt: Die Stadt ist menschenleer,<br />

nichts rührt sich, selbst das Wasser<br />

zeigt keinerlei Bewegung. „Durch seine eigene<br />

innere Vision hat der Fotograf mehr eingefangen<br />

als nur Venedig als Objekt [...]. Hier finden<br />

wir ein Venedig vor, das eng mit den persönlichen<br />

Erlebnissen, mit Träumen, Geheimnissen,<br />

Erinnerungen, mit einer ganzen Palette von<br />

menschlichen Gefühlen verknüpft sind.“ (Derleth<br />

2000, S. 4) (Abb. 19 und 20). Nichts scheint<br />

real auf diesen Bildern, es stellt eher Illusionen<br />

eines Ortes dar, der nicht zu existieren scheint.<br />

Und diese Wirkung entsteht vor allem durch<br />

die Arbeit mit der Lochkamera, denn „[d]as Bild<br />

entsteht während der Aufnahme, nicht durch<br />

nachträgliche Bearbeitung. Es ist ein stilles<br />

Bild, das Ruhe und Besinnung voraussetzt und<br />

ausstrahlt. [...] Die Arbeit mit der Lochkamera,<br />

der Camera obscura, führt zurück zu den<br />

fotografischen Wurzeln und ist daher vielleicht<br />

die ideale Technik, um der außergewöhnlichen<br />

Stimmung Venedigs gerecht zu werden.“<br />

(http://www.artefino.ch/ARTISTS/Guenter_De<br />

rleth/derleth_bio_frame.html) (Abb. 21 und<br />

22).<br />

5 Im Inneren der Camera obscura<br />

Abschließend möchte ich anhand von einigen<br />

Fotos darstellen, wie man sich das Innere einer<br />

Camera obscura tatsächlich vorstellen kann.<br />

Dazu möchte ich ein paar Fotos des 1948 geborenen<br />

Künstlers Abelardo Morell vorstellen.<br />

Er baute verschiedenste Innenräume, zumeist<br />

Hotelzimmer, zu einer Camera obscura um<br />

und fotografierte diese Räume dann. So kamen<br />

auf einem Bild beispielsweise ein Bett oder ein<br />

Stuhl beziehungsweise eine komplette Einrichtung<br />

mit dem Empire State Building oder der<br />

Tower Bridge zusammen – natürlich auf dem<br />

Kopf und seitenverkehrt (Abb. 23 , 24 und 25).<br />

51<br />

Abb. 23: Camera Obscura Image of Boston‘s<br />

Old Customs House in Hotel Room<br />

Abb. 24: Camera Obscura Image of The Philadelphia<br />

Museum of Art East Entrance in Gallery<br />

#171 with a deChirico Painting<br />

Abb. 25: Camera Obscura Image of Tuscan<br />

Landscape in Large Bedroom


Isabel Herling<br />

Inhalt<br />

1 Einleitung<br />

2 Zur Person<br />

3 Kunst<br />

4. Lichtspiel<br />

Quellen<br />

Abbildungen<br />

Laszlo Moholy-Nagy :<br />

Lichtmodulationen<br />

Abb. 17: Laszlo Moholy-Nagy, „Lichr-Raummoduölator“<br />

1. EINLEITUNG<br />

“Alles menschliche Leben hat seine <strong>Schatten</strong>,<br />

ohne <strong>Schatten</strong> ist nichts menschlich. Aber diese<br />

typische Studiobeleuchtung, dieses ungesundes<br />

Kreuzfeuer von Lichtstrahlen schafft eine<br />

schattenlose Welt, die reizlos ist. Es gibt eine<br />

Wechselwirkung von hervortretenden und zurückweichenden<br />

Formen in jeder Bewegung,<br />

eine von ihnen ist immer unscharf” 1<br />

... war Moholy-Nagys Auffassung nicht nur<br />

als Filmemacher. Für Moholy-Nagy spielte das<br />

Licht eine tragende Rolle in der Verbesserung<br />

der Gesellschaft und des täglichen Lebens. Auf<br />

verschiedene Arten und scheinbar unermüdlich<br />

arbeitete er daran, die Sinne des Menschen<br />

zu sensibilisieren, besonders ihren Sinn für<br />

das Sehbild der Dinge, für optische Reize, für<br />

das Licht-<strong>Schatten</strong>-Spiel und die Räume, die<br />

dadurch entstanden. Das Licht hatte er als sein<br />

Medium erkannt, um Kunstwerke zu entwickeln<br />

und zu kreieren, die irritierten, verzauberten,<br />

aufmerksam machten durch ungewohnte<br />

Kombinationen, Betrachtungsweisen, Positionen<br />

und Erscheinungen. “Die Herstellung einer<br />

spontanen Beziehung zwischen Betrachter und<br />

Objekt wurde das Ziel seiner Arbeit” 2 Als Künstler<br />

der Avantgarde beschäftigte auch er sich<br />

mit der Relativität von Zeit und Raum und Mate-<br />

52<br />

ria<strong>lit</strong>ät und Farbe. Die Darstellung der Lichtbewegung,<br />

diese immaterielle und doch einzige<br />

Konstante, und den durch sie geformten Raum<br />

versuchte er experimentell zu erforschen und<br />

künstlerisch zu verwirklichen. “Der erste [...]<br />

Lichtmodulator war nicht mehr gewesen als<br />

eine Übertragung der malerischen Form auf ein<br />

Medium, das auch den <strong>Schatten</strong> dieser Form<br />

enthielt.” 3 Dabei ging es Moholy-Nagy um die<br />

Modulation der Farbe durch Licht. Die Lichtmodulatoren<br />

waren der Übergang von der<br />

Form zur Bewegung und von der Farbe zum<br />

Licht. 1936 schuf Moholy-Nagy ein kinetisches<br />

Lichtbild, das aus zwei Azetatkunststoff-Blättern<br />

bestand, die mittig an einem Sperrholzhintergrund<br />

angebracht waren, so dass sie sich wie<br />

Buchseiten hin und her bewegen ließen. Dadurch<br />

veränderte sich der Luftraum zwischen<br />

den verschiedenen Schichten des Bildes und<br />

eine Vielzahl an Licht- und Farbkombinationen<br />

konnten erzeugt werden (Abb. 1). Sein nächster<br />

Schritt “war die kinetische Skulptur [...], die<br />

von der Kinetik des Lichtes und der Kinetik der<br />

Bewegung moduliert wird,”. 4 So wie das Licht<br />

das Pigment abgelöst hatte, sollte das feste Volumen<br />

der statischen Skulptur in einen begrenzten<br />

Raum aufgelöst, das Volumen der Skulptur<br />

ein virtuelles werden. In der Bewegung


Abb. 1 Bewegliches Bild mit<br />

Spiralfeder, 1936. Ölbild und<br />

mit Linien eingeritzte Zelluloidplatten,<br />

montiert auf einen gemalten<br />

Hintergrund. Position I<br />

Abb. 2 Plexiglas-Mobile mit<br />

Chromstab an einem Stahldraht<br />

vor schwarzem Hintergrund<br />

aus Tich, 1943<br />

Abb. 3. Mobile Abb. 2 in<br />

Bewegung.. Enstehung eines<br />

virtuellen Volumens<br />

schuf die Form ein Volumen aus reflektiertem<br />

Licht. Diese kinetischen Skulpturen nannte<br />

er Raummodulatoren (Abb. 2/3). Bewegte,<br />

reflektierende Formen und Gegenstände setzte<br />

er auch bei der Fotogrammherstellung ein. Den<br />

‚Licht-Raum-Modulator‘ hatte er zu Beginn als<br />

Modell einer elektrischen Bühne entworfen.<br />

Das Modulieren mit Licht beschäftigte ihn in<br />

allen Gebieten – in Bühnengestaltung, Malerei,<br />

Plastik, Fotografie, Film, Architektur. Für ihn gab<br />

es keine Grenzen zwischen den Bereichen, alles<br />

war Teil seines “Totalexperiments” zwischen<br />

Licht und <strong>Schatten</strong> und in Bewegung.<br />

2 Zur Person<br />

Am 20. Juli 1895 erblickte in Südungarn in Bacbarsod<br />

Laszlo Weisz das Licht der Welt. 1913<br />

nahm er in Budapest sein Jurastudium auf, aber<br />

schon im Jahr darauf leistete er Kriegsdienst in<br />

der österreichisch-ungarischen Armee. Während<br />

eines Lazarettaufenthaltes 1915, als er die<br />

Geschehnisse um ihn herum nicht mehr durch<br />

Schreiben bewältigen konnte, fertigte er die<br />

ersten Kreide- und Tuschzeichnungen an. Das<br />

Jurastudium brach er 1918 ab und arbeitete in<br />

Szeged als Maler. 1922 entstanden zusammen<br />

mit Lucia Moholy-Nagy die ersten Fotogramme<br />

und auch die ersten Skizzen zum ‚Lichtrequisit‘.<br />

Ab dem Frühjahr 1923 lehrte Moholy-Nagy am<br />

Bauhaus in Weimar, dessen Gründer Walter<br />

Gropius ein Gegenmodell zu den traditionellen<br />

Kunstakademien schaffen wollte. In ‚BROOM‘<br />

wurden erstmals Fotogramme von Moholy-<br />

Nagy und Man Ray publiziert. Zusammen mit<br />

Gropius arbeitete Moholy-Nagy 1924 an der<br />

Publikation der ‚Bauhausbücher‘. Im selben<br />

Jahr wurde das Bauhaus in Weimar aufgrund<br />

po<strong>lit</strong>ischen Drucks von rechts aufgelöst. 1925<br />

erschienen die ersten Bauhausbücher, darunter<br />

auch Moholy-Nagys Werk “Malerei-Photographie-Film”.<br />

Noch im selben Jahr übernahm<br />

Dessau das Bauhaus, welches im Dezember<br />

1926 eingeweiht wurde. 1928 verließ Moholy-<br />

Nagy zusammen mit Gropius das Bauhaus, da<br />

er glaubte, dort seine Vorstellungen und Ideale<br />

nicht mehr verfolgen zu können und zog nach<br />

Berlin. Als letztes Bauhausbuch erschien “von<br />

material zu architektur”. In der Pariser Werkbundausstellung<br />

1930 wurde erstmals sein “Lichtrequisit”<br />

als kinetische Skulptur ausgestellt. Der<br />

Film “Lichtspiel schwarz-weiß-grau” entstand.<br />

1937 nahm Moholy-Nagy ein durch Gropius<br />

vermitteltes Angebot an und wurde Leiter der<br />

neu gegründeten Designschule “Association<br />

of Arts and Industries” in Chicago. Die Schule<br />

bekam von ihm den Namen “New Bauhaus”.<br />

Doch schon 1938 wurde das “New Bauhaus”<br />

geschlossen. Das veranlasste Moholy-Nagy<br />

1939 u.a. zusammen mit G. Kepes, H. Bredendiek,<br />

Ch. Morris in Chicago eine eigene “School<br />

of Design” zu gründen. Von 1940 bis 1944<br />

fand der Ausbau der Schule mit modernstem<br />

Programm und bestem Lehrkörper statt. Die<br />

ganze Zeit über verlangte die Finanzierung dieser<br />

Unternehmung, die unsicher blieb, von Moholy-Nagy<br />

ein hohes Engagement. 1944 wurde<br />

53<br />

die Schule zum “Institute of Design” (Hochschule)<br />

umgewandelt. Am 24.11. 1946 starb Laszlo<br />

Moholy-Nagy an Leukämie. Sein Werk “Vision<br />

in Motion” erschien posthum 1947.<br />

Moholy-Nagys Leben als Pädagoge, Gestalter,<br />

Künstler war davon geprägt, Mittel und<br />

Methoden bereitzustellen, mit deren Hilfe die<br />

Sinnesorgane des Menschen sensibilisiert und<br />

geschult werden konnten. Der Mensch sollte<br />

in seiner ganzheitlichen Entwicklung gefördert<br />

werden. Moholy-Nagy wollte die Trennung<br />

von Leben und Arbeit aufheben, wobei er der<br />

Meinung war, dass die Impulse zur Änderung<br />

nur vom schöpferischen Menschen ausgehen<br />

könnten. Diese Ansichten sah Moholy-Nagy<br />

im Selbstverständnis des Bauhauses verwirklicht.<br />

Moholy-Nagy war überzeugt von einer<br />

Lehrmethode, die ein erlebnishaftes Begreifen<br />

des Materials vermittelte, “anstatt Anhäufung<br />

von unfruchtbarem lexikalischen Wissen” 5 . Ihm<br />

ging es darum, dem Spezia<strong>liste</strong>ntum, dem sektorenhaften<br />

Ausbilden einzelner Fähigkeiten<br />

entgegenzuwirken und den Mensch in den Mittelpunkt<br />

zu stellen, nicht die Produktionskraft.<br />

Er hoffte, dadurch würde sich eine humanere<br />

Gesellschaft bilden, in der sich jeder vollständig<br />

einbringen könne. Diese Ideen fanden sich<br />

in der Lehrmethode des ‚Institute of Design‘<br />

wieder:<br />

“Dies ist weniger Schule, vielmehr Labor, in<br />

dem nicht die Ergebnisse zählen, sondern<br />

die Wege auf denen die Ergebnisse erreicht<br />

werden. Jeder Student muss alles geben, was<br />

er hat. Der Maßstab unserer erzieherischen<br />

Bemühungen sind sie [die Studenten] als<br />

menschliche Wesen, nicht in ihrer Eigenschaft<br />

als zukünftige Möbeldesigner oder<br />

Grafiker. Ihr Gehirn, ihre Hände, ihre Emotionen,<br />

ihre Gesundheit – all dies gehört zum<br />

Arbeitsprozess.” 6<br />

3. Kunst<br />

Fotogramme: Erste Fotogramme entstanden<br />

schon im 19. Jahrhundert als William Henry<br />

Fox Talbot flache Objekte (Pflanzen, Spitze) auf<br />

präpariertes lichtempfindliches Papier legte,<br />

so einfache Kontaktbelichtungen von Blättern<br />

und Geweben bereits 1834 herstellte und diese<br />

“Fotogenic drawings” nannte – was so viel<br />

bedeutet wie “mit Licht erzeugte Naturabdrücke”<br />

(Abb. 4). Wie in “Fotografie ohne Kamera”<br />

1920 von dem Biologe Paul Lindner dokumentiert,<br />

waren Fotogramme in der empirischer Biologie<br />

geläufig, denn das Licht brachte auf dem<br />

mit Chromsilber präparierten Papier Ergebnisse<br />

hervor, mit denen Naturerscheinungen<br />

exakt abgebildet und dadurch “beweiskräftig”<br />

wurden. Er nannte seine, in direkter Projektion<br />

durch paralleles Licht auf Fotopapier entstandenen,<br />

Aufnahmen von naturkundlichen Präparaten<br />

“<strong>Schatten</strong>bildphotogramme”. Der Lichtabdruck<br />

wurde in der Amateurfotografie populär,<br />

lange bevor er von Künstlern verwandt wurde.<br />

Anwendung als künstlerisches Ausdrucksmittel<br />

fand er wahrscheinlich erstmals bei 1918 Chris-


Abb. 4 Henry Fox Talbot,<br />

Botanical Specimen, 1839,<br />

„Photogenic drawing“<br />

Abb. 5 Christian Schad,<br />

Renseignement sp/ mo (Schadographie<br />

Nr. 21), Fotogramm<br />

auf Tageslich-Auskopierpapier,<br />

10,8 x 8,9 cm, Genf 1919<br />

Abb. 6 Man Ray, ohne Titel,<br />

Paris 1922; als loses Blatt eingelegt<br />

in die Zeitschrift ‚Les Feuilles<br />

libres‘, Nr. 26, Paris 1922<br />

tian Schad (Abb. 5) und 1921 Man Ray (Abb.<br />

6/ 7), die ohne Kenntnis voneinander arbeiteten.<br />

Nur kurze Zeit darauf begannen Lucia<br />

und Laszlo Moholy-Nagy (1922), sich mit dem<br />

Fotogramm zu beschäftigen, ebenfalls ohne<br />

dass sie von den anderen wussten (Abb. 8/ 9).<br />

Das Fotogramm war als künstlerisches Medium<br />

noch völlig unverbraucht und besaß durch<br />

das einfache zugrunde liegende Verfahren<br />

die Sprengkraft, die traditionelle Kunstpraxis<br />

herauszufordern. Die gezielte Einbeziehung der<br />

Technik in die Kunst und der neue Anspruch<br />

der Künstler, Erfinder zu sein machten das<br />

Fotogramm gerade in dieser Zeit für das künstlerische<br />

Vorgehen interessant. Andreas Haus<br />

interpretierte die Situation so: “Fotogramm ist<br />

also ein eingeführter Name für Aufnahmen mit<br />

wissenschaftlicher Authentizität, und in eben<br />

diesem Bereich agierte Moholy, wenn er systematisch<br />

‚das Licht‘ sichtbar machen wollte” 7 .<br />

Verfahren: Die Herstellung eines Fotogramms<br />

ist im Grunde schnell erklärt. Auf einer lichtempfindlichen<br />

Schicht werden flache oder<br />

plastische Gegenstände angeordnet und dann<br />

wird belichtet. Die Trägerschicht bleibt an<br />

den verdeckten Stellen hell und wird schwarz,<br />

wo das Licht direkt auftraf – hier passiert also<br />

eine Umkehrung; die <strong>Schatten</strong> der Gegenstände<br />

bleiben hell, da die lichtempfindliche<br />

Schicht an diesen Stellen abgedunkelt bleibt<br />

und so geschützt wird. Dort, wo das Licht<br />

ungehindert auftrifft entstehen schwarze<br />

Flächen. Werden flache Gegenständen und<br />

dabei senkrechte Lichtbestrahlung benutzt,<br />

so ähneln die schwarz- grundierten Bilder mit<br />

weißen Figuren Holz- oder Linolschnitten und<br />

die Effekte sind vorhersehbar. Doch variiert<br />

man das Grundverfahren zum Beispiel indem<br />

bewegte Lichtquellen eingesetzt oder Doppel-<br />

belichtungen vorgenommen werden, bis hin<br />

zum Experimentieren mit rotierenden Objekten<br />

im Stroposkoplicht, so sind die Ergebnisse nicht<br />

mehr so gut bis gar nicht mehr vorhersehbar.<br />

Der experimentelle Charakter bzw. die Offenheit<br />

der Resultate steigt mit der Anzahl an<br />

Variablen. Der bedeutendste Unterschied zur<br />

Fotografie ist, dass Fotogramme nicht reproduziert<br />

werden können. Es gibt keine Negative,<br />

sie selbst sind das Negativ. Im Grunde sind<br />

Fotogramme manuell hergestellte Unikate.<br />

Laszlo begann zusammen mit Lucia Moholy-<br />

Nagy frühestens im Spätsommer 1922 erste<br />

einfache Versuche auf damals in Amateurkreisen<br />

verbreitetem Auskopierpapier, welches<br />

noch mit Tageslicht bestrahlt werden musste.<br />

Zunächst stellte auch er Lichtabdrucke von Gegenständen<br />

her, doch er setzte dabei von Hand<br />

bewegte Lichtquellen ein, arbeitete mehrstufig,<br />

wobei der Produktionshergang noch mehr<br />

ins Zeitliche gedehnt wurde durch mehrere<br />

Belichtungen zwischen denen die “Lichtmodulatoren”<br />

verschoben und die Auflagen teilweise<br />

abdeckt wurden. Die Gegenstände, deren<br />

<strong>Schatten</strong> die Lichtformen des Fotogramms<br />

bilden sollten, waren selten platt, vollständig<br />

54<br />

Abb. 7 Man Ray, ohne Titel (Rayographie), 24<br />

x 18 cm (vermutlich), Paris 1922 (abgebildet in<br />

BROOM und in ‚Malerei Fotografie Film‘)<br />

Abb. 8 Laszlo Moholy-Nagy,<br />

ohne Titel,<br />

Fotogramm 1922<br />

Abb. 9 Laszlo Moholy-Nagy,<br />

ohne Titel,<br />

Fotogramm 1922<br />

im Bild und meist lagen sie nur mit wenigen<br />

Kanten und Punkten auf dem Papier auf (Abb.<br />

10). Bei diesem bereits räumlichen Aufbau<br />

über dem Papier, der meist von zwei oder mehr<br />

Seiten beleuchtet wurde, ergaben sich mehrfach<br />

überschneidende <strong>Schatten</strong>projektionen.<br />

Als den Moholy-Nagys ab 1926 eine professionelle<br />

Dunkelkammer am Dessauer Bauhaus zur<br />

Verfügung stand, tauschten sie das langsam<br />

reagierende Tageslicht-Auskopierpapier gegen<br />

schneller zu verarbeitendes, auf Kunstlicht<br />

reagierendes Bromsilberpapier aus. Sie verwendeten<br />

wandernde Lichtquellen, so dass<br />

der <strong>Schatten</strong> das Papier kontinuierlich überstrich.<br />

Den zeitlich und räumlich mehrteiliger<br />

Produktionsprozess spiegeln die Fotogramme<br />

in einer fast ‚ereignishaften‘ Weise wider. Die<br />

entstandenen Lichtschichten löschen einander<br />

aus oder überlagern sich und die real sichtbare<br />

weiße Schicht auf dem Bild war keine stehen<br />

gebliebene Schicht, sondern rohe, unbearbeitete<br />

‚Leinwand‘. Der Gebrauch von anderen


Abb. 10 Laszlo Moholy-Nagy,<br />

Fotogramm 1922/ 1926(?)<br />

11 Laszlo Moholy-Nagy,<br />

Fotogramm 1925-29<br />

Entwicklungsemulsionen, die auf unterschiedliche<br />

Wellenlänge des Lichtes reagierten, ermöglichte<br />

eine differenzierte Graupalette. Anne<br />

Hoormann merkt in ihrem Buch “Lichtspiele”<br />

dazu an:<br />

“Obwohl Moholy-Nagy davon ausging, dass<br />

das Fotogramm mit geeigneten Chemikalien<br />

auch farbig gestaltet werden könne, bevorzugte<br />

er dennoch das fotografische Schwarz<br />

– Weiß. In diesem sah er die visuelle Welt der<br />

Moderne verkörpert. Geradezu unmerklich,<br />

so seine These, habe sich die visuelle Welt der<br />

Großstadt zur Farblosigkeit verändert, zum<br />

Grau hin verschoben: [...] das alle Farbigkeit<br />

aufhebende Tempo der Moderne.” 8<br />

Dabei folgte er dem Experiment des Farbkreisel:<br />

durch schnelles Drehen werden alle Farben<br />

zu Grau vermischt. Während der Dessauer<br />

Bauhaus-Zeit verzichtete er auf den Gegenstand<br />

und arbeitete mit reinen Lichteffekten.<br />

Lucia und Laszlo wollten das ‚direkte Licht‘.<br />

Laszlo Moholy-Nagy beschreibt den Vorgang<br />

des Herstellens in dem Buch “von material zu<br />

architektur” so:<br />

“auf polierte flächen, metall, künstliche<br />

materialien usw. werden mithilfe von spritzapparaten<br />

dünnste, irisierende, fließende<br />

farbschichten aufgetragen, die durch den reflektierenden<br />

spiegelnden untergrund aufgelockert,<br />

fluktuierend erscheinen. durch spiegelung<br />

und reflexe dringt die umgebung in die<br />

bildebene ein – die seit dem impressionismus<br />

erstrebte flächenhaftigkeit wird aufgelöst. die<br />

fläche wird zu einem teil der atmosfäre, des<br />

atmosfärischen grundes, indem sie die außer<br />

ihr existierenden lichterscheinungen aufsaugt;<br />

sehr im gegensatz zu früher, als das bild nur<br />

ein zur landschaft hin geschnittenes loch,<br />

eine illusionistische fensteröffnung war. dieses<br />

stadium ist gewissermassen der abschluß des<br />

impressionismus: die überwindung der fläche<br />

nicht zur plastik, sondern zum raum hin.” 9<br />

In den Fotogrammen zeigt sich kein perspektivischer,<br />

sondern ein illusionistischer Tiefenraum,<br />

der durch so genannte ‚Lichtmodulierung‘<br />

erzeugt wurde. Das modulierte Licht artikuliert<br />

sich in Moholy-Nagys Fotogrammen<br />

durch helle Volumina, die aus der Tiefe des<br />

Raumschwarz hervortreten (Abb.11/ 12). Die<br />

Fläche wird durch die Bearbeitung zu Tiefe<br />

– wobei die tiefsten Stellen dort erscheinen,<br />

wo das Licht am intensivsten einwirken konnte.<br />

Die höchste Intensität der Lichtwirkung wird<br />

jedoch nicht durch den Schwarz-Weiß-Kontrast<br />

erreicht, sondern durch das fein differenzierte<br />

Grau, das sich in einem schwarzen Kontinuum<br />

bewegt, wodurch es zu einem unendlichen<br />

Fließen ins letztendlich schwarze “Nichts”<br />

kommt. Eben um die Wirkung seiner Fotoramme<br />

ganz auf die Lichtmodulation zu konzentrieren,<br />

erzeugte Moholy-Nagy Räumlichkeit<br />

nur durch Licht, das sich je nach Berechnungswinkel<br />

und Einwirkzeit in seinen wechselnden<br />

Intensitäten abbildete, ablesbar an den unter-<br />

55<br />

schiedlichen Grautönen. Er inszenierte gewissermaßen<br />

verschiedenen Bewegungstempi des<br />

Lichtes, die in der Abstufung der unterschiedlichen<br />

Grauwerte in Erscheinung treten. Moholy-<br />

Nagy nannte seine Fotogramme “Lichtkompositionen”.<br />

Schon die frühesten erhaltenen Bilder<br />

sind keine einfachen “<strong>Schatten</strong>bilder” irgendwelcher<br />

Gegenstände, sondern diese dienten<br />

dazu, Lichtstrahlen zu lenken, zu brechen, aufzuspalten<br />

– das Licht zu modulieren, sprich die<br />

Einzelkomponenten, durch die der Zustand des<br />

Lichts, die Lichterscheinung bestimmt wurden,<br />

zu verändern bzw. verschiedentlich anzuordnen/<br />

zusammenzusetzen. Dadurch entstand<br />

eine neue Art von Fotogrammen, sozusagen<br />

Aufzeichnungen direkter Lichteinwirkungen.<br />

3. Lichtspiel<br />

Begriff und Wortbedeutung: Als Kunstgattung<br />

gehört das Lichtspiel zur kinetischen Kunst,<br />

deren Koordinaten Zeit und Raum sind, doch<br />

es findet auch Anwendung im Kino oder im<br />

öffentlichen Raum.<br />

Die Variante der Filmrezeption über die Lichtkinetik<br />

fand in Deutschland ihre Repräsentation<br />

im Bauhaus, De Stijl und Dadaismus sowie im<br />

nachexpressionistischen Film. Die Manifeste der<br />

Künstler beschäftigten sich mit dem Licht. Sie<br />

forderten eine Neuordnung der Kunst, in der<br />

der Film als Antrieb künstlerischer Innovation<br />

galt und Licht als Gestaltungsmittel fungierte.<br />

Die Kritik an der Kunsttradition setzte an der<br />

Malerei an, betraf aber auch andere Kunstgattungen.<br />

Dabei bildete die Malerei das Referenzmedium<br />

zum Film, nicht die Fotografie. Die<br />

Farbpigmente wurden durch Lichtprojektion<br />

ersetzt Moholy-Nagy erschien die Einführung<br />

des Lichts als elementares Gestaltungsmittel für<br />

zeitgemäße Kunst nur konsequent. Denn das<br />

traditionelle Tafelbild sei mit den technischen<br />

Bildmedien “historisch geworden und vorbei” 10<br />

In einem programmatischen<br />

Text in der<br />

ungarischen Zeitschrift<br />

‚Telehor‘ fasste er<br />

1936 verschiedene<br />

Formen des Lichtspiels<br />

zusammen<br />

und unterteilte sie je<br />

nach Aufführungsort:<br />

den abstrakter Film,<br />

das „reflektorisches<br />

Lichtspiel“ und das<br />

Farblichtklavier für<br />

den geschlossener<br />

Raum; das Lichtfresko<br />

in der Architektur<br />

und im freien Raum<br />

die Lichtreklame,<br />

Scheinwerferkanone,<br />

Lichtprojektionen auf<br />

Wolken und das Städ-<br />

Abb. 12 Spielzeug,<br />

aus: von material zu<br />

architektur,1929<br />

telichtspiel. Die von<br />

Moholy als Lichtspiel<br />

klassifizierte Kunstformen<br />

“dokumen-


Abb. 13-15 Filmstills aus Lichtspiel<br />

schwarz-weiß-grau, 1930<br />

tieren die technischen Visionen ihrer Zeit und<br />

spiegeln die Konzepte, mit denen sich Künstler<br />

über Technik eine außerkünstlerische Praxis<br />

zu erschließen suchten, die zu einer Transformation<br />

der Kunst, wenn nicht sogar zu einem<br />

>>Ausstieg


4 QUELLEN<br />

Baatz, Willfried: Geschichte der<br />

Fotografie, DuMont, Köln<br />

1997<br />

Glüher, Gerhard: Laszlo Moho<br />

ly-Nagy, Frühe Photogra<br />

phien, Das Foto-Taschen<br />

buch 16, Verlag Dirk Nishen,<br />

Berlin, 1989<br />

Haus, Andreas: Laszlo Moholy-<br />

Nagy, Fotos und Fotogram<br />

me, München: Schirmer-Mo<br />

sel, 1978<br />

Hawking, Stephen und Mlo<br />

dinow, Leonard: Die kürzes<br />

te Geschichte der Zeit,<br />

Rowohlt Taschenbuch Ver<br />

lag, Hamburg, November<br />

2006<br />

Heyne, Renate und Neusüss,<br />

Floris M.: Das Fotogramm in<br />

der Kunst des 20. Jahrhun<br />

derts, Die andere Seite der<br />

Bilder – Fotografie ohne<br />

Kamera, DuMont Buchver<br />

lag, Köln 1990<br />

Hoormann, Anne: Lichtspie<br />

le, Zur Medienreflexion der<br />

Avantgarde in der Weimarer<br />

Republik, Wilhelm Fink Ver<br />

lag, München, 2003<br />

Jäger, Gottfried und Wessing,<br />

Gudrun (Hg.): über moholynagy,<br />

Kerber-Verlag, Biele<br />

feld, 1997<br />

Moholy-Nagy, Sibyl: Laszlo<br />

Moholy-Nagy, ein Totalexpe<br />

riment, Florian Kupfer Ver<br />

lag, Mainz, 1972<br />

Molderings, Herbert: Lichtjahre<br />

eines Lebens, Das Foto<br />

gramm in der Ästhetik<br />

Laszlo Moholy-Nagys, in:<br />

Laszlo Moholy-Nagy, Foto<br />

gramme 1922 – 1943 aus<br />

den Sammlungen des<br />

Musee national d´art<br />

moderne – Centre de<br />

creation industrielle, Centre<br />

Georges Pompidou, Paris<br />

und des Museum Folkwang<br />

Essen, Ausstellungskatalog,<br />

Centre Georges Pompidou,<br />

Paris, Museum Folkwang<br />

Essen, München 1996, S. 8<br />

- 17<br />

Weitemeier, Hannah: Licht-<br />

Visionen, Ein Experiment<br />

von Moholy-Nagy, Bauhaus-<br />

Archiv Berlin, 1972<br />

Wingler, Hans M. (Hg.): Laszlo<br />

Moholy-Nagy, von material<br />

zu architektur, Neue Bau<br />

hausbücher, Florian Kupfer<br />

Verlag, Mainz, 1968<br />

Abb. 16 Licht-Raum-Modulator, verchromt,<br />

Aluminium, Glas, Plexiglas, Holz, Stahl, (Lichtrequisit<br />

einer elektrischen Bühne), 1922-1930<br />

typischen extreme Kameraperspektiven, sowie<br />

eine Vielschichtigkeit der Perspektiven. 1932<br />

schrieb Moholy-Nagy über diesen Film:<br />

“Mit dem Film wollte ich die bei der Fotografie<br />

ohne Kamera (Fotogramm) aufscheinenden<br />

Schwarz-Weiß-Werte in Bewegung demonstrieren.<br />

[...] Die Freilegung der elementaren<br />

Mittel der Licht- und Bewegungsgestaltung<br />

zeigt die Grundlage der heutigen optischen<br />

Kultur. Das Suchen nach neuen Wirkungsmöglichkeiten<br />

fördert automatisch die künstlerische<br />

und technische Entwicklung des Films.<br />

[...] Technisch kann zum Beispiel die lichtempfindliche<br />

Seite des Films besser genutzt<br />

werden als die heutigen Techniker glauben.<br />

Durch bewusste Verwendung des Lichts kann<br />

man die Stofflichkeit des Films viel besser<br />

ausnutzen. Vom lichtüberfluteten Weiß ins<br />

zum tiefen Schwarz kann man eine unendlich<br />

reiche Menge von feinen Grauschattierungen<br />

hervorbringen” 16<br />

Moholy-Nagy versuchte entsprechend seinem<br />

Selbstverständnis als Künstler, die wissenschaftlichen<br />

Kenntnisse eines Ingenieurs mit<br />

der Intuition des Künstlers zu verknüpfen. Er<br />

wollte neue Formen erarbeiten, zusammen<br />

mit Filmemachern und -theoretikern, als deren<br />

gemeinsames Gebiet Moholy-Nagy die Ästhetisierung<br />

des Filmlichts begriff. Seine Vorstellungen<br />

in dieser Richtung gingen so weit, eigene<br />

Apparaturen zu konstruieren, die über den Film<br />

hinausgehen und nur noch auf reine Lichteffekte<br />

basieren sollen.<br />

5. Licht-Raum-Modulator<br />

Der Licht-Raum-Modulator (Abb. 16/ 17) entstand<br />

1922 – 1930 in Berlin, als Modell einer<br />

57<br />

17 Licht-Raum-Modulator, Ausstellungssituation<br />

“elektrischen Bühne”, wie sie Moholy-Nagy mit<br />

seinem Konzept des “Theaters der Tota<strong>lit</strong>ät”<br />

vorschwebte. Auf allen Ebenen sollte es die Sinne<br />

fesseln, ungewöhnliche Lichteffekte sollten<br />

Publikum schockieren Moholy-Nagy hatte für<br />

dieses ‚Experiment‘ verschiedene Mitarbeiter.<br />

Als wichtigste wären Otto Ball, der Mechaniker<br />

in einer Werkstatt am Alexanderplatz war und<br />

der Diplom-Ingenieur Stefan Sebök, ein ungarischer<br />

Architekt aus dem Architekturbüro von<br />

Walter Gropius, zu nennen. Die Fertigstellung<br />

übernahm die Theaterabteilung der AEG, die<br />

damals führend in der Zukunfts-Industrie Kraft<br />

und Licht war und die gleichzeitig als Stifter<br />

dieses Licht-Raum-Theater fungierten. Die erste<br />

Vorführung fand 1930 in der Werkbundausstellung<br />

in Paris statt. Was als Modell einer Bühne<br />

konstruiert wurde, diente nachher der Grundlagenforschung<br />

im Bereich der technischen<br />

Bildmedien, für kommerzielle Lichtgestaltung<br />

sowie für das Lichtspiel auf der Bühne. Diese<br />

mechanische Apparatur diente dazu, das Licht<br />

zu modulieren. Dies geschieht durch transluzid<br />

erscheinendes Glas, bewegte, spiegelglatte<br />

Metallteile, die das Licht reflektieren, simultane<br />

Bewegungsvorgänge, stroboskopartige Lichtreflexe,<br />

Alternieren von festen und transparenten<br />

Formen, Licht- und <strong>Schatten</strong>formationen an der<br />

Wänden.<br />

Im Licht-Raum-Modulator wurden die Vorstellung<br />

Moholy-Nagys demonstriert, die er ebenso<br />

wie Kurt Schwitters von seinem Landsmann<br />

France übernommen hatte, dass es sieben<br />

universale Grundelemente gebe: Kristall, Kugel,<br />

Kegel, Platte, Band, Stab, Spirale. Die Apparatur<br />

sollte also nicht einfach nur Licht- und<br />

<strong>Schatten</strong>wirkungen vorführen, sondern über<br />

Punkt, Linie und Fläche räumliche Vorstellungen<br />

im Sinne einer Kosmologie hervorrufen.<br />

Die unterschiedlichen Elemente stellten den<br />

(Bühnen)Kosmos dar und wurden an ein<br />

biomechanisches Modell angelehnt. In seiner<br />

ursprünglichen Präsentation war das Lichtrequisit<br />

von einem Kasten umgeben und von<br />

innen angebrachten und vom Betrachter nicht<br />

sichtbaren Farbbirnchen wechselnd beleuchtet.<br />

Der entstehende Effekt sollte einen Eindruck,<br />

ein optisches Erlebnis der Vierten Dimension<br />

vermitteln und zwar unmittelbar, also begreifbar<br />

für jeden, unabhängig von kultureller Er-


Schmohl, Jens (Regie): DAS<br />

PERMANENTE EXPERI<br />

MENT: LAZLO MOHOLY<br />

NAGUND DAS BAUHAUS,<br />

Dieter Horres Film & TV<br />

Produktion, HFF München,<br />

Bayerischer Rundfunk,<br />

1996, Mitschnitt: ARTE,<br />

01.04.1998<br />

5 Abbildungen<br />

Abb. 1: Bewegliches Bild mit<br />

Spiralfeder, 1936 aus: Moho<br />

ly-Nagy, Sibyl: Laszlo Moho<br />

ly-Nagy, ein Totalexperi<br />

ment, S. 167<br />

Abb. 2/ 3: Plexiglas-Mobile,<br />

1943 aus: a.a.O., S. 169<br />

Abb. 4: William Henry Fox Tal<br />

bot : Botanical, 237 x 381<br />

Pixel – 15k, moviequizz.free.<br />

fr<br />

Abb. 5: Christian Schad,<br />

Renseignement sp/ mo<br />

(Schadographie Nr. 21),<br />

1919 aus: Heyne, Renate<br />

und Neusüss,<br />

Floris M.: Das Fotogramm in<br />

der Kunst des 20. Jahrhun<br />

derts, S. 31<br />

Abb. 6: Man Ray, ohne Titel,<br />

Paris 1922 aus: a.a.O., S.49<br />

Abb. 7: Rayographie, ohne<br />

Titel, 1922 aus: a.a.O., S. 64<br />

Abb. 8: Moholy-Nagy, László:<br />

Fotogramm, 1922 aus:<br />

Haus, Andreas: Laszlo Mo<br />

holy-Nagy, Fotos und Foto<br />

gramme, Tafel 111<br />

Abb. 9: Moholy-Nagy, László:<br />

Fotogramm, 1922 aus:<br />

a.a.O., Tafel 110<br />

Abb. 10: Laszlo Moholy-Nagy,<br />

Fotogramm 1922/ 1926(?)<br />

aus: a.a.O. Tafel 119<br />

Abb. 11: Laszlo Moholy-Nagy,<br />

Fotogramm 1925-29 aus:<br />

a.a.O. Tafel 127<br />

Abb. 12: Spielzeug, aus: von<br />

material zu architektur,1929<br />

aus: Wingler, Hans Maria<br />

(Hg): Moholy-Nagy, Laszlo:<br />

von material zu architektur,<br />

Mainz 1968 (Faksimile der<br />

1929 erschienenen Erst<br />

ausg.), S. 164<br />

Abb. 13: Moholy-Nagy, filmstill,<br />

210 x 158 Pixel – 7k-jpg,<br />

www.kettlesyard.co.uk<br />

Abb. 14: László MOHOLY-<br />

NAGY, 200 x 156 Pixel<br />

– 22k-jpg, blogs.dion.ne.jp<br />

fahrung, der sich auf darauf einließ. Die Spirale<br />

besitzt eine symbolische Bedeutung, die aus<br />

der Theosophie stammt: “Sie ist der Kosmos, der<br />

atmet. In Form der Spirale steigt das Leben vom<br />

Unbewussten zum Bewussten auf und kehrt ins<br />

Unbewusste zurück. Die Spirale ist Sinnbild der<br />

Bewegung des Lebens und seiner Evolution.” 17<br />

Der Licht-Raum-Modulator als Bühnenmodell<br />

diente dem Experimentieren mit verschiedenen<br />

Materialien, als autonomes Kunstwerk wird er<br />

als erste kinetische Lichtplastik betrachtet und,<br />

wie Hannah Weitemeier 1972 formuliert, „stellt<br />

als Objekt ständig neue Frage an den Betrachter.<br />

Er drückt die Spannung und Differenz<br />

zwischen Aktua<strong>lit</strong>ät und Potentia<strong>lit</strong>ät aus und<br />

gleichzeitig die Identität dieser Differenz.” 18<br />

58<br />

Abb. 15: Laszlo Moholy-Nagy,<br />

195 x 101 Pixel – 10k-jpg, demo.sfgb-b.ch<br />

Abb. 16: Moholy-Nagy László, 310 x 490 Pixel<br />

– 21k-jpg, www.balkon.hu<br />

Abb. 17: Moholy-Nagy‘s Licht Raum Modulator,<br />

420 x 315 Pixel – 20k-jpg, www.des<br />

form2006.id.tue.nl<br />

Fußnoten<br />

1 Schmohl, Jens: Das permanente Experiment,<br />

in Zusammenhang mit dem Dokumentarfilm<br />

“Berliner Stilleben”, 1931<br />

2Moholy-Nagy, Sibyl: Laszlo Moholy-Nagy, ein<br />

Totalexperiment, S. 166<br />

3a.a.O., S. 164<br />

4a.a.O., S. 168<br />

5Schmohl, Jens: Das permanente Experiment<br />

6ebd.<br />

7a.a.O. S.18<br />

8Hoormann, Anne: Lichtspiele, Zur Medien<br />

reflexion der Avantgarde in der Weimarer<br />

Republik, S. 149<br />

9Moholy-Nagy, Laszlo: von material zu architek<br />

tur, S. 89/ 90<br />

10Moholy-Nagy, Laszlo: Malerei, Fotografie,<br />

Film, München, 1927, S. 30, zit. Nach: Hoor<br />

mann, Anne: Lichtspiele, Zur Medienreflexi<br />

on der Avantgarde in der Weimarer Repub<br />

lik, S. 37<br />

11Hoormann, Anne: Lichtspiele, Zur Medien<br />

reflexion der Avantgarde in der Weimarer<br />

Republik, S. 15<br />

12a.a.O., S. 19<br />

13Telehor, Brno 1936, Nr. 1/ 2, S. 116, zit.<br />

Nach: Günter, Roland: Der Industrialisie<br />

rungsprozeß und das Experiment der beiden<br />

Moholy-Nagys in: Jäger, Gottfried und Wes<br />

sing, Gudrun (Hg.): über moholy-nagy, S.<br />

137<br />

14vgl. Hoormann, Anne: Lichtspiele, Zur Me<br />

dienreflexion der Avantgarde in der Weima<br />

rer Republik, S. 149<br />

15vgl. a.a.O., S. 194<br />

16 Moholy-Nagy, Laszlo: Die neuen Möglich<br />

keiten des Film (Lichtspiel Schwarz-Weiß-<br />

Grau) [A film uj lehetosegei], Munka [1932],<br />

zit. n. Passuth 1986, S. 330, zit.n.: a.a.O., S.<br />

195<br />

17Günter, Roland: Der Industrialisierungspro<br />

zeß und das Experiment der beiden Mo<br />

holy-Nagys in: Jäger, Gottfried und Wessing,<br />

Gudrun (Hg.): über moholy-nagy, S. 125<br />

18Weitemeier, Hannah: Licht-Visionen, S. 9


Christina Nur<br />

Inhalt<br />

1. Die Installation<br />

„ Slow Motion“<br />

2. Ausgangspunkte<br />

und Überlegungen<br />

3. Rezeption und<br />

unterschiedliche<br />

Interpretationen<br />

der Installation<br />

„ Slow Motion“<br />

4. Kritik von Besuchern<br />

der Ausstellung<br />

„ <strong>Moving</strong> <strong>shadows</strong>“<br />

Literatur<br />

Abb.2 bis 4, Immer in Bewegung:<br />

Die Installation „ Slow<br />

Motion“, der Mixer rotiert<br />

endlos<br />

„Slow Motion“<br />

Abb.1 – Die Installation „ Slow Motion“<br />

1. Die Installation „Slow Motion“<br />

Aus mehreren Metern Höhe hängt mit etwas<br />

Abstand an der kacheligen Wand eine<br />

Barbiepuppe im silbernen G<strong>lit</strong>zerkleid. Sie ist<br />

mit schwarzem Klebeband an einem Küchenhandmixer<br />

befestigt und rotiert in langsamen<br />

Bewegungen scheinbar endlos. Der Mixer<br />

ist am Ende seines Stromkabels mit starkem<br />

Klebeband an dem obrigen Treppengeländer<br />

befestigt und vibriert durch die freischwingende<br />

Bewegung des Kabels und der Puppe in sich<br />

immer neu verändernden Bewegungen.<br />

Angestrahlt wird sie von einem Scheinwerfer,<br />

welcher einen Lichtkegel auf die gesamte Installation<br />

„Slow Motion“ wirft. Das Küchengerät<br />

als auch die Puppe verändern durch ihre eigendynamische<br />

Bewegung auch ihr <strong>Schatten</strong>bild<br />

an der Wand (Abb. 2 - 4).<br />

2. Ausgangspunkte und Überlegungen<br />

Ausgangspunkte der Installation „Slow Motion“<br />

waren die Voraussetzung eines günstig zu<br />

erwerbenden Gerätes, welches in gleichmäßigen<br />

Bewegungen rotiert und dadurch einen<br />

bewegten <strong>Schatten</strong> an die Wand werfen kann.<br />

Dabei wurde besonders nach einem Objekt<br />

gesucht, welches ständig in Bewegung ist<br />

und in der sich drehenden Geschwindigkeit<br />

unterschiedlich einstellbar sein kann, denn es<br />

59<br />

sollten ruhige und langsame Drehbewegungen<br />

entstehen, damit der <strong>Schatten</strong> der Installation<br />

zur Geltung kommen und das Augenmerk auf<br />

das <strong>Schatten</strong>bild an der Wand gelenkt werden<br />

konnte. Die Wahl auf ein Küchengerät wie dem<br />

Handmixer fiel bei der Suche nach geeigneten<br />

Objekten ziemlich schnell, denn dieser Gegenstand<br />

dreht sich in wiederholbaren Bewegungen<br />

und eignet sich deshalb sehr gut dafür<br />

einen anderen Gegenstand an ihm zu befestigen,<br />

dessen <strong>Schatten</strong> sich mitbewegt und<br />

dabei zu interessanten <strong>Schatten</strong>bildern werden<br />

könnte. Es war dabei Grundvoraussetzung,<br />

dass der <strong>Schatten</strong> des Mixers und der jeweilige<br />

<strong>Schatten</strong> des sich an ihm befestigten Gegenstandes<br />

sich andauernd verändert und bewegt.<br />

In der Verformung sollte er niemals der gleiche<br />

sein und so auch in seiner Abbildung immer<br />

wieder neu erscheinen.<br />

Auf der Suche nach einem geeigneten Gegenstand,<br />

der an dem Mixergerät befestigt werden<br />

konnte, lag die Assoziation einer sich auf dem<br />

Mixer drehenden Puppe nahe. In den ersten<br />

Überlegungen sollte das Mixergerät im Gegensatz<br />

zu seiner sonstigen Nutzung mit den<br />

Schneebesen nach unten gerichtet, verkehrt<br />

herum angebracht werden, um als Grundlage<br />

eine senkrecht stehende und sich drehende


Abb.5 – Gesellschaftskritik?<br />

Puppe und dadurch einen vergleichbaren<br />

Puppentanz einer Spieldose mit sich drehender<br />

Tanzfigur nachbilden. Dieses Bild wirkte jedoch<br />

nicht experimentell genug und durch die Tatsache,<br />

dass schon ein anderes Kunstprojekt mit<br />

stehenden und sich drehenden Barbiepuppen<br />

in der Ausstellung zu sehen sein sollte, wurde<br />

nach einer anderen Umsetzungsweise gesucht.<br />

Durch das Aufhängen des Mixers an dem Ende<br />

des Mixerkabels, entsteht eine eigendynamische<br />

Bewegung des dadurch stärker vibrierenden<br />

und sich bewegenden Mixergerätes.<br />

Es drehen sich dabei nicht nur der Knethaken<br />

und der daran befestigte Gegenstand um<br />

sich selbst, sondern auch das gesamte Gerät<br />

bewegt sich um alle Achsen. Die Barbiepuppe<br />

dreht sich in alle Richtungen, kopfüber und<br />

kopfunter und „stößt sich“, sobald sie an die<br />

Wand trifft, „mit den Füßen ab“. Diese Bewegungen<br />

ermöglichen die unterschiedlichsten<br />

<strong>Schatten</strong>bilder.<br />

Im Experimentierprozess wurde deutlich, dass<br />

die Geschwindigkeitsstufe 1 des Mixergerätes<br />

immer noch zu schnell die Puppe rotierte und<br />

60<br />

die Gefahr bestand, dass diese Installation<br />

nicht lange durchhalten und die Puppe dem<br />

Betrachter um die Ohren fliegen würde. Wie in<br />

den Kunstwerken von Fischli und Weiss wäre<br />

dabei das „ Gleichgewicht der Dinge“ in Gefahr<br />

gewesen. Bei diesen Künstlern droht in vielen<br />

ihrer Werke das Objekt auseinander zu fallen,<br />

ist demnach vergänglich und nur kurzfristig betrachtbar<br />

und kann nur mit Hilfe von Fotografien<br />

oder filmisch festgehalten werden.<br />

Bei der Installation „Slow Motion“ lag die<br />

Lösung darin die Stromzufuhr für den Mixer zu<br />

dimmen und den Strom dadurch von 230 Volt<br />

auf 50 Volt zu reduzieren. Durch die geringe<br />

Stromzufuhr drehte sich die an dem Mixer<br />

befestigte Puppe langsamer und der Begriff<br />

„Slow Motion“ kam ins Spiel. Außerdem wurde<br />

sowohl für die Puppe als auch für das Befestigen<br />

des Kabels an der Treppe schwarzes und<br />

stark haftendes Gaffertape gebraucht, welches<br />

in der Rezeption als improvisierter „Technikerwitz“<br />

gesehen wurde.<br />

Der Tanz einer Puppe, (hier ein Barbie-Puppen-<br />

Imitat) sollte in nicht alltäglicher und gewohnter<br />

Form gezeigt werden. Die Kombination<br />

einer weiblichen Puppe mit einem Küchengerät<br />

beinhaltete in seiner Zusammensetzung provokative<br />

Aussagen. Dass sich die Meinungen und<br />

Interpretationen über diese Installation jedoch<br />

in derartig kontroverse Diskussionen stürzen<br />

sollten, wurde erst während der Ausstellung<br />

bei der genauen Beobachtung der Betrachter<br />

dieses Kunstprojektes ersichtlich. Auch inwieweit<br />

verschiedene Interpretationen je nach<br />

Geschlecht vorkamen, war im Vorfeld nicht<br />

absehbar gewesen.<br />

3. Rezeption und unterschiedliche<br />

Interpretationen der Installation „ Slow<br />

Motion“<br />

Führt die Hausfrau ein <strong>Schatten</strong>dasein?<br />

Gesellschaftskritische Aspekte<br />

Gesellschaftskritisch gesehen könnte die Installation<br />

einer an ein Küchengerät gebundenen<br />

Barbiepuppe bedeuten, dass die Frau von<br />

heute an die Küche und damit an die Konventionen<br />

und Regeln der Gesellschaft gefesselt ist.<br />

Im Sinne des „Eva-Hermann-Prinzips“ ist es die<br />

Aufgabe der Frau für den Haushalt, insbesondere<br />

für die Küchenarbeit, zu sorgen und dies<br />

auch noch gern zu tun. Frauen zurück an den<br />

Herd oder in diesem Fall besser an den Mixer!<br />

Dabei hat die Frau und hierin liegt die Gesellschaftskritik<br />

begründet auch noch gut aus zu<br />

sehen und sexy zu sein (Abb. 5).<br />

Die Wahl einer Barbiepuppe, die als das Frauenbildideal<br />

Männerträume wahr werden lässt,<br />

und das weibliche Wesen puppenhaft überspitzt<br />

darstellt, unterstreicht die gesellschaftskritische<br />

Ebene. Der Mixer rotiert mit sich immer<br />

wiederholenden monotonen Bewegungen.<br />

Die wiederholte Eintönigkeit, die die tägliche<br />

Küchenarbeit bedeuten kann, lässt die Frau<br />

nicht zur Ruhe kommen und dreht sie endlos


Abb.7 – <strong>Schatten</strong> nehmen unterschiedlichste<br />

Gestalten an<br />

Abb.8 – Der <strong>Schatten</strong> erschafft<br />

eine eigene Illusionsebene<br />

weiter. Eine schier aussichtslose Situation. Na<br />

wenn sie da mal nicht durchdreht!<br />

Wenigstens passieren die Drehungen in „Slow<br />

Motion“, die verlangsamte Bewegung eines<br />

Mixers unterstreicht jedoch nur die langweilige<br />

Monotonie des Hausfrauendaseins.<br />

Die Kunst besteht darin aus dieser Monotonie<br />

auszubrechen und die Wiederholbarkeit des<br />

Alltags in einem neuen Licht zu sehen. Zum<br />

Glück ist eine so ernsthaft vorgetragen Argumentation<br />

nicht ernst zu nehmen<br />

Unter diesen Gesichtspunkten lassen sich die<br />

Künstler Fischli und Weiss nennen, welche den<br />

Ansatz verfolgen „Gegenstände und Situationen<br />

des Alltags“ zu adaptieren, die „sie – nicht<br />

ohne Humor und Ironie – in einen künstlerischen<br />

Kontext stellen und so philosophische<br />

und theoretische Fragen nach der Erklärung<br />

der Welt stellen“ (http://de.wikipedia.org/wiki/<br />

Peter_Fischli_und_David_Weiss ) Das „fröhlichernste<br />

Grundprinzip der Fischli/ Weiss’schen<br />

Arbeit“ (www.kunsthaus.ch/pdf/pm/2007/pm_<br />

fischli-weiss_d.pdf ) wird dabei „als traumhaftes<br />

Aufspüren des Bedeutenden im Unbedeutenden“<br />

(ebd.) gesehen.<br />

Männliche Perspektiven und Sichtweisen<br />

Erstaunlicherweise beachteten nur männliche<br />

Besucher die Tatsache, dass man der guten<br />

Frau unter den Rock schauen konnte oder<br />

besser gesagt könnte. Ein Beweis dafür, dass<br />

ein Mann Kunst aus einer anderen Perspektive<br />

heraus betrachtet als eine Frau! (vgl. Abb. 6)<br />

Bei männlichen Betrachtern überwog die Beurteilung<br />

über die Installation mit Aussagen wie<br />

„Mein Gott, die arme Frau!“, „Das ist aber schon<br />

brutal und gewalttätig!“ und besagtem, wenn<br />

auch beschämt gefragtem „Hat das eine Bedeutung,<br />

dass man ihr unter den Rock schauen<br />

kann?“<br />

Warum empfinden gerade Männer Mitleid mit<br />

einer weiblichen Puppe, die an einen Mixer<br />

gefesselt ist? Erkennen sie in dieser provokanten<br />

Darstellung einer Frau in Kombination mit<br />

einem Küchengerät einen Spiegel der Gesellschaft?<br />

Die Frau wird demnach als Objekt, das<br />

sich nicht wehren kann, sondern kopfüber und<br />

kopfunter pausenlos einen Drehwurm vor lauter<br />

Arbeit bekommt, gesehen. Zeigt sich damit<br />

das unbewusste schlechte Gewissen der Männer<br />

über die nicht gleichberechtigte Verteilung<br />

der Hausarbeit? Kann diese Installation zu mehr<br />

Männerarbeit im Haushalt aufrufen? Werden<br />

demnächst männliche Puppen an den versklavenden<br />

Ketten der Küchenarbeit hängen und<br />

sich mechanisch um sich selbst drehen?<br />

Da sich anhand einer Kunstinstallation solch in<br />

die Gesellschaft „tiefgreifende Fragen“ aufwerfen<br />

lassen, kann die Aufgabe einer Ausstellung<br />

darin gesehen werden, dass sie neben dem<br />

unterhaltenden und provozierenden Aspekt<br />

auch als eine moralische Anstalt dienen kann<br />

(vgl. Hollenstein 1990: 87 ).<br />

61<br />

Abb.6 - Installation „ Slow Motion“ – Wohin<br />

schaut der Mann?<br />

Kopfschütteln statt Augenzwinkern<br />

Natürlich gab es unter den Ausstellungsbesuchern<br />

auch die obligatorischen, immer egal in<br />

welcher Ausstellung vorhandenen Kopfschüttler,<br />

die eiligst an diesem befremdlich erscheinenden<br />

Objekt vorbeihuschten mit der Ansicht,<br />

dass hier mal wieder ein typisches Beispiel<br />

vorgeführt wurde, was man heutzutage alles<br />

unter Kunst verstehen könne.<br />

Die Frage was als Kunst betrachtet werden<br />

kann und was eher zur Gattung schlechter<br />

Geschmack zu zählen sei, was jedoch auch miteinander<br />

zu tun haben kann, sei hier nun nicht<br />

gestellt. Leider haben solch kopfschüttelnde<br />

Ausstellungsbesucher die Installation ein wenig<br />

zu ernst unter Gesichtpunkten der Hochkultur<br />

genommen, anstatt das ironische Augenzwinkern<br />

mit der dieses Kunstobjekt betrachtet<br />

werden sollte, zu bemerken. Aber das wird auf<br />

ewig das Problem der Kunst sein. Dass man<br />

sie zu ernst nimmt und dadurch nicht versteht.<br />

Möglicherweise ist es auch nur ein Problem der<br />

Rezipienten.<br />

Auch die Werke von Fischli/Weiss stehen in<br />

einem Zusammenhang des „ permanenten


Abb.9 – <strong>Schatten</strong>spiel - Der<br />

<strong>Schatten</strong> bildet den Gegenstand<br />

nicht mehr wirklichkeitsnah<br />

ab<br />

Abb.10 - Der <strong>Schatten</strong> besitzt<br />

eine andere Symbolik als der<br />

Gegenstand. Seine Umrisse sind<br />

dabei oft verschwommen. Eine<br />

Möglichkeit den <strong>Schatten</strong> als<br />

eigene Wirklichkeit und Traumwelt<br />

zu deuten. Der <strong>Schatten</strong><br />

eines Gegenstandes bietet also<br />

vielseitigere und phantasievollere<br />

Interpretationen und Symboliken<br />

an als die bloße realistische<br />

Betrachtung eines Objektes.<br />

Abb.11 und 12 - Der Sturz kopfüber<br />

in die Tiefe<br />

Zuwinkerns. Ernst-Unernst, Oberflächlichkeit-Tiefe,<br />

Zynismus-Mitleid sind nur wenige<br />

Gegensatzpaare...“ ( Windhöfel 1990: 90 ), die<br />

in gewisser Weise auch auf die Mixer/Barbie-<br />

Installation anwendbar sind. Ein Betrachter, der<br />

dieses Kunstobjekt ohne ein Fünkchen Humor<br />

anschaut, wird nicht viel in ihm entdecken<br />

können. Dabei haben „Humor und Kunst ...<br />

viel gemeinsam, beide fungieren als Brücke zu<br />

einer irrationalen Welt, die von Intuition und<br />

Instinkt bestimmt wird“<br />

(http://www.kunstaspekte.de/index.php?tid=1<br />

4129&action=termin).<br />

Positive Rezeption<br />

- <strong>Schatten</strong>seiten einmal anders<br />

Betrachtet man jedoch die „<strong>Schatten</strong>seiten“<br />

dieses Objektes erkennt man, dass sie entgegen<br />

der üblichen Annahme eine schönere Bedeutung<br />

haben können als die zuerst ins Auge<br />

fallenden Seiten der gezeigten Gegenstände im<br />

Licht.<br />

Das <strong>Schatten</strong>bild der Installation erlangt an<br />

der Wand durch die drehende Bewegung<br />

des Mixers eigenständige Formen. Die angewendeten<br />

Gegenstände und deren <strong>Schatten</strong><br />

sind dabei verschieden. Aus der Alltagsbana<strong>lit</strong>ät<br />

und im Kontext der Bedeutungen einer<br />

Barbiepuppe und eines Mixers heraus entsteht<br />

im <strong>Schatten</strong>bild eine neue Wirklichkeit. Durch<br />

einen neu zusammengewürfelten Kontext wird<br />

der Betrachter zu einer Illusions- und Phantasieebene<br />

eingeladen (vgl. Abb. 7 und 8). Auch<br />

hier sei wieder auf Fischli/ Weiss verwiesen, die<br />

Gegenstände aus ihrer alltäglichen Bedeutung<br />

heraus in neue Zusammenhänge stellen.<br />

„Die aufgegriffenen alltäglichen, manchmal<br />

scheinbar banalen Themen und Gegenstände<br />

bekommen dadurch ihre Aussage, dass sie in<br />

Beziehung zueinander gesetzt werden ...“<br />

(http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Fischli_und_David_Weiss<br />

)<br />

Gelingt es dem Betrachter sein Augenmerk<br />

auf die <strong>Schatten</strong>bewegungen des Objektes<br />

zu lenken sieht man die Installation vor allem<br />

unter ästhetischen Aspekten. Betrachtet man<br />

nur die eigenständige Bewegung der <strong>Schatten</strong><br />

und setzt den Focus auf den <strong>Schatten</strong>tanz, lässt<br />

man sich auf immer neue Veränderungen im<br />

<strong>Schatten</strong>bild ein.<br />

Der Betrachter erlebt „ <strong>Moving</strong> <strong>shadows</strong>“. Nie<br />

sind es genau die gleichen <strong>Schatten</strong>bilder,<br />

immer verändern sie ihre Gestalt und bilden<br />

den realistischen Gegenstand eines Mixers und<br />

einer Puppe immer unwirklicher ab (Abb. 9).<br />

Ein <strong>Schatten</strong>tanz beginnt. <strong>Schatten</strong> fließen,<br />

schweben, tanzen. Graziös und mystisch vollzieht<br />

sich dieser unwirkliche Tanz. Er beinhaltet<br />

etwas Zartes und Ruhiges. Der <strong>Schatten</strong> an der<br />

Wand ist im Gegensatz zu der harten Rea<strong>lit</strong>ät<br />

und Symbolik der Gegenstände schön und zart.<br />

Wie eine Zirkusartistin schwebt die Barbiepuppe<br />

durch die Luft und ihr <strong>Schatten</strong> an der<br />

Wand tanzt mit. Ihr silbernes G<strong>lit</strong>zerkleid unterstreicht<br />

dabei eine Vorführ- und Bühnensitua-<br />

62<br />

tion. Als Artistin ist sie dem Gerät, welches sie<br />

durch die Luft befördert nicht passiv ausgeliefert,<br />

sondern beherrscht es und nutzt es für ihre<br />

Tanzkünste. Durch ihre eigene Bewegung und<br />

die des Mixers setzt sie immer wieder von neuem<br />

zum Sprung an und ist dadurch aktiv. Ihre<br />

Umdrehungen von oben nach unten betonen<br />

das artistische und durch ihre gestreckten Arme<br />

und Beine auch das graziöse. Selbst wenn sie<br />

mit dem Kopf nach unten scheinbar in die Tiefe<br />

stürzt (Abb.10), kommt sie aus eigener Kraft<br />

wieder hoch und setzt zur erneuten sprungvollen<br />

Bewegung an (Abb. 11 und 12). Ihr <strong>Schatten</strong>bild<br />

tanzt mit, ohne Glanz und Glimmer,<br />

ohne Farbe... eine Parodie auf einen Totentanz.<br />

Den tänzerischen und verspielten Aspekt der<br />

Installation entdeckten vor allem weibliche<br />

Betrachter.<br />

Außerdem fielen Frauen die kleinen Details im<br />

<strong>Schatten</strong>bild auf, die in der flüchtigen ersten<br />

Betrachtung der Gegenstände untergegangen<br />

sind. Oder stimmt das Vorurteil das Frauen<br />

doch einen besseren Blick für Kleinigkeiten<br />

haben? Das Puppenhafte wie z.B. „ die zarten<br />

schmalen Füße“ und die „ einzelnen Haarspitzen“,<br />

die sich im <strong>Schatten</strong> viel deutlicher voneinander<br />

abgrenzen lassen als im Licht, wurden<br />

mit verzückten Ausrufen bemerkt. Ein <strong>Schatten</strong><br />

kann demnach Dinge zum Vorschein bringen<br />

und unterstreichen, welche sonst vielleicht<br />

nicht beachtet werden würden. In dem Sinne<br />

ist auch die Verwendung eines Küchengerätes<br />

wie dem Mixer für eine Kunstarbeit eine Möglichkeit<br />

die banalen und alltäglichen Gegenständen<br />

aus ihrem <strong>Schatten</strong>dasein in ein anderes<br />

Licht zu rücken, sie zu verfremden, in einen<br />

neuen Kontext zu stellen und den Dingen eine<br />

andere Aufmerksamkeit zu schenken.<br />

4. Kritik von Besuchern der<br />

Ausstellung „<strong>Moving</strong> <strong>shadows</strong>“<br />

Vielen Besuchern der Ausstellung „<strong>Moving</strong><br />

<strong>shadows</strong>“ fiel auf, dass es kaum Kunstprojekte<br />

gab, bei denen der <strong>Schatten</strong> allein als eigenständiges<br />

Kunstwerk gezeigt wurde, sondern<br />

immer der Bezug zu seinem schattenwerfenden<br />

Gegenstand sichtbar war. Fragen kamen<br />

dabei auf wie: Warum sind Objekt und sein<br />

<strong>Schatten</strong> meist in so kurzer Entfernung platziert<br />

und nicht auf einer größeren räumlichen<br />

Distanz? Die Frage lässt sich vor allem damit<br />

beantworten, dass viele Kunstprojekte gleichzeitig<br />

auf engstem Raum verwirklicht werden<br />

wollten. Außerdem war in vielen Installationen<br />

gerade der vergleichende Bezug von Objekt<br />

und seinem <strong>Schatten</strong> spannend. Es entstehen<br />

im Betrachter Fragestellungen und Verwirrungen,<br />

wenn ein Gegenstand keinen sichtbaren<br />

<strong>Schatten</strong> besitzt Es scheint etwas zu fehlen<br />

und das Objekt ohne <strong>Schatten</strong> nicht real zu<br />

sein. Eine Verbindung von Objekt und seinem<br />

<strong>Schatten</strong> ist immer vorhanden, d.h. ein Objekt<br />

und sein dazugehörender <strong>Schatten</strong> sind nicht<br />

voneinander trennbar und können nicht ohne<br />

den anderen existieren. Dass würde bedeuten,<br />

dass ein <strong>Schatten</strong> immer zu etwas dazugehören


Literatur<br />

Frey, Patrick ( Hrsg.): Das<br />

Geheimnis der Arbeit.<br />

Texte zum Werk von Peter<br />

Fischli& David Weiss.<br />

München/Düsseldorf,<br />

1990.<br />

Hollenstein, Roman: Ironie<br />

und Mystifikation. In: Frey,<br />

Patrick ( Hrsg.):<br />

Das Geheimnis der Arbeit.<br />

Texte zum Werk von Peter<br />

Fischli& David Weiss.<br />

München/Düsseldorf,<br />

1990.<br />

Windhöfel, Lutz: Am Abgrund<br />

des schönen Scheins. In:<br />

Frey, Patrick ( Hrsg.):<br />

Das Geheimnis der Arbeit.<br />

Texte zum Werk von Peter<br />

Fischli& David Weiss.<br />

München/Düsseldorf,<br />

1990.<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/<br />

Peter_Fischli_und_David_<br />

Weiss<br />

www.kunsthaus.ch/pdf/<br />

pm/2007/pm_fischli-<br />

weiss_d.pdf<br />

http://www.kunstaspekte.<br />

de/index.php?tid=14129&<br />

action=termin<br />

muss. Aber in einer Kunstausstellung muss dies<br />

nicht unbedingt immer sichtbar sein. Dennoch<br />

kann auch eine Autonomie eines <strong>Schatten</strong>s<br />

entstehen, er kann auch unabhängig sichtbar<br />

sein. Der <strong>Schatten</strong> muss dabei nicht das<br />

realistische Abbild der Rea<strong>lit</strong>ät zeigen, sondern<br />

kann eine ganz neue Wirklichkeit und Illusion<br />

erschaffen und dadurch eine eigenständige<br />

vom Objekt unabhängige Bedeutung erlangen.<br />

Je nachdem, was der Betrachter in ihm und seinen<br />

Umrissen und Formen erkennt, entstehen<br />

die unterschiedlichsten Interpretationen.<br />

Eine Idee für eine andere Umsetzung von „<br />

Slow Motion“ wäre es gewesen, anhand eines<br />

Films nur den <strong>Schatten</strong> als Bild der Installation<br />

zu zeigen und erst am Schluss aufzulösen, wie<br />

der Gegenstand, welcher den <strong>Schatten</strong> wirft, in<br />

Wirklichkeit aussieht (Abb. 13 und 14).<br />

Dabei wäre jedoch der Reiz des Live-Beobachtens<br />

der sich drehenden Installation verloren<br />

gegangen und die andauernde Spannung wie<br />

lange es halten würde.<br />

63<br />

Abb.13 und 14 - Nur der <strong>Schatten</strong> ohne dazugehörigender<br />

Gegenstand ist sichtbar1


Denise Leonhard<br />

„Ich sehe was, was Du<br />

nicht siehst“<br />

Abb. 1 bis 5 Denise Leonhard: „Ich sehe was, was Du nicht siehst“, Installationsansicht<br />

64


Abb. 6 Rene Magritte ‚La Reproduction<br />

Interdite<br />

Abb. 7 Empire of Light<br />

(L’Empire des lumières),<br />

1953–54. Oil on canvas, 195.4<br />

x 131.2 cm<br />

Abbildungen<br />

‚L’Empire des Lumières’<br />

http://www.guggenheim-<br />

collection.org/site/artist_<br />

work_lg_92_1.html<br />

‚La Reproduction Interdite’<br />

http://peter.lind1.person.<br />

emu.dk/images/magritte22.<br />

jpg<br />

Fußnoten<br />

1 s. Fotoverzeichnis<br />

2 Übersetzt: ‚Die Macht des<br />

Lichts’<br />

3 vgl.: Johansen, Jørgen<br />

Dines: Ein Zerrbild Der<br />

<strong>Schatten</strong> – Ein Anti-<br />

Märchen, in Shadow Play,<br />

Kehrer<br />

Überlegungen zur Arbeit<br />

Die Arbeit mit dem Titel „Ich sehe was, was Du<br />

nicht siehst!“ wurde ausschließlich aus Zeitungspapier<br />

und Pappröhren hergestellt. Das<br />

Zeitungspapier, sowie die Pappröhren wurden<br />

auf zwei aneinander gestellten Bildhauerträgern<br />

platziert, welche auf eine Höhe von 1,50m<br />

eingestellt wurden. Die Oberflächenplatten<br />

beider Träger haben die Maße 60cm x 30cm,<br />

die Höhe der einzelnen Arbeiten variiert und<br />

reicht von 20cm bis zu ca. 100cm.<br />

Beleuchtet wird das Zeitungspapier von einem<br />

Theaterscheinwerfer, der beleuchtete Ausschnitt<br />

hat ca. eine Größe von 1,50m x 1,50m.<br />

Ein möglicher Bezug lässt sich zu René Magritte<br />

ziehen. Er setzt sich mit der Darstellung des<br />

„eigentlich Unmöglichen“ auseinander. Die<br />

dargestellten Szenen hinterfragen jeweils auch<br />

die Rea<strong>lit</strong>ät des Bildes. Besonders Magrittes<br />

Werk ‚La Reproduction Interdite’ 1 , ist Inspiration<br />

zu dieser Arbeit gewesen. Der sich im Spiegel<br />

ansehende Mann, sieht, wider den Erwartungen<br />

des Betrachters, seine eigene Rückansicht.<br />

Andere auf dem Bild zu sehende Gegenstände,<br />

wie ein Buch und der Kaminssims spiegeln sich<br />

gemäß ihrem Original. Der Betrachter nimmt in<br />

dieser künstlerischen Darbietung eine alltägliche<br />

Szene –sich im Spiegel betrachten- wahr,<br />

die jedoch in der Rea<strong>lit</strong>ät nicht existiert.<br />

Ebenso stellt Magritte in ‚L’Empire des Lumières’<br />

2 (Abb. 7) eine Szene dar, die real nicht<br />

existent ist. Zu sehen ist eine Häuserfront,<br />

die allein durch das Licht der Straßenlaterne<br />

erhellt wird, ansonsten herrscht in der unteren<br />

Hälfte des Bildes Nacht. Völlig absurd dagegen<br />

erscheint in der oberen Hälfte des Bildes<br />

ein blauer Himmel. Das Zusammenspiel von<br />

Licht und <strong>Schatten</strong>, die sich generell gegenseitig<br />

bedingen, tritt hier auf konträre Weise in<br />

Erscheinung.<br />

Ähnliche Absichten liegen den Überlegungen<br />

der Arbeit ‚Ich sehe was, was Du nicht siehst“<br />

zugrunde. Intention dieser Arbeit ist die Darstellung<br />

eines <strong>Schatten</strong>bildes, welches im Original<br />

als solches nicht erkennbar ist. Das erwartete<br />

<strong>Schatten</strong>bild wird präsentiert, gleichwohl das<br />

Original- und das <strong>Schatten</strong>bild sich in ihrer<br />

Form unterscheiden. Bei Magritte unterscheidet<br />

sich die Erwartung von der Wahrnehmung des<br />

Betrachters.<br />

Durch „zerknittertes“ Zeitungspapier, entstehen<br />

<strong>Schatten</strong>bilder, die ein jeder Betrachter auf unterschiedliche<br />

Art und Weise rezipiert, jedoch<br />

im Original nicht wieder erkennt. Der Titel<br />

wurde zum einen wegen des unterschiedlichen<br />

spielerischen Bedeutungswandels gewählt,<br />

zum anderen ob der Möglichkeit der Materia<strong>lit</strong>ät<br />

der Installation. Demnach sieht ein Betrachter<br />

etwas, was ein anderer Betrachter dieser<br />

Arbeit gar nicht bzw. anderes sieht.<br />

Zu eventuellen Variationen dieser Arbeit lässt<br />

sich festhalten, dass die Arbeit aus verschiedenen<br />

Teilen besteht und sich somit immer<br />

65<br />

wieder verändert. Es wurden insgesamt neun<br />

unterschiedliche <strong>Schatten</strong>bilder angefertigt, die<br />

nach fotografischer Dokumentation abgebaut<br />

wurden, um neue Gebilde aus Zeitungspapier<br />

zu erstellen. Ein präformiertes Konstrukt aus Zeitungspapier<br />

ließ sich nicht errichten, dadurch<br />

wäre die Aussageabsicht, dass sich im Original,<br />

sprich dem Zeitungsgebilde, das <strong>Schatten</strong>bild<br />

nicht wieder erkennen lassen soll, abhanden<br />

gekommen. Die entstandenen Einzelarbeiten<br />

sind Zufallskonstruktionen.<br />

Der <strong>Schatten</strong><br />

Generell wird der <strong>Schatten</strong> oft als Symbol der<br />

Seele betrachtet, ohne die der Mensch nicht<br />

existieren kann. Zum einen wird der <strong>Schatten</strong><br />

also mit Tod assoziiert, zum anderen symbolisiert<br />

er die irdische Existenz des Menschen.<br />

Es besteht sowohl eine Verbindung zwischen<br />

<strong>Schatten</strong> und Seele, als auch zwischen <strong>Schatten</strong><br />

und Tod. <strong>Schatten</strong>los zu sein, sprich keinen<br />

<strong>Schatten</strong> mehr zu werfen, bedeutet den Verlust<br />

der Seele und Verdammnis. Licht und <strong>Schatten</strong><br />

bedingen sich gegenseitig, dennoch gehört<br />

der <strong>Schatten</strong> zur Dunkelheit und ist Symbol für<br />

die dunkle Seite des Menschen. Der zu dem<br />

Menschen bzw. zu Gegenständen gehörende<br />

<strong>Schatten</strong> ist in Kombination mit Lichteinfall immer<br />

vorhanden und folgt dem Menschen oder<br />

dem Gegenstand. 3<br />

In dieser Arbeit hingegen ist das Abbild bzw.<br />

das <strong>Schatten</strong>bild das eigentlich zu betrachtende<br />

Bild, der <strong>Schatten</strong> hat demzufolge keinen<br />

mystischen Stellenwert. Der <strong>Schatten</strong> spiegelt<br />

das tatsächliche Abbild des Zeitungskonstrukts<br />

wieder und lässt dieses erst als ein solches,<br />

erkennbares Bild erscheinen. Die entstandene<br />

Arbeit ist vergänglich und hat somit etwas<br />

Endliches. Die Zufallskonstruktionen aus Zeitungspapier<br />

sind in dieser Art und Weise nicht<br />

wieder herstellbar und ließen sich an einem anderen<br />

Ort nicht wieder errichten. Allein durch<br />

die fotografische Dokumentation eingefangen,<br />

hat diese Arbeit nichts konkret Fassbares oder<br />

Gegenständliches mehr.


Annika Will<br />

Inhalt<br />

1. Konzeptentwicklung<br />

2. Konzeptdurchführung<br />

und –modifizierung<br />

3. Konzeptpräsentation<br />

4. Möglichkeiten zur<br />

Verbesserung<br />

5. Fazit<br />

Abb. 2: Beispielfotos von Händen,<br />

eine Bewegungssequenz<br />

„Zeichen der Sprache“<br />

Werdegang einer medialen Arbeit<br />

Abb. 1: „Zeichen der Sprache“, Animationsfilm<br />

1. Konzeptentwicklung<br />

Ich entschied mich dafür, ein Projekt in Zusammenarbeit<br />

mit Nadine Kuhlow zu planen,<br />

aus- und durchzuführen. Wir waren uns beide<br />

darüber im Klaren, dass wir gemeinsam mehr<br />

unterschiedliche und interessante Ideen haben<br />

würden, als wenn wir ein Projekt alleine geplant<br />

und umgesetzt hätten.<br />

Um eine erste Auseinandersetzung mit den<br />

thematischen Begebenheiten zu bekommen,<br />

wurden uns innerhalb des Seminars bereits<br />

vorhandene <strong>Schatten</strong>filme und <strong>Schatten</strong>künstler<br />

gezeigt und diese besprochen. Innerhalb<br />

der anschließenden eigenständigen Internetrecherche<br />

zum Themenbereich <strong>Schatten</strong>kunst,<br />

<strong>Schatten</strong>film, <strong>Schatten</strong>spiel, <strong>Schatten</strong> vs. Silhouette<br />

etc. entwickelten sich erste Konzepte. Wir<br />

überlegten in den nächsten Veranstaltungen<br />

gemeinsam, wie man sich mit der Thematik<br />

„moving <strong>shadows</strong>“ auseinander setzen könnte.<br />

Es entstanden viele verschiedene Ideen zu<br />

möglichen Installationen, Plastiken, Filmen etc.<br />

Im weiteren Verlauf des Seminars entwickelten<br />

sich, angeregt durch die vielen Gespräche und<br />

Denkanstöße, auch erste Ideen und Konzepte<br />

von Nadine und mir. Nach kurzem Nachdenken<br />

entschieden wir uns dafür, dass wir gerne<br />

mit der Technik des Stopp- Motion- Verfahrens<br />

arbeiten wollten. Anstatt eine Installation zu<br />

entwerfen, fanden wir es interessanter per<br />

Digitalkamera Fotos aufzunehmen, um diese<br />

später in einem Computerprogramm aneinander<br />

zu reihen, so dass ein Kurzfilm entstehen<br />

würde. Da wir mit dieser Technik bereits im WS<br />

66<br />

05/06 innerhalb des Seminars „anwesend- abwesend“<br />

gearbeitet haben (Projekt „Von Turm<br />

zu Turm“), war uns das Computerprogramm<br />

Pinnacle Studio in seinem Aufbau und seiner<br />

Anwendung noch bekannt. Inhaltlich beschlossen<br />

wir vorerst, dass wir uns auf Aufnahmen<br />

markanter <strong>Schatten</strong> konzentrieren wollten. Bei<br />

der Recherche nach vorhandenem Material<br />

entschlossen wir uns ziemlich schnell dazu, mit<br />

den <strong>Schatten</strong> von Menschen arbeiten zu wollen.<br />

Menschenschatten beinhalten zum einen<br />

etwas Mystisches (Abbild der eigenen Person).<br />

Zum anderen wäre eine direkte Ansprache zum<br />

Betrachter gegeben, da sicherlich jeder schon<br />

mal Situationen erlebt hat, wo man seinen<br />

eigenen <strong>Schatten</strong> gesehen hat. Wir wollten so<br />

u.a. den Aspekt untersuchen, wie <strong>Schatten</strong> die<br />

Rea<strong>lit</strong>ät verzerren können und wie unheimlich<br />

sie wirken können. Unsere Ideen kreisten um<br />

das Themengebiet Verfolgung. Wir entschlossen<br />

uns dazu, eine Jagd auf den eigenen <strong>Schatten</strong><br />

aufzunehmen. Um diese Ideen umzusetzen,<br />

gingen wir in das Kellergewölbe der <strong>Universität</strong><br />

Hildesheim und nahmen dort erste Fotos von<br />

<strong>Schatten</strong> unseres Körpers und unserer Körperteile<br />

auf. Der <strong>Schatten</strong> entstand dadurch, dass<br />

wir einen Scheinwerfer in größerer Distanz<br />

zu einer weiß-gelblichen Kellerwand aufstellten.<br />

Eine von uns beiden stellte sich vor den<br />

Scheinwerfer und probierte einige Posen aus.<br />

Die andere von uns fotografierte den entstandenen<br />

<strong>Schatten</strong> an der Wand. Als Fotografierende<br />

hatte man das Problem, nicht den realen<br />

Körper mit ins Bild zu bekommen, sondern nur


Abb. 3: Hand und <strong>Schatten</strong><br />

Abb. 4: Beispielfotos, grau<br />

(oben) und rötlich (unten)<br />

Abb. 5 Beispielfotos für Beinbewegungen:<br />

Abb. 6 Beispielfotos für Beinbewegungen:<br />

den <strong>Schatten</strong> der Person. Bei Positionen nah an<br />

der Wand war dieses manchmal fast unumgänglich,<br />

so dass sich manche Posen verboten.<br />

Beispielfoto, wo der reale Körper (hier die<br />

Hände) noch zu sehen ist (Abb. 2). Weiterhin<br />

entstanden Probleme hinsichtlich der Qua<strong>lit</strong>ät<br />

der Aufnahmen. Je nach Belichtung sahen<br />

manche <strong>Schatten</strong>bilder eher grau und andere<br />

eher rötlich aus. Wir mussten uns daher für<br />

eine Belichtungseinheit entscheiden (Abb. 3).<br />

Wo Aufnahmen zu realisieren waren, arbeiteten<br />

wir vermehrt mit dem Zoom der Kamera,<br />

um <strong>Schatten</strong> heranzuholen. Innerhalb dieser<br />

ersten Fotoaufnahmen merkten wir immer<br />

wieder, dass wir unbeabsichtigt vermehrt mit<br />

unseren Händen arbeiteten. Auch Kommi<strong>lit</strong>onen,<br />

die sich vor dem Scheinwerfer bewegten,<br />

nutzen überwiegend Hände, um <strong>Schatten</strong><br />

zu erzeugen. Es entstanden in der Phase der<br />

ersten Aufnahmen regelrechte Handschattenspiele<br />

an der Wand. Jeder wollte so z.B. mal ein<br />

<strong>Schatten</strong>tier erzeugen o.ä. Keiner erzeugte aber<br />

<strong>Schatten</strong> mit den Beinen oder anderen Körperteilen<br />

- ein interessantes Phänomen.<br />

Dieses Phänomen fiel uns aber erst bewusst<br />

bei einer ersten Schau unter Pinnacle auf.<br />

Nach der Aneinanderreihung unserer ersten<br />

Bilder, die u.a. schrittweise Bewegungen von<br />

Beinen, Armen etc. aufzeigten, fielen uns die<br />

vermehrten Passagen von Händebewegungen<br />

auf. Zwischen einzelnen Figurposen kamen<br />

immer wieder Ein- oder Zweihandbewegungen<br />

und Fingerspiele ins Blickfeld. Dass wir so<br />

überwiegend mit einer Hand/ beiden Händen<br />

und Fingern arbeiteten, ist uns vorher gar nicht<br />

bewusst gewesen. Nach mehrmaliger Betrachtung<br />

der einzelnen Fotosequenzen (Abfolge<br />

von Beinbewegungen, Abfolge von aufstehenden<br />

Bewegungen, Abfolge von streckenden<br />

Bewegungen, Abfolge von Armbewegungen,<br />

Abfolge von Kopfbewegungen etc.) kristallisierte<br />

sich heraus, dass uns beiden die Fotos mit<br />

den Handbewegungen am interessantesten<br />

und am spannendsten erschienen. Das vorher<br />

beobachtete Phänomen bot einen Reiz die<br />

67<br />

Thematik „<strong>Schatten</strong> von Handbewegungen“<br />

aufzugreifen und zu bearbeiten (Abb. 4 und 5).<br />

Die übrigen Bilder von anderen Körperteilen<br />

zeigten häufig nicht den von uns gewünschten<br />

Effekt auf. So haben wir zum vorherig<br />

angedachten Themenbereich „Verfolgung“<br />

z.B. Bilder aufgenommen, wo es so aussah,<br />

als wenn der <strong>Schatten</strong> an einer Wand hoch<br />

krabbelte. Dieses in real zu beobachtende Phänomen<br />

gaben die Bilder keineswegs wieder.<br />

Die Fotos sahen sehr plump und starr aus. Man<br />

konnte die Bewegung des Krabbelns gar nicht<br />

erkennen.<br />

Wir überlegten uns an unseren Handsequenzen<br />

weiterzuarbeiten und weitere Fotos von<br />

Händen und Fingern aufzunehmen, um schauen<br />

zu können, wie man sie geeignet in einen<br />

Film transformieren könnte (Abb. 1).<br />

Wir verzichteten aber vorerst dennoch nicht<br />

darauf, auch Aufnahmen von anderen Körperteilen<br />

zu machen, um später aus dem<br />

gesammelten Fundus Vergleiche ziehen und<br />

selektieren zu können. Wir waren uns bewusst,<br />

dass sich unser vorherig aufgestelltes Konzept<br />

etwas verändern würde, wollten uns aber in<br />

der Phase der Sammlung von Aufnahmen noch<br />

nicht auf einen speziell bestimmten Themenbereich<br />

festlegen.<br />

Im Folgenden begannen wir mit der konkreten<br />

praktischen Durchführung unserer gesammelten<br />

Ideen. Wir sammelten per Digitalkamera<br />

Fotos von <strong>Schatten</strong> unserer Person und unseres<br />

Körpers.<br />

2. Konzeptdurchführung und -modifizierung<br />

Wir begannen unsere Arbeit damit, dass wir<br />

zuerst Fotos von weiteren <strong>Schatten</strong> unserer<br />

Körperteile und dann auch insbesondere unserer<br />

Hände aufnahmen. Innerhalb der Seminarzeit<br />

fotografierten wir primär im Kellerraum der<br />

<strong>Universität</strong>. Die <strong>Schatten</strong> waren durch den aufgestellten<br />

Scheinwerfer an den Kellerwänden<br />

sehr prägnant und deutlich klar zu erkennen,<br />

was uns gefiel. Zum anderen fotografierten wir


Abb. 7: Der erhobene Daumen<br />

verschiedene Posen auch getrennt voneinander<br />

zu Hause. Hier nutzen wir als Lichtquelle<br />

die Zimmerbirne/ Zimmerlampe. Als Untergrund<br />

fungierte bei mir mein Paketboden und<br />

bei Nadine eine helle, gelbliche Wand.<br />

Beim Zusammentragen der neuen Bilder<br />

entschieden wir uns schlussendlich dafür, nun<br />

doch mit Händen arbeiten zu wollen. Zum<br />

einen wurden die Aufnahmen der Handstellungen<br />

und –sequenzen am besten und zum anderen<br />

konnte man sich somit ein klares Konzept<br />

entwickeln. Das dringende Kontaktieren der<br />

Hände war unübersichtlich. Fotos von anderen<br />

Körperteilen störten uns in dem Ablauf der Filmentwicklung.<br />

Folglich nahmen wir alle anderen<br />

Fotos aus dem Programm heraus und modifizierten<br />

unser Konzept. Der Entschluss war<br />

beschlossen, sich nur auf Hände zu konzentrieren.<br />

Sie boten für uns von Anfang an eine<br />

unbewusste Anziehungskraft und Spannung<br />

(s. beschriebenes Phänomen S.3). Wir dachten<br />

im Folgenden darüber nach, warum das so sei.<br />

Auch Beobachtungen von <strong>Schatten</strong>spielen von<br />

Kommi<strong>lit</strong>onen haben ja bereits ergeben, dass<br />

primär Hände eingesetzt werden, um vor einer<br />

Wand <strong>Schatten</strong> zu erzeugen (primär Hände in<br />

den Spott zu stellen). Hände müssen also einen<br />

spannenden Aspekt enthalten.<br />

Diese These verstärkt sich auch durch Beobachtungen<br />

im Bus. Auf der Busfahrt von der<br />

<strong>Universität</strong> zum Bahnhof steigen hin und<br />

wieder Gehörlose in den Bus. Wenn diese sich<br />

untereinander mit Gesten der Hände unterhalten,<br />

ist es oft ein Blickfang für weitere Passagiere,<br />

auch für einen selber. Es ist interessant und<br />

spannend zu beobachten, mit welchen Gesten<br />

sich Gehörlose unterhalten. Wenn man erst einmal<br />

darauf achtet, wie oft „Zeichensprache“ mit<br />

Händen im Alltag genutzt werden, fallen einem<br />

viele weitere Beispiele ein.<br />

Eine Mutter gestikuliert auch vermehrt, wenn<br />

sie mit ihrem kleinen Kind spricht. Da wird<br />

schnell mal auf etwas gezeigt, um etwas zu<br />

verdeutlichen oder der Finger gehoben, um<br />

eine Drohung zu veranschaulichen. In Supermärkten<br />

werden Hinweise, wo etwas steht<br />

primär durch das Zeigen erklärt. Beim Bäcker<br />

wird selten gesagt, was für ein Brötchen man<br />

genau haben möchte- es wird oft lediglich auf<br />

ein bestimmtes gezeigt. Schüler in der Schule<br />

nutzen in den ersten Klassen sehr häufig<br />

die Finger, um etwas abzuzählen und auch<br />

Erwachsene lassen sich hin und wieder beim<br />

Abzählen mit Finger erwischen (Hilfestellung<br />

zur Veranschaulichung von mathematischen<br />

Gedanken). In Seminaren verwenden Dozenten<br />

oft ihre Hände, um Hinweise zu geben- sei<br />

es nur um auf eine Tafel mit Aufschriften zu verweisen<br />

oder um Redeanteile zu verdeutlichen.<br />

Besonders im Fachbereich Deutsch bemerken<br />

wir, dass Dozenten sehr häufig während des<br />

Redens gestikulieren (Rhetorik). Die Deixis der<br />

Sprache ist also übergreifend überall anzutreffen.<br />

Jeder nutzt die Zeichen der gestischen<br />

Sprache, um Redeanteile zu verdeutlichen, zu<br />

unterstützen, zu klären etc.<br />

68<br />

Unser Konzept benannten wir folglich mit<br />

dem Titel „Zeichen der Sprache“. Die beiden<br />

Substantive zu einem Wort zusammenzufügen<br />

zu „Zeichensprache“ wollten wir umgehen, da<br />

wir ja keine genaue Zeichensprache entwickelt<br />

haben, die es (wie schon in den Kindheitstagen<br />

mit der besten Freundin) zu entschlüsseln gilt.<br />

Unsere Zeichen der Sprache sollen für jedermann<br />

zu entschlüsseln und für jedermann<br />

verständlich sein. Wir stellen die These auf,<br />

dass sich jeder Betrachter in mindestens eine<br />

Zeichensequenz hineindenken und sie verstehen<br />

kann, da er/ sie aus dem Alltagsleben her<br />

kennt und evt. selber gebraucht. Jeder wird so<br />

z.B. verstehen und deuten können, dass ein erhobener<br />

Daumen eine positive Geste darstellt.<br />

Oft nutzen wir diese Geste, um eine Bewertung<br />

wie „spitze“/ „super“ anzuzeigen bzw. um eine<br />

mündliche Bewertung gestisch zu unterstützen.<br />

Beispielfoto des erhobenen Daumens (Abb. 6).<br />

Innerhalb unseres Konzeptes verfolgen wir das<br />

Ziel, die Kommunikation (-sfunktion) der Hände<br />

aufzuzeigen. Der Betrachter soll erfahren und/<br />

oder sich bewusst machen, wie wichtig die Zeichen<br />

der Sprache im Alltagsgespräch sind. Wie<br />

bereits oben beschrieben, lassen sich zahlreiche<br />

Beispiele finden (wenn man nur einmal genau<br />

darauf achtet) wann in welchen Situationen,<br />

wie und wie oft man die Hände als kommunikatives<br />

Mittel einsetzt.<br />

Unsere Idee gestalteten wir nun praktisch im<br />

Computerprogramm „Pinnacle Studio 10“ aus.<br />

Wir fügten vorerst alle von uns aufgenommenen<br />

Händefotos aneinander. Eine direkte Reihenfolge<br />

gab es nicht. Wir überlegten, dass wir<br />

die Reihenfolge demnach bestimmen wollen,<br />

welche Sequenzen nacheinander zusammen<br />

passen (z.B. wo der Unterboden gleich ist; eine<br />

sich abwechselnde Folge von geschlossenen<br />

und offenen Händen). Nach Ordnung und<br />

Bearbeitung (z.B. Drehen der Fotos) der Fotos,<br />

konnten wir sie alle schlussendlich aneinander<br />

reihen und zu einer Filmsequenz zusammenfügen.<br />

Wir hatten mittlerweile mehr als 150 Fotos<br />

geschossen, welche uns in unserem Projekt<br />

zur Verfügung standen. Bilder mit schlechter<br />

Qua<strong>lit</strong>ät sortierten wir aus. Die übrigen Bilder<br />

wurden unserer konzeptuellen Reihenfolge<br />

(offen- geschlossene Handflächen im Wechsel;<br />

Sequenzenbeibehaltung) nach angeordnet<br />

und im Programm gespeichert.<br />

Im weiteren Verlauf legten wir die einzelnen<br />

Zeiten zwischen den zu zeigenden Bildern<br />

fest und bearbeiteten sowohl das Anfangs- als<br />

auch das Endbild. Jedes Bild hatte seine eigene<br />

festgelegte Zeiteinheit. Diese bestimmt, wie<br />

lange das Bild für den Betrachter sichtbar sein<br />

sollte. Es entstand ein Kurzfilm, der alle von uns<br />

ausgewählten Sequenzen von Handstellungen<br />

zeigte.<br />

Nach Beendung dieser Arbeit zeigten wir<br />

unserem Dozenten unseren vorläufig fertig gestellten<br />

Film. Dieser schaute sich ihn mehrmals<br />

an und gab uns den Tipp, die Fotos schneller<br />

zeigen zu lassen bzw. die Zeiten zu verkürzen,<br />

um Dramaturgie hinein zu bekommen. Diesen


Vorschlag probierten wir aus. Da er uns gefiel<br />

beließen wir es dabei, die angeordneten Bilder<br />

etwas schneller zeigen zu lassen. Dennoch<br />

achteten wir darauf, dass die Zeiten für den<br />

Betrachter nicht als zu schnell seinen würden.<br />

Weiterhin überlegten wir, ob wir den Film<br />

noch mit Musik unterlegen sollten. Diese Idee<br />

nahmen wir aus anderen Projekten auf. Wir<br />

entschieden uns aber dagegen, da wir den<br />

Betrachter in seiner Betrachtung nur auf die<br />

Bilder, anstatt auch auf Musik, konzentrieren<br />

wollten. Die Aufmerksamkeit sollte nur bei den<br />

Bildern liegen. Man sollte nicht von musikalischen<br />

Beiträgen abgelenkt werden. Auch wäre<br />

eine musikalische Unterbindung aus zeitlichen<br />

Gründen nicht mehr möglich gewesen.<br />

Da zu der Sitzung am 23.01.07 unser gesamtes<br />

Projekt nicht mehr im Computer auffindbar war<br />

(vom RZ gelöscht?!), mussten wir unser Projekt<br />

erneut erstellen. Aufgrund der Ausstellung,<br />

die am 30.01.07 stattfinden sollte, blieb uns<br />

nicht viel Zeit. Glücklicherweise hatten wir viele<br />

unserer Fotos auf einem Stick gespeichert und<br />

mit zum Seminar genommen. Wir erstellten<br />

unseren Film also mit den uns zur Verfügung<br />

stehenden Bildern erneut. Konzeptuell veränderten<br />

wir nichts. Wir versuchten den Film<br />

genauso anzulegen, wie den vorherigen, nur<br />

leider mit weniger Bildern.<br />

Im Endeffekt gefiel uns dieser neu entstandene<br />

Film genauso gut wie die erste Version. Der<br />

Film wurde als Endlosschleife angelegt. Ein<br />

Kreislauf sprachlicher Zeichen entstand.<br />

2.1 Kunstbezüge/ Ansätze von Künstlern<br />

Innerhalb unserer Internetrecherche zu unserem<br />

Konzept „Zeichen der Sprache“ sind wir auf<br />

viele verschiedene Möglichkeiten gestoßen, mit<br />

<strong>Schatten</strong> von Händen einen Film zu erstellen.<br />

Es existieren schon zahlreiche Kunstbezüge<br />

<strong>Schatten</strong> der Hände einzusetzen. Hierbei haben<br />

wir primär Filme gesehen, die nicht einem Fotobearbeitungsprogramm<br />

entstammen, sondern<br />

mit Filmkameras gedreht worden sind. Inhaltlich<br />

kreisten viele Projekte darum, mit <strong>Schatten</strong><br />

von Händen Tiere darzustellen. Resultate,<br />

wo <strong>Schatten</strong> der Hände in Bezug auf direkte<br />

Kommunikation, wie z.B. die Gebärdensprache,<br />

gesetzt werden, haben wir sehr bedingt ausfindig<br />

machen können.<br />

Zusammenfassend thematisieren einige Künstler<br />

den Aspekt von Handschatten, vernachlässigen<br />

aber die von uns gewählte Thematik der<br />

Kommunikation.<br />

So weisen die Internetseiten von fotosearch.de,<br />

blog.insnet.de oder flickr.com die Thematisierung<br />

von <strong>Schatten</strong> und Händen auf.<br />

Innerhalb unseres Projekts konzentrierten<br />

wir uns, neben der Betrachtung von Handschattenfotos,<br />

insbesondere auf die zweite<br />

angegebene Internetseite: http://blog.insnet.<br />

de/tag/hand-schatten-vw-grabarz-partner-adcommercial.<br />

Die ersten Sekunden innerhalb<br />

dieses Filmes waren für uns sehr wichtig. Wir<br />

haben so z.B. erfahren, dass sich bei Aufnahmen<br />

die Stellungen der einzelnen Handposen<br />

69<br />

nur minimal voneinander unterscheiden lassen<br />

dürfen, um eine Bewegung ausmachen zu können.<br />

Zu schnelle, ruckartige Posen, z.B. von der<br />

Faust direkt zur offenen Hand, würden keine<br />

abfolgende Sequenz ausmachen. Auch haben<br />

wir anhand dieses Filmes die Bearbeitung der<br />

Zeiten der zu zeigenden Aufnahmen besser<br />

einschätzen können.<br />

Auch wenn Fabian Nöthes Weblog im Gegensatz<br />

zu unserem Projekt einen Film darstellt,<br />

war es für uns hilfreich diesen als „Vorbild“ für<br />

unsere praktische Arbeit anzusehen. Innerhalb<br />

dieses Filmes erkennt man, welche Aussagekraft<br />

<strong>Schatten</strong> haben können. Der Film hat uns<br />

beiden von seiner Machart, Gestaltung und<br />

Technik sehr beeindruckt.<br />

3. Konzeptpräsentation<br />

Unsere mediale Arbeit wurde während der<br />

Ausstellung des Seminars „moving <strong>shadows</strong>“<br />

am 30.01.07 von 14 bis 18 Uhr gezeigt. Als<br />

Ausstellungsort fungierte ein Kellergebäude<br />

der <strong>Universität</strong> Hildesheim. Für unsere mediale<br />

Arbeit benötigten wir einen Fernseher und<br />

einen Dvd- Player. Aufgrund von vorheriger<br />

undurchsichtiger Absprachen mit Kommi<strong>lit</strong>onen<br />

standen uns am Tag der Präsentation<br />

diese Medien nicht mehr zur Verfügung, da<br />

sie bereits von anderen Projekten beansprucht<br />

wurden. Netterweise erklärte sich eine Kommi<strong>lit</strong>onin<br />

bereit, dass wir ihren Laptop nutzen<br />

durften. Wir zeigten unseren Film also folglich<br />

auf dem Laptop.<br />

Da der Film als Endlosschleife (endless- dvd)<br />

konzipiert war, konnte der Betrachter jederzeit<br />

in den Film einsteigen und ihn „zu Ende“ schauen<br />

bzw. so lange betrachten bis wieder ihm/<br />

ihr bekannte Bilder auftraten.<br />

4. Möglichkeiten zur Verbesserung<br />

Da wir bei unserem Projekt „Von Turm zu<br />

Turm“ eine Möglichkeit zur Verbesserung in der<br />

Vermeidung der Uhrzeitangabe der Digitalkamera<br />

auf den Bildern ansahen, haben wir<br />

dieses mal darauf vermehrt geachtet. Bilder, wo<br />

Uhrzeitangaben in der Ecke waren, haben wir<br />

sofort ausselektiert bzw. haben wir Fotos primär<br />

mit der Kamera aufgenommen, die keine<br />

Uhrzeit angab. Die Uhrzeitangaben sollten den<br />

Betrachter in seiner Betrachtungsweise nicht<br />

vom eigentlichen Motiv auf dem Bild ablenken.<br />

Als eine Möglichkeit der Verbesserung sehe ich<br />

definitiv die feste Bestimmung eines Untergrundes<br />

an, worauf der <strong>Schatten</strong> projiziert werden<br />

soll. Innerhalb der Betrachtung unseres fertig<br />

gestellten Projekts fiel uns auf, dass unsere<br />

verschiedenen Böden als irritierend erschienen.<br />

Wir hatten insgesamt drei verschiedene<br />

Untergründe (Kellerwand, Paketboden, Tapetenwand),<br />

die sich im Endeffekt doch voneinander<br />

sehr unterschieden. Beim Aufnehmen<br />

der Bilder sind uns diese Unterschiede nicht<br />

so direkt aufgefallen, da wir dachten, dass die<br />

Böden ähnliche Töne aufwiesen. Bei einem<br />

nächsten Projekt würde ich also folglich darauf<br />

achten, dass alle Untergründe bzw. Hintergrün-


Abb. 8: „unfassbare“ Farbe<br />

de derselben Farbe entsprechen bzw. dass man<br />

nur einen Untergrund der Projektion verwendet,<br />

um dieser Irritation entgehen zu können.<br />

Weiterhin weisen Aufnahmen der verschiedenen<br />

Böden auch unterschiedliche Helligkeiten<br />

auf. Nicht nur die verschiednen Bodentöne<br />

irritieren, sondern auch die verschiedenen Helligkeiten<br />

der Bilder. Es ist daher ratsam diesem<br />

Problem in einem weiteren Projekt zu entgehen<br />

und nur einen Untergrund zu verwenden.<br />

Auch sind uns gelbe Flecke an der Wand des<br />

Kellergebäudes bei dem Aufnehmen der Bilder<br />

gar nicht aufgefallen, die sich später aber in<br />

den Fotos bemerkbar gemacht haben (Abb. 7):<br />

Beim nächsten Mal würde ich darauf von<br />

vornherein mehr achten. Man sollte doch<br />

etwas mehr Zeit aufwenden, um einen vollends<br />

geeigneten Untergrund zu finden.<br />

Als weitere Möglichkeit der Verbesserung<br />

könnte man sich überlegen, ob musikalische<br />

Beiträge zur Unterstützung des Kurzfilmes<br />

eventuell doch als sinnvoll erscheinen könnten.<br />

Beobachtungen haben ergeben, dass musikalische<br />

Beiträge oft die Aufmerksamkeit des Betrachters<br />

erzielen. Musik könnte also demnach<br />

sowohl die Aufmerksamkeit des Betrachters, als<br />

auch das Interesse an einem Projekt durchaus<br />

steigern. Es lässt sich aber dennoch kritisch<br />

anmerken, dass eine Musik auch zu einem Film<br />

o.ä. passen muss. Willkürliche musikalische<br />

Untermalung würde keinen Effekt hervorrufen<br />

und den Betrachter ggf. nur irritieren. Bei einem<br />

nächsten Projekt würde ich diese Überlegungen<br />

aber schon früher als in der Endphase<br />

der Produktion mit bedenken.<br />

Insgesamt betrachtet sehe ich diese Ansatzpunkte<br />

als Möglichkeiten zur Verbesserung, die<br />

man/ wir bei einer weiteren medialen Arbeit<br />

mit beachten könnten.<br />

5. Fazit<br />

Innerhalb des Verlaufs dieses Seminars habe<br />

ich viele neue Eindrücke gesammelt.<br />

Ich habe viele neue Informationen im Umgang<br />

mit Computerprogrammen erhalten.<br />

Die praktische Auseinandersetzung mit dem<br />

Programm „Pinnacle Studio 10“ hat mir sehr viel<br />

Spaß gemacht. Es war mal wieder sehr interessant<br />

festzustellen, was man alles mit einzelnen<br />

Fotoaufnahmen machen kann.<br />

Die Erstellung und das Produzieren eines<br />

Kurzfilmes aus Fotoaufnahmen waren für mich<br />

zwar nicht neu, aber da das Programm „Pinnacle<br />

Studio Plus 10, Version 10.6“ eine neue<br />

Version von „Pinnacle Studio 9“ ist und ich<br />

lange nicht daran gearbeitet habe, musste man<br />

sich erst einmal wieder einarbeiten.<br />

Ich denke, dass es uns einen interessanten und<br />

spannenden Ansatzpunkt gegeben hat, wieder<br />

weiterhin mit solch Programmen arbeiten zu<br />

wollen.<br />

Insgesamt betrachtet bin ich mit unserem Resultat<br />

des Seminars zufrieden. Die Mischung aus<br />

Film und Foto gefällt mir ganz gut. Es erinnert<br />

mich etwas an alte Stummfilme, die ich früher<br />

bei meinen Großeltern gesehen habe.<br />

70<br />

Durch die Arbeiten der Kommi<strong>lit</strong>onen konnte<br />

man sich tolle neue Ansatzpunkte und Ideen<br />

für weitere Arbeiten ableiten. Es sind viele<br />

spannende, witzige und interessante mediale<br />

Arbeiten entstanden.


Saskia Seifer<br />

Inhalt<br />

1 Entstehung der<br />

Arbeit<br />

2 Beschreibung der<br />

Installation<br />

3 Überlegungen<br />

4 Mögliche Interpretationsansätze<br />

5 Künstlerische<br />

Bezüge<br />

6 Variationen<br />

7 Schlussbetrachtung<br />

Abb. 2<br />

Abb. 3<br />

Quellen<br />

Abbildungen 2 - 9, „Serviert“,<br />

Installationsansichten, Details<br />

„Serviert“<br />

Abbildung 1: Saskis Seifer, „Serviert“, Installationsansicht<br />

1 Entstehung der Arbeit<br />

Ich stellte mir zu Beginn vor, eine Installation zu<br />

schaffen, in der Puppen dargestellt werden, die<br />

missbraucht und vergewaltigt wurden. In der<br />

Installation sollten die Folgen der Tat anhand<br />

der Puppen erkennbar sein, indem diese verunstaltet<br />

und zerstört dargestellt werden, beispielsweise<br />

durch aufgerissene Kleider, verletzte<br />

Gliedmaßen, gespreizte Beine, durchstochene<br />

Augen, verbrannte Gesichter und mit schwarzem<br />

Klebeband zugeklebte Münder, sodass<br />

diese zum Sprechen nicht mehr in der Lage<br />

sind etc.. Die verletzten weiblichen Körper sollten<br />

als Opfer auf einem Teller präsentiert und<br />

dem Betrachter vorgesetzt werden. Die Folgen<br />

der Tat sollten demnach zum einen an den<br />

Figuren selbst erkennbar sein, indem eine helle<br />

Lichtquelle inmitten der Figuren hängt und die<br />

Frauenkörper hell beleuchtet. Zum anderen<br />

sollte die Lampe <strong>Schatten</strong> erzeugen, welche<br />

auf die Wände projiziert werden. Die <strong>Schatten</strong><br />

sollten an die Schrecken der Tat, an die<br />

zerbrochenen Seelen der Figuren erinnern und<br />

all das symbolisieren, was in der Öffentlichkeit<br />

meist im Dunkeln bleibt. So viele Taten bleiben<br />

im Verborgenen, sodass den Opfern, insofern<br />

sie noch am Leben sind, nicht geholfen werden<br />

kann. Ihr Leben lang behalten sie die Taten in<br />

71<br />

Erinnerung und werden immer wieder mit diesen<br />

konfrontiert. Während der Entwicklungsphase<br />

kam ich jedoch von dem Gedanken ab,<br />

die Folgen der Taten symbolisch darzustellen.<br />

Warum sollen diese aufgezeigt werden, wenn<br />

die seelischen Folgen viel bedeutender sind, da<br />

sie nie ausreichend geheilt werden können?<br />

Ich entschloss mich also dazu, unbekleidete<br />

Puppen, doch nicht deren Verletzungen darzustellen.<br />

Dadurch bekam die Installation für<br />

mich einen neuen Interpretationsansatz, der im<br />

Folgenden aufgezeigt werden soll.<br />

2 Beschreibung der Installation<br />

Die Installation „Serviert“ besteht hauptsächlich<br />

aus unbekleideten Barbiepuppen, einem<br />

Schallplattenspieler und einer Lichtquelle. Die<br />

Puppen sind nackt, tragen aber billige Accessoires<br />

wie beispielsweise Ohrringe, Armreifen<br />

und Haargummis. Die Figuren sind an einem<br />

ausgeschnittenen Kartonboden befestigt,<br />

der sich mit Hilfe des darunter befindenden<br />

Schallplattenspielers dreht, welcher auf einem<br />

Glastisch steht. Inmitten der weiblichen Körper<br />

hängt eine 60 Watt - Kabellampe, die diese<br />

anstrahlt und durch die bis zu etwa 2,50 m<br />

große <strong>Schatten</strong> an der Wand projiziert werden


Abb. 5<br />

Abb. 6<br />

Abb. 4<br />

können. Während der Tisch eine Höhe von ca.<br />

0,50 m misst, stellt der <strong>Schatten</strong>spieler mit den<br />

Barbies etwa eine Größe von ca. 0,40 m dar.<br />

Insgesamt ist die Installation demnach etwa<br />

0,90 m hoch. Neben den aufgezeigten Elementen<br />

steht für den Betrachter ein Stuhl, auf dem<br />

ein Discman liegt, bereit. In diesem ist eine CD<br />

mit schrillen Geräuschen, eingelegt, die der<br />

Betrachter sich anhören kann. Die Installation<br />

ist mit einer Wand aus Pappe vom Rest des Raumes<br />

abgetrennt und befindet sich demzufolge<br />

in einem extra arrangierten Bereich.<br />

3 Überlegungen zur Arbeit<br />

In der Installation „Serviert“ werden unbekleidete<br />

Puppen, stellvertretend für Frauen, in<br />

anzüglichen Posen dargestellt, die auf einem<br />

sich drehenden Teller präsentiert werden. Die<br />

Puppen werden von einer herunterhängenden<br />

Kabellampe beleuchtet. Der Betrachter<br />

kann um die Puppen herumgehen und so<br />

die Figuren aus verschiedenen Perspektiven<br />

anschauen. Sie sind mit ihren Füßen in dem<br />

Teller, bzw. dem Pappkartonboden befestigt.<br />

Auf Grund der Lichtquelle werden die <strong>Schatten</strong><br />

jeder einzelnen Puppe an die Wand projiziert.<br />

Diese tanzen in beinahe Lebensgröße, um den<br />

Betrachter herum, die <strong>Schatten</strong> der Betrachter<br />

vermischen sich mit dem der Figuren. Die bereitliegenden<br />

Kopfhörer verlangen jedoch ein<br />

Verharren zum Hören.<br />

4 Mögliche Interpretationsansätze<br />

Der Titel „Serviert“ verdeutlicht die Darstellung<br />

einer Präsentation. Die Figuren befinden sich<br />

auf einem „Präsentierteller“, von dem sie selbst<br />

nicht loskommen.<br />

72<br />

Die Puppen sind mit billigem Modeschmuck<br />

behangen, die Lichtquelle ist eine Lampe wie<br />

sie in einem Schuppen, Keller o. Ä. Verwendung<br />

findet. Die abgrenzende Wand besteht<br />

aus einfachem Pappkarton und unterstreicht<br />

die Ärmlichkeit des Kellers.<br />

Die Tischplatte, auf der die Puppen drapiert<br />

sind, besteht aus Glas. Der Tischrahmen, sowie<br />

die Tischbeine bestehen aus silberfarbigem<br />

Edelstahl. Der Tisch scheint das edelste Element<br />

der Installation zu sein, das zu den anderen im<br />

Gegensatz steht. Die weiblichen Körper werden<br />

demnach mithilfe des Glastisches in Szene<br />

gerückt.<br />

Die Puppen in ihrer primitiven Erotik spielen mit<br />

dem möglichen sexuellen Verlangen männlicher<br />

Phantasien.<br />

Die <strong>Schatten</strong> verzerren diese Figuren an der<br />

Wand.<br />

Es gibt in der Rea<strong>lit</strong>ät so viele verschiedene<br />

Situationen, in denen die Reize der Frauen auf<br />

Männer wirken. Beispielsweise, wenn Frauen<br />

leicht bekleidet am Strand entlanglaufen oder<br />

sehr freizügig auf dem Weg zur nächsten Diskothek<br />

sind.<br />

Die <strong>Schatten</strong>, bezüglich der Installation, stellen<br />

in diesem Fall die Bedrohung oder die Gefahr<br />

der Frauen dar, denen sie ausgesetzt sind.<br />

Andererseits könnten die <strong>Schatten</strong> auch die<br />

schlimmen Folgen der bereits vollzogenen<br />

Taten symbolisieren.<br />

Die schrecklichen und nicht lange auszuhaltenden<br />

Geräusche können beispielsweise als<br />

Schreie interpretiert werden, denn die Barbiepuppen<br />

sind gefangen und haben keine<br />

Möglichkeit den <strong>Schatten</strong> bzw. den möglichen<br />

Folgen zu entfliehen.


Abb. 7<br />

Abb. 8<br />

Weiteren oder anderen Interpretationsmöglichkeiten<br />

sollen jedoch keine Grenzen gesetzt werden.<br />

Dies soll nur ein Beispiel sein, wie man die<br />

Installation interpretieren könnte, wenn man<br />

sich näher mit dieser und der Bedeutungen der<br />

einzelnen Elemente auseinandersetzt.<br />

5 Künstlerische Bezüge<br />

In der Kunstgeschichte werden u. a. zahlreiche<br />

Bilder dargestellt, die sich mit der Gefährdung<br />

des Mannes, der sich dem Anblick weiblicher<br />

Schönheit überlässt, befassen 1 . Es handelt sich<br />

dabei um Warngeschichten, in denen nicht nur<br />

der Blick bzw. das Verwerfliche des Beobachtens<br />

zeigen sollen, sondern sie „mussten zu<br />

zeigen versuchen, wie aus der Aktivität des<br />

Fernsinns die der Nahsinne entsteht und wie<br />

sich der begehrliche Blick anschickt, in eine tatsächliche<br />

sexuelle Aggression umzuschlagen“ 2 .<br />

Die Künstler sollten in den Warngeschichten,<br />

„wenn nicht eine Handlung, so doch einen<br />

Prozess mit diachroner Verlaufsform zumindest<br />

andeuten“ 3 . Während sie das Thema des<br />

unkeuschen, des verbotenen Blickes gestalteten<br />

und veranschaulichten, „inszenierten sie<br />

zugleich einen anderen Blick, der gerade nicht<br />

unkeusch, gerade nicht verpönt sein sollte, sondern<br />

geboten war: den der Bildbetrachtung“ 4 .<br />

Bezogen auf die Installation „Serviert“ ist anzumerken,<br />

dass es sich auch um zwei Arten von<br />

Blicken handelt, sobald man der beschriebenen<br />

Interpretation nachgehen möchte. Zum einen<br />

wird der Blick des Betrachters auf die nackten<br />

Frauen gelenkt. Er wird also zum Anschauen<br />

aufgefordert. Anders als in den Bildern wird<br />

jedoch nicht der Blick eines Mannes auf die<br />

Frauen in der Installation gezeigt, sondern<br />

der Betrachter wird selbst zu der Person, die<br />

auf die Figuren schaut. Dadurch wird er in die<br />

Abb. 9: Artemesia Gentileschi (1610) 6<br />

73<br />

Installation involviert und in das Geschehen<br />

eingebunden.<br />

Der zweite Blick bezieht sich auf die <strong>Schatten</strong>.<br />

Diese stellen, nach der Interpretation, die<br />

Gefährdung möglicher sexueller Aggressionen<br />

dar, die durch begehrliche Blicke ausgelöst<br />

werden können. Die <strong>Schatten</strong> sollen darauf<br />

hinweisen, dass unkeusche Blicke auch eine<br />

dunkle Seite haben können, nämlich dann,<br />

wenn die Spanne zwischen etwas Androhendem<br />

und etwas Geschehenen sehr klein ist.<br />

Die beiden Darstellungen der Keuschen Susanna<br />

von Artemisia Gentileschi (1610), Abb. 9,<br />

und von Anthonius van Dyck (ca. 1621), Abb.<br />

10, zeigen „Männergestalten, die im Begriffe<br />

sind, gegenüber ihrem weiblichen Opfer zutäppisch,<br />

ja handgreiflich zu werden“ 5 .<br />

Die Bilder werden als Beispiele angeführt, da<br />

sie die Gefährlichkeit der Augenlust thematisieren.<br />

Die Beobachtenden lassen sich von ihrem<br />

Blick leiten und es ist aus den Bildern nicht<br />

zu ersehen, ob sie sich den Reizen der Frau<br />

hingeben oder diesen widerstehen können.<br />

Das Verlangen sich ihrer zu bedienen scheint<br />

jedoch so groß zu sein, dass die Beobachtenden<br />

nicht weit davon entfernt sind, die Frau für<br />

ihre sexuelle Befriedigung zu benutzen.<br />

6 Variationen<br />

Mögliche Variationen wären zum Beispiel in<br />

der Darstellungsweise der Barbiepuppen zu<br />

sehen. Diese könnten in einer Reihe aufgestellt<br />

werden, sodass der Betrachter ihnen genau<br />

gegenüber steht oder die Puppen hätten an<br />

der Decke mit einer Schlinge um den Hals<br />

aufgehängt werden können. Dann würde die<br />

Tat allerdings, nämlich auf das Erhängen, eingeschränkt<br />

werden, was aber wiederum auch<br />

als Symbol für weitere Taten bzw. deren Folgen<br />

Abb. 10: Anthonius van Dyck (ca. 1621) 7


9 Quellen<br />

Literatur<br />

Stadler, Ulrich/ Wagner, Karl:<br />

Schaulust, Wilhelm Fink<br />

Verlag, München, 2005<br />

Internet<br />

http://www.homolaicus.com/<br />

arte/pittrici/Susanna.jpg<br />

http://www.abcgallery.com/V/<br />

vandyck/vandyck46.JPG<br />

Fußnoten<br />

1 vgl. Stadler/ Wagner, S. 17<br />

2 Stadler/Wagner, S. 18 f.<br />

3 a.a.O., S. 19<br />

4 ebd.<br />

5 a.a.O., S.17<br />

6 http://www.homolaicus.com/<br />

arte/pittrici/Susanna.jpg<br />

7 http://www.abcgallery.com/<br />

V/vandyck/vandyck46.JPG<br />

stehen könnte. Außerdem könnte die Lichtquelle<br />

und deren Position variieren. Beispielsweise<br />

könnten die Puppen von unten nach oben<br />

angestrahlt werden. Durch das Experimentieren<br />

der Lichtquelle habe ich jedoch festgestellt,<br />

dass die Positionen der Lichtquelle eingeschränkt<br />

sind, da das Licht und die <strong>Schatten</strong>,<br />

sobald man den Winkel ändert, unterschiedlich<br />

an die Wand projiziert werden. Zudem müssten<br />

auch keine Barbiepuppen dargestellt werden.<br />

Es könnten auch Fotos von Frauenkörpern aufgestellt<br />

werden. Die Variationen der Installation<br />

sind demnach vielfältig, bedürfen aber, auf<br />

Grund des Lichteinfalls und der <strong>Schatten</strong>bedeutung,<br />

verschiedene Prozesse des Experimentierens.<br />

7 Schlussbetrachtung<br />

Meiner Meinung nach, stellen sich die Barbiepuppen<br />

als ein passendes Symbol für die Installation<br />

bzw. für die Darstellung von Frauen dar,<br />

da sie als Schönheitssymbol den Idealkörper<br />

einer Frau präsentieren. Außerdem symbolisieren<br />

die bewegenden <strong>Schatten</strong> auf Grund ihrer<br />

Größe und ihrer Verzerrungen durch das Drehmoment<br />

etwas Bedrohliches. Rückblickend ist<br />

jedoch zu bemängeln, dass der abgetrennte,<br />

arrangierte Bereich in der Ausstellung kleiner<br />

hätte sein müssen. Auf Grund der Höhe und<br />

Breite des Raumes konnte das erwartete bzw.<br />

erwünschte Ziel, dass der Betrachter sich beengt<br />

fühlen sollte, meiner Ansicht nach, nicht<br />

ganz erreicht werden. Hier hätte der Abstand<br />

zwischen der Stellwand aus Pappkarton und<br />

den anderen beiden Wänden geringer sein<br />

müssen, sodass eine zweite Stellwand angebracht<br />

hätte werden müssen, um die Größe<br />

des Raumes zu verringern. Dann wäre jedoch<br />

der Nachteil aufgekommen, dass die <strong>Schatten</strong><br />

nicht in dem Maße, wie es letztendlich in der<br />

Ausstellung war, gewirkt hätten. Die Idee mit<br />

dem <strong>Schatten</strong>spieler als Drehmoment, empfand<br />

ich als sehr gut, um die <strong>Schatten</strong> drehend und<br />

sich bewegend darzustellen. Auch die Tatsache,<br />

dass die <strong>Schatten</strong> zum Teil verzerrt und<br />

unscharf waren sowie sich in ihren Größen<br />

variierten, zeigten einen positiven Effekt für<br />

die Installation auf. Ich denke, dass dadurch<br />

der bedrohliche Charakter der <strong>Schatten</strong> zum<br />

Ausdruck kommen konnte.<br />

74


Merle Christmann<br />

Inhalt<br />

1 Einleitung<br />

2 Fotografische<br />

Dokumentation<br />

3 Künstlerische Bezüge<br />

4 Anhang<br />

Literatur<br />

Quellen<br />

Abbildungen<br />

Abb. 2: Bewegungsstudie<br />

Abb. 3: Experimente mit Draht<br />

und Licht<br />

„Draht-Seil-Akt,<br />

gescheitert“<br />

Abb. 1: „Drahtseilakt, gescheitert“<br />

1 Einleitung<br />

Ein <strong>Schatten</strong> zeigt zunächst das Fehlen von<br />

Licht an. Dennoch braucht sein Entstehen eine<br />

Lichtquelle. Ein <strong>Schatten</strong> ist somit ein lichtloser<br />

bzw. lichtarmer Umriss oder Fleck, den das<br />

Licht durch das Streifen eines Gegenstandes<br />

oder Wesens abbildet.<br />

<strong>Schatten</strong> gibt es im üblichen Sinn, zum Beispiel<br />

beim Lichtdesign, wenn man farbige <strong>Schatten</strong><br />

als Lichteffekte einsetzt oder beim Tageslichtprojektor,<br />

der auf der Folie lichtundurchlässige<br />

Teile, nämlich die Buchstaben bestrahlt und<br />

den <strong>Schatten</strong> an der Wand abbildet.<br />

In vielen Filmen werden <strong>Schatten</strong> als gruselige<br />

oder mystische Komponente verwendet: So<br />

sagt man im „Herrn der Ringe“, dass jemand in<br />

die <strong>Schatten</strong> gefallen sei (und in einem gewissen<br />

Sinne als unglücklich verloren gilt) oder<br />

jemand wird von einem <strong>Schatten</strong> verfolgt, der<br />

sich zumeist als böser Angreifer herausstellt.<br />

Besonders Detektivfilme arbeiten mit diesen<br />

Klischees. Es gibt sogar ein bestimmtes Genre,<br />

den „film noir“.<br />

In der Kunst arbeitet man z.B. auf Ausstellungen<br />

wie „Lichtkunst aus Kunstlicht“ mit dem<br />

Thema <strong>Schatten</strong>. Aber auch in bewegten<br />

Bildern, wie den „la linea“- Filmen, in denen ein<br />

Männchen, das quasi auf einer Linie lebt und<br />

ebenso aus ihr entsteht, wird mit <strong>Schatten</strong>ähnlichen<br />

Phänomenen gespielt.<br />

Diese und noch viele andere Bereiche, wie<br />

beispielsweise das <strong>Schatten</strong>theater betrachteten<br />

wir und suchten Inspirationen für unsere<br />

Ausstellung und die daraus folgende Beschäftigung<br />

mit diesem Thema.<br />

75<br />

2.4 Veränderte Bilder der Arbeit<br />

– Reflexionsprozess/Alternativen<br />

Diese Bilder (Abb. 5) entstanden, als ich versuchte,<br />

prägnante Ausschnitte meines Werkes<br />

zu fotografieren bzw. mit der Kamera das<br />

Negativ des Bildes zu erstellen. Dabei fiel mir<br />

auf, dass an der Stelle von pinker und blauer<br />

Folie grüne und rote Folie, allein schon durch<br />

die Art des Kontrastes, noch intensiver gewirkt<br />

hätten. Ein paar der Bilder sind auch noch in<br />

ihrer Helligkeit verändert.<br />

Ich fragte mich im Anschluss, ob ein solcher<br />

Ausschnitt als weiteres Dia in der Ausstellung<br />

„funktioniert“ hätte.<br />

3 Künstlerische Bezüge<br />

Inspiration – Ideensuche in der Welt<br />

der Kunst<br />

Als ich einer Freundin vom Inhalt des Seminars<br />

„<strong>Moving</strong> Shadows“ erzählte, erwiderte sie umgehend,<br />

dass ich mir wenigstens die Website<br />

der Ausstellung „Lichtkunst aus Kunstlicht“, die<br />

sie im Rahmen einer Exkursion besucht hatte,<br />

des ZKM in Karlsruhe, ansehen solle.<br />

Hier wurde ich recht schnell fündig, was Inspiration<br />

betraf.<br />

Im kuratorischen Konzept fand ich erste Anknüpfpunkte:<br />

„Die Kunst hat sich von der illusionären<br />

Repräsentation des natürlichen Lichts<br />

immer mehr dem realen Einsatz des künstlichen<br />

Lichts zugewandt. (…) KünstlerInnen schaffen<br />

autonome, leuchtende Objekte und Räume<br />

oder illuminieren gar Landschaften.“ Ein Motto<br />

das im kleineren Rahmen auch für die auf das<br />

Seminar folgende Ausstellung passte, -wenn<br />

auch zunächst, also in diesem Semester mehr


Abb. 4: Dias, jew. 6,4 x 7,1cm<br />

Abb. 5: Varaitionen<br />

Abb. 6: Maurizio Nanucci,<br />

„Deep Blue“, 1968<br />

Abb. 7: Sylvie Fleurie, „Faster!<br />

Bigger! Better!“, 1999<br />

mit den <strong>Schatten</strong>seiten des Lichts „gespielt“<br />

wurde, - dennoch beschäftigten sich die Werke<br />

der Ausstellung in fast jedem Fall mit dem Spiel<br />

mit „wirklichem“ Licht.<br />

Aber auch in der Podcast-Führung fand ich<br />

Werke, die ich ansprechend und interessant<br />

fand. So gefielen mir vor allem typografisch<br />

inspirierte Werke wie „Untitled (Paul writing<br />

my name No. 4)“ von Rirkit Tiravanija,<br />

„Deep Blue“ von Maurizio Nannucci und<br />

„Faster!Bigger!Better!“ von Sylvie Fleury in ihrer,<br />

auf den ersten Blick, plakativen Ausdruckskraft.<br />

Nicht nur aufgrund der Komplexität ihrer Beschaffenheit<br />

durch werkwesentliche Materialien<br />

wie die Neonsysteme, sondern auch durch<br />

ein weiteres, erstaunliches Werk von „Fred<br />

Eerdekens“ wurde ich davon abgehalten, mich<br />

von ihnen inspirieren zu lassen: „The Image As<br />

Distance Between Name and Object“ aus dem<br />

Jahre 1991.<br />

Mehr als die erstaunliche Konstruktion (das unleserliche<br />

Drahtgewirr, das auf den ersten Blick<br />

nur sehr entfernt einem Schriftzug gleicht, gibt<br />

seinen (leserlichen) Sinn als <strong>Schatten</strong> auf der<br />

Wand und als Schriftzug frei) oder die inhaltlichen<br />

Gedanken, interessierten mich Material,<br />

nämlich der Draht (hier: Kupferdraht) als auch<br />

die Wirkung seines <strong>Schatten</strong>s: Sehr klare Linien,<br />

wie gezeichnet durch das Licht, an der Wand.<br />

Das Licht macht eine Zeichnung, das Licht<br />

macht „Kunst“ in einer schnörkellosen, klaren<br />

Technik.<br />

In der Besprechung bekam ich den Tipp, mir<br />

den „Drahtzirkus“ von Alexander Calder anzuschauen.<br />

Auf youtube.com wurde ich fündig:<br />

Ein Mann bastelte aus Draht ganze, verkleinerte<br />

Zirkuswelten, die er dann in kleinen Vorführungen<br />

seinen Freunden präsentierte.<br />

Schnell wurde mir klar, dass ich gerne bei diesem<br />

Material mit seiner, durch das Licht noch<br />

zusätzlich betonten, klaren Wirkung, bleiben<br />

wollte.<br />

In der Diskussion fiel (mehr spaßeshalber) das<br />

Wort „Drahtseilakt“: Sehr gut, damit konnte ich<br />

perfekt arbeiten, ohne Eerdekens in seiner Idee<br />

mit dem Schriftzug zu imitieren.<br />

Ich nahm das ganz zunächst sehr wörtlich und<br />

entschied mich, einen Akt aus Draht abzubilden.<br />

Zunächst machte ich Studien zum Material<br />

und zum Thema. Dazu ging ich alte Aktzeichnungen<br />

durch, spannte meine Mitbewohnerin<br />

als „Aktmodell“ ein, suchte ein geeignetes<br />

Material und machte diverse Proben mit diversen<br />

Lampen im Keller der Uni. Ein Freund lieh<br />

mir spezielle Zangen, mit denen man Draht<br />

glatt und rund biegen konnte. Da sich dieses<br />

Unterfangen in einem so kleinen Format (dass<br />

ich dann ja erst als vergrößerten, eigentlich<br />

lebensgroßen <strong>Schatten</strong> an die Wand werfen<br />

wollte) als sehr schwierig erwies (der erste<br />

liegende Akt erinnerte an die Schlange in „Der<br />

kleine Prinz“, die einen Elefanten verschluckt<br />

hatte), änderte ich den Ursprungstitel in „Draht-<br />

Seil-Akt“ und nähte das Figürchen, das den<br />

Akt repräsentierte, jeweils auf. So fanden sich<br />

76<br />

die Materialien „Seil“(=Bindfaden) und „Draht“<br />

auch ganz explizit als Wortspiel im Titel wider.<br />

3.2 Persönliche Bezüge<br />

Persönliche Anknüpfpunkte fand ich zum<br />

einem in dem Material, dass einen <strong>Schatten</strong><br />

wirft, der den Charakter einer Zeichnung mit<br />

grobem bzw. sicherem Strich imitiert, weil die<br />

Zeichnung eines meiner liebsten Gebiete der<br />

Kunst ist.<br />

Während des Fortschreitens der Konzeption<br />

entdeckte ich aber auch das inhaltliche Thema<br />

für mich. Die endgültige Version des gescheiterten,<br />

statt des gelungenen Drahtseilaktes ist<br />

sicherlich auch ein persönlicher Bezug, welcher<br />

darauf zurückgeht, dass ich mehr melancholische<br />

Eigenschaften denn grundlos optimistische<br />

in mir vereine.<br />

Interessant am Inhaltlichen fand ich die Doppeldeutigkeit<br />

des Themas: Zum einen, dass<br />

sich die Materialien im Titel wiederfinden und<br />

Draht und „Seil“ außerdem auch ebendiesen in<br />

einem anderen Wortsinn, als im ursprünglich<br />

gemeinten der Wendung „Das ist ein Drahtseilakt!“<br />

als Bezeichnung für ein gewagtes Risiko,<br />

abbilden, - nämlich als den einer Zeichnung<br />

eines unbekleideten Menschens.<br />

Ich entwarf zwei Bilder, wobei eines davon<br />

den stolz auf dem Draht tänzelnden, mit klaren<br />

Stichen „umnähten“, fähigen Artisten zeigt und<br />

das zweite in einem sprichwörtlicheren Sinne,<br />

das gescheiterte Unterfangen. Hier liegt der<br />

Artist auf dem Draht, krümmt sich zusammen<br />

und scheitert. Seine zuvor genähten Konturen<br />

werfen auf Materialebene nun quasi Falten um<br />

den nur noch in die Folie geritzten Körper des<br />

Tänzers. Dass er nicht fällt, zeigt auf, dass seine<br />

Niederlage eigentlich nur eine des Geistes ist,<br />

oder in Anaxagoras Worten: „Und wie alles<br />

werden sollte und wie alles war (was jetzt nicht<br />

mehr vorhanden ist) und wie es jetzt ist, das alles<br />

ordnete der Geist an (…)“ eins der geistigen<br />

Kraftlosigkeit. Der Draht hält bzw. der Körper<br />

fällt auch nicht, nur der Geist ist schwach und<br />

verhindert ein Gelingen des eingegangenen<br />

Wagnisses; verhindert ein sich gelohnt habendes<br />

Risiko. Die Nacktheit, die ein Akt mit sich<br />

führt und hier eben deshalb den Drahtseiltänzer<br />

ziert, unterstreicht seine Verletzlichkeit, die<br />

das von ihm eingegangene Risiko hier symbolisch<br />

hervorheben soll. Die Farbigkeit der Folien<br />

suchte ich mir zum einen aus, weil ich einen<br />

größeren Effekt als den von „farblosem“ Licht<br />

(=durchsichtige Folie) erzeugen wollte, zum<br />

anderen soll das Pink eine gewisse, vielleicht als<br />

fröhlich „getarnte“ Gefahr symbolisieren. Das<br />

Blau im „gescheiterten Bild“ soll für eine Auflösung<br />

der Spannung stehen, eine gewisse Ruhe<br />

ist eingetreten, die Bewegung des Lichttänzers<br />

ist aus freien Stücken zum Stillstand gekommen;<br />

zwar aus freier Entscheidung, so dennoch<br />

angehalten in kühlem Blau, das ebenso das<br />

Sterben des Lebens, wenn auch nicht unbedingt<br />

im wörtlichen Sinn, so doch im Sinne<br />

des Erliegens der lebendigen Kraft eines jeden<br />

menschlichen Willens, aufzeigen soll.


Hilke Nebendahl<br />

Isa Lange<br />

Inhalt<br />

1. Einführung<br />

2. Geschichte des<br />

<strong>Schatten</strong>theaters<br />

3. Beispiele<br />

Exkurs „Das <strong>Schatten</strong>theaterfestival<br />

in<br />

Schwäbisch Gmünd“<br />

4. Fazit<br />

Zeitgenössisches<br />

<strong>Schatten</strong>theater<br />

Geschichtliche Aspekte und aktuelle Entwicklungen<br />

Abb. 8: Handschattenspiel aus der Inszenierung „Traum“<br />

1. Einführung<br />

<strong>Schatten</strong> sind allgegenwärtig. Sie gehören zum<br />

täglichen Leben. Die Menschen beschäftigen<br />

sie seit jeher. Kinder spielen mit ihnen. Das<br />

Spiel mit ihnen und ihre Inszenierung haben<br />

eine lange Tradition, die sich im Laufe der<br />

Zeit bis hin zu einer Kunstrichtung entwickeln<br />

konnte. Ob Scherenschnitt, <strong>Schatten</strong>theater<br />

oder <strong>Schatten</strong>filme, der <strong>Schatten</strong> ist künstlerischer<br />

Ausdruck geworden. Im Oktober 2006<br />

fand das siebte „Internationale <strong>Schatten</strong>theater<br />

Festival“ in Schwäbisch Gmünd statt. Im<br />

Folgenden soll sowohl auf die Geschichte des<br />

traditionellen als auch des zeitgenössischen<br />

<strong>Schatten</strong>theaters eingegangen werden - Charakteristika<br />

und Besonderheiten herausgestellt<br />

werden. Als Vertiefung in das Thema werden<br />

vier verschiedene Beispiele für die Umsetzungen<br />

dieser Theaterformen vorgestellt, analysiert<br />

und verglichen.<br />

Zunächst wird eine traditionelle <strong>Schatten</strong>theatervorstellung<br />

besprochen. Im Vergleich dazu<br />

folgen drei zeitgenössische Inszenierungen<br />

unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen.<br />

Diese stammen größtenteils aus dem Programm<br />

des letzten <strong>Schatten</strong>festivals, werden<br />

77<br />

aber noch durch eine Schweizer <strong>Schatten</strong>theatergruppierung<br />

ergänzt. Im Fazit wird auf die<br />

Unterschiede und Möglichkeiten beider <strong>Schatten</strong>theaterformen<br />

reflektierend eingegangen.<br />

Die individuell erarbeiteten Themenkomplexe<br />

sind namentlich gekennzeichnet. Das Filmmaterial<br />

steht in der Anlage zur Verfügung.<br />

1.2 Die Bedeutungen des <strong>Schatten</strong>s<br />

Der <strong>Schatten</strong> hat in Mythologie und Religion<br />

seit Jahrtausenden eine Bedeutung. Der <strong>Schatten</strong><br />

des Lebenden ist schon im Altägyptischen<br />

zum Träger der Seele geworden, hat starken<br />

psychologischen Einfluss. <strong>Schatten</strong> und Seele<br />

sind in vielen Kulturen deckungsgleich. Neben<br />

dem positiven Begriff Seele hat der <strong>Schatten</strong><br />

auch eine dunkle, destruktive Seite: Die Bedeutung<br />

der meisten Redewendungen zum <strong>Schatten</strong><br />

liegen im Negativen: „Jemanden beschatten“,<br />

„über den eigenen <strong>Schatten</strong> springen“,<br />

„jemanden in den <strong>Schatten</strong> stellen“, „vor dem<br />

eigenen <strong>Schatten</strong> fliehen“, „ein <strong>Schatten</strong>dasein<br />

führen“, „<strong>Schatten</strong>seiten“, „etwas wirft seinen<br />

<strong>Schatten</strong> voraus“.<br />

Der <strong>Schatten</strong> hat als Phänomen und auch als<br />

Symbol zu allen Zeiten und bei allen Völkern


eine geheimnisvolle Rolle gespielt. Erst in der<br />

Neuzeit ist er als Erscheinung der übersinnlichen<br />

Welt entschleiern worden, und wird<br />

als rein physikalisches Phänomen der Natur<br />

betrachtet. Der <strong>Schatten</strong> ist ein Abbild eines<br />

Körpers, an dem seine Merkmale wieder zu<br />

erkennen sind. Er ist somit ein abstraktes Bild. Er<br />

weist keine Farbe auf und ist eindimensional.<br />

Mit Hilfe des <strong>Schatten</strong>s wurde es möglich,<br />

physikalische Phänomene zu definieren und<br />

zu beschreiben. Der Umfang der Erde sowie<br />

ihre Entfernung zur Sonne konnte mit Hilfe des<br />

<strong>Schatten</strong>s gemessen werden. Des Weiteren<br />

wurde es möglich, den Mond als Kugel und als<br />

kraterdurchfurchtes Element zu erkennen.<br />

In dieser Paralle<strong>lit</strong>ät und zweiseitigen Bedeutung<br />

des <strong>Schatten</strong>s liegt die Vielzahl der zahlreichen,<br />

wie oben bereits erwähnten, Metaphern<br />

und Geschichten über ihn begründet.<br />

2. Geschichte des <strong>Schatten</strong>theaters<br />

Das <strong>Schatten</strong>theater wird in zwei Richtungen<br />

unterschieden: Das traditionelle <strong>Schatten</strong>theater,<br />

das seinen Ursprung im alten Asien<br />

findet, und das junge, überwiegend in Europa<br />

beheimatete, zeitgenössische Theater. Da<br />

das zeitgenössische Theater im Traditionellen<br />

wurzelt, soll die Entwicklung angefangen mit<br />

dem fernöstlichen Ursprung chronologisch und<br />

betrachtet werden.<br />

2.1 Das traditionelle <strong>Schatten</strong>theater<br />

Das ursprüngliche <strong>Schatten</strong>theater findet sich<br />

in Asien, vor allem in China, Indien, Thailand<br />

und Indonesien. Es bezieht die ganzheitliche<br />

Anschauung der fernöstlichen Lebensweise,<br />

„die Welt des Traumes, der Meditation, des<br />

Transzendenten und der Spiritua<strong>lit</strong>ät“1, ein. Die<br />

sinnlich-mystische Ebene steht im Vordergrund<br />

der Lebenseinstellung und Wertschätzung. Der<br />

<strong>Schatten</strong> nimmt eine Position zwischen Traum<br />

und Wirklichkeit ein, gilt in vielen fernöstlichen<br />

Ländern auch als Verbindung zur Welt der<br />

Verstorbenen.<br />

China<br />

Erste schriftliche Zeugnisse über das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

finden sich in China aus dem 10.<br />

Jahrhundert, die eigentliche Existenz und<br />

Durchführung liegt bekannt durch Sagen und<br />

Legenden aber noch weiter zurück. Vor allem<br />

basiert diese Ausprägung auf religiösen und<br />

kultischen Grundlagen. Das <strong>Schatten</strong>theater<br />

Pi ying xi ist bis heute integraler Bestandteil<br />

der chinesischen Kultur. Ein Zusammenhang<br />

zwischen <strong>Schatten</strong>theater und Totenkult zeigt<br />

sich bereits im Ursprung in der Regierungszeit<br />

des Kaisers Wu (141 bis 87 vor Christus). Hierbei<br />

spielt die Betrübnis des Kaisers über den<br />

Tod seiner Lieblingsfrau eine große Rolle. Ein<br />

Magier wird zu Hilfe gerufen, welcher mit Hilfe<br />

seines <strong>Schatten</strong>spiels die tote Seele der Frau<br />

beruhigen soll. Der Aufbau des chinesischen<br />

<strong>Schatten</strong>theaters beinhaltet ein Leinen- oder<br />

Seidenschirm, der auf einem Kastentisch befestigt<br />

ist. Durch eine leichte Neigung in Richtung<br />

78<br />

der Zuschauer können nicht genutzte Figuren<br />

dort angelehnt werden. Die Spieler, ausschließlich<br />

Männer, sind von dem Publikum durch<br />

Vorhänge verdeckt. Sie führen die Figuren an<br />

einem horizontalen Hauptführungsstab (ein<br />

leicht gebogener Stab aus Eisen oder Holz),<br />

dem „Lebensstab“, nah am <strong>Schatten</strong>schirm<br />

entlang und können mit zwei anderen Stäben,<br />

die mit den Figurenhänden verbunden sind,<br />

die Armbewegung kontrollieren. Dies eröffnet<br />

Möglichkeiten, die Figur in sich zu bewegen, so<br />

ihre Ausdrucksmöglichkeiten zu steigern und<br />

ein Abwechslungspotential zu schaffen. Auch<br />

die Hände als wichtiges Ausdrucks- und Artikulationsmittel<br />

können zur Steigerung der Inhaltsdimension<br />

beitragen. Um eine solche Figur zu<br />

bedienen, benötigt es oft mehrere Spieler, eine<br />

ausgereifte Technik, ein gutes Zusammenspiel<br />

und eine ausgiebige Probezeit. Nicht nur die<br />

Beweglichkeit, die durch Gelenkverbindungen<br />

ermöglicht wird, sondern auch die Materialqua<strong>lit</strong>ät<br />

der Figuren des chinesischen <strong>Schatten</strong>theaters<br />

ist sehr hoch: Vorher präparierte<br />

Tierhäute werden mit durchsichtigen Farben<br />

bemalt und aufwändig verziert. Die Darstellung<br />

guter Charaktere wird mit menschlichen<br />

Gesichtern vollzogen, böse Gestalten werden<br />

mit einer fratzenhaften Mimik ausgestattet. Die<br />

Figuren sind durchgehend im Profil wiedergegeben,<br />

einzig Buddha und Geister werden en<br />

face gezeigt. Dies zeigt die enorme Bedeutung<br />

transzendentaler Aspekte im chinesischen<br />

<strong>Schatten</strong>spiel.<br />

Mit Dekorationen wird sehr sparsam umgegangen:<br />

Die aufwändigen Figuren und ihre Schönheit<br />

stehen im Mittelpunkt. Nur die wichtigsten<br />

Spielgegenstände finden Platz und werden in<br />

der gleichen Genauigkeit und Sorgfalt hergestellt.<br />

Schablonen werden in der Regel nicht<br />

verwendet, so dass jede Figur zum Unikat wird.<br />

Die Komplexität der Figuren und der Pluralismus<br />

der Möglichkeiten erfordern in der Regel<br />

bis zu drei Spieler für eine Figur.<br />

Neben fest stehenden <strong>Schatten</strong>theatern in<br />

allen größeren Städten gab und gibt es umherziehende<br />

Gruppen, welche auf Märkten und<br />

in Privathäusern ihre mobilen Bühnen aufschlagen.<br />

Bis zur Revolution war die häusliche<br />

Vorstellung schon deswegen so verbreitet, weil<br />

das <strong>Schatten</strong>spiel die einzige Form von Theater<br />

war, an der auch ehrbare Frauen und Kinder<br />

zuschauen durften.<br />

Das traditionelle <strong>Schatten</strong>theater kann nach<br />

drei inhaltlichen Kategorien unterschieden<br />

werden. Zum Ersten werden religiöse Stücke<br />

gespielt, welche buddhistische und taoistische<br />

Glaubensvorstellungen und Mythen zum Inhalt<br />

haben. Zum Zweiten werden historische und<br />

Kriegsstücke aufgeführt. Sie greifen inhaltlich<br />

Ereignisse aus der chinesischen Geschichte auf<br />

und tragen somit zur Weitergabe der Kultur<br />

und des Verständnisses des eigenen Landes<br />

generationenübergreifend bei. Zum Dritten<br />

stellen die <strong>Schatten</strong>spieler Geschichten aus<br />

dem alltäglichen Leben des Volkes dar. Roman-


Abb. 1 Indische <strong>Schatten</strong>spielfigur<br />

Abb. 2 Thailänische <strong>Schatten</strong>spielfigur<br />

Abb. 3 Thailänische <strong>Schatten</strong>spielfigur<br />

zen und Komödien tragen zum Unterhaltungscharakter<br />

des Theaters bei. <strong>Schatten</strong>spieler<br />

haben im Lauf der Zeit häufig den Unmut und<br />

Ärger der Bevölkerung über Misswirtschaft<br />

und Korruption seitens der Regierung zum<br />

Ausdruck gebracht. Während der Kulturrevolution<br />

(1965/67) ist versucht worden, das<br />

<strong>Schatten</strong>theater wie alle überlieferten Kulturerscheinungen<br />

zu eliminieren. Jedoch hat es nie<br />

aufgehört zu existieren. Heute wird eine betont<br />

traditionelle Form der Aufführung und der<br />

Figuren seitens des Publikums sehr geschätzt.<br />

Das <strong>Schatten</strong>spiel ist in den von Medien und<br />

Hektik gekennzeichneten Großstädten aber<br />

relativ selten geworden, und wird vor allem<br />

in ländlichen Gebieten aufgeführt. Der Stil der<br />

<strong>Schatten</strong>theateraufführungen im heutigen<br />

China ist „modern“. Das bedeutet, dass Vergrößerungen<br />

von Bühne und Figuren stattfinden.<br />

Zudem werden große farbige Kulissen gestaltet<br />

und gr0ße Batterien von Leuchtröhren verwendet.<br />

Glasklarer bemalter Kunststoff hat das<br />

Pergament als Material verdrängt.<br />

Indien<br />

Verbreitung findet das <strong>Schatten</strong>theater in<br />

Indien im 16. Jahrhundert durch die Förderung<br />

der Herrscher von Vijaivada. Die Anfänge und<br />

die Entwicklung des indischen <strong>Schatten</strong>spiels<br />

sind jedoch noch weitgehend ungeklärt: Wissenschaftler<br />

tendieren zu der Vermutung, dass<br />

Indien sogar das Ursprungsland des <strong>Schatten</strong>theaters<br />

ist. Auch in Indien wurzelt das Spiel mit<br />

Licht und <strong>Schatten</strong>, das chayanataka, ähnlich<br />

wie in China im Religiösen. Aufgeführt werden<br />

große mythologische Epen: Im Süden Indiens<br />

werden noch heute Teile des Ramayana-Epos,<br />

Themen aus dem Mahabarata und der Krishna-<br />

Legende gespielt.<br />

Die Spiele werden in den meisten Fällen vor<br />

dem Tempel des Gottes Shiva aufgeführt.<br />

Dieser gilt als Schutzpatron der Puppen. Die<br />

indischen <strong>Schatten</strong>figuren sind die größten derzeit<br />

verwendeten <strong>Schatten</strong>figuren. Mit einem<br />

ähnlichen Aufwand wie in China werden sie in<br />

Einzelarbeit hergestellt: Die Tierhäute (primär<br />

von Ziegen, Büffeln und Schafen) werde<br />

durch spezielle Behandlungen durchsichtig<br />

gemacht um sie dann kunstvoll mit Naturfarben<br />

zu verzieren. Nach dem Bemalen wird die<br />

Transparenz der Figur wieder erhöht, indem sie<br />

mit Kokosöl eingerieben wird. Zudem steigert<br />

dieser Prozess die Wasserfestigkeit der Figur. Es<br />

entstehen interessante <strong>Schatten</strong>wirkungen.<br />

Die Figuren sind, wie auf der Abbildung 1<br />

gut deutlich, gekennzeichnet durch kräftige,<br />

gedrungene Körper mit breiten, stark vereinfachten<br />

Gliedmaßen. Kennzeichnend ist, dass<br />

die Spieler während der Vorstellung nicht von<br />

den Zuschauern zu sehen sind. Die lebendigen<br />

Lichtquelle (Fackeln und Öllampen) befindet<br />

sich meist an der Unterkante der Bühne.<br />

Thailand<br />

Das traditionelle thailändische <strong>Schatten</strong>theater,<br />

das nicht mehr ausgeübt wird, grenzt sich von<br />

79<br />

den bisher vorgestellten ab. Die Figuren, die<br />

im Nang Luong verwendet wurden, waren<br />

durchaus über zwei Meter groß, die Bühne<br />

diesen Maßen angemessen. Es waren ganze<br />

<strong>Schatten</strong>bilder, auf denen Figurengruppierungen<br />

mit ihrer Umgebung dargestellt wurden.<br />

Die Spieler hielten die <strong>Schatten</strong>bilder an einem<br />

Stab über ihrem Kopf und waren während des<br />

ganzen Spieles anders als beim traditionellen<br />

indischen <strong>Schatten</strong>spiel zu sehen.<br />

Indonesien<br />

Das <strong>Schatten</strong>theater gehört zur Tradition und<br />

Kultur Indonesiens: Der Glaube an die Kommunikation<br />

mit Geistern der Vorfahren durch<br />

das Theater ist elementar. Beeinflusst durch<br />

die Verbreitung des Hinduismus in Indonesien<br />

wurde sowohl der Epos Mahabharata, als auch<br />

Ramayana zu einem der am meisten gespielten<br />

Stücke: Der Glaube sollte so in allen Bevölkerungsschichten<br />

Gehör erlangen. Ähnliche<br />

Ansätze wurden später von Oberhäuptern<br />

des Islams durchgeführt. Alte indonesische<br />

Geschichten wurden zurückgedrängt oder in<br />

hinduistische Stücke integriert.<br />

Vor allem auf den Inseln Bali, Java und Lombok<br />

blickt das indonesische <strong>Schatten</strong>spiel auf eine<br />

lange Tradition zurück. Der besondere spirituelle<br />

Wert des <strong>Schatten</strong>theaters in Indonesien<br />

wird deutlich, lenkt man den Blick auf die<br />

zeremonielle Opfergabe an die Götter, die vor<br />

Beginn jedes Spiels durchgeführt wird.<br />

Der Begriff Wayang bezeichnet das javanische<br />

<strong>Schatten</strong>theater allgemein. Typisch und am<br />

bekanntesten für das indonesische <strong>Schatten</strong>theater<br />

ist das Wayang ku<strong>lit</strong> (wayang= <strong>Schatten</strong>,<br />

Ahne, Geistererscheinung; ku<strong>lit</strong>=Leder).<br />

Andere Ausprägungen sind dieser Form eher<br />

untergeordnet. Das Wayang Wong wird durch<br />

verkleidete Schauspieler (Masken und Kostüme)<br />

realisiert. Auch das Wayang lemah (siehe<br />

Abschnitt 3.1) zählt als eine Form des Figurentheaters<br />

dazu.<br />

Die Figuren beim Wayang-Theater werden aus<br />

Büffelhäuten hergestellt und mit verschiedensten<br />

Farben verziert. Zusätzlich sind sie punziert<br />

(geprägt) und perforiert (mit Löchern versehen).<br />

Durch ein speziell geformtes Horn, auch<br />

Gapit genannt, wird die Figur aufrecht gehalten,<br />

durch materialgleiche Stäbe werden die<br />

Armbewegungen koordiniert. Der Figurenspieler,<br />

der Dalang, genießt große Hochachtung<br />

wegen seiner Fertigkeiten und Leistungen: Viele<br />

der Vorstellungen (Wayang-Purwa) dauern<br />

die ganze Nacht, bei besonderen Anlässen wie<br />

Hochzeiten, Geburten oder Beschneidungen,<br />

sogar mehrere Nächte.<br />

Eine Leinwand, die an Bambusstäben befestigt<br />

ist, dient in der Regel als Theater. Als Lichtquelle<br />

wird eine Kokosöllampe verwendet. Diese kann<br />

durch ihr unruhiges Licht die mysteriöse Stimmung<br />

im Hintergrund unterstützen.<br />

Der Dalang sitzt in der Mitte vor dem ca. 2 x 1<br />

m großen Schirm, wo auch das Orchester (Gamelangh)<br />

mit Glocken, Trommeln, Gongs und<br />

Flöten positioniert ist.


Abb. 4 Europäisches <strong>Schatten</strong>spieltheater<br />

Die Zuschauer sitzen sowohl vor als auch hinter<br />

dem Schirm: Traditionell hat es sich entwickelt,<br />

dass die Männer auf der Seite des Dalang dem<br />

Spiel folgen, also die reich bemalten Figuren<br />

sehen, und die Frauen auf der anderen Seite<br />

das reine <strong>Schatten</strong>spiel beobachten. Einige<br />

Stücke sollen Glück bringen, andere drohendes<br />

Unheil abwenden. Das Wayang wird staatlich<br />

gefördert und zählt zum kulturellen Erbe.<br />

Regelmäßig finden Radioübertragungen von<br />

Inszenierungen statt.<br />

Japan<br />

In Japan findet sich entgegen der Erwartung<br />

der Europäer eine geringe Bedeutung des<br />

<strong>Schatten</strong>theaters. Die Figuren wurden aus einfarbigem,<br />

nicht transparentem Papier geschnitten<br />

und an einem simplen Holzstab befestigt.<br />

Das Spiel diente allein der Unterhaltung und<br />

wurde demzufolge nicht in großem Maße weiterentwickelt.<br />

Gegenüber anderen japanischen<br />

Theatergattungen spielt das <strong>Schatten</strong>theater<br />

eine untergeordnete Rolle.<br />

2.2 Das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater<br />

Der Weg nach Europa<br />

In China als auch in Südostasien blickt das<br />

<strong>Schatten</strong>spiel also auf eine jahrhundertealte<br />

Tradition zurück. Nachdem das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

im Mittelalter über Persien nach Kleinasien<br />

gelangte, konnte es sich zu Zeiten des Osmanischen<br />

Reiches unter dem Namen Karagöz<br />

verbreiten. Im heutigen Griechenland ist es<br />

populär unter der Bezeichnung Karaghiozis.<br />

Beide Bezeichnungen leiten ihren Namen von<br />

einer legendären Hauptfigur ab. Das Spiel<br />

dient, anders als in China oder Indien, nicht<br />

der Religiosität oder dem Mythischen, sondern<br />

der Volksbelustigung. Auch sind die Figuren<br />

gröber als z.B. die feinen javanischen. Erst im<br />

18. Jahrhundert konnte das <strong>Schatten</strong>theater<br />

in die späteren Zentren des zeitgenössischen<br />

Theater gelangen; Europa, Nordamerika, Japan<br />

und Australien. „Hier ersetzte es als Laientheater<br />

vor allem im ländlichen Raum und für die<br />

Unterschicht das klassische Theater.“ 2<br />

Entwicklung und Merkmale<br />

Die ersten <strong>Schatten</strong>theater bahnten sich 1760<br />

ihren Weg durch Italien und Frankreich nach<br />

England. In der neuzeitlichen Romantik im 18.<br />

und 19. Jahrhundert erfreuten sich Silhouetten-<br />

und Scherenschnitte in Europa gerade großer<br />

Beliebtheit. Die neue Kunst des <strong>Schatten</strong>spiels<br />

gründete auf fruchtbarem Boden. Auch in<br />

Deutschland erfreute sich das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

großer Beliebtheit: Sogar Goethe verfasste<br />

einige Stücke für die <strong>Schatten</strong>bühne. Das erste<br />

ständige <strong>Schatten</strong>theater in Europa wurde<br />

dann in Frankreich von Francois Dominique<br />

Seraphin 1770 in Versailles gegründet. Es war<br />

in allen Bevölkerungsschichten beliebt. Später<br />

zog es nach Paris in den Palais Royal, wo es bis<br />

1870 verweilte.<br />

Ein weiteres berühmtes <strong>Schatten</strong>theater,<br />

welches 1887 seine Tore öffnete, war auch in<br />

80<br />

Paris beheimatet: Das Cabaret du Chat Noir. Bei<br />

der von Rudolphe de Salis und Reviere gegründeten<br />

Institution handelte es sich weniger um<br />

Theater mit beweglichen Figuren, als vielmehr<br />

um die Darstellung von gestellten Bildern mit<br />

außergewöhnlichen Lichteffekten. Illustriert<br />

wurden Gedichte und Musik zeitgenössischer<br />

Dichter und Komponisten. Der Erfolg französischer<br />

Vorreiter inspirierte auch in Deutschland:<br />

1907 entstanden die Schwabinger <strong>Schatten</strong>spiele<br />

in München unter Alexander von Bernus.<br />

Auch in vielen anderen Kabaretts Deutschlands<br />

wurde das <strong>Schatten</strong>spiel zu einer festen Größe.<br />

Mit Aufkommen des Kinos um 1900 geriet das<br />

<strong>Schatten</strong>spiel in den Hintergrund. Während des<br />

ersten Weltkriegs verkümmerte diese Theaterform<br />

weiter. Nach Kriegsende wurde das <strong>Schatten</strong>theater<br />

mit Hilfe des Bühnenvolksbundes<br />

unter Leo Weismantel, einem späteren Autor zu<br />

diesem Themenkomplex, und Heinz Ohlendorf<br />

wieder zu einer populäreren Theaterausprägung.<br />

Durch diesen Impuls konnte sich die<br />

<strong>Schatten</strong>kunst bis in die Gegenwart halten.<br />

Das europäische <strong>Schatten</strong>theater konnte<br />

jedoch nie eine so große Verbreitung erlangen,<br />

wie das traditionelle Spiel im asiatischen Raum:<br />

Die beiden Theaterausprägungen definieren<br />

sich durch vollkommen unterschiedliche<br />

Intentionen und basieren auf polarisierenden<br />

Lebenseinstellungen: Das zeitgenössische<br />

europäische dient dem unterhaltenden Charakter<br />

und Illustrationszweck einer Geschichte.<br />

Hingegen resultiert das ursprüngliche <strong>Schatten</strong>theater,<br />

wie in Abschnitt 2.1 erläutert, aus der<br />

ganzheitlichen Anschauung der fernöstlichen<br />

Lebensweise. Es handelt sich um unterschiedliche<br />

Lebenseinstellungen und Wertschätzungen,<br />

die zum einen die Verbreitung des <strong>Schatten</strong>theaters<br />

in Asien fördern, zum anderen in<br />

europäischen Ländern behindern. Vernunft, Logik,<br />

Wissenschaftsorientierung und Rationa<strong>lit</strong>ät<br />

bestimmten hier die Lebensweise. Die realen,<br />

greifbaren dreidimensionalen Marionetten<br />

wurden stärker akzeptiert und begriffen als die<br />

Zweidimensiona<strong>lit</strong>ät der <strong>Schatten</strong>. Die Gesichtszüge<br />

der Figuren sind zur Ausdruckssteigerung<br />

oft übertrieben dargestellt (siehe Abbildung 4).<br />

Auch im Theater handelte sich primär um<br />

scherenschnittähnliche Silhouetteninszenierungen,<br />

bei dem die Figuren, meist aus Blech<br />

oder Pappe, direkt am <strong>Schatten</strong>schirm entlang<br />

geführt werden, um einen möglichst scharfen<br />

und kontrastreichen <strong>Schatten</strong> zu erzielen. Experimente,<br />

Vorstöße und Neudefinitionen, wie<br />

sie ein moderner Kunststil verlangt und vorlebt,<br />

fanden nicht statt.<br />

Erst Neuerungen in der Lichttechnik gaben<br />

den Anstoß, auch das <strong>Schatten</strong>theater zu<br />

revolutionieren. Zwischen 1970 und 1980<br />

prüften vor allem Rudolf Stössel (Schweiz), Luc<br />

Amoros (F) und der Italiener Montecchi die<br />

Verwendbarkeit der 1958 in den USA neuentwickelten<br />

Halogenlampe für die Verwendung<br />

im <strong>Schatten</strong>theater. Die erfolgreichen Versuche<br />

verliehen auch den anderen Elementen<br />

des <strong>Schatten</strong>theaters, der Lichttechnik, dem


Abb. 5 „Theater 3“, Körperschattenfigur<br />

in Schwarz-Weiß<br />

<strong>Schatten</strong>schirm und der Figuren, eine Dynamik,<br />

die die Kunst des <strong>Schatten</strong>theaters in eine<br />

stilistische Weiterentwicklung zog. Der Begriff<br />

modernes (zeitgenössischen) <strong>Schatten</strong>spiel<br />

wurde in Folge 1980 von Rainer Reusch erstmals<br />

gebraucht, um das westliche Licht- und<br />

<strong>Schatten</strong>spiel zu bezeichnen. Im Gegenteil zur<br />

asiatischen Variante kennzeichnet das moderne<br />

<strong>Schatten</strong>spiel den Gebrauch verschiedenster<br />

Lichtquellen und neuester Techniken. Die handelsübliche<br />

Glühlampe wurde durch Overhead-<br />

und Diaprojektoren, Theaterscheinwerfer und<br />

Filmprojektoren ersetzt; mit Nebelmaschinen,<br />

Spiegeln, Linsen, Farbfolien, Polarisationsfiltern,<br />

Dekorgläsern und Prismen neue Effekte<br />

eingebaut. Gegenteilig wurde aber auch mit<br />

natürlichen Lichtquellen, der Sonne und dem<br />

Mond, gearbeitet. Die Lichttechnik spielt also<br />

eine eigene, tragende Rolle, ist aber immer der<br />

Spielidee untergeordnet. Durch die Verwendung<br />

von Lichtquellen, die kein gestreutes Licht<br />

abgeben, ist es möglich, die <strong>Schatten</strong>figur frei<br />

zwischen Schirm und Lichtquelle zu bewegen,<br />

ohne dass sie an Schärfe verliert.<br />

Der fest montierte, rechteckige Schirm wurde<br />

gegen neue, nicht unbedingt geometrische<br />

Formen ausgetauscht, die in ihrer Mobi<strong>lit</strong>ät<br />

und Flexibi<strong>lit</strong>ät, z.B. durch Rollen und Seilzüge,<br />

kaum eingeschränkt waren. Die Größe der<br />

Schirme variierte nun in erheblichem Maße.<br />

Sowohl Riesenschirme mit Größen von bis zu<br />

5 m x 10 m als auch winzig kleine Schirme<br />

kamen zum Einsatz. Auch die Erkenntnis, dass<br />

der Schirm keine unüberwindbare Barriere<br />

zwischen Zuschauern und Spielern ist, brachte<br />

weitere Spielweisen zutage. Durch ihre eigenen<br />

<strong>Schatten</strong> auf dem Schirm wurden die Spieler<br />

während ihrer Arbeit sichtbar. Als Steigerung<br />

traten einige Akteure hinter dem Schirm als<br />

<strong>Schatten</strong> und vor dem Schirm als Schauspieler<br />

auf. Als vollkommene Überwindung der Barriere<br />

ist die offene Spielweise, bei der die Spieler<br />

vor dem Schirm agieren, zu betrachten.<br />

Die verwendeten Materialien zur Figurengestaltung<br />

variieren zunehmend, die Materialvielfalt<br />

reicht von Zeitung über Karton bis hin<br />

zu Kunststoff. Es geht nicht mehr unbedingt<br />

um die naturgetreue Darstellung der Figuren,<br />

sondern vielmehr um ihre Ausdrucksstärke.<br />

Der zunehmende Einfluss anderer Künste im<br />

<strong>Schatten</strong>theater ist zu beobachten. Schauspiel,<br />

Oper, Musik und Film ergänzen und erweitern<br />

den Facettenreichtum des <strong>Schatten</strong>spiels.<br />

Das zeitgenössische oder auch moderne<br />

<strong>Schatten</strong>theater tritt wesentlich in drei Spielformen<br />

auf: Dem Figuren-, dem Hand- und dem<br />

Menschenschattentheater auf.<br />

3. Beispiele<br />

In diesem Teil der Ausarbeitung werden zur<br />

Verdeutlichung der zahlreichen Varianten, die<br />

das <strong>Schatten</strong>theater im Laufe der Jahrhunderte<br />

entwickelte, Beispiele für verschiedene Umsetzungen<br />

von <strong>Schatten</strong>theater gegeben.<br />

Voran steht eine Form des traditionellen <strong>Schatten</strong>theaters,<br />

das Wayang lemah. Darauf folgt<br />

81<br />

die Vorstellung der Arbeitsweise des Theater 3.<br />

Die Teilnehmer des 7. „Internationalen <strong>Schatten</strong>theaterfestivals“,<br />

das Figurentheater Wilde<br />

und Vogel und das <strong>Schatten</strong>BildTheater, bilden,<br />

nach Informationen über das Festival, den<br />

Abschluss diesen Themenkomplexes.<br />

3.1 Wayang lemah<br />

Diese Aufführung des Wayang lemah zeigt die<br />

Geschichte der Entstehung dieser Theaterform<br />

selbst. Diese Inszenierung des Mythos wurde<br />

1973 in dem alten indonesischen Weberdorf<br />

Sidemen aufgenommen. Anders als die<br />

traditionelle Ausprägung des indonesischen<br />

<strong>Schatten</strong>theaters findet das Spiel am Tage statt.<br />

Die <strong>Schatten</strong>wirkungen der Figuren sind daher<br />

nicht zu beobachten. Ritual und die Arbeit<br />

des Dalang, entsprechen aber dem Vorgehen<br />

beim traditionellen <strong>Schatten</strong>theater. Auch die<br />

kunstvollen Lederfiguren können hier sehr gut<br />

betrachtet werden.<br />

Der Bühnenaufbau<br />

Die Aufführung findet auf einer Grünfläche<br />

statt. Die Bühne besteht aus einem breiten<br />

Holzbalken, Plangkan, auf dem die nicht benötigten<br />

Spielfiguren abgesellt sind. Versetzt<br />

darüber befindet sich ein weiterer schmalerer<br />

Balken, an den die Figuren gelehnt werden.<br />

Seitlich begrenzt wird die Bühne durch zwei<br />

Sträucher. Der Dalang sitzt sichtbar mittig hinter<br />

der Bühne. Links und rechts von ihm sitzen<br />

zwei Assistenten, die ihm die Figuren reichen<br />

oder sonstige Handlangerdienste verrichten.<br />

Die Figuren werden aber nur vom Dalang<br />

gespielt. Im Hintergrund sitzt das Gamelangh,<br />

also das Orchester. Es besteht bei diesem Spiel<br />

aus vier Männern, die alle an xylophonartigen<br />

Trommeln spielen.<br />

Alle tragen gewickelte Gewänder, und die<br />

Musiker zusätzlich auch Kopfschmuck. Der<br />

zeremonielle Charakter wird deutlich.<br />

Das Publikum sitzt in einem Halbkreis vor der<br />

Bühne. Die eigentliche Verteilung des Publikums<br />

vor und hinter die Bühne, wie sie beim<br />

Wayang ku<strong>lit</strong> üblich ist, macht bei diesem Figurentheater<br />

wenig Sinn. Die Wirkung und die<br />

Sicht auf die Figuren ist beim Wayang lemah<br />

von beiden Positionen eine ähnliche.<br />

Die Zeremonie<br />

Die Spiritua<strong>lit</strong>ät, die einer traditionellen indonesischen<br />

Wayang-Aufführung beiwohnt, ist<br />

auch in diesem Stück deutlich erkennbar. Allein<br />

die ersten drei Abschnitte des Videos zeigen<br />

die Anfangszeremonie. Der Dalang, der eine<br />

priesterähnliche Funktion innehat, konzentriert<br />

sich dabei auf rituelle Vorgänge: Vor der Bühne<br />

zündet er Stäbchen an und drapiert sie vor der<br />

Bühne. Dort liegen schon andere Opfergaben<br />

und Geschenke. Diese werden den Göttern<br />

und Geistern der Verstorbenen gewidmet, um<br />

sie um Hilfe zu bitten. Dieser Teil gehört zur<br />

Vorstellung selbst, die nach strengen Regeln<br />

abgehalten wird. Anschließend wird eine Holztruhe,<br />

in der alle Figuren des Dalang enthalten


Abb. 6 „Theater 3“, Handschattentheater<br />

aus dem Stück<br />

„Transmigration“<br />

sind, geöffnet. Zunächst wird eine abstrakte,<br />

einfarbige Figur entnommen und konzentriert<br />

betrachtet. Durch Unverständnis der Sprache<br />

kann der Sinn nur erahnt werden, jedoch<br />

scheint es wie ein Spruch oder Gebet, welches<br />

ihr entgegengebracht wird. Es wirkt wie eine<br />

Verehrung. Sie wird mittig, genau vor den<br />

Dalang gesetzt und bleibt fast während des<br />

ganzen Spiels als konstante Größe dort stehen.<br />

Die Spielfiguren<br />

Mit Hilfe seiner Assistenten werden nach<br />

und nach sämtliche Figuren in das Plangkan<br />

gesteckt. Es sind typische Figuren aus Pergament,<br />

die kunstvoll und aufwändig perforiert<br />

und bemalt sind. Sie sind durchgängig im Profil<br />

dargestellt und von beiden Seiten verziert,<br />

so dass sich die Figuren sowohl nach Links,<br />

als auch nach Rechts wenden können. Die<br />

Figuren haben eine ausdrucksstarke Mimik. Die<br />

Farben Gold, Weiß und Schwarz dominieren.<br />

Das Aussehen der Figuren kennzeichnet deren<br />

Eigenschaften. Die Guten haben mandelförmige<br />

Augen und spitze Nasen, die Bösen Knollennasen<br />

und runde Augen. Schwarz im Gesicht<br />

zeugt von Reife und Besonnenheit, Gold von<br />

Würde und Jugend, Weiß von Stärke.<br />

Die Figuren sind besonders gut in den Videoabschnitten<br />

10, 11, 12, 25 und 26 zu betrachten.<br />

Ihre Größe beträgt in Etwa 35 – 50 cm.<br />

Die meisten Figuren sind mit Gelenken an den<br />

Armen ausgestattet, die sich an die natürlichen<br />

Bewegungen verblüffend annähern. Neben<br />

dem Führungsstab gibt es folglich noch zwei<br />

weitere Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten.<br />

Der Dalang führt die Figuren in gekonnten<br />

und präzisen Bewegungen an der Bühne<br />

entlang. Neben der Koordination der Bewegungen<br />

ist es auch die Aufgabe des Dalangs,<br />

die verschiedenen Figuren und Charaktere zu<br />

synchronisieren. Durch verschiedene Tonlagen<br />

und Lautstärken wird diese Aufgabe realisiert.<br />

Die Passung von Ton und Aktion ist hier kein<br />

Problem. Die Dramaturgie und die Stimmung<br />

werden durch das Orchester akustisch unterlegt<br />

und intensiviert. Aber auch der Dalang<br />

besitzt ein Instrument: eine Art Klopfholz, mit<br />

dem Gestiken der Figuren betont werden. Dieses<br />

benutzt er sowohl mit den Händen als auch<br />

mit den Füßen, zwischen dessen Zehen auch<br />

ein Holz geklemmt ist. Der Dalang hält auch<br />

mehrere Figuren in der Hand, wenn es die<br />

Inszenierung verlangt. Bis zu sieben kann ein<br />

professioneller Dalang gleichzeitig betätigen,<br />

in dem vorliegenden Stück sind es bis zu vier<br />

Figuren (VHS, Kapitel 31 und 32).<br />

Durch die Vielzahl an Aufgaben wird deutlich,<br />

dass der Danlang eine hohe Körperbeherrschung<br />

und Konzentration benötigt.<br />

Nach dem Ende der Geschichte folgt nochmals<br />

ein Ritual, dass dem einleitenden ähnelt. Aus<br />

zwei Gefäßen verstreut der Dalang Partikel, die<br />

Blütenblättern gleichen. Die Figuren werden,<br />

akustisch unterlegt, in die Kiste zurückgelegt.<br />

Der Dalang, gefolgt von seinen Assistenten und<br />

82<br />

dem Orchester, verlässt den Spielort. Es ist Teil<br />

der Aufführung in dem sich auch der Respekt<br />

vor dem Dalang widerspiegelt: Alle Zuschauer<br />

warten solange, bis der Dalang gegangen ist.<br />

Im Vergleich zu anderen Aufführungen ist<br />

diese sowohl vom Bühnenaufbau als auch<br />

von der musikalischen Vielfalt als eher einfach<br />

und provisorisch zu bezeichnen. Die Form des<br />

Wayang lemah ähnelt sehr dem Wayang golek,<br />

welches einen ähnlichen Aufbau verfolgt,<br />

auch am Tag gespielt wird, jedoch Holzfiguren<br />

verwendet. Wie oben erwähnt, lassen sich an<br />

dieser Inszenierung zwar nicht das traditionelle<br />

<strong>Schatten</strong>theater und dessen Wirkung aufzeigen,<br />

jedoch werden die Zeremonie und die<br />

Figuren sehr anschaulich dargestellt.<br />

3.2 Theater 3<br />

Nachdem im vorhergehenden Abschnitt der<br />

Schwerpunkt auf dem Figurentheater lag,<br />

sollen nun zwei andere Spielformen, das Menschen-<br />

und das Handschattentheater, vertieft<br />

werden. Das Schweizer <strong>Schatten</strong>theater Theater<br />

3 besteht aus der Tänzerin und Schauspielerin<br />

Helena Korinkova und ihrem Mann, dem<br />

Fotografen Georg Habermann. Sie haben sich<br />

auf die Inszenierung von Menschen- und vor<br />

allem Handschattenspiel spezialisiert. Bei einem<br />

kurzen, dokumentarcharakter aufweisenden<br />

Videoausschnitt und zahlreichem Bildmaterial<br />

wird die Arbeit dieser Gruppe und deren Wirkung<br />

verdeutlicht.<br />

Maßgeblich für die Arbeit mit den Händen (und<br />

auch den Armen) des Theaters 3 ist die starke<br />

Ausdruckskraft und die Vielzahl der Möglichkeiten,<br />

die eröffnet werden: „(...) die Hand hat<br />

eine irre Ausstrahlung, man kann das sogar auf<br />

infraroter Photographie feststellen: jeder Finger<br />

hat einen elektrischen Bogen um sich (...), ich<br />

finde eine menschliche Hand einen absolut<br />

faszinierenden Teil des Körpers (...)“ 3<br />

Die Hand als Ausdruckmittel ermöglicht die<br />

Darstellung von Tierfiguren mit einfachem<br />

Kernschatten (VHS, Kapitel 30) bis hin zum<br />

abstrakten Spiel mit Körperformen – und benötigt<br />

dabei keinerlei Form der Erklärung oder<br />

Sprache. Das Repertoire des Theaters 3 bedient<br />

folglich sowohl Kinder- als auch Erwachsenenstücke:<br />

Dazu zählen beispielsweise die Inszenierungen<br />

„Tapetenblume“, „Traum“ und „Transmigration“.<br />

Der Gebrauch von Technik ist bewusst<br />

schlicht und reizt durch die sehr einfach<br />

gehaltenen Mittel in der heutigen, hochtechnologiesierten<br />

Welt. Zum einen nutzt das Theater<br />

3 die herkömmlichen schwarz-weiß Effekte des<br />

<strong>Schatten</strong>theaters in neuer Form: Abbildung 5<br />

zeigt einen Ausschnitt eines Menschenschattenspiels.<br />

Der Körper ist durch den Einsatz mehrerer<br />

Lichtquellen mit zum Teil diffusem Licht<br />

im unteren Teil und am Kopf verzerrt, wirkt<br />

ungewöhnlich dünn. Hände und Arme hingegen<br />

wirken noch naturgetreu. Auffällig sind die<br />

vielschichtigen Grauabstufungen, aus denen<br />

sich der <strong>Schatten</strong> zusammensetzt. Die gesamte<br />

Grauskala wird bedient: Von Weiß, über<br />

facettenreiche Graustufen bis hin zu Schwarz.


Abb. 7 „Theater 3“, Handschattentheater<br />

aus dem Stück<br />

„Transmigration“<br />

Abb. 8 „Theater 3“, Handschattentheater<br />

aus dem Stück<br />

„Transmigration“<br />

Im unteren Teil lässt sich nicht mehr zwischen<br />

Kern- und Halbschatten unterscheiden. Es gibt<br />

der Figur einen mystischen und auch flüchtigen<br />

Charakter. Sie ist verfremdet und verzerrt,<br />

entlässt den vertrauten, menschlichen Körper in<br />

neue Wirkungszusammenhänge.<br />

Zum anderen verwendet das Theater 3 primär<br />

das Spiel mit Licht und Farbe, um neue Bilder<br />

und Effekte zu erzielen. In der Abbildung 6 aus<br />

der Inszenierung „Transmigration“ wird noch<br />

relativ einfach die ganze Leinwand in farbiges,<br />

hier rötliches Licht getaucht. Die <strong>Schatten</strong> entstehen<br />

durch zusätzliche, unterschiedlich starke<br />

Lichtquellen.<br />

In Abbildung 7, ebenfalls aus „Transmigration“<br />

werden verschieden farbige Lichtquellen<br />

genutzt. Diese produzieren Farbränder (Halbschatten)<br />

an den Objekten, die Schemen genannt<br />

werden. Ein grünliches und ein rötliches<br />

Licht bilden auf dem Schirm farbige Verdopplungseffekte<br />

der Hände und Arme.<br />

Der menschliche Körper wird durch den<br />

Lichteinsatz in seinen Formen aufgelöst bzw.<br />

verfremdet, es entstehen Bilder und Atmosphären,<br />

die darauf zielen sollen, den Betrachter<br />

in seiner Phantasie anzuregen und zu neuen<br />

Assoziationen, eigenen Bildern zu inspirieren.<br />

Oft sind die <strong>Schatten</strong> durch Symmetrie, Parallelen<br />

oder Überschneidungen (Abbildung 8)<br />

gekennzeichnet.<br />

Die entstehenden Bilder der Hände sind immer<br />

auch Ergebnis und Bestandteil der Bewegungsabläufe<br />

der Spielerin: Nie werden nur<br />

die Hände bewegt. Die Verbindung von Tanz,<br />

Pantomime und Musik ergeben die fließenden<br />

und stimmigen Bewegungen, die die Hände<br />

auf dem Bildschirm zeigen (VHS, Kapitel 32/33).<br />

Die Musik, die die Inszenierungen stets unterlegt,<br />

gibt den Rhythmus der Bewegungen vor.<br />

Hier werden Trommeln verwendet. Es erfordert<br />

eine gute und präzise Zusammenarbeit zwischen<br />

<strong>Schatten</strong>spieler und Musiker, um Bewegungen<br />

und Musk synchron anzupassen(VHS,<br />

Kapitel 31323.2.1 Die Lichttechnik<br />

Das Licht ist, typisch für das zeitgenössische<br />

<strong>Schatten</strong>theater, ein eigenständiges Element,<br />

dient nicht mehr allein als Mittel zur <strong>Schatten</strong>erzeugung.<br />

Bei der Arbeit des Theaters 3 ist<br />

die Verwendung von Schemen ein wichtiges<br />

Ausdrucksmittel.<br />

Grundelement des Aufbaus sind mindestens<br />

zwei Projektoren und die Leinwand. Ein einfaches<br />

Leinentuch oder, soll eine besonders feine<br />

<strong>Schatten</strong>zeichnung entstehen, transparentes<br />

Zeichenpapier dient hier als <strong>Schatten</strong>schirm.<br />

Für das Handschattenspiel wird der Großteil<br />

des <strong>Schatten</strong>schirms von innen abgedeckt, nur<br />

Arme und Hände der Spielerin sind zu sehen.<br />

Exkurs<br />

Das internationale <strong>Schatten</strong>theater Festival<br />

in Schwäbisch Gmünd<br />

Das internationale <strong>Schatten</strong>theater Festival, das<br />

im Oktober letzten Jahres (16. – 21.10.2006)<br />

zum siebten Mal stattfand, ist in der, nahe<br />

83<br />

Stuttgart gelegenen, Stadt Schwäbisch Gmünd<br />

beheimatet und ist das weltweit einzige Festival<br />

für zeitgenössisches <strong>Schatten</strong>spiel.<br />

An verschiedenen Plätzen in der Stadt wird<br />

seit 1988 alle drei Jahre das, zum kulturellen<br />

Repertoire der Region zählende, Festival begangen.<br />

Im Zentrum steht das zeitgenössische<br />

<strong>Schatten</strong>theater, das sich in diesem Jahr mit<br />

dem übergeordneten Thema „<strong>Schatten</strong>theater<br />

und Musik“ befasst: Schon bei den Programmhinweisen,<br />

wie „More music, Papa“ wird der<br />

diesjährige Bezug zu „der Musik, dem Musiktheater<br />

und der Oper“4 deutlich. Die Teilnehmer<br />

beantworten in ihrem Spiel die Frage, wie<br />

<strong>Schatten</strong>künstler musikalische Abläufe ins Bild<br />

setzen können. Es werden dabei verschiedenste<br />

Arten des Figurentheaters mit einbezogen:<br />

Marionetten, Hand- und Stabpuppen.<br />

Neben der Rezeption von Theateraufführungen<br />

werden, im Rahmen des Festivals, auch<br />

Vorträge, Ausstellungen und Workshops für die<br />

stetig wachsende Zahl an Besucher angeboten:<br />

Im Jahr 2003 zog es rund 4.600 Besucher<br />

nach Schwäbisch Gmünd. Während des letzten<br />

Festivals wurden zwei Workshops angeboten:<br />

Hierbei fand eine intensive Auseinandersetzung<br />

mit verschiedenen Lichtquellen, der Art<br />

der Gestaltung der Figuren und der Umsetzung<br />

des Spiels statt. Die vierzehn Darstellergruppen<br />

und Inszenierenden stammen aus der ganzen<br />

Welt: Thailand, Kanada, Belgien, Italien, Großbritannien,<br />

Schweden und Deutschland.<br />

Ins Leben gerufen wurde das Festival durch,<br />

den schon erwähnten Rainer Reusch, einem<br />

der bekanntesten <strong>Schatten</strong>theaterforscher<br />

und Buchautoren zu diesem Themenkomplex.<br />

Durch das Festival erlangt das <strong>Schatten</strong>theater<br />

nicht nur eine höhere Präsenz, es sind auch<br />

die aktuellen Entwicklungen und Trends in der<br />

Szene zu beobachten. Dafür sorgt auch das,<br />

1988 von Reusch gegründete, internationale<br />

<strong>Schatten</strong>spiel Zentrum Schwäbisch Gmünd:<br />

Es besitzt zurzeit Informationen von rund 270<br />

<strong>Schatten</strong>bühnen weltweit, eine Plakatsammlung,<br />

eine Video-, Dia- und Bibliothek und eine<br />

beträchtliche Sammlung von <strong>Schatten</strong>figuren.<br />

Das <strong>Schatten</strong>theater Zentrum in Schwäbisch<br />

Gmünd fördert und erforscht das zeitgenössische<br />

<strong>Schatten</strong>theater. Es hat in ehrenamtlicher<br />

Arbeit die weltweite <strong>Schatten</strong>theaterszene<br />

erkundet und die Forschungsergebnisse und<br />

Beiträge anderer <strong>Schatten</strong>theaterexperten in<br />

Büchern veröffentlicht.<br />

Im Folgenden wird nun ein Teilnehmer des<br />

<strong>Schatten</strong>festivals 2006 vorgestellt. Das Figurentheater<br />

Wilde und Vogel , welches das Kinderstück<br />

„Maria auf dem Seil“ inszeniert.<br />

3.3 Figurentheater Wilde und Vogel<br />

Das Figurentheater Wilde & Vogel wurde 1997<br />

von dem Figurenspieler Michael Vogel, einem<br />

Absolventen des Studiengangs Figurentheater<br />

Stuttgart, und der Musikerin Charlotte Wilde als<br />

professionelles freies Tourneetheater mit Sitz in<br />

Stuttgart gegründet. Zahlreiche eigene Inszenierungen<br />

gehören zu seinem künstlerischen


Repertoire. Diese lassen sich in Kinder- als auch<br />

in Erwachsenentheater unterteilen. Das Figurentheater<br />

Wilde & Vogel hat diverse Gastspiele<br />

in über 20 verschiedenen Ländern gegeben<br />

und hat somit eine hohe Bedeutung für die<br />

generationenübergreifende Weiterverbreitung<br />

des <strong>Schatten</strong>spiels. Zudem gewann das<br />

Ensemble zahlreiche Preise für die Inszenierungen,<br />

unter anderem den Theaterpreis der Stuttgarter<br />

Zeitung 2001. Das <strong>Schatten</strong>theaterstück<br />

„Maria auf dem Seil“ wurde unter anderem<br />

bei dem <strong>Schatten</strong>theaterfestival Schwäbisch<br />

Gmünd (2006) aufgeführt.<br />

Es folgt ein inhaltlicher Abriss des Stücks „Maria<br />

auf dem Seil“. Anschließend werden Charakteristika<br />

der Aufführung, der Figurendarstellung,<br />

der Verwendung des Mediums Musik, als<br />

auch der Art der Umsetzung auf der Bühne<br />

herausgearbeitet. Zudem werden technische<br />

Aspekte, wie zum Beispiel Art des Bühnenraumes,<br />

zeitliche Aspekte und weitere Daten zum<br />

Stück erläutert. Des Weiteren wird eine Skizze<br />

zum Bühnengrundriss dargestellt. Hierdurch<br />

kann man die Analyse der technischen Aspekte<br />

bezüglich der Umsetzung des <strong>Schatten</strong>spiels<br />

umfassend nachvollziehen. Abschließend<br />

werden Videosequenzen im Hinblick auf die<br />

technische Umsetzung der <strong>Schatten</strong> im Spiel<br />

analysiert. Die Analyse der Videosequenzen<br />

wird jeweils mit der exakten Minutenangabe<br />

gekennzeichnet, wodurch man die Analyse visuell<br />

nachvollziehen kann. Die Minutenangabe<br />

erfolgt in Klammern [...].<br />

Die Quelle der folgenden Ausführungen ist<br />

zumeist, wenn nicht anderweitig kenntlich<br />

gemacht, das Figurentheater Wilde & Vogel,<br />

die in zahlreichen Telefonaten Auskunft über<br />

das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater gegeben<br />

haben. Die folgende Analyse bis hin zum abschließenden<br />

Fazit ist der namentlich gekennzeichnete<br />

Teil der Hausarbeit und ist von Isa<br />

Lange durchgeführt worden.<br />

„Maria auf dem Seil“<br />

„Maria auf dem Seil“ ist eine Koproduktion des<br />

Figurentheaters Wilde & Vogel und des Zikade<br />

Theaters unter Leitung von Ines Müller-Braunschweig<br />

mit dem Puppentheater Halle. Das<br />

Stück ist für Kinder ab 8 Jahre und basiert auf<br />

dem gleichnamigen Roman der brasilianischen<br />

Schriftstellerin Lygia Bojunga Nunes, einer<br />

Astrid-Lindgren-Preisträgerin. Zu betonen ist,<br />

dass dieses Stück keineswegs nur für Kinder<br />

inszeniert wurde. Gerade auf dem <strong>Schatten</strong>theaterfestival<br />

in Schwäbisch Gmünd war das<br />

Interesse seitens Erwachsener und des Fachpublikums<br />

groß. Die Hauptperson und zudem<br />

Titelfigur in „Maria auf dem Seil“ – Maria – ist<br />

ein kleines Mädchen, welches einer Zirkusfamilie<br />

angehört. Bei einem schrecklichen Absturz<br />

vom Hochseil verliert Maria ihre Eltern. Das<br />

junge Mädchen wird als Waise zu ihrer reichen<br />

und harschen Großmutter Dona Maria Cecilia<br />

Mendonga de Melo in die Großstadt gebracht.<br />

Diese erweist sich als streng und dekadent und<br />

kann Maria nicht die nötige seelische Unter-<br />

84<br />

stützung bieten, die das Mädchen benötigt, um<br />

den tödlichen Unfall ihrer Eltern zu verkraften<br />

und zu verarbeiten. Maria ist als Kind von Hochseilartisten<br />

noch nie in ihrem Leben zur Schule<br />

gegangen und kennt als Seiltänzerin einzig die<br />

wunderbare Welt des Zirkuslebens. Hier setzt<br />

das Stück mit seiner Inszenierung ein. Etwas<br />

Schreckliches ist passiert, zu schrecklich um zu<br />

erinnern. Alles, was in den zehn Jahren ihres<br />

jungen Lebens passiert ist, hat Maria vergessen.<br />

Stundenlang verweilt sie alleine am Fenster<br />

ihres neuen Zimmers in der ihr so fremdartig<br />

wirkenden Großstadt. Sie schaut in den Hof<br />

hinaus und sieht zahlreiche Fenster. Eines steht<br />

offen. Die Fenster des Nachbarhauses locken<br />

sie geheimnisvoll an. Träumend beginnt Maria<br />

ein Seil dorthin zu spannen, um mit den zwitschernden<br />

Schwalben hinüber zu spazieren.<br />

Hinter dem Fenster entdeckt Maria Türen, jede<br />

in einer anderen Farbe koloriert. Gelb, blau,<br />

weiß. Das Mädchen fragt sich, ob sie die sie<br />

magisch anziehende, geheimnisvoll wirkende<br />

rote Tür öffnen soll. Dieser Drahtseilakt der Erinnerung<br />

gelingt. Am Ende ihres Weges durch<br />

die Vergangenheit durchlebt Maria erneut den<br />

Unfalltod ihrer seiltanzenden Eltern und begegnet<br />

– im Zentrum des Schrecklichen – sich<br />

selbst. Aus diesem Zusammentreffen mit der im<br />

vergessenen gefangenen Maria entzündet sich<br />

der Funke des Lebens neu. Eine weitere Tür öffnet<br />

sich somit für die junge Maria: die Zukunft.<br />

„Maria auf dem Seil“ ist eine virtuose Komposition<br />

der Mittel aus Puppen-, Schauspiel- und<br />

<strong>Schatten</strong>theater. Die Bühne, auf der gespielt<br />

und projiziert wird, bleibt von Anfang bis Ende<br />

eine Zirkusmanege. Das Zimmer, von welchem<br />

aus Maria die Stationen ihres Lebens wieder<br />

erfährt, ist somit ebenso die Zirkusmanege.<br />

Der Absturz der Eltern wird als minimalistisches<br />

<strong>Schatten</strong>spiel gestaltet. Somit bewahrt<br />

diese Umsetzung des Todes des Elternpaares<br />

die Szene vor zu starkem Pathos. Maria – als<br />

Marionette dargestellt – birgt in ihrer figürlichen<br />

Darstellung Zartheit und Feingliedrigkeit<br />

in sich. Die Musik, als auch die Geräuschkulisse<br />

wird dem Geschehen angepasst, illustriert<br />

dieses und unterstreicht somit die Feinheit der<br />

Titelfigur Maria.<br />

Technische Informationen, Skizze Bühnengrundriss<br />

Im Folgenden werden technische Aspekte<br />

dargestellt, die für die Inszenierung des Stücks<br />

„Maria auf dem Seil“ beachtet werden müssen.<br />

Die Lieferung der technischen Daten und weiteren<br />

Informationen erfolgte durch Gespräche<br />

mit dem Figurentheater Wilde & Vogel.<br />

Die Spielfläche (Bühne oder Podeste) muss mindestens<br />

8m x 6m (Breite x Tiefe) betragen. Die<br />

Podesthöhe muss 1m bei ebenerdiger Bestuhlung,<br />

bei ansteigenden Sitzreihen entsprechend<br />

höher, betragen. Eine Bühnenraumhöhe von<br />

mindestens 3,70m ist erforderlich. Die Farbigkeit<br />

des Bühnenbodens, sowie die hinteren<br />

und seitlichen Aushänge, müssen schwarz sein.<br />

Der Abstand von der ersten Sitzreihe bis zur


Bühne muss 2m betragen. Licht und Ton werden<br />

seitens des Figurentheaters Wilde & Vogel<br />

zum jeweiligen Spielort mitgebracht. Je nach<br />

Raum werden mindestens vier Scheinwerfer<br />

mit blauen und gelben Farbfiltern (Rosco Filter<br />

No.119 Dark Blue und No.101 Yellow) für ein<br />

stimmungsvolles Saallicht benötigt.<br />

Der Aufbau der Bühne, der Kulisse, sowie der<br />

Lichttechnik erfordert mindestens fünf Stunden.<br />

Die Spieldauer der Inszenierung „Maria auf<br />

dem Seil“ wird auf ca. 60 Minuten angesetzt<br />

und beinhaltet keine Pause. Für den Abbau der<br />

Technik werden ca. 90 Minuten benötigt.<br />

Es ist zudem zu beachten, das während der<br />

Aufführung jeder Zuschauer den ganzen<br />

Bühnenboden überblicken kann. Der Saal muss<br />

vollständig verdunkelbar und abgeschirmt von<br />

Außengeräuschen sein. Die Zuschauerzahl beträgt<br />

maximal 100. Grundsätzlich ist der Aufbau<br />

flexibel, jedoch betont das Figurentheater, dass<br />

Änderungen unbedingt mit dem Figurentheater<br />

Wilde & Vogel abzusprechen sind.<br />

Skizze zu „Maria auf dem Seil“<br />

Bühnengrundriss von oben gesehen<br />

6m<br />

1 = Hängemöglichkeit Gazetuch<br />

2 = Hängemöglichkeit Strick für Marionette<br />

3 = Hängemöglichkeit Spiegelkugel<br />

Analyse<br />

Zu Beginn der Analyse der Verwendung und<br />

des Spiels mit <strong>Schatten</strong> in „Maria auf dem Seil“<br />

folgt eine kurze Definition der Begriffe <strong>Schatten</strong><br />

und Silhouette, so wie sie der Verfasser dieser<br />

Arbeit im Folgenden versteht und als fest definierte<br />

Begriffe benutzt. Als <strong>Schatten</strong> bezeichnet<br />

man das Gebiet hinter einem beleuchteten Körper,<br />

in das die Lichtstrahlen nicht eindringen.<br />

Der <strong>Schatten</strong> ist ohne Projektionsfläche nur als<br />

Dunkelheit zu erkennen. Je nach Neigung und<br />

Abstand des Gegenstands zu Lichtquelle und<br />

Projektionsfläche verändert der <strong>Schatten</strong> das<br />

Abbild des Gegenstands. 5<br />

Als Silhouette, der korrespondierende deutsche<br />

Begriff ist <strong>Schatten</strong>riss, wird ein flächiges Bild<br />

eines Menschen oder Gegenstandes – hell vor<br />

dunkel oder umgekehrt - bezeichnet. Die Relation<br />

zwischen <strong>Schatten</strong> und Silhouette lässt sich<br />

wie folgt kennzeichnen. Wenn ein <strong>Schatten</strong> ein<br />

flächiges unverzerrtes Abbild eines Menschen<br />

85<br />

1<br />

Gazetuch<br />

Publikum<br />

3<br />

2<br />

1<br />

Stative<br />

oder eines Gegenstands zu erkennen gibt,<br />

gleicht er einer Silhouette, ist aber keine.<br />

In „Maria auf dem Seil“ tauchen zahlreiche<br />

Spielweisen mit <strong>Schatten</strong> auf. Die folgende Analyse<br />

befasst sich zunächst mit der Videosequenz<br />

von Minute 16 an bis zur Minute 21. Anschließend<br />

folgt die Analyse des Videoabschnitts von<br />

Minute 21 bis Minute 27.<br />

Die <strong>Schatten</strong>wand ist zu Beginn des ersten<br />

Videoabschnitts klein und mobil [16:07]. Der<br />

Schirm befindet nicht mehr fest und unbeweglich<br />

auf einem Rahmen gespannt, sondern<br />

bewegt sich im Raum, wird von den <strong>Schatten</strong>spielern<br />

in die jeweilige Position auf der<br />

Bühne geführt. Somit wird die dritte Dimension<br />

ausgenutzt. Das <strong>Schatten</strong>spiel gewinnt enorm<br />

an Dynamik. Dies ist charakteristisch für das<br />

zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater. In dieser<br />

Szene befindet sich die Lichtquelle vorne vor<br />

dem Schirm, was eine offene Spielweise zur<br />

Folge hat. Der Zuschauer hat demzufolge die<br />

Möglichkeit zu verfolgen, wer spielt und wie<br />

mit <strong>Schatten</strong> gespielt wird. Auch dies ist ein<br />

entscheidendes Merkmal des zeitgenössischen<br />

<strong>Schatten</strong>theaters. In der anschließenden Videosequenz<br />

arbeitet das Figurentheater Wilde &<br />

Vogel mit verschiedenfarbigem Licht, ebenfalls<br />

ein feststehendes Merkmal des gegenwärtigen<br />

<strong>Schatten</strong>theaters [17:55 – 20:20]. Der verwendete<br />

Schirm, die Projektionsfläche bleibt<br />

die gleiche wie im vorigen Videoabschnitt,<br />

allerdings kommt hierbei das Spiel mit farbigem<br />

Licht hinzu. Die Verwendung farbiger <strong>Schatten</strong><br />

wirkt beeindruckend. Der Zuschauer ist es gewöhnt,<br />

wie im traditionellen <strong>Schatten</strong>theater,<br />

<strong>Schatten</strong> schlicht als dunkle Gebilde wahrzunehmen.<br />

Im zu häufigen Gebrauch farbiger<br />

Beleuchtung liegt allerdings auch eine Gefahr.<br />

Durch zu viele Farben, durch zu viele technische<br />

Spielereien kann ein <strong>Schatten</strong>spiel zur<br />

bloßen Effekthascherei werden, die zur Übersättigung<br />

der Beteiligten führt. Daher ist, wie<br />

in „Maria auf dem Seil“ geschehen, der gezielte<br />

und überlegte Einsatz der Farbe entscheidend,<br />

damit neben der Technik auch die Bewegung<br />

der <strong>Schatten</strong> und die Musik nicht an Bedeutung<br />

verlieren. Im gezeigten Videoabschnitt [17:55<br />

– 20:20] wird, im Gegensatz zum vorigen<br />

[16:07 – 17:55], nicht die offene, sondern die<br />

klassische Spielform verwendet. Die Lichtquelle<br />

befindet sich hinten. Die Licht-Schirm-Konstellation<br />

ist somit klassisch. Der Zuschauer sieht den<br />

<strong>Schatten</strong>spieler nicht, ihm offenbart sich allein<br />

der <strong>Schatten</strong>. Demzufolge wirkt das farbige<br />

Licht stärker. Es hat keine Konkurrenz seitens<br />

der Bespielung der Bühne.<br />

Das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater hat drei<br />

wesentliche Spielformen hervorgebracht: das<br />

Figuren-, Handschatten- und Menschenschattentheater.<br />

Alle drei Spielformen werden in<br />

„Maria auf dem Seil“ verwendet. Die Verwendung<br />

des Handschattenspiels wird im folgenden<br />

Videoabschnitt aufgenommen [20:20<br />

– 21:05]. Hier arbeiten die Darsteller nicht mehr<br />

nur mit der feingliedrigen Marionette Maria<br />

oder mit ihrer eigenen Person, sondern kon-


zentrieren sich speziell auf die Hände. Zudem<br />

wird farbiges Licht in blau und rot verwendet,<br />

welches eine intensive Wirkung aufweist. Die<br />

Verwendung farbigen Lichts unterstreicht den<br />

inhaltlichen Aspekt, dass die Titelfigur Maria<br />

vor der Wahl steht, die gefürchtete, aber sie<br />

magisch anziehende, rote Tür zur Offenbarung<br />

ihrer Vergangenheit zu öffnen.<br />

Nun wird die zweite Videosequenz analysiert<br />

[21:05 – 26:50]. Hierbei erfolgt eine Steigerung<br />

der im zeitgenössischen <strong>Schatten</strong>theater<br />

verwendeten Spielform von der traditionellen<br />

Verwendung von Figuren hinüber zum Handschattenspiel<br />

bis hin zum Einsatz des Menschen<br />

selbst als Figur [22:37 – 25:23]. Die zu bespielende<br />

Leinwand, Projektionsfläche, erweist sich<br />

in diesem Abschnitt als erheblich größer als<br />

die vorigen. Es zeigt sich das Spiel mit Größen<br />

und Proportionen. Teilweise sind sehr große<br />

Elemente in paralleler Konkurrenz zu kleinen<br />

<strong>Schatten</strong> zu betrachten. Es erfolgt ein Wechsel<br />

der Spielweise hin zu einer offenen Spielweise,<br />

die Lichtquelle befindet sich vorne. Zudem wird<br />

das Marionetten- und Menschenspiel kombiniert.<br />

In der abschließenden Videosequenz wird<br />

erneut mit der Darstellung von Größen gespielt<br />

[25:23 – 26:50]. Je nach Abstand der Lichtquelle<br />

kann der Gegenstand auf der Bühne ins<br />

Riesenhafte anwachsen oder sich extrem verkleinern.<br />

Der sich dem Zuschauer offenbarende<br />

<strong>Schatten</strong> des Bootes wirkt zu Beginn riesig und<br />

mächtig. Das Schiff befindet sich hinter dem<br />

Schirm, wird von den Darstellern des Stücks<br />

möglichst nah an die Lichtquelle herangeführt.<br />

Anschließend zeigt sich dem Zuschauer, wie<br />

klein das reale Schiff ist, wenn es vor der Projektionsfläche<br />

gezeigt wird. Die <strong>Schatten</strong>spieler<br />

verweisen in ihrer Inszenierung somit auf die<br />

vielfältigen Möglichkeiten und Neuerungen,<br />

die ihnen der <strong>Schatten</strong> und das Spiel mit Größen<br />

und farbigen Licht bietet. Die Entwicklung<br />

beweglicher Halogenhandlampen ermöglicht<br />

dem zeitgenössischen <strong>Schatten</strong>theater, wie in<br />

der vorliegenden Inszenierung zu betrachten,<br />

ein kreatives Erschaffen der <strong>Schatten</strong>gestalt.<br />

Maßgeblich und entscheidend ist, dass der<br />

<strong>Schatten</strong> der Figur demnach im Moment des<br />

Spiels verändert werden kann. Das Spiel in der<br />

dritten Dimension trägt zu einer ungeheuren<br />

Dynamik bei. Wie in den Videosequenzen aus<br />

„Maria auf dem Seil“ analysiert, erfährt der Ausdruck<br />

des Gezeigten durch das Spiel im Raum<br />

eine enorme Steigerung.<br />

Exkurs: die stilisierte <strong>Schatten</strong>figur<br />

Entgegen dem traditionellen <strong>Schatten</strong>theater<br />

weist das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater auch<br />

neue, stilisierte und abstrakte Formen bei der<br />

Figurengebung auf. Dies findet sich auch in<br />

„Maria auf dem Seil“, wobei hier zudem eine<br />

Marionette und der Mensch selbst als Figuren<br />

verwendet werden.<br />

Die Figurengestaltung in der Bildenden Kunst<br />

machte schon zu Beginn des 20.Jahrhundert<br />

eine rasante Entwicklung durch. Zu erwähnen<br />

86<br />

sind die Kunstrichtungen Kubismus, Futurismus,<br />

Expressionismus und abstrakte Malerei.<br />

Während sich hier eine enorme Veränderung<br />

vollzog, blieb das <strong>Schatten</strong>theater über einen<br />

langen Zeitraum der Figurengestaltung des<br />

19.Jahrhunderts verhaftet. Zwar gab es einige<br />

Ausnahmen, jedoch wiesen diese keine Breitenwirkung<br />

auf. Man legte Wert auf die möglichst<br />

naturgetreue, der realen Welt entsprechende,<br />

Wiedergabe der Figur. Oberste Prinzipien bei<br />

der Gestaltung der Figuren waren Ornament<br />

und Schönheit, Ästhetik der Figur. Erst in den<br />

70er Jahren setzt ein Umschwung ein, der<br />

das <strong>Schatten</strong>spiel dem künstlerischen Niveau<br />

und Ausdruck der Werke der Bildenden Kunst<br />

näher brachte. Einige <strong>Schatten</strong>künstler setzten<br />

sich nunmehr intensiv mit den neuen Errungenschaften,<br />

mit der neuen Art des Ausdrucks,<br />

in der Bildenden Kunst auseinander. Folglich<br />

hatte diese explizite Auseinandersetzung mit<br />

der Bildenden Kunst und ihrer Art der neuen<br />

Formen und Figurenwahrnehmung Auswirkungen<br />

auf die Figurengestaltung im <strong>Schatten</strong>theater.<br />

Die <strong>Schatten</strong>spieler wagten den<br />

Schritt ins Neuland zu gehen und verzichteten<br />

gänzlich auf jede ornamentale, musterhafte<br />

Ausgestaltung der Figur. Die <strong>Schatten</strong>spieler<br />

entfernten sich von nun an in ihrer Gestaltung<br />

der Figuren vom Naturalismus und wurden in<br />

ihrer Formgebung freier, extremer. Dies führte<br />

teilweise zu einer Stilisierung der Figur bis hin<br />

zu ihrer völligen Abstraktion. Entscheidend war<br />

nun nicht mehr, wie noch einige Jahre zuvor,<br />

der Aspekt Ästhetik, sondern der Ausdruck.<br />

Die Figur wurde auf ihren Ausdruck in Hinblick<br />

auf Wirkung entwickelt und ausgearbeitet. In<br />

„Maria auf dem Seil“ kommt, wie oben bereits<br />

dargestellt, zudem der Aspekt des Handschatten-,<br />

als auch des Menschenschattentheaters<br />

hinzu. Zudem werden die Figuren mit Hilfe<br />

der modernen Beleuchtungstechnik bis<br />

zur Unkenntlichkeit verzerrt, wachsen oder<br />

schrumpfen. Das <strong>Schatten</strong>spiel erhält somit eine<br />

ungeheure Dynamik, Energie und Aussagekraft<br />

und entfernt sich von der einfachen Darstellung<br />

eines Theaterspiels. Das <strong>Schatten</strong>spiel wird<br />

eine eigenständige Form der Aussage, es wird<br />

Kunst.<br />

Ein weiterer wichtiger Aspekt in „Maria auf<br />

dem Seil“ ist die Verknüpfung von Bild und<br />

Ton. Charakteristisch für das Stück ist eine<br />

der Führung der Figuren sehr angepasste<br />

Musik- und Geräuschkulisse. Diese illustriert<br />

das Geschehen, das Spiel mit <strong>Schatten</strong> auf der<br />

Bühne, in einzigartiger, interessanter Weise.<br />

Feinheit und Zerbrechlichkeit der Titelfigur Maria<br />

werden mit Hilfe gezielter Musikbespielung<br />

betont. Die Künstler des Figurentheaters Wilde<br />

& Vogel agieren als virtuose Spieler, zeigen in<br />

ihrer Inszenierung sogar kleine Zauberstückchen<br />

und Pyrotricks. Der intensive Vortrag<br />

wird durch handgemachte Musik mittels einer<br />

Spieluhr, dem Einsatz von Instrumenten, wie<br />

zum Beispiel des Akkordeons, der Ukulele<br />

und der Trommel, unterstützt. Zudem wird<br />

das <strong>Schatten</strong>spiel durch gut gesetztes Licht in


Quellen<br />

Print<br />

Haehnel, Gerd/ Söll, Florian:<br />

Wir spielen mit unseren<br />

<strong>Schatten</strong>, Seelze (Velber),<br />

2001<br />

Nold, Wilfried: Das Spiel der<br />

<strong>Schatten</strong>, Moers, 2002<br />

Reiniger, Lotte: <strong>Schatten</strong>theater,<br />

<strong>Schatten</strong>puppen,<br />

<strong>Schatten</strong>film, Tübingen,<br />

1981<br />

Klant, M./ Walch, J.: Bildene<br />

Kunst 1, S.62, Hannover,<br />

1993<br />

Zeitschriften<br />

Drexel, Gerhard: 7. Internationales<br />

<strong>Schatten</strong>theater<br />

Festival, in: gmuendguide<br />

–Stadtmagazin schwäbisch<br />

Gmünd Heft 01/2006,<br />

S. 46-49<br />

Internet<br />

http://de.wikipedia.org/<br />

<strong>Schatten</strong>theater,<br />

Stand 11.12.2006<br />

Wayang, http://de.wikipedia.<br />

org/wiki/Wayang,<br />

Stand 09.01.2007<br />

Reusch, Rainer: www.<br />

schattentheater.de/files/<br />

deutsch/aktivitaeten/files/<br />

weitere/Zeitgenoessisches_<br />

<strong>Schatten</strong>theater.pdf,<br />

Entwicklung des<br />

zeitgenössischen<br />

<strong>Schatten</strong>theaters,<br />

Stand 12.12.2006<br />

Reusch, Rainer: Kunst des<br />

<strong>Schatten</strong>theaters, http://<br />

www.schattentheater.de/<br />

files/deutsch/aktivitaeten/<br />

aktivitaeten.html,<br />

<strong>Schatten</strong>theater,<br />

Stand 12.12.2006<br />

www.figurentheater-wels.<br />

at/imago2005schatten.<br />

html, Informationen zum<br />

Theater 3, Stand 03.03.2007<br />

http://www-x.nzz.ch/<br />

format/broadcasts/<br />

transcripts_376_647.html,<br />

Neue Züricher Zeitung<br />

– Theater 3,<br />

Stand 03.03.2007<br />

http://www.portalkunst<br />

geschichte.de/images/<br />

wayang_ku<strong>lit</strong>_<br />

figuur_18561144344128.<br />

jpg, Abbildung einer<br />

indonesischen<br />

<strong>Schatten</strong>spielfigur,<br />

Stand.8.03.2007<br />

seiner Intensität des Ausdrucks verdichtet. Was<br />

Klänge und Geräusche angeht, so steht den<br />

Darstellern des <strong>Schatten</strong>spiels eine breite Palette<br />

von Möglichkeiten zur Verfügung. Welche<br />

Formen und Kombinationen von Bild und Ton<br />

verwendet wird, ist eine Frage der Absichten,<br />

Vorlieben, der technischen Ausrüstung und der<br />

Erfahrung.<br />

So ist es zum Beispiel möglich, ohne Ton „wie<br />

im Stummfilm“ zu spielen. So entsteht das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

als <strong>Schatten</strong>pantomime. Allerdings existieren<br />

hierbei immer noch einige Geräusche.<br />

Wenn mit Text und den natürlich entstehenden<br />

Geräuschen gespielt wird (O-Ton), kann der<br />

Text unterschiedlich stark festgelegt sein. Er<br />

kann sich streng an eine schriftliche Fassung<br />

orientieren, auf einer Textvorlage beruhen<br />

oder aber sich mehr oder weniger frei entfalten<br />

bis hin zur völligen Improvisation. Letzteres ist<br />

in „Maria auf dem Seil“ der Fall. Zudem wird<br />

das Stücks in breiter Ausarbeitung musikalisch<br />

unterstützt. Zum einen benutzt das Figurentheater<br />

Wilde & Vogel den Ton aus dem OFF.<br />

Eine oder mehrere Personen, die nicht auf der<br />

Bühne zu sehen sind, erzählen, kommentieren,<br />

singen, berichte ähnlich wie bei einem Dia-<br />

Vortrag. Zudem spielen die drei Darsteller des<br />

Stücks Live-Musik, wechseln vom Musiker zum<br />

wirklichen Schauspieler/Darsteller einer Figur<br />

(z.B. der Großmutter).<br />

Häufig wird Musik weniger als Ton zum Bild,<br />

sondern als Bewegungsimpuls benutzt. Zudem<br />

wird Musik als Basis verwendet, um die Figur<br />

und ganze Bewegungs- und Handlungsabläufe<br />

zu entwickeln (Bild zum Ton). Ein doppeltes<br />

Verhältnis zwischen Bild und Ton entwickelt<br />

sich, wenn Musiker ihre Musik unmittelbar zum<br />

<strong>Schatten</strong>spiel improvisieren, wie dies auch bei<br />

„Maria auf dem Seil“ der Fall ist. Die Führung<br />

der Marionette Maria in Verbindung zur Musik<br />

ist ein entscheidendes Charakteristikum des<br />

Stücks. In „Maria auf dem Seil“ werden Schauspiel<br />

und <strong>Schatten</strong>, Pantomime und Musik<br />

verbunden. Dies stellt ein wesentliches Merkmal<br />

des zeitgenössischen, modernen <strong>Schatten</strong>theaters<br />

dar.<br />

Die Öffnung des <strong>Schatten</strong>theaters hin zu<br />

anderen Künsten als neueste Entwicklung ist<br />

von zentraler Bedeutung für die Zukunft dieser<br />

Kunstform. Das direkte Einbeziehen anderer<br />

Künste – sozusagen ein „cross-over“ von Film,<br />

Schauspiel, Oper, Pantomime, Musik, Bildende<br />

Kunst und Tanz mit dem <strong>Schatten</strong>theater<br />

– erweist sich als klare Bereicherung für das<br />

neuzeitliche <strong>Schatten</strong>spiel. Beispielhaft steht<br />

hierfür die Inszenierung „Maria auf dem Seil“,<br />

welche den Aspekt Musik in breiter Ausarbeitung<br />

in das <strong>Schatten</strong>spiel mit einbezieht. Des<br />

Weiteren wird der Charakter eines zeitgenössischen<br />

<strong>Schatten</strong>theaters dadurch unterstrichen,<br />

dass die Inszenierung „Maria auf dem<br />

Seil“ in beeindruckender Weise Schauspiel und<br />

<strong>Schatten</strong>, Marionetten und Musik miteinander<br />

verschmelzen lässt und vereint.<br />

87<br />

3.4 <strong>Schatten</strong>BildTheater<br />

Das <strong>Schatten</strong>BildTheater wurde 1990 von<br />

der Malerin und Graphikerin Gisela Oberbeck<br />

gegründet. Seitdem experimentiert sie mit dem<br />

<strong>Schatten</strong>spiel und nimmt regelmäßig an Festivals<br />

im In- und Ausland und internationalen<br />

Symposien teil. In der vollständig vorliegenden<br />

Aufführung „animare – <strong>Schatten</strong>klänge und<br />

Klangschatten“ kooperiert sie mit der Komponistin<br />

Limpe Fuchs, die seit 1991 in szenische<br />

Musikprojekte involviert ist. Das Stück ist<br />

empfohlen ab 16 Jahren. Es handelt sich um<br />

eine „Geschichte von Werden und Vergehen,<br />

von Bewegung und Statik, von Wachstum und<br />

Beschneidung, von der tiefen Quelle Natur und<br />

vom Wandel.“6 Sowohl visuelle als auch akustische<br />

Kontraste spielen in dem experimentellen<br />

Theater, welches die Künstlerin selbst als „meditativ“<br />

bezeichnet, die wichtigste Rolle. Den<br />

<strong>Schatten</strong> wird ein Klang verliehen bzw. den<br />

Klängen ein <strong>Schatten</strong>. Beide Elemente wirken<br />

miteinander, beeinflussen sich und befinden<br />

sich stets im Wandel. Die Spielelemente für das<br />

Bild sind der Natur entnommen: getrocknete<br />

Pflanzen, Steine, Wurzeln, Hölzer und Knochen.<br />

Klare Formen (0:46, Knochen) kommen also<br />

ebenso vor wie unstrukturiert wirkende Gegenstände<br />

(43:34, Baumverästelungen). Die Beobachtung<br />

der Naturformen und das Spiel mit<br />

ihnen stehen im Zentrum des Stückes. Die akustischen<br />

Mittel bestehen aus Perkussioninstrumenten,<br />

Pendelsaite, Bronzeklangstäbe, Geige<br />

und selbst gebauten Instrumenten, die selten<br />

gehörte und ungewöhnliche Töne entstehen<br />

lassen. Sie unterlegen die <strong>Schatten</strong> akustisch<br />

und erzeugen unterschiedliche Atmosphären.<br />

Die Gegenstände wirken dadurch lebendig.<br />

Durch die Arbeitsteilung von Bewegungsführung<br />

und Akustik erhöht sich der Anspruch der<br />

Inszenierung. Die Anpassung von Aktion und<br />

Geräusch erfordert hier ein gutes Zusammenspiel,<br />

Übung und Harmonie zwischen beiden<br />

Beteiligten. Dies ist z.B. bei dem traditionellen<br />

Wayang-Theater, kein Problem, da der Dalang<br />

beide Aufgaben übernimmt.<br />

Die Anordnung und der Ablauf<br />

Anfangsbild der Inszenierung ist ein Gitter an<br />

dem verschiedene, oben aufgeführte Elemente<br />

befestigt sind. Nach und nach kommen<br />

akustisch unterlegt neue Gegenstände hinzu.<br />

Zwischen den vorhandenen Gegenständen<br />

und denen, die durch Bewegung neu in die<br />

Szenerie gebracht werden, herrscht Spannung.<br />

Oft werden dem Zuschauer zunächst nur<br />

kleine Ausschnitte präsentiert, bevor der ganze<br />

Gegenstand beleuchtet wird. Die Phantasie der<br />

Zuschauer wird angeregt. Gleich zu Beginn der<br />

Inszenierung (ab 8:28)) wird durch lautes Trommeln<br />

begleitet ein in Bezug zum Gitter großer<br />

Stamm gezeigt. Dieser bewegt sich wie ein<br />

Uhrwerk langsam hin und her. Nach und nach<br />

wird deutlich, dass durch die Entfernung des<br />

Objektes zur Lichtquelle mit der Größe gespielt<br />

wird: Der „Stamm“ stellt sich als Blumenstängel<br />

heraus.


Fußnoten<br />

1 Reusch, Rainer: www.schat<br />

tentheater.de/files/deutsch/<br />

aktivitaeten/files/weitere/<br />

Zeitgenoessisches_<strong>Schatten</strong><br />

theater.pdf, Entwicklung<br />

des zeitgenössischen Schat<br />

tentheaters, Stand<br />

12.12.2006<br />

2 ohne Autor: http://<br />

de.wikipedia.org/<strong>Schatten</strong><br />

theater, <strong>Schatten</strong>theater,<br />

Stand 11.12.2006<br />

3 http://www-x.nzz.ch/format/<br />

broadcasts/transcripts_376_<br />

647.html, Statement Helena<br />

Korinkova – Theater 3,<br />

Stand 03.03.2007<br />

4 Drexel, Gerhard: 7. Internati<br />

onales <strong>Schatten</strong>theater Fes<br />

tival, in: gmuendguide<br />

–stadtmagazin schwäbisch<br />

gmünd Heft 01/2006, S. 49<br />

5 Vgl. Encarta Enzyklopädie<br />

Standard 2003: <strong>Schatten</strong>bild<br />

6 Einleitung der DVD „anima<br />

re“<br />

Das Licht und die Akustik<br />

Es kommt nur weißes Licht zum Einsatz, farbige<br />

Lichtquellen werden nicht verwendet.<br />

Gisela Oberbeck nutzt die technischen Möglichkeiten,<br />

die leistungsstarke Taschenlampen<br />

bieten, aus. Die freien Bewegungsmöglichkeiten<br />

sowohl der punktförmigen Lichtquelle<br />

als auch der Objekte ermöglichen das dreidimensionale<br />

Spiel auf dem <strong>Schatten</strong>schirm. Das<br />

<strong>Schatten</strong>spiel gewinnt an Ausdruck, Spannung<br />

und Dynamik. Verdeutlicht wird dieser Effekt<br />

in der Filmsequenz mit dem Dornenast (38:54)<br />

Sowohl dieser als auch die Lichtquelle werden<br />

schnell bewegt. Zusammen mit der akustischen<br />

Unterlegung ergibt sich die Assoziation zu<br />

einer Säge.<br />

Auch wird mit der Größe gespielt. Je nach<br />

Abstand zur Lampe wirken die Gegenstände<br />

überdimensional oder winzig im Verhältnis<br />

zur Rea<strong>lit</strong>ät. Die Künstlerin erzielt verblüffende<br />

Effekte und Stimmungen:<br />

Der schon angesprochene Dornenast wirkt<br />

riesig dargestellt sehr erdruckend und beängstigend.<br />

Der Mohn hingegen wird klein dargestellt,<br />

wächst aber zu den ansteigenden Trommelschlägen.<br />

Er wirkt dadurch sehr kraftvoll.<br />

Die Unterlegungen von Limpe Fuchs tragen im<br />

großen Maße zu der vermittelten Atmosphäre<br />

bei. Die Gefühle werden intensiviert.<br />

Die Beweglichkeit der Lichtquellen nutzt die<br />

Künstlerin vor allem auch bei der Betonung<br />

einzelner Gegenstände, die sie spotartig in den<br />

Mittelpunkt stellt. Hierzu nutzt sie würfelförmige<br />

Behältnisse, die mit einer rechteckigen<br />

Öffnung ausgestattet sind. In vollkommener<br />

Dunkelheit wird nur ein rechteckiger Ausschnitt<br />

der Installation beleuchtet und auf den Schirm<br />

projiziert (47:25).<br />

Ein ähnliches Prinzip wird zur Einblendung floraler<br />

Muster verwendet. Diese Muster werden<br />

so an den Schirm geworfen und stimmig zu<br />

den Instrumenten bewegt (z.B. Minute 13, 20,<br />

32, 44). Da die Lichtquelle der Inszenierung<br />

relativ dunkel ist, gedimmt wirkt, erscheinen<br />

die Muster deutlich heller und werden in die<br />

<strong>Schatten</strong>installation mit eingefügt. Auch die<br />

<strong>Schatten</strong> der Gegenstände werden von den<br />

Mustern eingeschlossen. Der Zuschauer vertieft<br />

sich intensiv in die gebotene Atmosphäre.<br />

Das Stück stellt sich insgesamt als in sich geschlossen<br />

dar. Die einzelnen Gegenstände werden<br />

harmonisch zueinander in Szene gesetzt,<br />

bewahren sich jedoch ihren eigenen Charakter.<br />

Dies wird sowohl durch die Bewegungsart, erzeugt<br />

von Gisela Oberbeck, als auch durch die<br />

individuell zugeordneten Töne erreicht.<br />

Anders als bei den meisten <strong>Schatten</strong>theatern<br />

werden bei der Inszenierung des <strong>Schatten</strong>Bild-<br />

Theaters Licht und Objekte als gleichwertige<br />

künstlerische Mittel benutzt. Das Licht dominiert<br />

an vielen Stellen sogar. Es wird damit<br />

eine weit entwickelte Ausprägung des zeitgenössischen<br />

<strong>Schatten</strong>theaters gezeigt, die die<br />

bisher vorgestellten Theatergruppen und ihre<br />

Arbeiten ergänzt. Ein Spiel mit Größe, Dreidimensiona<strong>lit</strong>ät,<br />

Bewegung und Akustik.<br />

88<br />

4. Fazit<br />

Die Arbeit konnte sowohl das traditionelle<br />

<strong>Schatten</strong>theater als auch das zeitgenössische<br />

Theater anhand von Beispielen vorstellen. Die<br />

Tendenzen und auch Möglichkeiten, die die<br />

einzelnen Ausprägungen aufzeigen konnten<br />

anhand des Bild- und Videomaterials verdeutlicht<br />

werden. Besonders konnte auf die Weiterentwicklung<br />

des zeitgenössischen <strong>Schatten</strong>theaters<br />

eingegangen werden. Angefangen mit<br />

dem Hand- und Menschenschattentheater des<br />

Theaters 3 konnte, über das Menschen- und<br />

Figurenschattentheater des Figurentheaters<br />

Wilde & Vogel, bis hin zu dem meditativen Gegenstandstheater<br />

vom <strong>Schatten</strong>BildTheater, ein<br />

Vielzahl an Umsetzungen betrachtet werden.<br />

Durch die Thematisierung nicht nur einer<br />

Strömung, sondern beider <strong>Schatten</strong>theatertendenzen<br />

– dem traditionellen als auch dem<br />

zeitgenössischen – konnte die Entwicklung<br />

dieser Kunstform verfolgt werden. Das zeitgenössische<br />

Theater hat mit dem traditionellen<br />

Theater nur noch wenige Überschneidungspunkte.<br />

Sowohl die Technik und ihr Einsatz (z.B.<br />

künstliches Licht – lebendiges Licht) als auch<br />

die Intention (Unterhaltung – Religiosität), der<br />

Spielzweck haben sich deutlich auseinander<br />

entwickelt. Die zunehmende Beeinflussung des<br />

zeitgenössischen Theaters durch andere Künste<br />

– z.B. Musik, Schauspiel – konnte beobachtet<br />

werden und ist als Bereicherung anzusehen.<br />

Aktuell sind sogar rückläufige Tendenzen der<br />

zeitgenössischen Theater zu erkennen. Das<br />

Theater 3 beschränkt sich bewusst auf weniger<br />

Technik.<br />

Es war nicht einfach mit den <strong>Schatten</strong>theatergruppen<br />

in Verbindung zu treten und zu<br />

kooperieren. Zahlreiche <strong>Schatten</strong>theatergruppen<br />

waren nicht bereit Videomaterial zur Verfügung<br />

zu stellen oder Auskünfte über technische<br />

Aspekte und die Umsetzung des Stückes<br />

auf der Bühne zu geben. Es gelang jedoch, die<br />

in der vorliegenden Arbeit analysierten <strong>Schatten</strong>theatergruppen<br />

für die wissenschaftliche<br />

Arbeit zu gewinnen. Hierbei ist Frau Wilde, die<br />

ausführlich über ihre Inszenierungen und das<br />

<strong>Schatten</strong>theater Wilde & Vogel Auskunft gab<br />

und Videomaterial zur Verfügung stellte, zu<br />

nennen. Auch das Theater 3 und Gisela Oberbeck<br />

unterstützten uns hierbei in einem sehr<br />

hohen Maße. Somit tragen sie in dieser Hinsicht<br />

dem direkten Austausch und der Kommunikation<br />

zwischen <strong>Schatten</strong>theaterinteressierten bei.<br />

Denn die wissenschaftlichen Diskussionen über<br />

<strong>Schatten</strong>theater und die eigene künstlerische<br />

Auseinandersetzung mit <strong>Schatten</strong>, tragen zum<br />

Fortbestand der künstlerischen Arbeit mit dem<br />

Medium <strong>Schatten</strong> bei.


Quellen<br />

Spierling, Volker: Kleine Geschichte<br />

der Philosophie. 50<br />

Portraits von der Antike<br />

bis zur Gegenwart. 7.<br />

Auflage. Piper Verlag<br />

GmbH, München 2000.<br />

ZKM: www.zkm.de/lichtkunst/<br />

Youtube: www.youtube.<br />

com (Alexander Calder,<br />

„Circus“), http://www.<br />

youtube.com/<br />

watch?v=lMnoi1-vAKU<br />

Abbildungen<br />

Abb. 1 - 5: Fotografien von<br />

Merle Christmann, teilweise<br />

nachbearbeitet bzw. verän<br />

dert.<br />

Abb. 6 - 9: ZKM Karlsruhe;<br />

Abb. 6, http://hosting.zkm.<br />

de/lichtkunst/stories/story<br />

Reader$136;<br />

Abb. 7, http://hosting.zkm.<br />

de/lichtkunst/stories/story<br />

Reader$50<br />

Abb. 8, http://hosting.zkm.<br />

de/lichtkunst/stories/story<br />

Reader$62;<br />

Abb. 9, http://hosting.zkm.<br />

de/lichtkunst/stories/story<br />

Reader$114<br />

Im gewissen Rahmen war meine Arbeit auch<br />

interaktiv gemeint, beschriftete ich doch den<br />

Diaprojektor mit der Aufschrift „Bitte Diaprojektor<br />

bedienen“. In den meisten Fällen, die ich<br />

beobachtete, war diese Empfehlung scheinbar<br />

nicht deutlich genug angebracht, denn ihr<br />

folgte kaum jemand von den anwesenden Gästen.<br />

So wird es ohne die innere Repräsentation<br />

der Summe beider Bilder natürlich schwierig<br />

gefallen sein, den Sinn der Arbeit auch nur<br />

annähernd zu erfassen, wie ich vermute.<br />

Der Aspekt des „beweglichen <strong>Schatten</strong>s“ ist<br />

meiner Meinung nach in meiner Arbeit insofern<br />

umgesetzt, dass ein Diaprojektor ja in gewissem<br />

Sinne farbige, vergrößerte <strong>Schatten</strong> seiner<br />

ebenso farbig-transparenten Minibilder, der<br />

Dias erzeugt. Die Bewegung dieses <strong>Schatten</strong>s<br />

ist natürlich nur eine symbolische, die sich<br />

in dem Bild des Seiltänzers ausdrückt, der ja<br />

eigentlich auf seinem Draht nicht stillstehen,<br />

sondern ihm bis zu seinem Ende folgen muss,<br />

um nicht zu fallen und zu „scheitern“.<br />

Insofern ist der übergeordnete Titel der Ausstellung<br />

ebenso Programm in meinem Werk: Würde<br />

sich mein <strong>Schatten</strong> nicht bewegen, wäre er<br />

quasi kein „<strong>Moving</strong> Shadow“, er würde (im Kopf<br />

des Betrachters bzw. in der inneren Repräsentation<br />

des Betrachters) fallen und nicht nur<br />

symbolisch, durch den Stillstand seines Geistes<br />

vergehen, sondern im wirklichen Sinne des<br />

Wortes körperlich fallen, sterben und so die<br />

ganze Arbeit zunichte und ebenso nichtig und<br />

unsinnig machen.<br />

89<br />

Abb. 8: Fred Erfekens: „The image As Distance<br />

Between Name and Object“, 1991<br />

Abb. 9: Rirkrit Tiravanja, „Untitled (Paul writing<br />

my name No 4)“, 2003


Katrin Danne<br />

Inhalt<br />

1. Das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

2. Das indonesische<br />

<strong>Schatten</strong>spiel<br />

3. Besonderheiten des<br />

balinesischen<br />

<strong>Schatten</strong>spiels<br />

4. Türkisches <strong>Schatten</strong>spiel:<br />

Karagösz<br />

Literatur<br />

Balinesische und türkische<br />

<strong>Schatten</strong>spiele<br />

Abbildung 1: Balinesisches <strong>Schatten</strong>spiel<br />

1. Das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

Das Licht und der <strong>Schatten</strong> faszinieren den<br />

Menschen schon von jeher. Das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

begann als die Erde entstand und das erste<br />

Sonnenlicht auf sie fiel. „Jahrmillionen lang<br />

spielt die Natur für sich allein: mit jeder Wolke,<br />

die sich vor die Sonne schiebt, mit jedem Baum,<br />

der seine Silhouette auf den Boden zeichnet[...]<br />

(Krafft, L., 1983, S.15) Der Mensch fürchtete sich<br />

zunächst vor dem <strong>Schatten</strong>. Er assoziiert das<br />

Licht mit dem Leben und den <strong>Schatten</strong> mit dem<br />

Tod. Der <strong>Schatten</strong> personifiziert die Ahnen und<br />

die Menschen haben den Wunsch noch einmal<br />

mit den Verstorbenen in Berührung zu kommen.<br />

Der <strong>Schatten</strong> wurde aus seinem physikalischen<br />

Zusammenhang herausgelöst, um in<br />

diese andere Dimension eindringen zu können.<br />

In der Darstellung dieser <strong>Schatten</strong> auf einer<br />

Leinwand können im Glauben vieler Menschen<br />

die Grenzen überwunden werden.<br />

Das <strong>Schatten</strong>spiel ist sehr alt und entwickelte<br />

sich wahrscheinlich im 2. Jahrhundert v. Chr. in<br />

China. Es gehört damit zu den ältesten dramatischen<br />

Kunstformen der asiatischen Hochkulturen.<br />

Es setzte sich mit der Zeit im asiatischen<br />

Raum durch und gelangte über Persien, Ägypten,<br />

die Türkei und Griechenland nach Westeuropa.<br />

Dort wurde es im 17. Jahrhundert unter<br />

dem Namen „Ombres Chinoises“(chinesische<br />

<strong>Schatten</strong>) bekannt. (vgl. Dunkel, 1984, S. 7). Das<br />

asiatische <strong>Schatten</strong>theater war zwar beliebt,<br />

90<br />

kam aber nie an die Volkstümlichkeit des Puppentheaters<br />

heran, da die westliche Bevölkerung<br />

eher modebedingt an „Chinesischem“<br />

interessiert waren und nicht an dem Wissen um<br />

die Herkunft des <strong>Schatten</strong>theaters.<br />

Das Grundkonzept ist in allen Ländern und<br />

Kulturen gleich: „Die flachen Figuren werden<br />

zwischen einer Leinwand und einer Lichtquelle<br />

so bewegt, dass ihr <strong>Schatten</strong> auf der dem<br />

Zuschauer zugewandten Seite des Bildschirms<br />

sichtbar wird.“ (Dunkel, 1984, S.8)<br />

Das Aussehen der einzelnen <strong>Schatten</strong>spielfiguren<br />

ist in den Ländern teilweise sehr verschieden.<br />

In Indonesien bestehen die Puppen aus<br />

Tierhäuten oder Holz und sind fein gearbeitet<br />

und bemalt. In der Türkei sind die Figuren<br />

farbig und transparent, während in Westeuropa<br />

schwarze flache Silhouetten vorherrschen.<br />

Auch die Ausprägungsformen unterscheiden<br />

sich. In China wird bspw. das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

mit Gesang unterlegt, in Indien besteht es aus<br />

einer Erzählung und in der Türkei hat sich eine<br />

Dialogform durchgesetzt. Während das <strong>Schatten</strong>theater<br />

in Thailand eine Art höfisches Theater<br />

darstellt, ist es in der Türkei eine beliebte<br />

Unterhaltung für das einfache Volk. (vgl. www.<br />

wernernekes.de)<br />

Das <strong>Schatten</strong>spiel hat neben dem kulturellen<br />

Wert, die Überlieferung alten Gedankenguts,<br />

auch einen künstlerischen Wert, der sich in<br />

der Fertigung der Figuren und der Darbietung<br />

zeigt


Abb.2: Traditionelle indonesische<br />

<strong>Schatten</strong>spielfigur<br />

2. Das indonesische <strong>Schatten</strong>spiel<br />

Die Entstehungsgeschichte des indonesischen<br />

<strong>Schatten</strong>theaters ist unklar. Wahrscheinlich<br />

schätzen schon die Ureinwohner Indonesiens<br />

das Spiel mit den Figuren. Auf javanisch bedeutet<br />

das Wort „Wayang“ so viel wie „<strong>Schatten</strong>“-<br />

<strong>Schatten</strong> im Sinne von Geistern. Das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

wurde zur Tradition, weil die Kultur<br />

Indonesiens mit dem Glauben an die Geister<br />

der Vorfahren stark verbunden ist. Diese<br />

Geister können schützend wirkend oder aber<br />

auch Unheil bringen. Mit Zeremonien in Form<br />

von <strong>Schatten</strong>spielen, wollen die Glaubensanhänger<br />

die Geister besänftigen und um Hilfe<br />

bitten. (vgl. www.ingrids-welt.de) Die Figuren,<br />

mit denen sie spielten, werden heute „Wayang<br />

Golek“ genannt. Es handelte sich noch nicht<br />

um das <strong>Schatten</strong>spiel, wie es heute bekannt ist.<br />

Die Ureinwohner hatten plastische Holzfiguren,<br />

die auf einem Stab befestigt waren.<br />

Im Laufe der Jahrhunderte wirkten viele fremde<br />

Einflüsse auf die <strong>Schatten</strong>spiele ein. Bereits vor<br />

Christi Geburt breitete sich der Hinduismus,<br />

von Indien kommend, in Indonesien aus und<br />

hatte große Auswirkungen auf die Inhalte des<br />

<strong>Schatten</strong>spiels. Die hinduistischen Epen von<br />

Mahabharata und Ramayana wurden im 11.<br />

Jahrhundert übernommen, in dem der Ort der<br />

Handlung von Indien nach Java verlegt wurde<br />

und die Berge und Flüsse ebenfalls javanische<br />

Namen bekamen. Sogar die eigenen Landesfürsten<br />

wurden als direkte Nachkommen der<br />

Helden aus dem Mahabharata angesehen.<br />

Die indonesischen Götter wurden langsam<br />

von der hinduistischen Götterwelt verdrängt.<br />

Die eigentlich fremden Götter wurden als die<br />

Eigenen angesehen, während die eigentlich indonesische<br />

Götterwelt „hinduisiert“ wurde. (vgl.<br />

Dunkel, 1984, S. 43).Das <strong>Schatten</strong>spiel diente<br />

dem Zweck der Verbreitung des hinduistischen<br />

Glaubens.<br />

Es ist nicht nachweisbar, inwieweit die Chinesen,<br />

die sich auch in Indonesien niedergelassen<br />

hatten, das <strong>Schatten</strong>spiel beeinflussten. Es<br />

ist möglich, dass die Verzierungen und Farben<br />

der Figuren in Mittel- und Ostjava, eher<br />

chinesischem Geschmack näher kommen. (vgl.<br />

Wilpert, 1980, S. 70)<br />

Ungefähr ab dem 13. Jahrhundert breitet<br />

sich der Islam in Indonesien aus. Er verbot die<br />

menschliche Darstellung von Göttern. Aber der<br />

Islam bewirkte mit dem Verbot nicht das Ende<br />

des <strong>Schatten</strong>spiels. Eine Legende besagt, dass<br />

der Herrscher im Königreich von Demak (Java),<br />

Raden Patah, die Wayangs in ihrer ursprünglichen<br />

Form sehen wollte. Da dieses durch das<br />

Verbot des Islams nicht möglich war, wurden<br />

flache Figuren aus Tierhäuten geschaffen. Anstelle<br />

der Figuren wurden nur deren <strong>Schatten</strong><br />

auf einer Leinwand gezeigt. Somit handelte es<br />

sich nicht um eine menschliche Nachahmung<br />

von Göttern, sondern nur um ein Abbild deren<br />

Charaktere. So wurde, aus der Not heraus, ein<br />

neues Repertoire erfunden: das „Wayang Ku<strong>lit</strong>“.<br />

Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine islamisch<br />

geprägte Form des Wayang Ku<strong>lit</strong>. Eine solch<br />

91<br />

starke Integration der Fremdeinflüsse in die<br />

Tradition der <strong>Schatten</strong>spiele wäre nicht möglich<br />

gewesen, wenn diese Kunstform nur als bloße<br />

Unterhaltung und Volksbelustigung gedient<br />

hätte. Stattdessen ist sie tief im Bewusstsein der<br />

Einwohner verankert. Bis heute sind Wayang<br />

Aufführungen in Indonesien mit religiösen<br />

Vorstellungen verwurzelt. (vgl. Dunkel, 1984, S.<br />

44). Das zeigt sich auch besonders darin, dass<br />

die Figuren nach ihrer Fertigstellung geweiht<br />

werden und es spezielle Rituale vor und nach<br />

dem Auftreten der Figuren auf der Bühne gibt.<br />

(vgl. Wilpert, 1980, S.70). Weiterhin werden<br />

unbrauchbar gewordene Puppen nach einer<br />

Zeremonie mit Blumen und Weihrauch in einen<br />

Fluss oder das Meer geworfen. (vgl. Wilpert,<br />

1980, S.75).<br />

Der europäische Einfluss ab dem 19. Jahrhundert<br />

prägte ebenso das <strong>Schatten</strong>spiel. Auf der<br />

einen Seite werden heutzutage die neuen<br />

Medien, wie Fernseher und Radio genutzt,<br />

andererseits werden langatmige Dialoge durch<br />

komische Einlagen erweitert oder Gesang eingefügt.<br />

(vgl. Wilpert, 1980, S.71)<br />

Eine Wayang Aufführung findet zu besonderen<br />

Anlässen statt. Zu Beginn eines neuen<br />

Lebensabschnittes, wie z.B. einer Hochzeit,<br />

Schwangerschaft, Beschneidung, Bau eines<br />

Hauses möchten die Menschen in Indonesien<br />

den Segen der Götter bzw. der Ahnen erlangen.<br />

Wenn die Finanzen es zulassen, werden<br />

besondere Ereignisse von Wayang- Spielen<br />

begleitet. Diese Aufführungen handeln dann<br />

speziell von dem gegenwärtigen Ereignis, um<br />

die größtmögliche Aufmerksamkeit der Götter<br />

zu erlangen. Neben dem Privatleben, werden<br />

die <strong>Schatten</strong>spiele auch öffentlich bei dem Bau<br />

von Tempeln, der Bitte der Dorfgemeinschaft<br />

um Regen oder bei religiösen Veranstaltungen,<br />

wie eine Leichenverbrennung, Seuchen<br />

oder Naturkatastrophen, in Verbindungen mit<br />

Zeremonien und Opfergaben, aufgeführt. (vgl.<br />

Dunkel, 1984, S. 62)<br />

Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich<br />

unterschiedliche Formen des Wayang, die sich<br />

im Aussehen der Figuren oder den Inhalten der<br />

Stücke unterscheiden.<br />

2.1 Die Figuren<br />

Die Figuren des <strong>Schatten</strong>spiels sind zwischen<br />

20 und 100 cm groß. Die Herstellung folgt<br />

nach einer genau festgelegten Reihenfolge<br />

und mit einem der Haut von zwei- oder dreijährigen<br />

Wasserbüffeln oder Rindern. Die Häute<br />

müssen völlig getrocknet und fettfrei sein, so<br />

dass sie eine Festigkeit besitzen, um die Figuren<br />

zu stabilisieren. Die javanischen Figuren<br />

werden oft als Lederpuppen bezeichnet, was<br />

jedoch nicht ganz korrekt ist, da die Häute nicht<br />

mit Gerbsäure oder Salzen behandelt werden,<br />

wie es bei der Herstellung von Leder erforderlich<br />

ist. Der Unterschied zum Leder besteht<br />

darin, dass die Haut nach der Behandlung lichtdurchlässig<br />

ist. Die Umrisse der Figuren werden<br />

mit Hilfe von Pergamentpapier und einer Nadel<br />

auf die Haut übertragen. Eine alte, unbrauch-


Abb. 3, 4: Der Dalang beim<br />

Spiellen (Quelle: www.ingridswelt.de)<br />

bare Figur dient dabei als Vorlage. Die Füße<br />

bestehen aus dickerem Leder, als der Kopf, da<br />

die Figur sonst kopflastig wird und dadurch<br />

schwerer zu führen ist. Außerdem werden die<br />

Füße bei der Vorstellung durch Kampfszenen<br />

stärker beansprucht.<br />

Die Umrisse der Figuren werden mit verschiedenen<br />

Meißeln ihn mühevoller Kleinarbeit heraus<br />

gearbeitet. Im letzten Arbeitsgang werden<br />

die Nase, der Mund und schließlich die Augen<br />

vervollkommnet und damit symbolisch mit<br />

Leben erfüllt. (vgl. Dunkel, 1984, S. 48)<br />

Die Farbwahl und der Auftrag sind fest geschrieben:<br />

Die Figur wird weiß grundiert und<br />

dann Teile wie die Haare, die Augenpartien<br />

und Teile der Kleidung geschwärzt. Anschließend<br />

folgt der Goldfärbung von Kleidung und<br />

Schmuck. Zum Schluss werden die Farben Rot,<br />

Gelb, Blau und Grün aufgebracht. Dabei ist es<br />

wichtig, dass z.B. Rot nicht an Blau, sondern<br />

an Grün grenzt und Gelb neben Blau, aber<br />

nicht neben Grün gesetzt wird. Der Farbauftrag<br />

ist auf beiden Seiten der Figur identisch<br />

und die Figur wird dadurch lichtundurchlässig.<br />

Im Anschluss werden die Arme montiert, der<br />

Stützstab eingesetzt und Führungsstäbe an den<br />

Händen befestigt. Bei allen Arbeitsschritten ist<br />

der Hersteller an bestimmte Regeln gebunden,<br />

so dass er eigene Vorstellungen nicht einbringen<br />

darf.( vgl. Dunkel, 1984, S. 49)<br />

Der Charakter einer Figur ist meist vom Körperbau<br />

und der Gesichtsform ableitbar. An<br />

Schmuck und Kleidung ist der soziale Stand<br />

erkennbar. Die Figuren sind grob in zwei Arten<br />

von Charakteren einteilbar: Die Edlen und die<br />

Gewalttätigen. Edle Charaktere besitzen eine<br />

spitze, lange Nase, während der Nasenrücken<br />

und die Stirn in einer Linie verlaufen. Die Augen<br />

sehen mandelförmig aus und der Körperbau<br />

ist schmal und zierlich. Die Haare sind<br />

ordentlich zu einem Zopf frisiert oder sie tragen<br />

92<br />

eine Krone. Schuhe und sonstige Kleidung<br />

dürfen nur Götter, Weise oder Priester tragen.<br />

Krieger hingegen haben ovale, aufgerissene<br />

Augen, eine stumpfe Nase und einen kräftigen<br />

Körperbau. Dämonen haben dicke, knollige Nasen,<br />

zwei runde Augen, scharfe Reißzähne und<br />

einen gewaltigen Körperbau. Auch die Farbe<br />

wird zeichenhaft für die Art der Charaktere eingesetzt.<br />

Heutzutage bedeutet Schwarz, Reife,<br />

Besonnenheit, Alter. Gold steht für Würde und<br />

Jugend, während Weiß Stärke symbolisiert (vgl.<br />

Dunkel, 1984, S. 52).<br />

Neben den Figuren sind für die Aufführungen<br />

noch Requisiten, wie Gegenstände des<br />

täglichen Lebens, Kutschen, heutzutage auch<br />

Fahrräder, Autos, Waffen usw. von Bedeutung.<br />

2.2 Die Aufführung und der Dalang<br />

Eine Vorstellung z.B. auf Java beginnt zu Sonnenuntergang<br />

und endet erst mit Sonnenaufgang.<br />

Der Dalang sitzt traditionell im Schneidersitz<br />

und ordnet die Figuren: Die Guten stecken<br />

auf der rechten Seiten in einem Bananenstamm,<br />

die Bösen zur linken Seite. Die Figuren<br />

stecken je nach Ranghöhe, von oben nach<br />

unten, in dem Stamm. Die Vorstellung beginnt<br />

immer mit einem Gebet und einer Opfergabe,<br />

danach beginnt nach genauer Reihenfolge<br />

die Vorstellung: von etwa 21 -0 Uhr dauert die<br />

Einführung, von 0-3 Uhr die Entwicklung der<br />

Handlung, von 3- 6 Uhr wird die Handlung<br />

aufgelöst und endet mit einer Schlacht. Der<br />

Grundgedanke jedes Stückes, basiert auf dem<br />

Kampf zwischen Gut und Böse. Die Guten siegen<br />

immer. (vgl. Dunkel, 1984, S. 60f)<br />

Der Dalang ist ein wahrer Profi. Er spielt alle<br />

Charaktere allein und haucht ihnen mit weichen<br />

Bewegungen Leben ein. Je fließender die<br />

Bewegungen sind, desto lebendiger wirkt das<br />

Spiel. Zusätzlich muss er alle Texte, sowie die<br />

dramatische Rezitation beherrschen. Er darf die<br />

Texte nicht verändern, da die Inhalte und auch


die Länge traditionell fest geschrieben sind.<br />

Ebenfalls muss ein Dalang wissen, in welcher<br />

Reihenfolge und von welcher Seite die Figuren<br />

auftreten müssen. Jede Figur hat typische Bewegungen.<br />

Nur wenn die Spaßmacher auf der<br />

Bühne erscheinen, hat der Dalang die Möglichkeit<br />

eigene Improvisation einzubringen. Dabei<br />

sollte er witzig sein und auf lokale Ereignisse<br />

anspielen, sowohl Kritik an Missständen üben<br />

(vgl. Dunkel, 1984, S. 63) Der Dalang kann bis<br />

zu sieben oder acht Figuren gleichzeitig auftreten<br />

lassen und verleiht ihnen unterschiedliche<br />

Stimmen, je nach Charakter oder Stellung.<br />

Ein Dämon spricht z.B. laut und polternd (vgl.<br />

www.ingrids-welt.de).<br />

Er untermalt die Szenen mit einer Trommel, die<br />

er mit den Füßen spielt und leitet zusätzlich<br />

noch das Gamelanorchester. (vgl. http://reisebuch.de)<br />

Jede Wayang Aufführung wird von<br />

diesem Orchester begleitet. Die Musiker sitzen<br />

hinter dem Dalang und spielen hauptsächlich<br />

auf Metallklangkörpern, xylophonartigen Instrumenten,<br />

einem Streichinstrumenten und einer<br />

großen Trommel (vgl. Dunkel, 1984, S. 66).<br />

Gamelan ist die traditionelle Musik Indonesiens<br />

und klingt für europäische Ohren fremd. Sie<br />

untermalt die Aktionen der Figuren und betont<br />

die Stimmungen. Die Figuren haben untrennbare<br />

Verbindungen mit speziellen Melodien,<br />

so dass das Publikum die Figuren im Voraus<br />

erkennen kann. (vgl. www.ingrids-welt.de)<br />

Sicht auf den Dalang und dem Gamelanorchester<br />

(Quelle: www.jorga-interactive.de).<br />

Der Beruf des Dalang wird in den meisten Fällen<br />

vom Vater vererbt. Dabei können sowohl<br />

Söhne, als auch Töchter diesen Beruf ausüben.<br />

Erst ein Priester oder Wahrsager entscheidet,<br />

ob das Kind, welches den Wunsch hat, ein<br />

Dalang zu werden, die Nachfolge des Vaters<br />

antreten darf. Das Kind durchläuft nun eine<br />

Lehrzeit beim Vater. Es gibt auch ein Dalang<br />

Ausbildung an staatliche Schulen. Diese dauert<br />

zwei bis drei Jahre und schließt mit einem Examen<br />

ab. Diese Dalang werden manchmal von<br />

der Regierung zur staatspo<strong>lit</strong>ischen Erziehung,<br />

wie. z.B. die Geburtenkontrolle, eingesetzt. (vgl.<br />

Dunkel, 1984, S. 64)<br />

3. Besonderheiten des Balinesische<br />

<strong>Schatten</strong>spiele<br />

Auf Bali wurde das <strong>Schatten</strong>spiel durch javanische<br />

Einwanderer bekannt. Die Insel konnte<br />

mehr als auf Java eine traditionelle Spielart bewahren,<br />

weil sie nie unter islamischen Einfluss<br />

geriet. Sie waren dadurch nicht gezwungen,<br />

die eigene Kultur mit der Fremden zu vereinen.<br />

(vgl. Dunkel, 1984, S. 67)<br />

Die Herstellung der Figuren ist der javanischen<br />

ähnlich. Beide Arten der Figuren sehen<br />

sich sehr ähnlich und können oft nur durch<br />

genaues hinschauen unterschieden werden:<br />

Im Gegensatz zu den javanischen Figuren, sind<br />

die balinesischen Figuren kompakter und sind<br />

in der Gesichtsform und im Körperbau weniger<br />

stilisiert. Hinzu kommt, dass einige Figuren,<br />

sog. Spaßmacher, neben den bewegten Armen<br />

93<br />

auch bewegliche Unterkiefer oder Beine besitzen.<br />

Durch einfache Zugmechanismen werden<br />

sie bewegt.<br />

Eine Wayang Vorstellung auf Bali findet<br />

unter freiem Himmel statt, beginnt kurz nach<br />

Einbruch der Dunkelheit und dauert zwischen<br />

zwei und vier Stunden. Die Stücke beinhalten<br />

immer ein traditionelles Handlungsgerüst. Auf<br />

Bali darf der Dalang die Gestaltung der Texte<br />

etwas freier interpretieren, als ein javanischer<br />

Dalang. Die ursprüngliche Sprache der Stücke<br />

ist Kawi, die auch nicht alle Balinesen verstehen.<br />

Einige „Spaßmacher“ übersetzten die<br />

Texte für das Publikum ins Balinesische. Heutzutage<br />

halten sich die Dalang aber nicht mehr<br />

ausschließlich an diese Sprachvorgabe.<br />

Auf Bali können nur die Söhne den Beruf vom<br />

Vater erlernen. Der Beruf des Dalang ist eng<br />

an die Familientradition und die Vererbung gebunden<br />

und es ist laut balinesischem Glauben<br />

nur ratsam Dalang zu werden, wenn es in der<br />

Familie schon einen Wayang-Spieler gegeben<br />

hat. „Spieler ohne Familientradition gelten als<br />

besonders anfällig für Unglück und Schicksalsschläge.“(<br />

Dunkel, 1984, S. 76)<br />

4. Türkische <strong>Schatten</strong>spiele: Karagöz<br />

Das türkische <strong>Schatten</strong>spiel ist nach seiner<br />

Hauptfigur „Karagöz“ benannt. Dieses <strong>Schatten</strong>theater<br />

ist das Pendant zum deutschen<br />

Kasperltheater und war bis zu Beginn des 20.<br />

Jahrhunderts sehr beliebt. Heutzutage wird es<br />

seltener gespielt, da die moderneren Medien<br />

dieses traditionelle Volkstheater verdrängt.<br />

Das <strong>Schatten</strong>spiel wurde möglicherweise von<br />

Zigeunern von ihren Reisen in den Fernen<br />

Osten mitgebracht. Es gibt keine Angaben über<br />

den genauen Zeitpunkt. Eine Legende besagt,<br />

dass es zur Zeit des Sultan Orhan (1326 - 1359)<br />

geschehen sein soll. Zu dieser Zeit wurde in<br />

Bursa eine Moschee gebaut. Durch zwei Arbeiter<br />

gingen die Arbeiten aber nicht vorwärts,<br />

weil sie den ganzen Tag herumalberten und<br />

Witze machten, so dass alle anderen Arbeiter<br />

ebenfalls von ihrer Tätigkeit abgehalten<br />

wurden. Den Sultan ärgerte das so sehr, dass er<br />

die beiden Arbeiter köpfen ließ. Im Nachhinein<br />

bereute er sein Urteil und war traurig. Seine<br />

Vertraute, Seyh Küsteri, baute ihm zu Trost eine<br />

<strong>Schatten</strong>bühne, auf der die beiden hingerichteten<br />

Arbeiter als <strong>Schatten</strong>figuren weiter lebten.<br />

Das <strong>Schatten</strong>spiel wird aus diesem Grunde in<br />

der Türkei auch „Seyh Küsteri meydane“ („der<br />

Platz von Seyh Küsteri“) genannt. (vgl. Bobber,<br />

1983, S. 16) Ab dem 16. Jahrhundert war das<br />

<strong>Schatten</strong>theater weit im Osmanischen Reich<br />

verbreitet. (vgl. Bobber, 1983, S. 16)<br />

Die Stücke des türkischen <strong>Schatten</strong>theaters<br />

spielen sowohl in Istanbul, als auch in den<br />

Provinzen. Im 16. Jahrhundert lebten viele<br />

verschiedene ethnische Gruppen dicht zusammen.<br />

Der Karagöz Experte Hellmuth Ritter sagt:<br />

„Diese buntgemischte Gesellschaft mußte für<br />

den spottlustigen Bewohner der Hauptstadt<br />

eine unerschöpfliche Quelle der Beheiterung<br />

sein. Es lag nahe, die verschiedenen Typen mit


Abb. 5: v. l. n. r.: Karagöz und<br />

Hacivat, Celebi, Bebe Ruhi und<br />

Zenne(Quelle: www.karagoz.<br />

net/karagoz.htm)<br />

ihren Sonderbarkeiten komisch zu nehmen,<br />

ihre Sprechweise und ihr Benehmen zum Spaß<br />

nachzuahmen [...] oder sie, leicht karikiert,<br />

in ein einfaches, dem Leben eines Istanbuler<br />

Stadtviertel entnommenes, dramatisches Geschehen<br />

verwickelt, [...] auf die <strong>Schatten</strong>bühne<br />

zu bringen. (Bobber, 1983, S. 16)<br />

Traditionell wurde das <strong>Schatten</strong>spiel bei Beschneidungsfesten<br />

und während des Fastenmonats<br />

Ramadan aufgeführt. Der Spieler, Karagödschi<br />

genannt, verfügt über ein Repertoire<br />

von 30 verschiedenen Stücken, so dass er jeden<br />

Tag des Ramadan in den Abendstunden eines<br />

aufführen kann. (vgl. www.karagoz.net)<br />

Die <strong>Schatten</strong>bühne besteht heutzutage aus<br />

einer 1x 1,60 m großen Leinwand. Dahinter<br />

befindet sich der Spieler mit seinen Figuren<br />

und einer Öllampe. Der Karagödschi drückt<br />

die transparenten Figuren an die Leinwand,<br />

wodurch auch Farben erkannt werden können<br />

Er spielt alle Charaktere alleine und verleiht<br />

ihnen unterschiedliche Stimmen. Durch das flackernde<br />

Licht der Öllampe wirken die Figuren<br />

lebensechter. Die Handhabung der Figuren ist<br />

ähnlich wie bei den Javanischen: Sie werden<br />

mit Stäben gehalten und bewegt. Das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

wird mit türkischer Musik begleitet. (vgl.<br />

www.karagoz.net)<br />

4.1 Die Hauptcharaktere<br />

Die Hauptfiguren sind die Karagöz und Hacivat<br />

(siehe Abb. 5), die auf witzige, ironische, kritische,<br />

derbe Art und mit po<strong>lit</strong>ischen Anspielungen<br />

über das Alltagsleben in ihrem Stadtviertel<br />

berichten. Zusätzlich gibt es Stücke mit festgelegtem<br />

Inhalt der islamischen Literatur oder<br />

Märchen und Sagen. Sie sind keine typischen<br />

Vertreter des türkischen Volkes oder eines Standes,<br />

sondern eher Außenseiter. Durch diese<br />

Position können sie das Alltagsleben beleuchten.<br />

Beide Hauptfiguren sind dennoch sehr verschieden.<br />

Karagöz, was auf deutsch „Schwarzauge“<br />

bedeutet, ist arbeitslos, beherrscht<br />

keinen Beruf, ist ungebildet, tölpelhaft, in jeder<br />

Hinsicht schlagfertig und benötigt immer Geld.<br />

Trotzdem ist er immer gut gelaunt und nie<br />

unterzukriegen. Um an Geld zu kommen, führt<br />

er jeden zweifelhaften und dubiosen Plan, den<br />

sein Freund Hacivat ausheckt, aus. Karagöz<br />

traut sich alles zu und ist sich für nichts zu<br />

94<br />

schade. Er überschätzt aber seine Fähigkeiten<br />

und wäre ohne seine „Bauernschläue“ verloren.<br />

Er kritisiert Autoritätspersonen und auch die<br />

einfachen Menschen, was ihn wiederum selbst<br />

zur „Zielscheibe des Gespötts“ werden lässt.<br />

(Bobber, 1983, S. 32) Durch sein provozierendes<br />

Verhalten muss er oft Prügel einstecken.<br />

Trotz alledem kommt er aus jeder Situation mit<br />

einem blauen Auge davon.<br />

Hacivat hat ebenfalls keinen festen Beruf, tritt<br />

aber als Mann mit hoher Bildung und geschliffener<br />

Sprache mit Reimen und Poesie auf. Er<br />

lässt sein Wissen immer wieder in Form von<br />

Zitaten aus Gedichten einfließen. Er könnte sich<br />

aufgrund seiner gesellschaftlichen Gewandtheit<br />

in höheren Kreisen bewegen, weshalb<br />

er auch in der Nachbarschaft angesehen ist<br />

und bei Problemen zu Rate gezogen wird. In<br />

Wirklichkeit ist die Bildung Hacivats aber nur<br />

oberflächlich. Er lässt sich, genau wir Karagöz,<br />

auf zweifelhafte Geschäfte ein. (vgl. Bobber,<br />

1983, S. 33)<br />

Karagöz und Hacivat sind sog. Freund-Feinde.<br />

Sie sind unzertrennlich, streiten sich aber<br />

trotzdem ständig. Die Auseinandersetzungen<br />

entstehen aus Missverständnissen: Karagöz<br />

kann oder will die geschwollene Sprache von<br />

Hacivat nicht verstehen. Aus Wortspielen werden<br />

sodann Wortgefechte und enden meistens<br />

in Schlägereien.<br />

4.2 Weitere Charaktere<br />

Neben Karagöz und Hacivat gibt es noch<br />

weiter Charaktere, wie weiter Typen aus der<br />

Nachbarschaft oder die Angehörigen verschiedener<br />

ethnischer Gruppen. Einige werden im<br />

Folgenden kurz vorgestellt:<br />

Çelebi, z.B. gehört zur Nachbarschaft. Er ist<br />

vermögend, europäisch-vornehm gekleidet<br />

und trägt immer eine Blume, einen Schirm oder<br />

Stock bei sich. Er ist charmant, zuvorkommend<br />

und redegewandt und hat stets Liebesaffären.<br />

Tiryaki gehört ebenfalls zur Nachbarschaft,<br />

verbringt aber sein Leben opiumrauchend<br />

und schläfrig im Kaffeehaus. Seine Sprache ist<br />

ähnlich der von Hacivat, aber er schläft häufig<br />

mitten im Gespräch ein.<br />

Bebe Ruhi ist ein Zwerg und übernimmt Gelegenheitsarbeiten.<br />

Er wirkt immer nervös und<br />

unruhig und stellt immer die gleiche Fragen, so


Literatur<br />

Bobber, H.-L.; Hirschberger,<br />

M.-L.; Kersten, R.: Türki<br />

sches <strong>Schatten</strong>theater,<br />

Karagöz - Eine Handrei<br />

chung für lustvolles<br />

Lernen; Puppen und Mas<br />

ken, Frankfurt, 1983<br />

Dunkel, Peter F.: „ <strong>Schatten</strong>figu<br />

ren, <strong>Schatten</strong>spiel: Ge<br />

schichte- Herstellung-<br />

Spiel“, DuMont- Buchver<br />

lag, Köln, 1984<br />

Krafft, Ludwig: Einleitung in<br />

„<strong>Schatten</strong>spiel aus Szet<br />

schuan“; in: Bobber, H.-L.;<br />

Hirschberger, M.-L.; Kers<br />

ten, R.: Türkisches Schat<br />

tentheater, Karagöz - Eine<br />

Handreichung für lust #<br />

volles Lernen; Puppen und<br />

Masken, Frankfurt, 1983<br />

Wilpert, Clara B.: „Zum javani<br />

schen <strong>Schatten</strong>spiel“ in:<br />

Götter und Dämonen.<br />

Handschrift mit <strong>Schatten</strong><br />

spielfiguren. Harenberg<br />

Kommunikation, Dort<br />

mund, 1980<br />

Internet<br />

http://www.wernernekes.<br />

de/S.htm<br />

http://www.ingrids-welt.de/rei<br />

se/bali/kukumu.htm<br />

http://reisebuch.de/suedosta<br />

sien/bali_die-trauminsel-<br />

2154_info_2.html<br />

http://www.karagoz.net/kara-<br />

goz.htm<br />

www.jorga-interactive.de/Reisen/java/bild7.html<br />

dass das Publikum schnell genug von ihm hat.<br />

Er ist geschwätzig und prahlerisch, hat aber<br />

einen Sprachfehler.<br />

Als Zenne werden alle Frauenfiguren bezeichnet.<br />

Sie werden geschwätzig, streitsüchtig und<br />

je nach Figur auch verführerisch und flatterhaft<br />

dargestellt. Die Zennen sind oft in Intrigen<br />

verwickelt und verursachen Skandale.<br />

Des weiteren befinden sich viele verschiedene<br />

ethnische Gruppen im Stadtteil.<br />

Zum einen wird der Kurde (Haso) dargestellt.<br />

Er kommt aus Ostanatolien, bewegt sich in einer<br />

stolzen Art, wirkt dabei aber eher dümmlich<br />

und überheblich.<br />

Der Perser (Acem) kommt aus Aserbeidschan<br />

und stellt einen reichen Kaufmann oder Geldverleiher<br />

dar. Er prahlt gerne, ist überheblich<br />

und leicht durch Scherze zu irritieren.<br />

Der Albaner (Arnavut) ist schelmisch und<br />

ungebildet und zieht schnell seine Pistole,<br />

wenn er wütend wird.<br />

Der Grieche ist entweder Schneider oder Gastwirt<br />

und wird schmeichlerisch und unaufrichtig<br />

dargestellt. Er spricht schlecht türkisch, so dass<br />

es häufig zu Missverständnissen führt.<br />

Der Franke, aus Frankreich kommend wird<br />

als Arzt oder Kauffmann dargestellt und tanzt<br />

Polka.<br />

Der Jude ist als Geldverleiher, Altwarenhändler<br />

oder Hausierer bekannt. Er ist leicht verletzlich,<br />

geizig, feige, heimtückisch und vulgär.<br />

(vgl. Bobber, 1983, S. 34 ff)<br />

4.3 Aufbau der <strong>Schatten</strong>spielstücke<br />

Die traditionellen türkischen <strong>Schatten</strong>spielstücke<br />

haben alle den gleichen Aufbau: den Prolog,<br />

den Dialog, die Haupthandlung und den<br />

Epilog. Die Teile haben inhaltlich nichts miteinander<br />

zu tun. Zu Beginn sehen die Zuschauer<br />

begleitend durch Musik ein Eröffnungsbild auf<br />

der Leinwand. Nachdem ein schriller Pfeifton<br />

ertönt, erscheint Hacivat auf der Bühne und<br />

trägt den Prolog vor. Anschließend erscheint<br />

Karagöz (immer vom Zuschauer aus gesehen<br />

rechts). Es entwickelt sich der Dialog und sie<br />

beschimpfen und prügeln sich. Im Dialog<br />

werden die unterschiedlichen Charaktere der<br />

beiden Hauptdarsteller deutlich, in dem es<br />

Missverständnisse und Wortspielereien gibt. Am<br />

Ende des Dialogs tritt Hacivat von der Bühne<br />

ab. Karagöz bleibt zurück und die Haupthandlung<br />

beginnt. Die Haupthandlung beinhaltet<br />

oft eine dramatische Reihenbildung, d.h. dass<br />

verschiedene Personen nacheinander in die<br />

gleiche Situation gelangen, so dass diese immer<br />

peinlicher und komischer wird. Eine Person,<br />

häufig der Çelebi, löst dann die Situation auf.<br />

(vgl. Bobber, 1983, S. 21)<br />

95


Natascha Krutjakova<br />

Inhalt<br />

1 Einleitung<br />

2 Das traditionelle<br />

<strong>Schatten</strong>theater in<br />

China<br />

3 Die Guangyi- Truppe<br />

4 Das Zeitgenössische<br />

<strong>Schatten</strong>theater<br />

5 Die Wende<br />

6 Die Erneuerungen<br />

Literatur<br />

Anmerkungen zum<br />

Modernen<br />

<strong>Schatten</strong>theater<br />

Abbildung 1: xx<br />

1 Einleitung<br />

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er ist mehr<br />

oder weniger auf das Leben in einer Gemeinschaft<br />

angewiesen und strebt, entsprechend<br />

seines urbiologischen „Konzeptes“, nach der<br />

Anerkennung und Akzeptanz ihrer Mitglieder.<br />

Der Mensch ist ebenfalls ein kommunikatives<br />

Wesen, er verspürt den Drang zur Selbstäußerung/<br />

Darstellung und sucht den Kontakt<br />

zur Außenwelt in der Interaktion. In einem<br />

fortlaufenden Prozess der Auseinandersetzung<br />

mit der Umwelt, gewinnt das Individuum<br />

Erkenntnisse, stößt auf Hindernisse oder<br />

offene Fragen, welche sein Verlangen nach<br />

der Fortsetzung eines solchen „Forschens“<br />

antreiben. Doch nicht zuletzt ist der Mensch<br />

auch ein „schaulustiges“ Wesen. Er will unterhalten<br />

werden, sucht nach der Befriedigung<br />

seiner Sehnsucht oder Neugierde, nach der<br />

ästhetischen Erfahrung der Welt. Einer solchen<br />

„Dua<strong>lit</strong>ät“ des menschlichen Ichs kommt vor<br />

allem die darstellende Kunst entgegen. Sie wird<br />

beiden Ansprüchen, dem der Selbstdarstellung<br />

und dem der Rezipienz, zugleich gerecht. Die<br />

96<br />

Wurzeln dieser Kunstform erstrecken sich über<br />

die ganze Menschheitsgeschichte und reichen<br />

in die tiefste Vergangenheit hinein.<br />

Das <strong>Schatten</strong>spiel zählt zu den ältesten darstellenden<br />

bzw. dramatischen Kunstformen und<br />

kommt aus dem asiatischen Raum. Über die genaue<br />

Bestimmung des „Entstehungsortes“ wird<br />

es unter den Experten noch immer gestritten.<br />

Man vermutet aber den Ursprung der <strong>Schatten</strong>kunst<br />

in China, Indien oder Indonesien,<br />

weil ihre Entwicklung in diesen Ländern fast<br />

zeitgleich ansetzte. Die ersten Schriftzeugnisse<br />

über das <strong>Schatten</strong>spiel fand man in China. Obwohl<br />

die Schriften aus dem 2. Jh. v. Chr. stammen,<br />

liegt der wirkliche Entstehungszeitpunkt<br />

dieser Kunst, darüber sind sich alle Experten<br />

einig, Jahrhunderte früher.<br />

Die „asiatische“ Spielart wird auf dem Gebiet<br />

des <strong>Schatten</strong>theaters als traditionelle Richtung<br />

bezeichnet. Sie lebt durch die Aufrechterhaltung<br />

der überlieferten Spiel- und Gestaltungstraditionen<br />

und wird in Asien bis heute,


allerdings mit einer abnehmenden Tendenz,<br />

praktiziert.<br />

Dem traditionellen <strong>Schatten</strong>theater steht eine<br />

junge und progressive Kunstrichtung, das zeitgenössische<br />

<strong>Schatten</strong>theater, gegenüber. Die<br />

Zentren dieser Kunstart liegen in Nordamerika,<br />

Europa, Japan und Australien. Im Gegensatz<br />

zum <strong>Schatten</strong>spiel der asiatischen Länder speist<br />

das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater seine Kraft<br />

aus der Weiterentwicklung und der ständigen<br />

Verbesserung von Technologien, die der technische<br />

Fortschritt mit sich bringt.<br />

2 Das Traditionelle <strong>Schatten</strong>theater in<br />

China<br />

Die chinesische <strong>Schatten</strong>kunst gehört der<br />

Kategorie des traditionellen <strong>Schatten</strong>theaters<br />

an. Ein aufgespanntes weißes Leintuch wird<br />

als zweidimensionale Spielfläche benutzt,<br />

die flachen Spielfiguren werden entlang der<br />

Rückseite des Tuches geführt. Das Licht fällt von<br />

hinten auf die Figuren und macht ihre <strong>Schatten</strong><br />

auf der dem Zuschauer zugewandten Seite des<br />

Spielschirms sichtbar.<br />

Das <strong>Schatten</strong>theater im alten China trug kultische<br />

und religiöse Züge. Die Aufführungen<br />

sollten vor allem erzieherisch wirkungsvoll<br />

sein, dienten aber auch zur Verbreitung und<br />

Festigung der Religion. Selbst in den gebildeten<br />

Kreisen und sogar am Keiserhof ließ man<br />

sich von den <strong>Schatten</strong>künstlern gerne unterhalten<br />

und schätzte ihre Arbeit hoch an. Beim<br />

einfachen Volk waren die Wandertruppen der<br />

<strong>Schatten</strong>spieler sehr beliebt und sorgten jedes<br />

mal für große Aufregung, wenn sie mit den<br />

Aufführungen in die Dörfer kamen.<br />

Die heutige Situation lässt für die <strong>Schatten</strong>spieler<br />

jedoch vieles zu wünschen übrig.<br />

Dabei wurde noch im letzten Jahrhundert die<br />

<strong>Schatten</strong>kunst Chinas von der Kommunistischen<br />

Partei stark gefördert. Man sorgte für das<br />

Interesse der Öffentlichkeit und veranstaltete<br />

Wettbewerbe mit Preisen und Auszeichnungen.<br />

Auch an finanzieller Unterstützung seitens<br />

der Partei mangelte es nicht. Doch nach und<br />

nach nahm die Förderung immer mehr ab,<br />

denn auch die Bildungsinstitutionen schienen<br />

an der volkserzieherisch betonten Kunst des<br />

<strong>Schatten</strong>spiels nicht besonders interessiert zu<br />

sein. Des Weiteren kommt die Entwicklung<br />

und Ausbreitung der Modernen Medien als<br />

erschwerender Faktor hinzu. Selbst in den<br />

Dörfern ist das Interesse an der Volkskunst fast<br />

gar nicht mehr vorhanden. Daraus resultiert<br />

ein weiteres tiefgreifendes Problem, das ein<br />

absehbares Ende dieser Praktik ankünden lässt,<br />

nämlich ein Mangel an Nachwuchsspielern.<br />

Unter Berücksichtigung der aktuellen Situation<br />

sehen die jungen Leute in der <strong>Schatten</strong>kunst<br />

keine Perspektiven mehr und entscheiden<br />

sich eher für die gewöhnlichen aber dennoch<br />

„sicheren“ Berufe.<br />

97<br />

Mit anderen Worten wird der „Zauber des<br />

<strong>Schatten</strong>theaters“ nur noch künstlich am leben<br />

erhalten. Die Wissenschaftler, Sammler und<br />

Anhänger des traditionellen <strong>Schatten</strong>theaters<br />

handeln im Bereich des beinahe unmöglichen<br />

um die <strong>Schatten</strong>kunst nicht gänzlich untergehen<br />

zu lassen, doch auch ihre Möglichkeiten<br />

sind begrenzt.<br />

3 Die Guangyi- Truppe, ein Beispiel für<br />

modernes traditionelles <strong>Schatten</strong>theater<br />

Die Guangyi- Truppe wurde im Jahr 1958 gegründet.<br />

Sie ist eine der wenigen noch aktiven<br />

Truppen im modernen China, die ihre Aufführungen<br />

gemäß der überlieferten Tradition<br />

des <strong>Schatten</strong>theaters gestaltet. Wie unzählige<br />

Generationen von <strong>Schatten</strong>künstlern vor ihnen,<br />

ziehen auch die Männer der Guangyi- Truppe<br />

von Dorf zu Dorf und bauen ihr Zelt jedes Mal<br />

aufs Neue auf, um dem Volk die alten Geschichten<br />

von Gut und Böse, Hass und Liebe<br />

oder Zweifel und Hoffnung zu erzählen.<br />

Da man schon lange von der <strong>Schatten</strong>kunst<br />

alleine nicht leben kann, haben alle Spieler, bis<br />

auf den alten Meister, noch einen zusätzlichen<br />

Beruf erlernt und sind für gewöhnlich Bauern<br />

oder dörfliche Handwerker. Dennoch hat die<br />

fünf- bis fünfzehnköpfige Truppe durchschnittlich<br />

250 Vorstellungen im Jahr und ist auch hinter<br />

der Landesgrenze nicht unbekannt. Man<br />

pflegt Kontakte mit den Ländern, wie Amerika,<br />

Japan oder Frankreich und veranstaltet Tourneen<br />

nicht nur in den Nachbarländern sondern<br />

auch im Mitteleuropa.<br />

4 Der Aufführungsstil<br />

Das Erste, was Einem in den Sinn kommt,<br />

wenn man an <strong>Schatten</strong>theater denkt, ist mit<br />

großer Wahrscheinlichkeit der rechteckige helle<br />

<strong>Schatten</strong>schirm, der, von hinten beleuchtet, als<br />

ein magisches Tor in die „Märchenwelt“ dem<br />

Zuschauer gegenübersteht, oder die dunklen<br />

Silhouetten der Figuren, die durch geschickte<br />

Hand des Spielers zum Leben erweckt werden.<br />

Der Schirm, die Figur und der Spieler gehören<br />

zu den wichtigsten Bestandteilen einer jeden<br />

<strong>Schatten</strong>theateraufführung. Doch das ausschlaggebende<br />

Element in der traditionellen<br />

<strong>Schatten</strong>kunst ist die Musik und der Gesang.<br />

Nicht umsonst wurden die einzelnen Stilrichtungen<br />

des <strong>Schatten</strong>spiels nach der Art des<br />

Gesangs und der rhythmischen Struktur der<br />

Aufführungen unterschieden.<br />

Geht man nach einer solchen Klassifizierung<br />

vor, so gehört die Guangyi- Truppe, ihrer Spielart<br />

nach, dem „WANWAN- Stil“ an. „Wan“ ist die<br />

chinesische Bezeichnung für eine dickwandige<br />

kurze Glocke. Bei vielen Aufführungen wird<br />

dieses Instrument zum angeben des Taktes für<br />

die Musiker benutzt und ist somit die entscheidende<br />

„Stimme“ im Spielprozess. Die übergeordnete<br />

Stellung dieses Spielelementes


wird anhand der Benennung des Stils (WAN-<br />

WAN- Stil) verdeutlicht.<br />

In der Spielhütte<br />

Die Guangyi- Truppe führt ihre Stücke in einem<br />

selbsterrichteten Zelt, der Spielhütte, vor. Diese<br />

wird aus Ästen und Stoffstücken auf einem<br />

freien Platz im Dorf aufgebaut. In einer dunklen<br />

Ecke der Spielhütte bringt man den Spielschirm<br />

und die Abschirmung für die Spieler und Musiker<br />

an.<br />

Die Lichtquelle wird ebenfalls hinter dem<br />

Spielschirm angebracht. Früher leuchtete man<br />

mit einer Öllampe, heute wird aus Bequemlichkeitsgründen<br />

eher die Glühlampe zur<br />

Lichterzeugung eingesetzt. Eine Möglichkeit<br />

des gänzlichen Verzichtes auf die künstliche Beleuchtung<br />

bietet das Spiel beim Sonnenlicht an.<br />

Dabei wird die hintere Abdeckung des Zeltes<br />

abgebaut, sodass das Sonnenlicht ungehindert<br />

auf die Schirmfläche fallen kann und sie somit<br />

von hinten beleuchtet. Auf Grund der schwachen<br />

Lichtintensität muss der Spieler, damit die<br />

Konturschärfe erhalten bleibt, seine Figuren<br />

sehr dicht an die Schirmfläche drücken.<br />

Hinter dem Spielschirm herrscht eine strenge<br />

Ordnung. Jedem Mitwirkenden ist ein fester<br />

Platz innerhalb der Abschirmung zugeteilt. So<br />

sitzt der Figurenspieler unmittelbar hinter dem<br />

Spielschirm im vorderen Bereich des Raumes.<br />

Dem Sänger ist der Platz links von dem Figurenspieler<br />

zugeteilt. Der Wangspieler und die Musiker<br />

sind in der Mitte des Raumes angesiedelt.<br />

Eine solche Anordnung der einzelnen Truppenmitglieder<br />

ist, im Bezug auf die besondere<br />

Art des Interagierens während der Vorstellung,<br />

sehr sinnvoll. So hat der Sänger beispielsweise<br />

von seinem Platz aus einen guten Ausblick auf<br />

den Spielschirm und die Figuren, was ihm die<br />

Aufgabe, nämlich für alle Charaktere zu sprechen<br />

und zu singen, enorm erleichtert.<br />

Das Spiel an sich bzw. die Gestaltung der<br />

Vorstellungen ist hingegen durch keinerlei<br />

Vorgaben erschwert. So können sowohl die<br />

Bewegungen der Figuren, als auch ihre Dialoge<br />

von Aufführung zu Aufführung variieren,<br />

ohne sich jedoch zu weit von dem ursprünglichen<br />

Konzept zu entfernen. Die Funktion der<br />

einzelnen Gruppenmitglieder unterlieg keiner<br />

Hierarchie, man kann also nicht sagen ob der<br />

Spieler oder der Sänger über die Gestaltung der<br />

einzelnen Szenen entscheidet. Die Performance<br />

ist viel mehr eine Improvisation, ein Spiel mit<br />

offenem Ende.<br />

Das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater<br />

Das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater ist, im<br />

Vergleich zum Traditionellen, eine sehr junge<br />

Spielform, die man erst vor wenigen Jahren in<br />

der Fülle der anderen Formen des Puppentheaters<br />

„wiederentdeckte“. Vor dieser Zeit schien<br />

die <strong>Schatten</strong>kunst „in sich zu ruhen“ und war,<br />

seitdem sie im 18. Jh. aus den asiatischen Ursprungsländern<br />

nach Europa gebracht wurde,<br />

immer mehr in Vergessenheit geraten.<br />

98<br />

Der Erklärungsgrund für ein mangelndes Interesse<br />

des europäischen Publikums gegenüber<br />

dem <strong>Schatten</strong>theater ist möglicherweise in dessen<br />

Weltanschauung und Lebensphilosophie<br />

begründet. Spätestens seit der Aufklärung und<br />

der Säkularisation nahm das Leben des Europäers<br />

und seine Denkweise eine ganz bestimmte<br />

Richtung an, von der man bis in die heutige<br />

Zeit nicht abgekommen zu sein scheint. Das<br />

Leben hierzulande ist einseitig geprägt durch<br />

die Vernunft, den Intellekt, die Ratio. „Ich denke,<br />

also bin ich.“ , sagte Descartes, seine Worte<br />

zählen immer noch zu den unausgesprochenen<br />

Wahrheiten des westlichen Menschen. Außerdem<br />

konnte er mit der Unkörperlichkeit des<br />

<strong>Schatten</strong>s und seiner Stellung zwischen Traum<br />

und Wirklichkeit nur wenig anfangen und entschied<br />

sich für eine „handfestere“ dreidimensionale<br />

Variante- die Handpuppe/ Marionette. Der<br />

fernöstliche Mensch hingegen hat eine ganz<br />

andere Auffassung, welche ihm erlaubt bzw.<br />

nahe legt, die Traumwelt, das Spirituelle und<br />

die Wirklichkeit ebenwürdig zu behandeln.<br />

Das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater sieht die<br />

Erfüllung seines Zweckes in der Unterhaltung<br />

des Zuschauers. Die Aufführungen der europäischen<br />

<strong>Schatten</strong>künstler ermöglichen eine<br />

spektakuläre visuelle Erfahrung. Sie gleichen<br />

mehr dem dramatischen Theater, als dem nur<br />

auf das Nötigste reduzierten traditionellen<br />

<strong>Schatten</strong>theater.<br />

Trotz seiner noch nicht allzu langen Existenz,<br />

brachte das zeitgenössische <strong>Schatten</strong>theater<br />

drei unterschiedliche Spielformen hervor,<br />

indem es von der Figur immer weiter abstrahierte.<br />

Beim Figurenschattentheater handelt es sich<br />

um die Spielform, die in ihrer Grundkonzeption<br />

unverändert aus der asiatischen Kultur übernommen<br />

wurde. Dabei sind die flachen zweidimensionalen<br />

Figuren die „Hauptakteure“.<br />

Sie werden von einem oder mehreren Spielern<br />

bewegt.<br />

Beim Handschattentheater werden die Figuren<br />

durch die Hand des Spielers ersetzt. So kann<br />

man, je nach Verschluss der Finger bzw. der<br />

Hände, unterschiedliche <strong>Schatten</strong>gestalter<br />

hervorbringen, die man bewegen und miteinander<br />

agieren lassen kann.<br />

Beim Menschenschattentheater tritt der Spieler<br />

selbst als <strong>Schatten</strong>figur hinter den Schirm. Diese<br />

Spielform ist mehr oder weniger eine Symbiose<br />

zwischen dem <strong>Schatten</strong>- und dem dramatischen<br />

Theater.<br />

Die Entwicklung des zeitgenössischen <strong>Schatten</strong>theaters<br />

setzte erst in den 70er Jahren ein.<br />

Vor dieser Zeit spielte man in Europa, bis auf<br />

wenige ausnahmen wie das „Theatre Seraphin“<br />

(1770) und „Cabaret de Chat Noir“ (1887) in<br />

Frankreich, oder im 20. Jh. das Schwabinger<br />

<strong>Schatten</strong>theater, Otto Kraemer und Lotte Reiniger<br />

in Deutschland, Jan Malik in Prag, Franz


ter Gast in Niederlanden, nach der asiatischen<br />

Tradition. Die aus Pappe ausgeschnittenen<br />

Figuren bewegten sich hinter einem rechteckigen<br />

<strong>Schatten</strong>schirm inmitten der naturalistisch<br />

gestalteten Pappkulissen, mit der einzigen<br />

Aufgabe eine Geschichte zu illustrieren.<br />

Die Wende<br />

Die große Wende kam mit dem technischen<br />

Fortschritt. Im Jahr 1958 wurde in den USA<br />

eine Lampe entwickelt, die ein punktförmiges<br />

Licht aussendete. Diese Halogenlampe<br />

(Niedervoltlampe) gab den entscheidenden<br />

Impuls für die Entwicklung der zeitgenössischern<br />

<strong>Schatten</strong>kunst. In den 70er Jahren fing<br />

man in unterschiedlichen Ländern Europas<br />

an, mit der Halogenlampe zu experimentieren<br />

und sie auf ihre Tauglichkeit für das <strong>Schatten</strong>theater<br />

zu prüfen. Besonders produktiv auf<br />

diesem Gebiet waren: der Physiker Dr. Rudolf<br />

Stössel (Schweiz), Luc Amoros (Frankreich) und<br />

Fabrizio Montecchi (Italien). Ihre von einander<br />

unabhängige Forschung ergab folgende Ergebnisse<br />

bzw. brachte folgende Erneuerungen<br />

für das <strong>Schatten</strong>spiel:<br />

1. Das punktförmige Licht der Halogenlampe<br />

hob die Notwendigkeit des Spielens an der<br />

unmittelbaren Oberfläche des Spielschirms<br />

auf. Die Figur konnte also im Bereich hinter<br />

dem Schirm frei bewegt werden ohne dass sie<br />

an der Konturschärfe verlor. Zu den Vorteilen<br />

eines solchen räumlichen Agierens kam noch<br />

ein zusätzlicher Effekt hinzu. Durch die Leuchteigenschaften<br />

der Halogenlampe war man<br />

imstande die Größe der Figuren zu verändern,<br />

indem man ihren Abstand zu der Lichtquelle<br />

verkürzte oder verlängerte. In diesem Zusammenhang<br />

konnte eine und dieselbe Figur ins<br />

Übernatürliche anwachsen oder schrumpfen.<br />

2. Die Weiterentwicklung der Halogenlampe<br />

brachte zusätzliche Möglichkeiten mit sich, eine<br />

bewegliche Halogen- Handlampe erlaubte<br />

unter anderem, nicht nur die Größe, sondern<br />

auch die Gestalt des <strong>Schatten</strong>s während der<br />

Performance zu verändern.<br />

3. Doch das Revolutionäre, was die Arbeit mit<br />

der Halogenlampe mit sich brachte, war die<br />

Aufhebung der Zweidimensiona<strong>lit</strong>ät. Durch die<br />

Möglichkeit eines räumlichen Spielens gewann<br />

die <strong>Schatten</strong>kunst an Dynamik und Ausdruck.<br />

Die Erneurungen: Der <strong>Schatten</strong>schirm<br />

Die Experimentierfreude der <strong>Schatten</strong>künstler<br />

schien seit den 70er Jahren vor Nichts mehr<br />

Halt machen zu wollen. Man versuchte jedes<br />

einzelne Element auf den Kopf zu stellen, zu<br />

erweitern, umzudenken.<br />

Der rechteckige symmetrische Spielschirm<br />

wirkte nun zu „öde“ und entsprach nicht mehr<br />

den Anforderungen der neuen Kunst. Also sah<br />

man sich nach anderen Formen um und erfand<br />

dreieckige, trapezförmige, ovale oder halbkreisförmige<br />

Spielschirme. Es wurden unter anderem<br />

auch bewegliche Schirme eingesetzt. Man<br />

spielte auf Schirmen, die während der Auffüh-<br />

99<br />

rung in ihrer Gestalt verändert werden konnten.<br />

Doch nicht nur die Form, auch die Größe<br />

stellte für die Künstler eine Herausforderung<br />

dar. Japanische <strong>Schatten</strong>theater verwendeten<br />

5x10m große Schirme (Kageboushi/ Japan),<br />

anderswo spielte man auf winzig kleinen.<br />

Der entscheidende Schritt in der Entwicklung<br />

der <strong>Schatten</strong>kunst war aber die „Hinwendung“<br />

zum Publikum. Man erkannte, dass der Spielschirm<br />

eine „unüberwindbare Barriere“ in der<br />

Kommunikation zwischen dem Spieler und<br />

dem Zuschauer darstellte. Die naheliegende<br />

Lösung für dieses Problem war die Umkehrung<br />

des Spiels bzw. seine „Öffnung“ gegenüber<br />

dem Rezipienten. Auch in diesem Bereich war<br />

das Engagement der Künstler sehr groß und<br />

die Ergebnisse unkonventionell und kreativ.<br />

Im Teatro Gioco Vita (Italien), ähnlich wie im<br />

Bamberger <strong>Schatten</strong>theater (Deutschland),<br />

verzichtete man gänzlich auf die Abschirmung<br />

und verlagerte das Spiel auf die dem Zuschauer<br />

zugewandte Seite. Eine solche extreme Veränderung<br />

der Betrachtungsperspektive sprengte<br />

die Grenzen des Bisherigen und brachte viele<br />

neue Aspekte mit sich. Eine weitere Möglichkeit<br />

der Perspektivenerweiterung wurde von den<br />

Künstler des Dorftheaters Siemitz (Deutschland)<br />

entwickelt, sie projizierten nicht nur den <strong>Schatten</strong><br />

der agierenden Figur, sondern auch den<br />

des Figurenspielers, an die Wand. Im Teatre<br />

Tenj (Russland) ging man sogar soweit, dass<br />

man den Figurenspieler selbst als <strong>Schatten</strong>gestalt<br />

auf die Bühne schickte. In der Performance<br />

fügte man die Elemente des <strong>Schatten</strong>- und des<br />

dramatischen Theaters geschickt an einander<br />

und ließ die Schauspieler sowohl vor- als<br />

auch hinter dem Schirm auftreten. Doch am<br />

deutlichsten äußerte der Schweizer Künstler<br />

Hansueli Trüb seine Meinung zu diesem<br />

Thema, indem er am Ende seiner Vorstellung<br />

„<strong>Schatten</strong>risse“ sein <strong>Schatten</strong>schirm zerriss und<br />

auf diese Weise dem überraschten Publikum<br />

entgegentritt<br />

.<br />

Die Figur<br />

Die Figur erlebte im Zuge der Erneuerung<br />

ebenfalls zahlreiche Veränderungen. Die Gestaltung<br />

ihres Äußeren entsprach schon lange<br />

nicht mehr den Kriterien des Naturalismus und<br />

übernahm immer mehr die in der Bildenden<br />

Kunst dominierenden Formen. Des Weiteren<br />

testete man alle möglichen Materialien auf ihre<br />

Tauglichkeit für die Figurenherstellung aus. Die<br />

Künstler arbeiteten mit Zeitung, Karton, Holz,<br />

Blech, Textilien und Kunststoffen aller Art mit<br />

der Absicht, die Beweglichkeit der Figuren zu<br />

verbessern<br />

.<br />

Das Licht<br />

Obwohl das Einbeziehen der Halogenlampe<br />

als Lichtquelle eine Entscheidende Rolle in der<br />

Entwicklung des zeitgenössischen <strong>Schatten</strong>theaters<br />

spielte, sah man sich auch nach anderen<br />

Möglichkeiten für die Beleuchtung um. Von<br />

den natürlichen Lichtquellen wie Sonne, Mond<br />

oder offenes Feuer, ausgehend, „kämpfte“ man


Literatur<br />

Rainer Reusch<br />

http://www. <strong>Schatten</strong><br />

theater. de/files/deutsch/<br />

Aktivitäten/files/weitere/<br />

zeit. html<br />

Luise Thomae,<br />

chinesisches <strong>Schatten</strong>theater,<br />

die guangyi- Truppe,<br />

Handbroschüre<br />

Luise Thomae,<br />

chinesisches <strong>Schatten</strong>theater,<br />

die Guangyi- Truppe,<br />

Videomaterial<br />

sich durch das gesamte Angebot an Lichttechnik<br />

durch und experimentierte mit Dia- und<br />

Filmprojektoren, Overheadprojektoren, Schein<br />

werfern und Taschenlampen.<br />

Eine besondere Rolle in der Entwicklung des<br />

<strong>Schatten</strong>theaters spielte ebenfalls die Symbiose<br />

mit den anderen Kunstformen. Die <strong>Schatten</strong>künstler<br />

orientierten sich nicht nur an anderen<br />

Künsten, sondern arbeiteten zum Teil Bereichsübergreifend.<br />

Alles, vom Film über Oper,<br />

Schauspiel, Pantomime, Bildender Kunst bis hin<br />

zur Musik und dem Tanz, erfuhr die „Durchdringung“<br />

der <strong>Schatten</strong>kunst.<br />

Fazit<br />

Zusammenfassend kann man sagen, dass die<br />

zeitgenössische <strong>Schatten</strong>kunst über die Jahre<br />

hinweg sich zu einer vollwertigen Kunstrichtung<br />

ausbildete. Diese Entwicklung ist ein<br />

Ergebnis von engagierter Arbeit vieler Künstler,<br />

die eine neue „europäische“ Form des <strong>Schatten</strong>theaters<br />

konzipieren wollten. Sie erkannten<br />

frühzeitig das große Potenzial der <strong>Schatten</strong>figur<br />

und erweiterten es mit den Mitteln, die ihnen<br />

die moderne Technik und Kunst zur Verfügung<br />

stellten. Auf Grund ihrer Unkörperlichkeit,<br />

scheint die <strong>Schatten</strong>figur etwas Magisches und<br />

Geheimnisvolles auszustrahlen. Sie wirkt gegenständlich<br />

und ist doch eine Projektion. Sie<br />

Trägt etwas Ursprüngliches und Mystisches in<br />

sich und steht irgendwo zwischen der Rea<strong>lit</strong>ät<br />

und dem Jenseits. Diese Eigenschaften unterscheiden<br />

die <strong>Schatten</strong>figur von den anderen<br />

Figurenarten und machen sie sehr spannend<br />

und vielschichtig. Die Entwicklung des zeitgenössischen<br />

<strong>Schatten</strong>theaters war eine Bereicherung<br />

sowohl für die <strong>Schatten</strong>kunst, als auch<br />

für die europäische Kunst im Allgemeinen. Ihr<br />

Einfluss auf andere Kunstbereiche darf nicht<br />

unterschätzt werden<br />

100


Filmschatten<br />

101


Alexandra Lücke<br />

Christina Nur<br />

Inhalt<br />

1. Ausstellungspräsentation<br />

2. Ausgangspunkt/<br />

Überlegungen<br />

3. Der Film<br />

4. Quellen<br />

Abb. 2 und 3 - Videoinstallation<br />

„Shades of Emotions“<br />

„Shades of Emotions“<br />

1-Kanal-Video, Stereo<br />

Abbildung 1: Michael Jackson, „You rock my world“ (2001), filmstill<br />

1. Ausstellungspräsentation<br />

Die Installation „Shades of Emotions“ wurde<br />

in einem Kellergewölbe präsentiert. Direkt am<br />

Durchgangsflur der Ausstellungsräume befand<br />

sich ein schwarzes ca.110 cm hohes Podest auf<br />

dem ein großer Fernseher platziert war, so dass<br />

der Fernsehbildschirm etwa in Augenhöhe zu<br />

betrachten war. Über einen DVD-Player wurde<br />

die Filmmontage „Shades of Emotions“ als Endlosschleife<br />

abgespielt. Mit einer Dauer von ca.<br />

6 Minuten war es dem „geneigten Besucher“<br />

möglich, den Film in seiner ganzen Länge zu<br />

betrachten. Die Musik des Films lenkte die Aufmerksamkeit<br />

des Betrachters unweigerlich auf<br />

sich, da der Ton bereits vernehmbar war, bevor<br />

man als Betrachter direkt vor der Installation<br />

stand (vgl. Abb. 2 und 3).<br />

2. Ausgangspunkt und Überlegungen<br />

Die Idee zu „Shades of Emotions“ entstand im<br />

Seminar „<strong>Moving</strong> Shadows“. Es wurde sich auf<br />

die Suche nach verschiedenen Möglichkeiten<br />

der Darstellungen und Bedeutungsebenen<br />

von <strong>Schatten</strong> in Filmen gemacht... Wo und wie<br />

lassen sich <strong>Schatten</strong> im Film finden? Aufgrund<br />

welcher Motivation und Stimmungserzeugung<br />

werden sie eingesetzt?<br />

Sinn und Ziel der Arbeit war es nicht, eigenes<br />

102<br />

Filmmaterial zu drehen, sondern mit bereits<br />

vorhandenen Filmszenen zu arbeiten. Die<br />

<strong>Schatten</strong>szenen die eine gewisse Relevanz für<br />

das Projekt zu haben schienen, wurden aus unterschiedlichen<br />

Filmen zusammengeschnitten,<br />

damit abstrahiert und in einen neuen Kontext<br />

gestellt.<br />

Der neue Film sollte aus einer Mischung von<br />

klassischem Film Noir über Scherenschnitt/<br />

Silhouetten- Film bis hinzu Musikvideos und<br />

Computerspielsequenzen entstehen. Durch die<br />

Materialrecherche entstand eine stark assoziative<br />

Arbeitsweise. Erst durch das Sammeln von<br />

unterschiedlichen <strong>Schatten</strong>bildern, war es möglich<br />

verschiedene Stimmungen die <strong>Schatten</strong> in<br />

Film übertragen können, herauszukristallisieren.<br />

3. Der Film<br />

Der <strong>fertige</strong> Film lässt sich in mehrere Themenbereiche<br />

unterteilen. Diese vermitteln<br />

verschiedenste Emotionen und beweisen, dass<br />

<strong>Schatten</strong> im Film mehrdeutige Wirkungen<br />

haben können. Dem Vorurteil, <strong>Schatten</strong> seien<br />

ausschließlich negativ konnotiert, wird in dieser<br />

Arbeit widersprochen. Denn es ist ebenso<br />

möglich mit <strong>Schatten</strong> positive Gefühle auszudrücken.


Abb. 4 - Standbild aus „The<br />

man who wasn’t there“, 2002<br />

Abb. 5 - Standbild aus „Casablanca“,<br />

1999<br />

Abb. 6 - Standbild aus „Der Vogelfänger“<br />

Lotte Reiniger, 1935<br />

Abb. 7 - Standbild aus: „<br />

Smooth criminal“, Michael<br />

Jackson, 1988<br />

3.1 Melancholie<br />

Der erste Teil ist in seiner Stimmung sehr<br />

melancholisch und atmosphärisch. Hier sind<br />

in verschiedenen Bildern einzelne Menschen<br />

zu sehen, die allein zu sein scheinen. Der erste<br />

Teil des Films ist vollständig in Schwarz/Weiß<br />

gehalten, was die Melancholie unterstreicht.<br />

Die Kombination aus real gedrehten Szenen<br />

und damit realen <strong>Schatten</strong> und aus künstlich<br />

hergestellten Scherenschnitten geben einen<br />

surrealen Anschein der eine starke Spannung<br />

entstehen lässt. Diese Spannung wird noch<br />

durch die Musik unterstützt, welche nicht fortlaufend<br />

ist und so bewusst irritiert. Durch diese<br />

Irritation wird die surreale Ebene unterstützt.<br />

Der Einstieg in den Film beginnt mit einem<br />

ausdrucksstarken Bild, welches durch seine<br />

starken Kontraste und seine Gradlinigkeit sehr<br />

atmosphärisch wirkt (vgl. Abb. 4).<br />

Außerdem entsteht der Eindruck <strong>Schatten</strong><br />

würden eine Autonomie besitzen, da sie ohne<br />

den dazugehörigen Menschen gezeigt werden.<br />

Und demnach eigenständig existieren können<br />

(vgl. Abb. 5).<br />

Ein Bruch in der Ästhetik wird durch eine künstliche<br />

Silhouettenfigur hervorgerufen. Diese<br />

Figur wirft keinen <strong>Schatten</strong>, sondern sie ist ein<br />

Scherenschnitt und durchweg schwarz. Als<br />

Scherenschnitt besitzt sie ein Eigenleben (vgl.<br />

Abb.6)<br />

3.2 Die Verfolgung<br />

Die Stimmung im zweiten Teil des Films ist<br />

überwiegend bedrohlich und düster. Die<br />

Thematik dieses Abschnitts ist die Verfolgung.<br />

Mittlerweile ist hier Farbe zu finden. Das dunkle<br />

Blau und die gedeckten Farben unterstreichen<br />

die unheimliche Stimmung. Im Vergleich zum<br />

ersten Teil sind die Schnitte deutlich schneller<br />

und dadurch spannungsgeladener. Hier wird<br />

das bekannte Bild, <strong>Schatten</strong> seien unheimlich<br />

und bedrohlich, unterstützt. Denn auch hier<br />

huschen <strong>Schatten</strong> vorbei und der Zuschauer<br />

spürt die Gefahr. Diese Stimmung wird stark<br />

durch die Musik (Massive Attack „Butterfly<br />

Caught“) unterstützt. (vgl. Abb.7)<br />

Der Kontrast im zweiten Teil kommt dadurch<br />

zustande, dass bei den Ausschnitten auf denen<br />

reale Menschen zu sehen sind die Bedrohung<br />

nicht sichtbar wird, sondern nur in der Luft<br />

liegt. Im Gegensatz dazu sieht man bei den<br />

Scherenschnittbildern eine konkrete bedrohliche<br />

Handlung (vgl. Abb.8)<br />

3.3 Der Kampf<br />

Mit Fortlaufen des Films steigt die Dynamik.<br />

Denn die im vorherigen Teil thematisierte Gefahr<br />

findet hier ihren Höhepunkt. Kampfszenen<br />

dominieren diesen Abschnitt. An diesem Punkt<br />

wird deutlich, dass <strong>Schatten</strong> die Bedeutung des<br />

Bösen zugeschrieben werden. In einer Einstellung<br />

sind ausschließlich Silhouetten von Kämpfenden<br />

erkennbar, wodurch eine Anonymität<br />

entsteht. Zwar sind die Szenen sehr brutal,<br />

jedoch ist aufgrund des Gegenlichtes nur zu<br />

erahnen welches Ausmaß die Bruta<strong>lit</strong>ät erreicht<br />

103<br />

Abb. 8 - Standbild aus „ Carmen“, Lotte Reiniger,<br />

1933 )<br />

hat. Diese Leerstellen kann der Rezipient im<br />

Kopf ergänzen (vgl. Abb. 9).<br />

Als Kontrast dazu stehen Szenen die aus einem<br />

Computerspiel herausgeschnitten wurden.<br />

Hier wird ein <strong>Schatten</strong>wesen aus der Unterwelt<br />

dargestellt, welches das Böse verkörpert (vgl.<br />

Abb. 10).<br />

Abb. 9 - Standbild aus „ Kill Bill“ , 2004<br />

3.4 Begegnungen<br />

Den zwischenmenschlichen Begegnungen<br />

widmet sich dieser Abschnitt. Im Vergleich<br />

zu dem vorangegangen Film wird dem<br />

<strong>Schatten</strong> hier auch eine positive Bedeutung<br />

zugeschrieben. Hier wechseln sich Szenen mit<br />

realen Menschen und mit Scherenschnitten<br />

Abb.10 - Standbild aus „ Ico“, 2001


Abb.11 - Standbild aus „ Zehn Minuten Mozart“,<br />

1930<br />

104<br />

Abb.12 - Standbild aus „Der Vogelfänger“, 1935<br />

Abb.13 und Abb.14 - Standbilder aus „ The way you make feel“, Michael Jackson, 1987<br />

Abb.15 - Standbild aus „ Carmen“ , 1933<br />

Abb.16 - Standbild aus „ Rebecca“, 1940<br />

ab. Verschiedene Pärchen werden vorgestellt<br />

und ihre Einzigartigkeit herausgestellt. Bei den<br />

Scherenschnitten erlangt der <strong>Schatten</strong> beziehungsweise<br />

die Silhouette durch die detaillierte<br />

Ausgestaltung der Figuren eine verniedlichende<br />

Wirkung (vgl. Abb. 11 und 12).<br />

Sehr schön wird mit den <strong>Schatten</strong> gespielt,<br />

wenn erst der Unterschied der männlichen und<br />

weiblichen Silhouette hervorgehoben wird, um<br />

dann beide zu einer verschmelzen zu lassen<br />

(vgl. Abb. 13 und 14)<br />

Auch wird die dunkle Seite der zwischenmenschlichen<br />

Beziehungen thematisiert. (vgl.<br />

Abb. 15)<br />

In einigen Bildern ist gut zu sehen, was für eine<br />

Wirkung ein <strong>Schatten</strong> im Gesicht erzielen kann.<br />

Die einzelnen Fältchen und Konturen kommen<br />

bei einem solchen <strong>Schatten</strong>spiel sehr schön<br />

zum Vorschein und unterstützen den unheimlichen<br />

Gesichtsausdruck (Abb. 16)<br />

3.5 Tanz<br />

Seinen lebhaften Abschluss findet der Film in<br />

einer ungewöhnlichen Tanzkombination, Ähnlich<br />

wie im vorangegangenen Teil wechseln<br />

sich auch hier Scherenschnitte und reale Personen<br />

ab. Die Schnittgeschwindigkeit nimmt am<br />

Ende des Films wieder deutlich zu und gleicht<br />

sich dem Rhythmus der Musik an. Zu Beginn<br />

der Tanzszenerie gehören Bild- und Tonebene<br />

noch untrennbar zusammen, während gegen


Quellen<br />

Filme / DVDs<br />

„ The man who wasn’t there“ ,<br />

Regie: Joel Coen, 2002<br />

„ Die Unberührbare“ Regie:<br />

Oskar Roehler, 2000<br />

„ Casablanca“ Regie: Michael<br />

Curtiz, 1999 copyright 1943<br />

„ Papageno. Der muntere<br />

Vogelfänger aus Mozarts<br />

„Zauberflöte“ Regie: Lotte<br />

Reininger ( Silhouetten-<br />

Animationsfilm), 1935, Mu<br />

sik: W.A.Mozart<br />

„ The big sleep“ Regie: Howard<br />

Hawks, 1946<br />

„Der Schatz der Sierra Madre“<br />

John Huston 1948<br />

„Rebecca“ Alfred Hitchcock<br />

1940<br />

„ In the mood for love“ Regie:<br />

Wong-Kar-Wai, 2001<br />

„ Sleepy Hollow“ Regie: Tim<br />

Burton, 2000<br />

„ Kill Bill“ Regie: Quentin Taren<br />

tino, 2004<br />

„ Carmen“ Regie: Lotte Reinin<br />

ger, 1933<br />

„ Zehn Minuten Mozart“ Regie:<br />

Lotte Reininger, 1930<br />

„ Michael Jackson Number<br />

Ones“ Executive Producer:<br />

Michael Jackson, John<br />

McClain; Verwendete Musik<br />

videos:<br />

„ Rock with you“ ( Regie: Bruce<br />

Gowers, 1979 )<br />

„ The way you make me feel“<br />

( Regie: Joe Pytka, 1987 )<br />

„ Smooth criminal“ ( Regie:<br />

Colin Chilvers, 1988 )<br />

„ Dirty diana“ ( Regie: Joe Pyt<br />

ka, 1988 )<br />

„ You rock my world“ ( Regie:<br />

Paul Hunter, 2001 )<br />

„ Ico“ 2001, Sony Computer<br />

Entertainment Europe<br />

Musik<br />

„ Only you“ Interpret: Richard<br />

Clayderman; CD „ Richard<br />

Clayderman – The Collec<br />

tion“, 1997<br />

„ Butterfly Caught“ Massive<br />

Attack Collected Album<br />

2006<br />

Aus den oben genannten<br />

Filmen verwendete Musik<br />

“Faithless“<br />

Ende ein Bruch hervorgerufen wird. Hier wird<br />

ein unerwartetes Stilmittel eingesetzt, denn<br />

die Tonebenen sind vertauscht. Und erzeugen<br />

dadurch eine gewisse Irritation (vgl. Abb. 17 bis<br />

20).<br />

105<br />

Abb.17 - Standbild aus „ You rock my world“,<br />

Michael Jackson, 2001<br />

Abb.18 - Standbild aus „ Zehn Minuten Mozart“<br />

, 1930<br />

Abb.19 - Standbild aus „ The way you make me<br />

feel“, Michael Jackson, 1987<br />

Abb.20 - Standbild aus „D er Vogelfänger“,<br />

1935


Anne Kleingeist<br />

Inhalt<br />

Einleitung<br />

1 Lotte Reiniger<br />

2 Geschichtlicher<br />

Hintergrund<br />

3 Der Silhouettenfilm<br />

4 Mozartfilme –<br />

Der Silhouettenfilm<br />

und die Musik<br />

5 Silhouette=<strong>Schatten</strong>?<br />

Literatur<br />

Lotte Reiniger:<br />

Mozartfilme<br />

Abbildung 1: Szene aus dem Silhouettenfilm „Pamina und Papageno“ von 1973.<br />

[Reiniger 1979, S. 44.]<br />

1 Lotte Reiniger<br />

Lotte Reiniger (Abb. 1) wurde am 2. Juni 1899<br />

als einziges Kind von Eleonore und Karl Reiniger<br />

in Berlin geboren. Durch Paul Wegener<br />

war sie schon sehr früh von der Schauspielerei<br />

fasziniert. 1915 hörte sie ihn erstmals bei<br />

einem Vortrag in der Berliner Singakademie.<br />

Daraufhin besuchte sie von 1916 bis 1917<br />

die Schauspielschule Max Reinhardts am<br />

Deutschen Theater in Berlin. Bereits damals<br />

erstellte Lotte Reiniger Silhouetten. Sie war<br />

sehr geschickt im Umgang mit der Schere. So<br />

kam es, dass sie während der Proben in ihren<br />

Pausen, die Rollen ihrer Mitstreiter in Silhouetten<br />

festhielt. Von 1918 bis 1920 nahm Lotte<br />

Reiniger verschiedene Statistenrollen an. Schon<br />

während dieser Zeit wurde Paul Wegener auf<br />

ihre Silhouetten aufmerksam. So kam es, dass<br />

sie bereits1918 für den Film „Apokalypse“ die<br />

Titelsilhouette erstellte. 1919 fielen ihre Silhouetten<br />

darüber hinaus jedoch das erste mal auf,<br />

als sie die Zwischentitel in „Der Rattenfänger<br />

von Hameln“ erstellte. Von nun an hatte sich<br />

ihr Interesse weg von der Schauspielerei und<br />

hin zu den Silhouetten verlagert. Sie ging an<br />

106<br />

das Institut für Kulturforschung und erstellte<br />

dort noch im selben Jahr ihren ersten reinen<br />

Silhouettenfilm, „Das Ornament des verliebten<br />

Herzens“, der eine Länge von 3,20 Minuten<br />

umfasste. Am Institut lernte sie ihren späteren<br />

Mann und engsten Mitarbeiter Carl Koch kennen.<br />

Die beiden heirateten 1921. Von nun an<br />

drehte sie die verschiedensten Silhouettenfilme<br />

wie „Der fliegende Koffer“ (1921), „Der Stern<br />

von Bethlehem“ (1921), „Aschenputtel“ (1922)<br />

und „Dornröschen“ (1922). Außerdem erstellte<br />

sie weiterhin Zwischentitel für Filme, so in „“Der<br />

verlorene <strong>Schatten</strong>“ (1920), in dem sie auch<br />

ein <strong>Schatten</strong>spiel spielte, und in „Amor und das<br />

standhafte Liebespaar“ (1920). Neben diesen<br />

Produktionen erstellte sie von 1921 bis 1922<br />

Dekorationen und Kostüme an der Volksbühne<br />

Berlin und drehte von 1920 bis 1923 mehrere<br />

Werbefilme.<br />

Im Vordergrund standen jedoch zunehmend<br />

die Silhouetten. So entstand zwischen 1923<br />

und 1926 der erste abendfüllende Trickfilm,<br />

„Die Abenteuer des Prinzen Achmed“. Für diesen<br />

66-minütigen reinen Silhouettenfilm wurden<br />

ca. 250.000 Einzelbilder aufgenommen,


Abb. 2 Lotte Reiniger. [Deutsche<br />

Kinemathek 1969, S. 30.]<br />

von denen etwa 100.000 tatsächlich den Film<br />

bildeten. Es folgten weitere Filme. Nach der<br />

Entwicklung des Tonfilms ging Lotte Reiniger<br />

das Thema Musik an und erstellte ihre „Mozartfilme“.<br />

Diese Kurzfilme wurden ganz nach der<br />

Musik von Mozart geschnitten und vertont. So<br />

entstanden die ersten Mozartfilme: 1930 der<br />

„Zehn Minuten Mozart“, 1933 „Carmen“ und<br />

1935 „Papageno“. Später wurden noch „Die<br />

Zauberflöte“, „Don Giovanni“, „Figaros Hochzeit“<br />

und „Cosi fan tutte“ erstellt (jeweils 1937).<br />

1936 lernte Lotte Reiniger auf einer Griechenlandreise<br />

den <strong>Schatten</strong>theaterspieler Dhimitrios<br />

Mollas kennen. Er weckte ihr Interesse für<br />

das <strong>Schatten</strong>spiel. Von diesem Zeitpunkt an<br />

spielten neben den Silhouetten auch <strong>Schatten</strong>spiele<br />

eine große Rolle. Jedoch standen diese<br />

zunächst in keinem Verhältnis zu ihren Silhouettenfilmen.<br />

Lotte Reiniger erstellte bereits in den 50er<br />

Jahren Silhouettenfilme in Farbe. Die Silhouetten<br />

sind hierbei schwarz und die hintergründe<br />

farbig. Später entwickelte sie eine weitere Form<br />

des farbigen Silhouettenfilmes, bei dem auch<br />

die Figuren mittels eines Gegenlichtes von<br />

oben in Farbe erscheinen.<br />

Nach dem Tod ihres Mannes (1963) widmete<br />

sich Lotte Reiniger verstärkt dem <strong>Schatten</strong>spiel,<br />

da sie beim Erstellen ihrer Silhouettenfilme<br />

bis zu diesem Zeitpunkt sehr eng mit ihrem<br />

Mann zusammen gearbeitet hatte. Sie wirkte in<br />

verschiedenen <strong>Schatten</strong>theatern mit. So trat sie<br />

beispielsweise 1960 mit unterschiedlichen Märchen<br />

in englischen Schulen auf. Veröffentlicht<br />

wurden Märchenreihen wie „Aschenbrödel“,<br />

„Good King Wenzeslaus“, „Kalif Storch“, „Froschkönig“,<br />

und andere (jeweils 1953), sowie<br />

<strong>Schatten</strong>spielepisoden des Alten und Neuen<br />

Testamentes für das Kinderprogramm (1969).<br />

Lotte Reiniger lebte den größten Teil ihres<br />

Lebens in England. Während des zweiten Weltkrieges<br />

lebte sie zeitweise in Frankreich, Italien,<br />

England und Deutschland. Da ihre beruflichen<br />

Aussichten in England besser waren entschloss<br />

sich das Ehepaar Reiniger / Koch nach Ende<br />

des Krieges in England zu bleiben. 1980 ging<br />

Lotte Reiniger wieder zurück nach Deutschland.<br />

Sie zog zu einem befreundeten Ehepaar<br />

nach Dettenhausen, bei dem sie bis zu ihrem<br />

Lebensende lebte. Am 19. Juni 1981 verstarb<br />

Lotte Reiniger. [Reiniger 1979: S. 5 – 23, 36<br />

- 59; Schobert 1969: S. 99 ff., 112 ff.; Deutsche<br />

Kinemathek 1969: S. 20 - 29]<br />

2 Geschichtlicher Hintergrund<br />

Lotte Reiniger beschäftigte sich sowohl mit<br />

dem <strong>Schatten</strong>spiel, als auch mit den Silhouetten.<br />

Der Silhouettenfilm ist eine völlig neue,<br />

von ihr ins Leben gerufene Form der filmischen<br />

Darstellung. Doch die Idee zu den Silhouetten<br />

und dem nahe verwandten <strong>Schatten</strong>spiel<br />

kommt nicht aus dem Nichts. Im Folgenden soll<br />

daher gezeigt werden, welchen Ursprung das<br />

<strong>Schatten</strong>spiel bzw. die Silhouette haben.<br />

107<br />

2.1 Das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

Das <strong>Schatten</strong>spiel hat in allen Ländern die gleiche<br />

Grundkonzeption: flache Figuren werden<br />

zwischen einer Leinwand und einer Lichtquelle<br />

bewegt. Dabei wird ihr <strong>Schatten</strong> auf der dem<br />

Betrachter zugewandten Seite der Leinwand<br />

sichtbar.<br />

Der Ursprung des <strong>Schatten</strong>spiels liegt in China.<br />

Hier gibt es bereits im 11. Jahrhundert Aufzeichnungen,<br />

die <strong>Schatten</strong>spiele belegen.<br />

Die chinesischen <strong>Schatten</strong>figuren bestanden<br />

aus dünnem, leicht durchlässigem Pergament<br />

- regional auch aus Tierhäuten. Die Führungsstäbe<br />

bestanden aus Eisen oder Horn. Es gab<br />

zahlreiche Figuren, die die Bevölkerung wiederspiegelten,<br />

ebenso wie Buddha und verschiedene<br />

Geister. Bis auf die letzten beiden wurden<br />

die Figuren in der Regel im Profil dargestellt.<br />

Es wurden jedoch auch Tiere und zahlreiche<br />

Requisiten wie Wohnhäuser, Paläste, Bäume,<br />

Felsen, usw. dargestellt. In jeder größeren<br />

Stadt gab es ein festes <strong>Schatten</strong>theater. Neben<br />

diesen zogen jedoch auch Truppen umher, die<br />

auf Märkten und in Privathäusern ihre mobilen<br />

Bühnen aufbauten. Das <strong>Schatten</strong>spiel war<br />

lange die einzige Theaterform, an der auch<br />

ehrbare Frauen und Kinder teilnehmen durften.<br />

Die zwei Stunden und mehr umfassenden<br />

Stücke handelten von buddhistischen und taoistischen<br />

Mythen und Legenden, bildeten historische<br />

Romane, handelten von Begebenheiten<br />

aus der chinesischen Geschichte und Mythologie<br />

oder handelten von Geschichten aus dem<br />

Leben des Volkes. Bereits beim chinesischen<br />

<strong>Schatten</strong>spiel wurde beim Auftreten der Hauptfiguren<br />

Musik gespielt. [Dunkel 1984: S. 9 – 21].<br />

Nach Europa kam das <strong>Schatten</strong>spiel erst im 17.<br />

Jahrhundert. In Italien wurde das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

zur Volksbelustigung an Straßenecken und auf<br />

Jahrmärkten genutzt. 1683 kam das <strong>Schatten</strong>spiel<br />

nach Deutschland. Die Komödiantengesellschaft<br />

bat in diesem Jahr erstmals um die<br />

Erlaubnis „Italienische <strong>Schatten</strong>“ aufführen zu<br />

dürfen. Im 18. Jahrhundert entdeckte anfangs<br />

der Adel das <strong>Schatten</strong>theater als eine Form<br />

der Unterhaltung. Bereits gegen Ende des 18.<br />

Jahrhundert wurde das <strong>Schatten</strong>spiel neben<br />

dem Puppenspiel und der Laterna-magica dann<br />

auch für das Bürgertum zum Unterhaltungsmedium.<br />

Den Inhalt bildeten hier vor allem<br />

Komödien bzw. Schauspiele. Doch es wurde<br />

in den Stücken auch Kritik an den Herrschenden<br />

geübt. Die Figuren bestanden aus Pappe<br />

bzw. Papier. Manche Figuren besaßen bereits<br />

bewegliche Glieder. Auch in Deutschland gab<br />

es eine musikalische Untermahlung der Texte<br />

durch Drehleiern oder Leierkästen. [Dunkel<br />

1984: S. 159 – 169]<br />

2.2 Silhouetten und <strong>Schatten</strong>risse<br />

Silhouetten traten bis zu Lotte Reinigers<br />

Arbeiten nur in Form von <strong>Schatten</strong>rissen in<br />

Erscheinung. Der <strong>Schatten</strong>riss ist auf Etienne de<br />

Silhouette zurückzuführen, der diesen im 18.<br />

und 19. Jahrhundert „als Ersatz für luxuriöse


Abb. 3 Szene aus dem Silhouettenfilm<br />

„Schneeweißchen und-<br />

Rosenrot“ von 1953. [Reiniger<br />

1979, S. 19.]<br />

Abb. 4 Szene aus dem Silhouettenfilm<br />

„Pamina und Papageno“<br />

von 1973. [Reiniger 1979,<br />

S. 44.]<br />

Portraitminiaturen“ propagiert[e]“. [Rodotteé<br />

1979: S. 24] Bei dieser Technik setzen sich eine<br />

Person zwischen eine Lichtquelle und einen<br />

durchscheinenden Schirm. Der <strong>Schatten</strong>riss<br />

bzw. die Silhouette dieser Person wurde damit<br />

auf den Schirm projiziert und konnte auf der<br />

anderen Seite des Schirmes nachgezeichnet<br />

werden.<br />

Ab Mitte des 19. Jahrhundert, nachdem der<br />

Erfindung des Filmes, verlor der <strong>Schatten</strong>riss<br />

jedoch zunehmend an Bedeutung.<br />

2.3 Das <strong>Schatten</strong>spiel, die Silhouette<br />

und Lotte Reiniger<br />

Das <strong>Schatten</strong>spiel bzw. das Spiel mit den <strong>Schatten</strong><br />

war demnach bereits weit verbreitet und<br />

durchaus bekannt, als Lotte Reiniger mit ihren<br />

Silhouetten begann. Auch der Scherenschnitt<br />

und die Silhouetten bzw. <strong>Schatten</strong>risse waren<br />

zwar bekannt, sind jedoch im Laufe der Jahre<br />

ein wenig „aus der Mode gekommen“ [Rodotteé<br />

1979: S.24]. Dennoch bot es sich nach der<br />

Entwicklung des Filmes an, die Silhouette mit<br />

dem Film zu verbinden und auf diese Weise ein<br />

ganz neuartiges <strong>Schatten</strong>theater zu schaffen<br />

bzw. dieses weiterzuentwickeln. Lotte Reiniger<br />

wagte diesen Schritt – mit Erfolg. Hartmut W.<br />

Redotteé beschreibt sie bzw. die Voraussetzungen<br />

für diesen Schritt folgendermaßen: „Ein<br />

Mensch mußte geboren werden, der im 20.<br />

Jahrhundert die aus der Mode gekommene<br />

Kunst des Scherenschnittes, des Silhouettenschneidens<br />

vollendet beherrschte, der eine große<br />

Liebe mitbrachte zur darstellenden Kunst,<br />

der mit den künstlerischen und technischen<br />

Möglichkeiten des Films vollkommen vertraut<br />

war, bei dem sich Besessenheit mit Phantasie,<br />

Geduld und außergewöhnlicher Schaffenskraft<br />

paarte.“ [Redotteé 1979: S. 24]<br />

3 Der Silhouettenfilm<br />

Ein Silhouettenfilm (Abb. 3) entsteht aus einzelnen<br />

Bildern, in denen Silhouetten also Scherenschnitte<br />

dargestellt werden. Somit könnte man<br />

den Silhouettenfilm „auch „Scherenschnittfilm<br />

nennen“. [Reiniger 1979: S. 27] Um einen<br />

Silhouettenfilm herzustellen, muss man erst<br />

einmal wissen was eine Silhouette ist, wie die<br />

Figuren dafür hergestellt werden und wie<br />

ein so genannter Tricktisch funktioniert. Diese<br />

Punkte sollen im Folgenden genauer erläutert<br />

werden.<br />

3.1 Die Silhouette<br />

Eine Silhouette (Abb. 4) entsteht dadurch, dass<br />

ein Gegenstand (im Falle des Silhouettenfilmes<br />

eine Figur) zwischen einer Lichtquelle und<br />

seinem Betrachter steht. Die Konturen des<br />

Gegenstandes bilden eine klare Linie. Ganz im<br />

Gegensatz zu einem einfachen <strong>Schatten</strong>. Denn<br />

dieser ist beweglich. Er ist je nach der Anzahl<br />

der Lichtquellen mehr oder weniger klar abgegrenzt.<br />

Außerdem wird der <strong>Schatten</strong> je nach<br />

Lichteinwirkung länger oder kürzer.<br />

Die Figuren, die Lotte Reiniger erstellt, werden<br />

direkt von unten angeleuchtet, so dass es im<br />

108<br />

Winkel keine Verschiebungen gibt (siehe Punkt<br />

3.2). Die Figuren sind demnach klar zu erkennen.<br />

Dadurch hat Lotte Reiniger die Möglichkeit<br />

Gesichtszüge, Feinheiten in der Kleidung<br />

und auch Ausschmückungen in den Landschaften<br />

genau darzustellen.<br />

3.2 Der Tricktisch<br />

Der Tricktisch (Abb. 5) spielt für den Silhouettenfilm<br />

eine entscheidende Rolle. Nur durch<br />

diesen ist es möglich tatsächlich Silhouetten zu<br />

erhalten. In der Mitte des Tricktisches befindet<br />

sich ein großes Loch, das den Hintergrund<br />

bzw. die für den Film nutzbare Fläche bildet. In<br />

dieses Loch ist eine Glasplatte eingefasst. Unter<br />

dem Tisch befindet sich eine weitere Platte, auf<br />

der 5 Glühbirnen angebracht sind. Diese strahlen<br />

die Glasplatte von unten an. Um die Tischbeine<br />

werden Stoffe oder ähnliches gezogen.<br />

Denn so kann das ganze Licht der Glühbirnen<br />

für die Aufnahmen verwendet werden und es<br />

ist gewährleistet, dass keine anderen Lichtquellen<br />

die Silhouette verzerren.<br />

Die Tischbeine sind nach oben hin „verlängert“<br />

worden und miteinander verbunden. Dieser<br />

Oberbau bildet die Haltung für die Kamera, die<br />

direkt auf die Glasplatte zeigt. Die Halterung ist<br />

sehr wichtig, da nur dadurch gleichmäßige Bilder<br />

entstehen können. Da die Aufnahmen viel<br />

Zeit in Anspruch nehmen, würde eine Kamerahaltung<br />

von Hand schwierig werden.<br />

Zu erwähnen sind nun noch die an der Halterung<br />

angebrachte Kamera und natürlich<br />

die Figuren und Hintergründe. An einigen<br />

Tricktischen befinden sich außerdem jeweils<br />

links und rechts vom Tisch zwei weitere Platten,<br />

die als Ablage für die in der nächsten Szene<br />

verwendeten Figuren, das Storyboard oder andere<br />

Materialien dient. [Reiniger 1979: S. 27ff.;<br />

Reiniger / Koch 1959.]<br />

3.3 Figuren, Szenerie und Hintergrund<br />

Die Figuren werden aus mittelstarker, schwarzer<br />

Pappe und dünngewälztem Blei hergestellt.<br />

Das Blei dient der Beschwerung der Figuren,<br />

da diese richtig auf der Platte liegen müssen<br />

und sich nicht wellen dürfen. Bei dem Entstehungsprozess<br />

einer Figur wird die Silhouette<br />

zunächst skizziert und anschließend im Ganzen<br />

ausgeschnitten. Im nächsten Schritt werden<br />

dann die einzelnen Glieder ausgeschnitten. Für<br />

eine Figur werden dabei in der Regel insgesamt<br />

16 Einzelteile benötigt. Darunter fallen<br />

ein Kopf, ein Hals, ein Brustkorb, ein Bauch,<br />

zwei Oberarme, zwei Unterarme, zwei Hände,<br />

zwei Oberschenkel, zwei Unterschenkel und<br />

zwei Füße. Durch diese vielen Glieder sind die<br />

Figuren besonders beweglich.<br />

Die einzelnen Glieder werden mit Draht zusammengefügt.<br />

Es ist schwierig dabei den richtigen<br />

Punkt zu finden, denn von diesem hängt die<br />

Qua<strong>lit</strong>ät der Bewegung ab. Beim Zusammenfügen<br />

ist es wichtig darauf zu achten, dass der<br />

Draht an einigen Stellen von unten angebracht<br />

wird. Denn muss während der Aufnahmen


Abb. 5 Tricktisch [Reiniger 1979, S. 27.]<br />

beispielsweise der Kopf bewegt werden, so<br />

muss nicht die ganze Figur bewegt werden,<br />

sondern nur der Kopf aus der Befestigung<br />

gelöst und neu angebracht werden. [Reiniger<br />

1979: S. 30f.]<br />

Die Hauptfiguren werden mindestens in drei<br />

verschiedenen Größen angefertigt. Da es<br />

nicht möglich ist mit der Kamera dichter an die<br />

Glasplatte heranzugehen, werden die „Großaufnahmen“<br />

mit einem Trick hergestellt. Die<br />

Figuren werden noch einmal größer ausgeschnitten.<br />

Dadurch entsteht bei dem Betrachter<br />

der Eindruck, dass die Kamera näher an die<br />

Figur herangegangen ist. Dabei muss natürlich<br />

auch der Hintergrund verändert werden. Die<br />

großen Figuren bieten zudem die Möglichkeit<br />

Gesichtszüge oder andere Ausschmückungen<br />

genauer auszuarbeiten. Die Größen schwanken<br />

zwischen 60 cm und 2 ½ cm. [Reiniger /<br />

Koch 1959.]<br />

Der Hintergrund wird auch ausgeschnitten.<br />

Hierfür werden schwarzes Kartonpapier und<br />

verschiedenartige Lagen halbtransparentes<br />

Seidenpapier verwendet. Durch die Überlagerungen<br />

der Seidenpapiere entsteht eine<br />

Tiefenperspektive. Dabei sind so viele Schattierungen<br />

möglich wie Papierlagen vorhanden<br />

sind. [Reiniger 1979: S. 30ff.; White 1931.]<br />

3.4 Das Arbeiten mit dem Tricktisch<br />

Beim Arbeiten mit dem Tricktisch ist einiges zu<br />

beachten. Zu aller erst muss man sich bewusst<br />

werden, dass Hintergrund und Figuren<br />

allesamt auf einer Platte übereinander liegen.<br />

Sie haben in Wirklichkeit keinerlei Abstand zu<br />

einander. Doch eben dieser soll dem Betrachter<br />

suggeriert werden. Eine Tiefenperspektive entsteht<br />

wie bereits erwähnt vor allem durch die<br />

sich überlappenden Seidenpapiere. Doch Lotte<br />

Reiniger hat es auch geschafft, beispielsweise<br />

eine Wasserfläche mittels kleiner Streifen, die<br />

<strong>Schatten</strong> bzw. Spiegelungen darstellen sollen,<br />

anzudeuten (Abb. 6 – 8). Eine weitere Methode<br />

109<br />

bilden die Größen der Figuren. So lässt Lotte<br />

Reiniger beispielsweise eine Reiterin mit ihrem<br />

Pferd als große Figur am unteren Rand des<br />

Bildes von rechts nach links in das Bild hinein<br />

und wieder hinaus laufen. Anschließend wird<br />

die gleiche Figur in klein am oberen Rand von<br />

links in das Bild hinein geführt und am rechten<br />

Rand aus dem Bild heraus. Der Betrachter hat<br />

das Gefühl, er sieht in eine Zirkusmanege.<br />

Um die Figuren auf dem Hintergrund bewegen<br />

zu können, ohne dass dieser sich verschiebt,<br />

wird auf den Hintergrund ein Bogen durchscheinende,<br />

rutschfeste Folie gelegt. Soll eine<br />

Fahrtaufnahme erstellt werden, so bewegt sich<br />

nicht die Kamera, sondern die Landschaft. Für<br />

diesen Fall werden Kulissen erstellt, die länger<br />

als die Glasplatte sind. Diese werden dann<br />

Stück für Stück weitergeschoben.<br />

Die Figuren können nur schritt- bzw. millimeterweise<br />

bewegt werden. Da keine Wirkungen<br />

der Schwerkraft in Richtung Boden (Kulissen-<br />

Abb. 6 bis 8 Szenen aus „Die Abenteuer des<br />

Prinzen Achmed“ von 1926. [Reiniger 1979, S.<br />

53.]


Literatur<br />

Deutsche Kinemathek (Hrsg.).<br />

Lotte Reiniger. Berlin 1969.<br />

Dunkel, Peter F.. <strong>Schatten</strong>figuren,<br />

<strong>Schatten</strong>spiel.<br />

Geschichte – Herstellung<br />

– Spiel. Köln 1984.<br />

Hagen, Louis (Drehbuch) /<br />

Isaacs, John (Regie). Ein<br />

Scherenschnittfilm entsteht:<br />

Lotte Reiniger bei der Arbeit.<br />

Berlin 1971.<br />

Reiniger, Lotte. Die Abenteuer<br />

des Prinzen Achmed.<br />

Tübingen 1972.<br />

Reiniger, Lotte. Silhouettenfilm<br />

und <strong>Schatten</strong>theater. Hrsg.:<br />

Puppen Theater Museum<br />

im Münchner Stadtmuseum.<br />

München 1979.<br />

Reiniger, Lotte / Koch, Carl.<br />

Unser Metier. In: Halas,<br />

John/Manvell, Roger. The<br />

technique of film animation.<br />

London 1959. S. 279 – 286.<br />

Deutsche Übersetzung<br />

in: Deutsche Kinemathek<br />

(Hrsg.). Lotte Reiniger. Berlin<br />

1969. S. 15 – 17.<br />

Rodotteé, Hartmut W.. Die<br />

Geburt des Märchens aus<br />

dem Geiste des Films. In:<br />

Reiniger, Lotte. Silhouettenfilm<br />

und <strong>Schatten</strong>theater.<br />

Hrsg.: Puppen Theater<br />

Museum im Münchner<br />

Stadtmuseum. München<br />

1979. S. 24 – 26.<br />

Schobert, Walter. Die Kunst<br />

der Lotte Reiniger. In: Lotte<br />

Reiniger, David W.<br />

Griffith, Harry Langdon.<br />

Hrsg.: Kommunales Kino<br />

Frankfurt am Main. Frank<br />

furt am Main 1972.<br />

The adventures of prince<br />

achmed, http://filmsociety.<br />

wellington.net.nz/db/<br />

screeningdetail.php?id=187,<br />

Stand10.04.2007.<br />

White, Eric Walter. Walking<br />

<strong>shadows</strong>. London 1931.<br />

S. 16 – 22. Deutsche<br />

Übersetzung in: Deutsche<br />

Kinemathek. Lotte Reiniger.<br />

Berlin 1969. S. 11 – 14.<br />

boden) auf die Körper der Figuren wirken,<br />

liegt hierin eine besondere Herausforderung.<br />

Die Figuren werden auf horizontaler Ebene<br />

bewegt, werden im Film jedoch auf vertikaler<br />

Leinwand gesehen. Wenn die Figuren zu<br />

plump bewegt werden, dann könnte beim<br />

Betrachter der Eindruck einer Bewegung, die<br />

auf den Boden wirkt, verloren gehen. Gerade<br />

diese Schwierigkeit machte für Lotte Reiniger<br />

einen besonderen Reiz aus. So sagte sie in<br />

einem Interview: „Im <strong>Schatten</strong>spiel kann man,<br />

je nach der Entfernung, zwischen Figur und<br />

Lichtquelle, die wundervollsten, magischen Effekte<br />

erzielen. Beim direkten Spiel der Silhouette<br />

hingegen, liegt der Reiz in der Bewegung der<br />

Figur.“. [Reiniger 1979: S. 38]<br />

Jede einzelne Szene wird vor der Aufnahme in<br />

einem Storyboard skizziert. Im Storyboard steht,<br />

wann welche Szene erstellt werden soll, was in<br />

dieser Szene passieren soll, wie der Bildaufbau<br />

sein soll und wie viele Bilder erstellt werden<br />

sollen. Jede erstellte Einzelaufnahme wird<br />

gezählt und notiert, um den Überblick nicht zu<br />

verlieren. 24 Einzelaufnahmen bilden später<br />

eine Sekunde Film. [Reiniger 1979: S.27ff.]<br />

3.5 Vorteile und Schwierigkeiten bei der<br />

Arbeit mit dem Tricktisch<br />

Beim Arbeiten mit dem Tricktisch und den<br />

Silhouettenfiguren liegt ein entscheidender<br />

Vorteil in der Bewegung der Figuren. Die Figuren<br />

sind im Gegensatz zum <strong>Schatten</strong>spiel frei<br />

beweglich. Im <strong>Schatten</strong>spiel ist die Bewegungsquelle<br />

(die Stöcke) sichtbar bzw. schwierig zu<br />

verstecken. Beim Silhouettenfilm kann man die<br />

Figur springen lassen, klettern, knien, liegen,<br />

usw. Durch diese freie Bewegung entsteht<br />

beim Betrachter der Eindruck einer eigenständigen<br />

Bewegung der Figuren.<br />

Schwierigkeiten ergeben sich vor allem aus<br />

dem vertikalen Raum. Die Gesichtszüge können<br />

nur im Profil dargestellt werden. Außerdem<br />

gibt es – wie bereits erwähnt – keine Wirkungen<br />

der Schwerkraft auf den Körper, was die<br />

Bewegungen plump wirken lassen kann. Eine<br />

Herausforderung liegt zudem in der Schaffung<br />

einer Tiefenperspektive. Überdies sind nur<br />

wenige Lichteffekte möglich, um die Spannung<br />

zu steigern.<br />

4 Mozartfilme – Der Silhouettenfilm und<br />

die Musik<br />

Lotte Reiniger war eine begeisterte Mozarthörerin.<br />

Daher lag es nahe, dass sie seine Musik<br />

und seine Opern zu einem Thema ihrer Filme<br />

machte. Die Erarbeitung eines solchen Mozartfilmes<br />

beschrieb sie folgendermaßen.<br />

Zunächst wird die Oper von einem Dirigenten<br />

auf etwa 10 bis 15 Minuten zusammen<br />

gestrichen. Dafür werden besonders bekannte<br />

Melodien aus dieser ausgewählt. Anschließend<br />

wird die Tonspur des Filmes aufgenommen.<br />

Jeder Takt dieser Tonspur wird auf einem Musikdiagramm<br />

festgehalten und analysiert. Dabei<br />

wird jede Takteinheit auf dem Diagramm nach<br />

der Anzahl der benötigten Einzelbilder gemes-<br />

110<br />

sen. Die Bewegung der Figuren muss nun nicht<br />

nur als eine eigenständige Bewegung wirken,<br />

sondern auch mit der Musik und den Takten<br />

übereinstimmen. [Reiniger / Koch 1959.; Reiniger<br />

1979: S. 29f.]<br />

5 Silhouette = <strong>Schatten</strong>?<br />

Wenn Licht auf einen Gegenstand projiziert<br />

wird, dann ergibt sich ein <strong>Schatten</strong>. Doch liegt<br />

im Falle einer Silhouette wirklich ein <strong>Schatten</strong><br />

vor? Eigentlich nicht wirklich. Der eigentliche<br />

<strong>Schatten</strong>, den die Figur wirft, wird nicht gesehen,<br />

sondern lediglich die dabei entstehende<br />

Silhouette. Im Mittelpunkt steht daher nicht<br />

der <strong>Schatten</strong>, sondern sein Erzeuger selbst. Das<br />

Wort „<strong>Schatten</strong>“ könnte man in diesem Fall<br />

symbolisch verwenden. Denn Lotte Reiniger<br />

hat es geschafft leblosen Figuren („<strong>Schatten</strong>“)<br />

über die Bewegung Leben „einzuhauchen“. Sie<br />

schafft mit ihren Silhouetten eine Märchenwelt,<br />

in der aus zweidimensionalen Figuren und Kulissen<br />

eine dreidimensionale Welt erzeugt wird.


Astrid Oltmann<br />

Inhalt<br />

1. Expressionismus in<br />

der Malerei<br />

2. Expressionismus im Film<br />

3. Nosferatu – Eine Symphonie<br />

des Grauens<br />

4. Stilmittel des expressionistischen<br />

Films<br />

vs. Stilmittel Nosferatu<br />

5. Der <strong>Schatten</strong> im Film<br />

- Bedeutungsgeschichte<br />

des <strong>Schatten</strong>s<br />

NOSFERATU - Filmschatten<br />

des Expressionismus<br />

Abb. 1: „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“, filmstill<br />

1. Expressionismus in der Malerei und<br />

Weltanschauung<br />

Der Expressionismus wird beschrieben als<br />

Ausdruckskunst des frühen 20. Jahrhunderts.<br />

Er wollte sich als Auflehnung gegen das<br />

bestehende Gesellschaftssystem der Weimarer<br />

Republik (1919 – 1934), gegen den herrschenden<br />

Impressionismus, gegen den Naturalismus<br />

und den Materialismus verstanden wissen. Die<br />

Expressionisten wollten weg von der Empfänglichkeit<br />

hin zur Schöpfung, sie wollten nicht<br />

passiv hinnehmen sondern selbst gestalten und<br />

schöpferisch aktiv sein.<br />

„Im Gegensatz zum Impressionismus, in dem<br />

ein äußerer Eindruck aufgenommen und im<br />

Bild wiedergegeben wurde, sollte im Expressionismus<br />

ein innerer, seelischer Ausdruck in<br />

die Bildgestaltung einfließen. Das Bildmotiv der<br />

Wirklichkeit sollte nicht bloß imitiert werden,<br />

sondern in einem neuen schöpferischen Akt<br />

111<br />

der Selbstverwirklichung des Künstlers eine<br />

neue und suggestive Ausdruckskraft gewinnen.“<br />

1<br />

Der Expressionismus stellt den Gegenstand<br />

nicht in seiner abtastbaren Form dar (keine<br />

bloße rea<strong>lit</strong>ätsnahe Abbildung, einer Fotografie<br />

ähnlich), sondern in einer anderen Ebene<br />

des Daseins. Die künstlerische Welt wird in das<br />

Bewusstsein des Künstlers zurückverlegt:<br />

Vorläufer waren Paul Gauguin, Vincent van<br />

Gogh, die damit begannen auf gegenständliche<br />

Darstellungen zu verzichten.<br />

In Deutschland waren es v.a. zwei bedeutende<br />

Künstlergruppen, die heute stellvertretend<br />

für den expressionistischen Stil stehen. 1905<br />

gründete sich die Malergemeinschaft „Die Brücke“<br />

in Dresden zu der Ernst Ludwig Kirchner,<br />

Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, später auch


Max Pechstein, Otto Mueller und Emil Nolde<br />

gehörten. Diese lehnten den Historismus und<br />

jede Art einer gelehrt-akademischen Kunstausbildung<br />

ab. Sie waren Autodidakten ohne<br />

Malausbildung, die bürgerliche Wertvorstellungen,<br />

Traditionen und den Akademismus<br />

überwinden wollten.<br />

1912 gründete sich „Der Blaue Reiter“ in München<br />

(basierend auf dem Titel des Almanachs,<br />

den Kandinsky und Marc ursprünglich herausgaben),<br />

zu dem Wassily Kandinsky, Alexej<br />

Jawlensky, Franz Marc und August Macke<br />

zählten. Diese begründeten einen stärker auf<br />

formale Probleme konzentrierten, romantischeren<br />

Expressionismus.<br />

2. Expressionismus im Film<br />

Der expressionistische Film hat seine Wurzeln<br />

in Deutschland und die meisten Filme, die<br />

heute zu diesem Genre zählen, wurden in der<br />

Filmhauptstadt Berlin während der Stummfilmzeit<br />

in der ersten Hälfte der 1920 er Jahre<br />

gedreht. Nach dem 1.Weltkrieg wendet man<br />

sich zu Gunsten des subjektiven Ausdrucks von<br />

einer objektiven Weltdarstellung ab. Aufgrund<br />

der Inflation, Hungersnöte und der Wirtschaftskrise<br />

verfügte man über sehr niedrige Budgets.<br />

Das verursachte einen Mangel an Technik und<br />

Ausstattung, die man so durch andere Mittel<br />

kompensieren musste. Die Filmemacher aus<br />

Deutschland und Österreich orientierten sich<br />

also am stark expressionistischen Kunststil, der<br />

sich in den grotesk verzerrten Kulissen und<br />

der kontrastreichen Beleuchtung wiederfand.<br />

Die gemalten <strong>Schatten</strong> (Nosferatu), gemalten<br />

Hintergründe (Caligari) sowie rechte Winkel<br />

erwecken den Eindruck, man befände sich<br />

in einer anderen Bewusstseinsebene. „Durch<br />

eine surrealistische und symbolistische mise-enscène<br />

werden starke Stimmungen und tiefere<br />

Bedeutungsebenen erzeugt.“ 2 Die übertrieben<br />

dargestellte Gestik und Mimik der Darsteller,<br />

die aus dem Vorläufer des Films - dem Theater<br />

- entlehnt ist, ist vor allem kennzeichnend für<br />

diese Filmströmung. Der von fremden Kräften<br />

bestimmte und moralisch nicht haftbare<br />

Mensch ist das Leitmotiv, welches sich durch<br />

den expressionistischen Film der zwanziger<br />

Jahre zieht.<br />

Erst mit dem Auftreten des Autors Carl Mayer,<br />

auf dessen Initiative das Drehbuch zu Das Cabinet<br />

des Dr. Caligari entstand, wird der expressionistische<br />

Film zu einer breiten Strömung mit<br />

internationaler Beachtung.<br />

„Von allen Kunstformen scheint der Film am<br />

wenigsten Kunst und am meisten Natur zu<br />

sein. Schon sein wesentlichstes Mittel, die<br />

Photographie, wird als grundsätzlich unkünstlerisch<br />

gefunden“ 3 , schreibt Kurtz 1926.<br />

Doch das Gegenteil ist der Fall.<br />

„Je naturalistischer ein Film wirkt, je mehr<br />

„Lebensechtheit“ er beansprucht, um so<br />

kunstvoller ist sein Aufbau.“ 4<br />

Diesen Zitaten möchte ich das folgende von<br />

Michael Töteberg, der wiederum Béla Balázs,<br />

112<br />

den wohl bekanntesten Filmtheoretiker der<br />

damaligen Zeit, zitiert hinzufügen:<br />

„...; Murnau hingegen verlasse die Studiowelt<br />

und habe gespürt, daß die „stärkste Ahnung<br />

des Übernatürlichen gerade aus der Natur zu<br />

holen ist“. Nicht der Inhalt der Fabel erzeuge<br />

die unheimliche Spannung, sondern der Stimmungsgehalt<br />

der Bilder - „Naturbilder, in denen<br />

ein kalter Luftzug aus dem Jenseits weht“. 5<br />

Filmmagier Friedrich Wilhelm Murnau inszenierte<br />

das Grauen über die verworrene Zeit der<br />

Weimarer Republik in Gestalt des Vampirs als<br />

subtiles Kammerspiel des Terrors. Sein Nosferatu<br />

– Eine Symphonie des Grauens, zählt mit zu<br />

den ersten Horrorfilmen überhaupt. Folgende<br />

Stilmittel sind übergreifend auf sämtliche Filme<br />

der damaligen Zeit.<br />

Auswirkungen der Kunst auf den expressionistischen<br />

Film:<br />

•grotesk verzerrte Kulissen<br />

(verzerrte Perspektiven)<br />

•schiefwinklige Häuser, Diagonale statt<br />

Senkrechte, Entfesselung ins Chaos<br />

•kontrastreiche Beleuchtung<br />

•gemalte Leinwände und <strong>Schatten</strong> als<br />

Kulissen<br />

•übertrieben dargestellte Mimik und<br />

Gestik der Darsteller<br />

•langsamer Schnittrhythmus, lange<br />

Einstellungen<br />

•Studioaufnahmen, keine Außenaufnahmen<br />

•Außenwelt als Spiegel psychischer Prozesse<br />

•international stilprägende Epoche an<br />

Filmen<br />

Die Filmdekoration muss Graphik werden<br />

(„Du musst Caligari werden!“).<br />

Stilmittel im expressionistischen Film:<br />

Das eindeutigste Stilmittel ist das Kunstlicht:<br />

* als architektonisches Mittel,<br />

* um Tiefenperspektive zu erzeugen<br />

* um die Dekorwirkung zu unterstützen<br />

* Kontrastintensität von hell und dunkel /<br />

dramaturgischer Faktor<br />

* symbolischer Repräsentationscharakter um<br />

Gut und Böse zu unterscheiden<br />

„Das Licht hat den expressionistischen Filmen<br />

die Seele eingehaucht.“ 6<br />

Zwei Arten von Helldunkel sind dominierend:<br />

• scharf kontrastierend<br />

• Chiaroscuro (Umspielung der Konturen)<br />

Der Künstler bedient sich dieses Spiels von Licht<br />

und <strong>Schatten</strong>, um Körper und ihre Formen<br />

deutlicher zu modellieren, dramatische Effekte<br />

zu steigern oder eine geheimnisvolle Stimmung<br />

zu erzeugen. Man nuanciert von gehöhten<br />

Partien mit Glanzlichtern bis zu grellen Schlaglichtern<br />

und Schlagschatten.<br />

„Die Geschichte des expressionistischen Films in<br />

Deutschland ist die Geschichte einer Reihe von<br />

Wiederholungen. Der Anfang ist nicht übertroffen<br />

worden.“ 7


Filmstill aus: Nosferatu – Symphonie des Grauens,<br />

Deutschland 1922: „Ich liebe die Dunkelheit<br />

und die <strong>Schatten</strong>, wo ich mit meinen<br />

Gedanken allein sein kann.” (Graf Dracula)<br />

„Expressionismus und Film fordern sich gegenseitig<br />

heraus.“ Herbert Jhering<br />

“Der Film ist die einzige rechtmäßige Heimat<br />

des Expressionismus.“<br />

1924 Béla Balázs<br />

3. Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens<br />

„Ich liebe die Dunkelheit und die<br />

<strong>Schatten</strong>, wo ich mit meinen<br />

Gedanken allein sein kann.”<br />

(Graf Dracula)<br />

Nosferatu – Symphonie des Grauens<br />

Deutschland 1922<br />

Regie: Friedrich Wilhelm Murnau.<br />

Buch: Henrik Galeen<br />

Kamera: Fritz Arno Wagner, Günther Krampf.<br />

Länge: 96 Min.<br />

s/w mit monochromen Einfärbungen, stumm<br />

Darsteller: Max Schreck,(Graf Orlok, Nosferatu)<br />

Gustav von Wangenheim<br />

Greta Schroeder, Ruth Landshoff, Alexander<br />

Granach<br />

Der erste echte Vampirfilm und zugleich<br />

das erste künstlerische Werk dieser Gattung<br />

entstand nach dem Roman „Dracula“ von<br />

Bram Stoker. Nosferatu – Eine Symphonie des<br />

Grauens wurde 1921/22 von Friedrich Wilhelm<br />

Murnau als deutsche Produktion umgesetzt.<br />

Der Regisseur verfilmte das Buch ohne Einwilligung<br />

von Florence Stoker, der Witwe des<br />

Autors. So lassen sich folgende Änderungen<br />

erklären:<br />

Murnau verlegte die Schauplätze von England<br />

nach Deutschland, von London nach Bremen.<br />

Die Umbenennung der Hauptfiguren ergeben<br />

folgende Abweichungen:<br />

Dracula wurde Graf Orlock alias Nosferatu, aus<br />

Mina wurde Ellen, aus Jonathan Harker Hutter<br />

und der Häusermakler und der Irre Renfield<br />

sind ein und dieselbe Person. Aus dem Vampirjäger<br />

Dr. van Helsing wird Professor Bulwer,<br />

der in Murnaus Verfilmung eine eher unbedeutende<br />

Rolle spielt. Die nicht autorisierte Adap-<br />

113<br />

tion von Stokers Roman erwirkte vor Gericht,<br />

bei dem die Stoker Witwe die Verletzung der<br />

Urheberrechte einklagte, die Vernichtung des<br />

Negativs und sämtlicher Kopien. Die Produzenten<br />

hatten das Negativ jedoch bereits verkauft,<br />

so dass der Film glücklicherweise der Nachwelt<br />

erhalten blieb und als erster großer künstlerischer<br />

Horrorfilm in die Geschichte einging.<br />

Nach den Notizen des Stadtschreibers von<br />

Wisbourg über die Pestepidemie 1838 erzählt<br />

der Film in fünf Akten retrospektiv folgende<br />

Geschichte:<br />

Thomas Hutter ist Angestellter des Maklers<br />

Knock in Wisbourg und lebt dort glücklich mit<br />

seiner Verlobten Ellen. Eines Tages bekommt<br />

er den Auftrag sich auf eine Dienstreise nach<br />

Transsylvanien zu begeben, um den dort in den<br />

Karpaten lebenden Grafen Orlock zu dem Kauf<br />

eines Hauses zu überreden. Ellen, seine Frau,<br />

hat böse Vorahnungen und ahnt die Gefahr in<br />

die Hutter sich begibt, kann ihn aber nicht von<br />

seinem Vorhaben abbringen.<br />

Erst in der Nacht erreicht Hutter das Schloss<br />

und seinen seltsamen Schlossherrn, der in einer<br />

unheimlichen Weise von der Fotografie Ellens<br />

begeistert scheint. Sofort darauf unterzeichnet<br />

Orlock den Kaufvertrag des Hauses, welches<br />

seinem in Wisbourg direkt gegenüber steht. Als<br />

er am nächsten Morgen im Schloss erwacht,<br />

entdeckt er kleine rote Male am Hals und ahnt<br />

bereits das Grauen, dessen Einzug in die Stadt<br />

er nun verholfen hat.<br />

Der Film belegt im expressionistischen Stummfilm<br />

der 20iger Jahre eine Ausnahmeposition.<br />

Im Gegensatz zu Regisseuren, wie Robert Wiene<br />

oder Fritz Lang ist an Originalschauplätzen<br />

gedreht worden.<br />

4. Stilmittel des expressionistischen Films<br />

vs. Stilmittel Nosferatu<br />

Die Diagonalen im Bildaufbau und Bewegungsablauf<br />

erschaffen eine 3. Dimension und<br />

erzeugen somit eine ganz eigene Dynamik und<br />

Unruhe. Murnau hat Teile des Filmmaterials<br />

viragieren (einfärben) lassen um düstere Stimmungen<br />

herzustellen und Tages- und Nachtszenen<br />

erkennbar und damit unterscheidbar zu<br />

machen. Zwischentitel werden dramaturgisch<br />

angewandt um Authentizität zu erzeugen. Der<br />

Dreh an realen Schauplätzen, wie Bremen,<br />

Lübeck und der Slowakei verleihen der Szenerie<br />

einen naturalistischen Look, der seinerseits so<br />

beklemmend und bedrohlich wirkt, weil es so<br />

echt aussieht. Die Visionen mit Ratten, Pestschiffen,<br />

Blutsaugern und dunklen Gewölben<br />

entziehen sich andererseits der naturalistischen<br />

Wiedergabe<br />

Eine Einstellung macht besonders deutlich wie<br />

sich die Welten überschneiden. Die Kutschfahrt,<br />

während der Hutter zu Murnaus Schloss<br />

gelangt, ist sinnbildlich für den Übergang von<br />

der realen in die phantastische Welt. Durch<br />

einen einmontierten Negativstreifen, der in<br />

Slow-Motion-Technik abläuft, ergeben sich<br />

surreale Bewegungsabläufe während der sich<br />

die Kutsche im Zick-Zack Kurs durch den Wald


Quellen<br />

Duden Redaktion: Kunstgeschichte<br />

II. Dudenverlag,<br />

Mannheim 2003<br />

Eisner H., Lotte: Die dämonische<br />

Leinwand. Fischer<br />

Taschenbuch Verlag,<br />

Frankfurt 1980<br />

Eisner H., Lotte: Murnau Der<br />

Klassiker des deutschen<br />

Films. Friedrich Verlag,<br />

Velber/ Hannover 1967<br />

Kabatek, Wolfgang: Imagerie<br />

des Anderen im Weimarer<br />

Kino. transcript Verlag,<br />

Bielfeld 2003<br />

Kurtz, Rudolf: Expressionismus<br />

und Film. Hans Rohr Verlag,<br />

Zürich 1965<br />

Prinzler, Hans Helmut: Murnau<br />

Ein Melancholiker des Films,<br />

Filmmuseum Berlin,<br />

Deutsche Kinemathek,<br />

Berlin 2003<br />

Prodolliet, Ernest: Nosferatu die<br />

Entwicklung des Vampirfilms<br />

von Friedrich Wilhelm<br />

Murnau bis Werner Herzog.<br />

<strong>Universität</strong>sverlag Freiburg,<br />

Schweiz 1980<br />

Ramge, Ralf: Das Dokument<br />

des Grauens: Eine Chronik<br />

des Horrorfilms, 2006<br />

Töteberg, Michael: Metzler Film<br />

Lexikon. Verlag J.B. Metzler,<br />

Stuttgart 2005<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/<br />

Expressionismus_<br />

%28Film%29<br />

Fußnoten<br />

1 Duden Redaktion: Kunstgeschich<br />

te II. Dudenverlag, Mannheim<br />

2003<br />

2 http://de.wikipedia.org/wiki/<br />

Expressionismus_<br />

%28Film%29<br />

3 Kurtz, Rudolf: Expressionismus<br />

und Film. Hans Rohr Verlag,<br />

Zürich 1965 S. 51<br />

4 ebd. S. 51<br />

5 Töteberg, Michael: Metzler<br />

Film Lexikon. Verlag J.B.<br />

Metzler, Stuttgart 2005 S.<br />

463<br />

6 Kurtz, Rudolf: Expressio<br />

nismus und Film. Hans Rohr<br />

Verlag, Zürich 1965 S. 60<br />

7 ebd. S. 62<br />

bewegt, eben wieder auf Diagonalen was eine<br />

unheimliche Unruhe in das Bild bringt.<br />

Murnau arbeitet mit der Verwendung von Zeitraffern.<br />

Besonders in der letzten Szene, als der<br />

Nosferatu von Ellen in ihr Haus gelockt wird,<br />

wo sie sich für das Überleben der Stadt opfert.<br />

Die wirkliche Tat wird nur als <strong>Schatten</strong> gezeigt,<br />

was unwirklich und anonym wirkt. Der Vampir<br />

steigt die Treppe zu Ellens Schlafzimmer hinauf,<br />

wobei der Zuschauer nur den <strong>Schatten</strong> an der<br />

Wand sieht, langsam streckt er die Hände mit<br />

den scharfen Klauen nach ihr aus. Der <strong>Schatten</strong><br />

von Orloks Hand wandert von ihren Knien<br />

aufwärts bis zu ihrem Herzen. Der <strong>Schatten</strong><br />

greift nach Ellens Herz, Ellens Körper bäumt<br />

sich unter Schmerzen auf.<br />

Die Imagination des Zuschauers ersetzt auch<br />

hier das tatsächlich Geschehene, das Murnau<br />

gar nicht wirklich zeigt. Er spielt mit den Ängsten<br />

des Zuschauers. Man muss den Vampir<br />

dazu nicht sehen.<br />

Murnaus Einrahmungen als Spiel aus Licht und<br />

<strong>Schatten</strong> erzeugen eine Gemäldewirkung.<br />

Auch benutzt er –völlig unüblich zu der Zeit-<br />

Zwischenschnitte als Verbindung von Raum<br />

und Zeit zur Steigerung der Dramatik.<br />

Einige Gemeinsamkeiten bestehen zwischen<br />

Das Cabinet des Dr. Caligari und Nosferatu.<br />

In beiden Filmen, wird die Irrenanstalt als Motiv<br />

für „entartete“ Kunst benutzt. In Nosferatu ist es<br />

der Häusermakler Knock, im Caligari wird der<br />

Raum zur Aufschlüsselung benutzt.<br />

Auch wird in beiden Meisterwerken Musik<br />

als dramaturgisches Instrument benutzt, die<br />

Wahnsinn assoziieren soll. Neben primitiven<br />

Farbtönungen, welche in einer Art Grundierung<br />

über verschiedene Strecken des schwarzweißen<br />

Filmmaterials gelegt für eine symbolische<br />

Vertiefung der jeweiligen Stimmung<br />

sorgen, beeindrucken optisch auch diverse<br />

Spezialeffekte wie bewusst eingesetzte, subtil<br />

angelegte Zeitrafferaufnahmen, transparente<br />

Überblendungen, groteske perspektivische<br />

Verfremdungen im Kulissenaufbau - und nicht<br />

zuletzt auch die in Anwesenheit von Nosferatu<br />

Orlok wie von Zauberhand geöffneten und<br />

geschlossenen Türen. Zahlreiche symbolisch<br />

angelegte, und äußerst bedrohlich wirkende<br />

<strong>Schatten</strong>spiele, die scherenschnittartig für<br />

zusätzlichen Grusel sorgen, sowie das stocksteife<br />

Mienenspiel und die morbiden, langsamen<br />

Bewegungen Orloks werden kongenial von<br />

der beeindruckenden Maske ergänzt, die dem<br />

Ungetüm eine Aura des schlaflosen Todes verleihen.<br />

Grandios ist auch das Tempo des Films,<br />

welches zum einen von marternden Verzögerungen,<br />

zum anderen aber auch von perfekten<br />

Schnitten bestimmt ist.<br />

114<br />

Béla Balázs meinte in seiner Filmkritik vom<br />

9.3.1923:<br />

„Nosferatu ist seit Caligari der erste Film, [...]<br />

wo wir nicht vor den gefährlichen Möglichkeiten<br />

der Technik, sondern vor den ungekannten<br />

Mysterien der Natur Angst bekommen.“<br />

Der faszinierende Stimmungsgehalt der Bilder<br />

erzeugt die unheimliche Spannung, derer sich<br />

kaum jemand entziehen kann.<br />

5. Der <strong>Schatten</strong> im Film - Bedeutungsgeschichte<br />

des <strong>Schatten</strong>s<br />

Im Allgemeinen verstehen die Menschen <strong>Schatten</strong>bilder<br />

als Sinnbild für das Böse, für drohende<br />

Gefahr und Mord.<br />

Der <strong>Schatten</strong> und die Schemenhaftigkeit des<br />

Menschen suggerieren Leblosigkeit, Unbewegtheit<br />

und Starre.<br />

„Die gespenstische Unwirklichkeit des<br />

Menschen begreift der Expressionist häufig<br />

sinnbildlich im <strong>Schatten</strong>.“<br />

Bei Nosferatu ist der <strong>Schatten</strong> und damit der<br />

Vampir das zweite Ich Hutters, die Nachtseite<br />

des im hellen Tageslicht braven Bürgers. Die<br />

visuelle Ebene zeigt uns den Vampir als Inkarnation<br />

der Pest und das personifizierte Böse.<br />

Symbolisch stehen auch die Ratten für die Pest.<br />

Sie kommen wie <strong>Schatten</strong> über die Stadt und<br />

infizieren die Bewohner Wisborgs. Der <strong>Schatten</strong><br />

als filmisches Element für die Umsetzung<br />

von technischen, poetischen und emotionalen<br />

Effekten wird bis in die Gegenwart in Thrillern<br />

und Horrorfilmen benutzt. Der expressionistische<br />

Film in Deutschland hat damit Standards<br />

geschaffen von dem heute noch Filmemacher<br />

profitieren und wie Tim Burton beispielsweise<br />

einzelne Stilelemente weiter verfremden und<br />

in Filmen, wie Sleepy Hollow und Nightmare<br />

before Christmas eingesetzt haben. Bei Murnau<br />

steht der <strong>Schatten</strong> für den Einbruch des Dämonischen<br />

in die bürgerliche Idylle. Gleichwohl ist<br />

der <strong>Schatten</strong> auch immer Übergang von der<br />

realen in die phantastische Welt.<br />

Auf der Bedeutungsebene steht der <strong>Schatten</strong><br />

als Sinnbild für die kollektiven Ängste während<br />

der verworrenen Zeit in der Weimarer Republik<br />

und wenn man bedenkt in welcher Zeit er<br />

gedreht wurde –Anfang der 20er Jahre- auch<br />

für die Bewältigung der Schrecken des Ersten<br />

Weltkrieges. Nachträglich wurden Murnau<br />

voraussehende Fähigkeiten im Hinblick auf das<br />

aufstrebende Nazireich zugeschrieben, so dass<br />

die über die Stadt kommende Pest auch für die<br />

braune Pest = Nazireich stehen könnte.


Christina Nur<br />

Inhalt<br />

1. Expressionismus und Film<br />

2. Der expressionistische<br />

Film „ Das Cabinet des Dr.<br />

Caligari“<br />

3. Verschiedene Darstellungen<br />

von <strong>Schatten</strong> im Film<br />

„Caligari“ und deren<br />

Bedeutungen<br />

Filmschatten:<br />

„ Das Cabinet des<br />

Dr. Caligari“ ( 1919 )<br />

Abb.1 Wie ein <strong>Schatten</strong> an der Wand, Standbild aus „Das Cabinet des Dr. Caligari“<br />

1. Expressionismus und Film<br />

„Expressionismus und Film forderten sich<br />

gegenseitig heraus. Der Film verlangte als letzte<br />

Konsequenz die Übersteigerung und Rhytmisierung<br />

der Gebärde, der Expressionismus die<br />

Darstellungs- und Variationsmöglichkeiten der<br />

Leinwand“ ( Ihering, 1920. In: Belach/ Bock<br />

1995: 145 ).<br />

Nach der Frage, was der Expressionismus im<br />

Film zu tun habe antwortete der Caligari- Regisseur<br />

Robert Wiene „ Kunst ist überall, wo<br />

Künstler schaffen, und weil der Film wertvolle<br />

künstlerische Kräfte in seinen Dienst gestellt<br />

hat, ist er Kunst- und mußte in seiner Entwicklung<br />

notwendigerweise zum Expressionismus<br />

gelangen“ ( Zitiert nach Wiene: Expressionismus<br />

im Film, 1922. In: Belach/ Bock 1995: 150 ).<br />

Bevor der Expressionismus auf der großen<br />

Leinwand zum Leben erwachte, hatte er sich<br />

bereits seinen Weg durch die bildende Kunst,<br />

Theater und Literatur gebahnt.<br />

„ Naturalismus und Impressionismus hatten ein<br />

115<br />

Menschalter für sich gehabt, als es 1909/10<br />

plötzlich allenthalben zu einer unaufhaltsamen<br />

Gegenbewegung kam, die sich auch gegen die<br />

Reste des Historiszismus, kurz gegen alle Wirklichkeitskunst<br />

wendete. Diese Gegenbewegung<br />

heißt Expressionismus. Man faßt heute vielerlei<br />

unter diesem Namen zusammmen: gemeinsam<br />

ist allen Richtungen des Expressionismus: das<br />

Negative, der Gegensatz zur Wirklichkeitskunst.<br />

Für den expressionistischen Künstler bedeutet<br />

das Äußere zugleich das Äußerliche. Er aber<br />

will das Innerliche widergeben, den stärksten<br />

( malerischen oder dichterischen) Ausdruck<br />

finden, für das, was er erlebt hat“ ( Zitiert nach<br />

Wiene: Expressionismus im Film, 1922. In: Belach/<br />

Bock 1995: 150 ).<br />

Häufige Themen im Expressionismus waren<br />

– Großstadtleben, Wahnsinn, Leiden, Tod und<br />

Abstraktion. Im Expressionismus als künstlerisches<br />

Aufbegehren gegen die Wirklichkeit galt<br />

es auf eine getreue Abbildung der Wirklichkeit<br />

zu verzichten und die subjektiven Innenwelten<br />

und Empfindungen zum Ausdruck zu bringen.<br />

„ Indem die expressionistische Inszenierung des


Abb. 2 und 3 Expressionismus<br />

im Film, Standbilder „Caligari“<br />

Films seelische Ereignisse nach außen projizierte,<br />

symbolisierte sie... jenen allgemeinen<br />

Rückzug in die Innenwelt, der in Deutschland<br />

nach dem Kriege erfolgte“ ( Kasten 1990: 30 ).<br />

Expressionistische Filme können also als Reaktion<br />

auf die gesellschaftliche Krise des Anfangs<br />

des 19.Jahrhunderts interpretiert werden ( Kasten<br />

1990: 30 ). Die Weimarer Republik mit ihrer<br />

patriarchalisch-autoritären Struktur und dem<br />

vorherrschenden Patriotismus und Mi<strong>lit</strong>arismus<br />

sowie die Grauen des ersten Weltkrieges lagen<br />

hinter den Menschen. Die Kunst war dabei eine<br />

Aufschrei gegen die etablierte Gesellschaft,<br />

gegen herrschende Konventionen und den<br />

Wahnsinn des Krieges.<br />

„ Für das Filmdrama entstand ... die Frage, ob<br />

es entschlossen auf Wirklichkeitsdarstellung<br />

verzichten und im Reiche des Unwirklichen- der<br />

Geistigkeit, des Gefühlsausdrucks, neue Aufgaben<br />

finden könnte“ ( Zitiert nach Wiene, 1922.<br />

In: Belach/ Bock 1995: 151 ). Ein Kritiker fragte<br />

„ nach der Premiere des Stummfilms „ Das<br />

Cabinet des Dr. Caligari“, wie man wohl „ die<br />

konturverschwommene Stimmung des Unwirklichen,<br />

seelisch verzerrten auf der Leinwand<br />

ausdrücken“ könne. Die Antwort gab er selbst:<br />

„ nur mit malerischen Mitteln.““ ( Zitiert nach<br />

Hamburger Abendblatt, 2007 ). „ Der künstlerische<br />

Film, das wird der unnaturalistische sein!“ (<br />

Zitiert nach: Kasten 1990: 185 ) Als „ Phantastische<br />

Kulissen in Bewegung“ ( Kasten 1990: 27<br />

) wird das Filmkunstwerk angesehen. Dies geschieht<br />

im Übertragen der abstrakten Malerei<br />

auf den Film, in der Weise, dass ein Bild gezeigt<br />

wird, dessen Formen in ständiger Bewegung<br />

sind ( vgl.ebd. und Abb. 1 u. 2).<br />

„Der Film ist die einzige rechtmäßige Heimat<br />

116<br />

des Expressionismus“ 1924 Bela Balazs (ebd ).<br />

Denn „ das Lichtspiel ist Gefühlskunst, keine<br />

Gedankenkunst. Wer ins Lichtspiel geht, will<br />

nicht denken, sondern fühlend erleben“ ( Zitiert<br />

nach: Kasten 1990: 180 ). Und „ im Film ist die<br />

stärkste Körperlichkeit vergeistigt, und der Geist<br />

erhält den durchsichtigen, schattenhaften Körper,<br />

durch den er bildlich wird“ ( Wiene 1922:<br />

Belach/ Bock 1995: 151 )<br />

Dem Medium Film war es vorbehalten das<br />

populärste Bild des Expressionismus zu verbreiten.<br />

In der Malerei war der expressionistische<br />

Höhepunkt längst überschritten, als Robert<br />

Wiene 1919 den Stummfilm „ Das Cabinet des<br />

Dr. Caligari“ drehte. Die Kunst etablierte sich im<br />

Film und Film wurde als Kunst angesehen. „ Die<br />

Frage, ob Kunst im Film möglich ist“ ( Kasten<br />

1990: 50 ) wurde durch den Film Caligari<br />

„endgültig entschieden“ ( ebd. ).Der Bereich<br />

der Modernen Kunst war zum Zeitpunkt des Erscheinens<br />

des Caligari-Films eine Sache für die<br />

intellektuelle Avantgarde, während diese auf<br />

die Filmindustrie eher verächtlich denn begeistert<br />

herabschauten ( vgl. Remge 2006 : 96 ).<br />

Der expressionistische Film brachte die abstrakte<br />

Kunst einem breiten Publikum nahe und<br />

erzielte damit internationale Erfolge.Außerdem<br />

gewährleistete „ Kunst ...Export“ ( Kracauer<br />

1979: 72 ), den die deutsche Filmindustrie nach<br />

dem 1. Weltkrieg dringend wieder brauchte.<br />

Im Medium Film verbinden sich die unterschiedlichsten<br />

Elemente aus Literatur, Kunst,<br />

Theater und Musik. Carl Hauptmann, Verfasser<br />

expressionistischer Lyrik und Prosa, erkannte<br />

als wesentliches ästhetisches Element des Films<br />

die theatrale Gebärde im Stummfilm. „ Die<br />

Gebärde das ist das Urbereich aller seelischen<br />

Mitteilung“( Zitiert nach Kasten 1990: 27 )<br />

Die ansonsten als filmtechnischer Mangel<br />

betrachtete stumme Darstellungsmöglichkeit<br />

kann damit als wichtiges expressionistisches<br />

Seelenartikulationsmittel gesehen werden (<br />

ebd.).<br />

2. Der expressionistische Film „ Das Cabinet<br />

des Dr. Caligari“<br />

„Das Cabinet des Dr. Caligari löste einen<br />

wahren Boom an expressionistischen Filmen<br />

aus und sein Einfluß auf die Filmindustrie ist<br />

unerreicht“ ( Remge 2006: 96 ). Unter dem Begriff<br />

„ Caligarisme“ ( Kracauer 1979: 78 ) war all<br />

das gemeint, was im Film als expressionistisch<br />

gelten konnte. Stilmittel des expressionistischen<br />

Films „ Das Cabinet des Dr. Caligari“sind:<br />

- antinaturalistische Ästhetik, expressive Bildhaftigkeit<br />

- Studioaufnahmen ( gebautes und gezeichnetes<br />

Dekor )<br />

- gemalte Licht- und <strong>Schatten</strong>effekte ( starke<br />

Hell-Dunkel-Kontraste)<br />

- Licht als graphisches Element „ Das Filmbild<br />

muss Graphik werden“<br />

- bizarres und irreales Dekor / verschobene<br />

Perspektiven ( spitzwinklig)


- zerbrochene Typografie und Ornamentik der<br />

Zwischentitel<br />

- theatralische Ausdrucksweise in Mimik und<br />

Gestik<br />

- Viragieren ( farbliche Tönung) des Filmmaterials,<br />

um Stimmung zu unterstreichen<br />

- Musik als dramaturgisches Instrument- assozziert<br />

Wahnsinn<br />

- Statische Kamera, lange Einstellungen, Einrahmung<br />

des Filmbildes durch Masken, Auf /<br />

Abblenden der Szenen<br />

Für den „ Expressionismus emblatisch verbindet<br />

der Film „ Das Cabinet des Dr. Caligari“ die perspektivische<br />

Verzerrung und Ablehnung rechter<br />

Winkel mit Geisteskrankheit und Verbrechen“ (<br />

Dokumentation „ Aufschrei des Ichs“ auf Arte ).<br />

Dieser Film „ ist der modernste, aktuellste,<br />

gewagteste Film, den die Welt je gesehen hat.<br />

Man wird zugeben müssen, daß der Regisseur<br />

Robert Wiene die Trennung zwischen Leben<br />

und Kunst vollzogen hat. Was dieser Film<br />

darstellt, ist restlos stilisiertes Erleben, ist ein Versuch,<br />

vom Film zur Wirklichkeit Stellung zu nehmen,<br />

wie es bisher nur die reine Kunst versucht<br />

hat“( Zitiert nach: Belach / Bock 1995: 140 ).<br />

Das Thema des Films „ ist für den Aufbau einer<br />

expressionistischen Umwelt sehr geeignet. Die<br />

Dekorationen erwachsen aus der Handlung<br />

und Stimmung des Augenblicks: Schiefwinklige<br />

Aufbauten, absichtlich verzeichnete Perspektiven,<br />

matte und harte Konturen, auf den<br />

Szenenmittelpunkt konzentrierte Lichtquellen<br />

wirken gespenstische, grausig, friedlich, lieblich,<br />

nüchtern, aufregend, wie es die Situation jeweils<br />

erfordert“( Belach / Bock 1995:142 ).<br />

Der Film machte mit einer großen Werbekampagne<br />

auf sich aufmerksam, die in die<br />

Filmgeschichte einging. In der Filmzeitschrift<br />

„ Der Film-Kurier“ wurde eine Woche vor der<br />

Premiere täglich der Slogan „ DU MUSST CALI-<br />

GARI WERDEN“ annonciert ( vgl. Kasten 1990:<br />

39 ). Auch im Stadtbild Berlins kam die Bevölkerung<br />

nicht an dieser mystischen Aussage<br />

vorbei, denn die Werbung für den Film prangte<br />

von vielen Litfaßsäulen und Anzeigetafeln der<br />

U-Bahnstationen. Die Gestaltung des Plakates<br />

war im expressionistischen Stil gehalten. Mit „<br />

zerbrochenen, unruhig-spiralförmigen Schriftzügen“<br />

( Kasten 1990: 39 ) lenkte der Slogan<br />

die Aufmerksamkeit auf sich, zumal aus dem<br />

Plakat nicht zu schließen war, wofür geworben<br />

wurde. Erst bei der Premiere wurde aufgelöst,<br />

dass es sich um einen expressionistischen Film<br />

handelte.<br />

„Das Cabinet des Dr. Caligari“ - Inhalt<br />

Der Film erzählt die Geschichte des Schaustellers<br />

Caligari, der mit Hilfe seines schlaf-wandlerischen<br />

Mediums Cesare grausame Morde<br />

begeht. Der Somnambule Cesare wird auf dem<br />

Jahrmarkt als zukunftsvoraussagendes Schauobjekt<br />

ausgestellt. Die Freunde Francis und<br />

Alan wollen den geheimnisvollen Mörder, der<br />

117<br />

in der Stadt Holstenwall sein Unwesen treibt,<br />

ausfindig machen. Alan wird unter mysteriösen<br />

Umständen ermordet. Erst am Ende des Films<br />

erfährt der Zuschauer, dass die Geschichte das<br />

Hirngespinst eines Irrenhausinsassen ( Francis)<br />

darstellt, dessen Direktor wiederum Caligari ist.<br />

Dieser ist in Francis Vorstellungen besessen von<br />

den hypnostischen Experimenten eines alten<br />

Mystikers namens Caligari, der einen Somnambulen<br />

zu Morden anstiftete.Die ineinander<br />

verschachtelten Geschichten, die über<br />

Rückblenden erzählt werden und die Rahmenhandlung<br />

verwirren den Zuchauer zusätzlich.<br />

Abb.4 Theatralik, Standbild aus „Caligari“<br />

Der zeitgenössischer Filmtheoretiker Bela Balasz<br />

schrieb über den Film „ Caligari“:<br />

„ Expression bedeutet Ausdruck. Jedes Gefühl,<br />

das sich auf einem Gesicht spiegelt, ist so<br />

und deshalb so zu sehen, weil es die normalen<br />

Züge des Gesichtes verändert, sie anders ausdrückt,<br />

aus ihrer Ruhestellung erhebt. Je stärker<br />

das Gefühl, umso mehr wird sich<br />

das Gesicht verzerren.“ Der unheimliche Gesichtsausdruck<br />

des Dr. Caligari und sein<br />

„ zwielichtiges Äußeres“ ( Kasten 1990: 46 )<br />

wurden durch eine angeschminkte Nase<br />

sowie Bartstoppeln und einen verschlagen<br />

über den Brillenrand lugenden Blick, verstärkt.<br />

Durch das Deformieren der Gesichtsform wurde<br />

eine neue Ausdrucksmöglichkeit erstrebt,<br />

in welcher der akademisch festgelegten Kunstform<br />

der realistischen Abbildung eine innere<br />

und gefühlsbetonte Form des Ausdrucks entgegengesetzt<br />

wurde.<br />

Die Figur des Caligari wird folgendermaßen<br />

beschrieben: „ Jeder Naturalismus der Bewegung<br />

ist streng vermieden: alles Wirkliche ist<br />

aus dieser Figur herausgepumpt zum Besten<br />

einer höheren Wirklichkeit, die bedeutsamer<br />

und wesentlicher als unsere gelebte Welt ist.<br />

Auf absolut gleicher Höhe steht Veidt, der einer<br />

Vision Fleisch und Blut gibt, wie man sie im Film<br />

niemals gesehen hat. Grauen und Schwermut<br />

verschwistern sich in ihm, ein Blick dieser toten,<br />

leeren und doch strahlenden Augen dringt bis<br />

ins Herz“ ( Zitiert nach: Lichtbild-Bühne, Nr.9,<br />

28.2.1920; In: Belach / Bock 1995: 141) Vgl<br />

Abb. 5 und 6


Abb.5 und 6 Dunkle Gestalten, Standbilder aus „Caligari“<br />

2.1. Expressionistische Dekoration<br />

„ Alle expressionistischen Produktionen sind im<br />

Studio in gebauten Dekorationen mit zumeist<br />

aufgemalten Konturen, Formausgestaltungen<br />

und Details realisiert, der Materialcharakter<br />

aus Pappe und Leinwand ist häufig nicht nur<br />

unübersehbar, sondern regelrecht ausgestellt“<br />

( Kasten 1990: 140 ). Deshalb wurden expressionistische<br />

Filmdekors auch häufig als Theaterdekorationen<br />

empfunden. „ Kein Zuschauer<br />

erwartete in bizarr verzerrten Architekturen<br />

alltägliche Geschehnisse, sondern die gespannte<br />

Aufmerksamkeit für seltsame Ereignisse war<br />

bereits in die Dekors signalhaft geschärft“ (Kasten<br />

1990: 140 ). Das bizarre Dekor im Film „ Das<br />

Cabinet des Dr. Caligari“ erschafft eine dunkle<br />

und schaurige Atmosphäre. Eine unwirkliche<br />

118<br />

Geschichte braucht auch einen unrealistischen<br />

Raum, in der sie spielt. Merkwürdige Mordgeschichten,<br />

tragische Schicksale und der Wahnsinn<br />

ließen sich in einer expressionitischen antinatura<strong>lit</strong>ischen<br />

Ästhetik am wirkungsvollsten<br />

ausdrücken. Der Filmarchitekt des Caligari-Films<br />

Hermann Warm formulierte dazu „ der Expressionismus<br />

als Stil dient am besten der Welt und<br />

den Figuren dieses Filmes, ihren Halluzinationen,<br />

sowie den absonderlichen Geschehnissen.<br />

So erhält alles eine gespenstische-albtraumhafte<br />

Wirkung“ ( Kasten 1990: 45 ).<br />

Das Städtchen Holstenwall, wo die Geschichte<br />

des Films „ Das Cabinet des Dr. Caligari“ spielt<br />

„ glich... jenen Städte-Visionen, die der Maler<br />

Lyonel Feininger durch seine kantigen, kristallinischen<br />

Kompositionen heraufbeschworen<br />

hatte“ ( Kracauer 1979:75).<br />

Die zeitgenössische avantgardistische Malerei<br />

und Graphik ( vgl. Kasten 1990: 140 ) wurde<br />

auf den Film übertragen. Dabei waren „ die<br />

Fassaden und Räume des Architekten ... nicht<br />

nur Hintergründe, sondern Hieroglyphen. Sie<br />

drückten die Struktur der Seele in Raumverhältnissen<br />

aus“ ( Kracauer 1979: 82 ). ( Abb. 7 und<br />

8)<br />

Der expressionistische Künstler Schmidt-Roltuff<br />

definierte seine Kunstrichtung so: „ Wer Expressionismus<br />

sagt, meint Dramatik der Bildstruktur“<br />

( Kasten 1990: 182 ). Expressionistische Stilmittel<br />

sind: schräge, schiefe Hauswände / Dächer;<br />

Abb.7 und 8 Antinaturalistische Ästhetik erschafft<br />

eine unwirkliche Welt, Standbilder aus<br />

„Caligari“


Abb.9 (li), 10 (re) Eine artifiziell gesteigerte Bilddramatik und eine aus den Fugen<br />

geratene Welt: Standbild aus „ Caligari“, Ludwig Meidner, 1913 „ Das Eckhaus“<br />

perpektivische Verzerrungen; keine rechten<br />

Winkel, nur spitze; formale Brüche; keine getreue<br />

Abbildung der Wirklichkeit, sondern subjektiver<br />

Ausdruck; Deformierung, wodurch gesteigerte<br />

Ausdruckskraft verdeutlicht wird (Abb.<br />

9, 10). Auch in der Typografie der Zwischentitel<br />

spiegelt sich der expressionistische Stil des<br />

Films wider.( Abb.11 und 12 ) Die Schrift wirkt<br />

zerbrochen, zittrig und mit seelischem Aufruhr<br />

geschrieben. „ Und das Wort erscheint auch,<br />

Stileinheit wahrend, im Titel in spitzer, hingespritzter,<br />

fast körper-lich schreiender Linienführung“<br />

( Belach / Bock 1995: 143 ).<br />

Abb.11 und 12, Zwischentitel in expressionistischer Ausdrucksweise aus „Caligari“<br />

119<br />

Abb.10<br />

2.2 Licht und <strong>Schatten</strong> im expressionistischen<br />

Film „ Das Cabinet des Dr. Caligari“<br />

„ Dieser Film will die expressionistische Malerei<br />

im Kinoatelier lebensfähig machen“<br />

(Belach / Bock 1995: 140)<br />

„ Zu einem wesentlichen ästhetischen Mittel<br />

expressionistischer Filme entwickelte sich die<br />

Lichtgestaltung. Da alle diese Produktionen in<br />

Studios realisiert wurden, bestand zum einen<br />

die produktionstechnische Notwendigkeit,<br />

künstliche Lichtquellen zu benutzen, zum<br />

anderen aber auch die Dispotion, Licht als<br />

stilisierendes Mittel einzusetzen, um artifizielle<br />

Dekor-wirkungen zu unterstützen. Die Mitarbeit<br />

der Architekten an der Lichtgestaltung ist denn<br />

auch unübersehbar, was Lotte H.Eisner Anlaß<br />

zu der generalisiernden Vermutung gab, daß<br />

deren „ Skizzen bereits alle Licht- und <strong>Schatten</strong>effekte<br />

aufweisen“ „ ( Kasten 1990: 150 )<br />

In dem Film „ Das Cabinet des Dr. Caligari“ sind<br />

Licht- und <strong>Schatten</strong>effekte aufgemalt.<br />

„ Die enge Verbindung von Licht-und Dekor


Abb.13 und 14, Aufgemalte<br />

Licht und <strong>Schatten</strong>effekte<br />

schaffen Tiefenperspektive und<br />

Räumlichkeit, Standbilder aus<br />

„Caligari“<br />

gestaltung ist bei den aufgemalten Licht- und<br />

<strong>Schatten</strong>effekten des CALIGARI unübersehbar.<br />

Geboren wurde diese Idee aus produktionstechnischen<br />

Notlagen und Zwängen, da das<br />

Stromkontingent der Produktion sich dem Ende<br />

neigte, und das Studio nur über wenige Hochleistungsscheinwerfer<br />

verfügte“ ( Kasten 1990:<br />

150 ). Das Lixie-Atelier in Berlin gewann als Glasatelier<br />

noch einen großen Teil des Lichtbedarfs<br />

– durch Vorhänge und Blenden reguliert- aus<br />

Naturlicht. „ Kontrastreiche, scharf gegeneinandergesetzte<br />

und eng umrissene Lichteffekte<br />

ließen sich mit der Beleuchtungstechnik des<br />

Lixie-Ateliers nur unzureichend erzielen, da mit<br />

Naturlicht sowie schwach und diffus aufhellenden<br />

Jupiterlampen gearbeitet werden mußte.<br />

Die malerische Ausgestaltung übernahm es<br />

deshalb, scharf abgegrenzte Helldunkel-Effekte<br />

zu vermitteln, etwa wenn Lichtsterne auf dem<br />

120<br />

Boden dunkel umrahmt sind, oder im dunklen<br />

Hintergrund von Straßen oder Räumen ein<br />

helles Fenster leuchtet. Obwohl nicht in jeder<br />

Szene realisiert und durch unzureichende Produktionstechnik<br />

erschwert, ist doch die Idee für<br />

scharfe Helldunkel-Kontraste der Beleuchtung<br />

in CALIGARI entworfen, so daß tendenziell<br />

‚this clash and this pitiless struggle between<br />

light and darkness... key principle of Expressionist<br />

lightning technique‘“wurde (Kasten 1990:<br />

150) „Die Rolle der Lichtfarbe als kondensierendes<br />

ästhetisches Mittel übernahmen im Film<br />

<strong>Schatten</strong>, die zuweilen , z.B. in CALIGARI ...<br />

sogar aufgemalt waren“ ( Kasten 1990: 153 )<br />

Licht wurde als architektonisches Mittel benutzt<br />

und brachte demnach eine Tiefenperspektive<br />

in das zweidimensionale Filmbild (vgl. Kasten<br />

1990: 151). (siehe Abb.13 und 14). „In der<br />

betonten Erzeugung dunkler Kontrastflächen<br />

verstärkten die Beleuchter und Architekten<br />

expressionistischer Filme besonders <strong>Schatten</strong>.<br />

Licht erschien in schattenreichen Bildkompositionen<br />

wie „ a frenzied cry of anguish devourced<br />

by the greedy maws of the <strong>shadows</strong>“ (Kasten<br />

1990: 151) „Der wesentliche Stimmungsgehalt<br />

dieser stürzenden Flächen und aufreizenden<br />

Linien fließt aus dem Licht her, das kunstvoll<br />

Hell und Dunkel scheidet, das, aufgemalt,<br />

die Flächen bewegt und ihre Neigung unterstreicht.<br />

Einer der Architekten des Films,<br />

Hermann Warm, hat erklärt „ Das Filmbild muß<br />

ein lebendige Graphik werden“. Diese Tendenz<br />

gibt der Architektur ihre innere Lebendigkeit“<br />

( Kasten 1990: 23 ). „ Das Licht hat den expressionistischen<br />

Filmen die Seele eingehaucht“<br />

(ebd.) Dabei ist „ die Seele ... in jenen Filmen die<br />

eigentliche Quelle des Lichts“ ( Kracauer 1979:<br />

82 ).<br />

3. Die Bedeutung des <strong>Schatten</strong> im Expressionismus<br />

und im Film „ Das Cabinet des<br />

Dr.Caligari“<br />

„Die gespenstische Un-Wirklichkeit des Menschen<br />

begreift der Expressionist häufig sinnbildlich<br />

im <strong>Schatten</strong>“ ( Rothe 1977: 439 ). Die symbolischen<br />

Bedeutungen von <strong>Schatten</strong> in der<br />

expressionistischen Literatur dienen meistens<br />

zur Beschreibung von Scheinwesen, Gespenstern<br />

oder Lebendig-Toten. Diese führen ein<br />

<strong>Schatten</strong>- und Nachtdasein, entstammen einem<br />

dunklen Reich und verbreiten als schehmenhafte<br />

Phantome Angst und Schrecken. <strong>Schatten</strong>bilder<br />

werden demnach als Sinnbild für das Böse,<br />

die drohende Gefahr, Leid und Tod gesehen.<br />

„ Als <strong>Schatten</strong> , Schemen und Scheinwesen ist<br />

der Mensch von jeder Wirklichkeit entleert, der<br />

leere und nichtige Mensch“ (ebd). Eine „ Welt<br />

der ,<strong>Schatten</strong>‘ und des puren ,Scheins‘, welche<br />

einen „ gespenstigen, bodenlosen, schwankenden<br />

Charakter“ ( Rothe 1977: 34 ) annimmt und<br />

unwirklich wirkt, wird im Expressionismus hervorgehoben.<br />

„Die Verfassung eines ,lebend tot‘<br />

manifestiert sich für die Expressionisten jeodch<br />

nicht allein in ,Gespenst‘ und ,<strong>Schatten</strong>‘, den<br />

Sinnbildern entleerter menschlicher Existenz.


Abb.15, Unwirkliche <strong>Schatten</strong>, Standbild aus „Caligari“<br />

Abb.16, Foto aus dem Hamburger<br />

Abendblatt, Rubrik „ Kultur<br />

und Medien“ vom 18.5.2007<br />

Vielmehr verrät sie sich mindestens ebensosehr<br />

in einer Starre, deren bevorzugte Allegorien die<br />

Maschine, der Automat und die Puppe sind“<br />

(Rothe 1977: 443).<br />

3.1 Verschiedene Darstellungen von<br />

<strong>Schatten</strong> im Film „Caligari“ und deren<br />

Bedeutungen<br />

Anhand mehrerer Filmbeispiele aus dem Film „<br />

Das Cabinet des Dr. Caligari“ werden die unterschiedlichen<br />

visuellen wie auch symbolischen<br />

Darstellungen und Bedeutungen von <strong>Schatten</strong><br />

in diesem expressionistischen Film untersucht.<br />

Filmbeispiele<br />

„Nur vereinzelt erscheinen wirkliche <strong>Schatten</strong> in<br />

der Bildkomposition. Doch wenn sie eingesetzt<br />

werden, haben sie herausragende filmbildnerische<br />

Qua<strong>lit</strong>äten und dramaturgische Bedeutung“<br />

(Kasten 1990: 46).<br />

121<br />

Mehrere unwirkliche <strong>Schatten</strong><br />

Als ein Beispiel aus dem Film „ Das Cabinet des<br />

Dr. Caligari“ ist die Szene zu nennen, in welcher<br />

Caligari als Jahrmarktaussteller seinen Somnambulen<br />

Cesare der neugierigen Menschenmenge<br />

über Ausrufe angepriesen hat und nun bereit<br />

ist sein Schauobjekt live zu präsentieren. Die<br />

Stimmung ist in dieser Szene aufgeladen durch<br />

die erwartungsvolle Anspannung des Publikums<br />

im Zeltkabinett und dessen Erwartungen,<br />

wie der Somnambule aussehen wird und ob<br />

die Versprechungen des Caligari, der Somnambule<br />

könne die Zukunft voraussagen, eintreffen<br />

werden. Caligari zögert den Moment des Öffnens<br />

des Sarges, in welchem sich Cesare befindet,<br />

hinaus und gestikuliert mit weit ausladenden<br />

und expressiven Gesten. Dabei wird er von<br />

mehreren Lichtquellen von unten gleichzeitig<br />

angestrahlt, wobei er drei unwirkliche <strong>Schatten</strong><br />

an unterschiedliche Stellen der Zeltbühne wirft.<br />

Auf dieser visuellen Ebene wird das Einsetzen<br />

von <strong>Schatten</strong> im Film dazu verwendet eine mystische<br />

und unheimliche Stimmung zu unterstreichen.<br />

Die Tatsache, dass Caligari drei <strong>Schatten</strong><br />

gleichzeitig wirft, jedoch für den Rezipienten<br />

des Films nur eine Lichtquelle erschließbar ist,<br />

unterstützt die Wirkung des unwirklichen und<br />

mystischen Moments.(Abb.15) „Mystik und Groteske<br />

sind Wirkungserscheinungen expressionistischen<br />

Ausdruckswillens...“ ( Belach / Bock<br />

1995: 139 ). Denn „die Groteske erwies sich als<br />

ein besonders geeignetes und beliebtes Mittel<br />

für die Darstellung des Un-Wirklichen, Gespenstigen<br />

des Menschen“ ( Rothe 1977: 436 ).<br />

„Nur Caligari und Cesare werfen bedrohliche<br />

<strong>Schatten</strong>, während sie bei den übrigen Personen<br />

meist undeutlich oder ganz vermieden<br />

sind“ (Kasten 1990: 46). Diese ästhetische und<br />

gezielte Darstellung von <strong>Schatten</strong> bei den<br />

beiden von dunklen Mächten beherrschten<br />

Charakteren unterstreicht deren böse Absichten<br />

(Abb. 16).<br />

Das Erwachen des <strong>Schatten</strong>wesens<br />

Cesare<br />

Der erste Auftritt des Somnambulen Cesare im<br />

Film wird dramaturgisch hinausgezögert und<br />

bei Cesares Erwachen bleibt die Kamera allein „<br />

27 Sekunden auf seinem Gesichtsausdruck“<br />

(Kasten 1990 : 49). In zeitgenössischen Kritiken<br />

wurde hervorgehoben, dass in dieser Szene<br />

laute erschreckte Ausrufe aus dem Publikum zu<br />

hören waren und sogar Frauen in Ohnmacht<br />

fielen (vgl. Dokumentation „ Aufschrei des Ichs“<br />

auf Arte). Die die Dramatik der Szene steigernde<br />

Musik unterstützt die kaum auszuhaltende<br />

Atmosphäre des hier vorgeführten Wahnsinns.<br />

Das langsame Erwachen des <strong>Schatten</strong>wesens<br />

aus seiner „ dunklen Nacht“ (Auszug aus Zwischentitel<br />

im Film) und die weit aufgerissenen,<br />

starr ins Leere blickenden Augen, heben das<br />

gespenstisch-unheimliche der Figur Cesares<br />

hervor. Die theatralische Darstellung der Mimik<br />

und das stark kontrastreiche geschminkte Gesicht<br />

Cesares sind Stilmittel für die expressio


Abb. 17 und 18, Cesare, das<br />

<strong>Schatten</strong>wesen erwacht aus<br />

seiner dunklen Nacht, Standbilder<br />

aus „Caligari“<br />

nistischen Filme der Zeit des Caligari-Films. Das<br />

schwarz-weiß geschminkte Gesicht der Figur<br />

Cesare unterstreicht dessen Abhängigkeit von<br />

Caligari. Cesares Blick scheint nicht real zu sein,<br />

er schaut einen nicht direkt an, sondern durch<br />

einen hindurch. ( Abb.18 ) Ein aus dem Reich<br />

der <strong>Schatten</strong> auferstandendes Wesen, welches<br />

eher lebendig-tot als lebend durch die Gegend<br />

geistert. In einer Art Tranczustand ist er nur ein<br />

<strong>Schatten</strong> seiner selbst. Wie Caligari auf dem<br />

Jahrmarkt angekündigt hat, schläft Cesare die<br />

meiste Zeit seines Lebens und erwacht nur auf<br />

Befehl seines Meisters. Damit ist er manipulierbar<br />

und nur das marionettenhafte Instrument<br />

seines Gebieters Caligari. Das <strong>Schatten</strong>wesen<br />

verkörpert das Mystische und Übersinnliche<br />

nicht nur dadurch, dass es ununterbrochen<br />

schläft, sondern auch dadurch, dass es die<br />

Zukunft prophezeihen kann.<br />

Der Begriff Somnambulismus lässt sich aus<br />

dem Lateinischen „somnus“ – der Schlaf und<br />

„ambulare“- wandern, ableiten. „ Das Schlafwandeln<br />

oder Nachtwandeln ist ein Zustand,<br />

in dem der Schlafende aufsteht, umhergeht<br />

und Tätigkeiten verrichtet. Nach dem Aufwachen<br />

kann er sich oft an nichts mehr erinnern“<br />

( vgl.Wikipedia ) Während des Schlafwandelns<br />

befindet sich der Wandelnde in einem anderen<br />

Bewußtsein und verrichtet Dinge, die er im<br />

wachen Zustand niemals tun würde. „ In der<br />

Hypnose bezeichnet man Somnambulismus<br />

als den Zustand der durch Hypnose hervorgebrachten<br />

tiefsten Form der Trance. Es sind sogar<br />

absolute Einzelfälle bekannt, wo während<br />

des Schlafwandelns Straftaten- sogar Morde-<br />

verübt wurden“ (ebd). So ist der Somnambule<br />

Cesare im Film „ Das Cabinet des Dr. Caligari“<br />

nur das ausführende Objekt und die Marionette<br />

von Caligari, der ihn für seine mörderischen<br />

Absichten missbraucht. Cesare wird wie eine<br />

Maschine oder Puppe von „Gewalten und<br />

Mächten außerhalb ihrer selbst angetrieben<br />

bzw. gesteuert“ (Rothe 1977: 443).<br />

Mord als <strong>Schatten</strong>spiel<br />

Ein weiteres Beispiel für die bewußt eingesetzte<br />

Darstellung von <strong>Schatten</strong> und der daraus entstehenden<br />

Dramatik für den Film „ Das Cabinet<br />

des Dr. Caligari“ ist die Mordszene an Alan. Hier<br />

spielt die visuelle Einsetzung von <strong>Schatten</strong> eine<br />

dramaturgisch wichtige Rolle und unterstützt<br />

die bedrohliche Stimmung der Szene.<br />

122<br />

In der angesprochenen Mordszene liegt Alan in<br />

seinem Bett, als er plötzlich aufschreckt, denn<br />

ein überdimensionaler <strong>Schatten</strong> baut sich an<br />

der Wand neben seinem Bett auf. ( Abb.19 )<br />

Es ist Nacht, wie im Zwischentitel des Films an-<br />

Abb.19, Ein überdimensionaler <strong>Schatten</strong><br />

wächst an der Wand, Standbild aus „Caligari“<br />

Abb.20, 21, 22, Der Mord als <strong>Schatten</strong>spiel,<br />

Standbilder aus „Caligari“


gekündigt und die damit verbundene düstere<br />

Atmosphäre und die Voraussetzung, dass wenig<br />

Licht vorhanden ist, haben den Zuschauer<br />

in eine unheimliche Stimmung versetzt. Des<br />

Nachts im Dunkeln geschehen die grausamen<br />

Verbrechen. Die Aussage des Somnambulen<br />

Cesare, dass Alan nur noch bis zum Morgengrauen<br />

zu leben hat, schwebt als dunkle Vorahnung<br />

im Raum. In Detailaufnahmen sieht der<br />

Zuschauer Alans entsetztes Gesicht und seine<br />

sich verteidigenden abwehrenden Hände. Der<br />

überdimensionale <strong>Schatten</strong> packt Alan und<br />

versucht ihn mit einem spitzen Gegenstand zu<br />

töten (Abb. 20, 21). Der Mörder ist dabei nur<br />

als schehmenhafte Silhouette erkennbar. Beide<br />

Figuren in dieser Szene, sowohl der Mörder als<br />

auch der Ermordete sind nur noch als <strong>Schatten</strong><br />

an der Wand sichtbar. Die <strong>Schatten</strong> sind<br />

in dieser Szene autonom und unabhängig<br />

von ihrer gegenständlichen Rea<strong>lit</strong>ät dargestellt.<br />

Der <strong>Schatten</strong> besitzt in dieser Szene die<br />

Symbolik des anonymen und nicht greifbaren<br />

Mörders. Anhand der <strong>Schatten</strong>umrisse lässt<br />

sich für den Zuschauer nur erahnen, wer der<br />

wirkliche Mörder Alans zu sein scheint. Diese<br />

Ungewißheit verstärkt die bedrohliche Atmosphäre<br />

der Mordszene. Der Ermordete kennt<br />

das wahre Gesicht des Mörders, der ahnungslose<br />

Zuschauer jedoch nicht und ist nun den<br />

weiteren Verlauf des Films über in angstvoller<br />

Spannung. Die Aufgabe ist es sowohl für die<br />

Hauptfigur des Films als auch für den Zuschauer<br />

den Mörder zu suchen und zu entlarven. Die<br />

visuelle Darstellung einer <strong>Schatten</strong>figur spielt<br />

auf die düstere und bedrohlich-unheimlich Bedeutungsebene<br />

von <strong>Schatten</strong> an. Ein <strong>Schatten</strong><br />

wird mit der drohenden Gefahr, mit Angst und<br />

Schrecken assoziiert. Der <strong>Schatten</strong> besitzt eine<br />

Anonymität, die ihn zu etwas Gespenstischem<br />

macht, da nicht erkennbar wird, wer sich hinter<br />

diesem <strong>Schatten</strong> verbirgt. Das Unbekannte, in<br />

dem hier besprochenen Fall der unbekannte<br />

<strong>Schatten</strong> eines Wesens, erzeugt die Emotionen<br />

von Schrecken und Unheil. Da die Ermordung<br />

Alans nur durch <strong>Schatten</strong>bilder an der Wand<br />

inszeniert ist, ergänzt der Zuschauer im Kopf<br />

das Mord-geschehen. Dadurch erfährt die nur<br />

indirekte Darstellung des Mordes erst ihre Grausamkeit<br />

(Abb.22). „<strong>Schatten</strong> begleiten fast alle<br />

expressionistischen Helden in der Antizipation<br />

ihrer obsessiven Taten. Dramatische, zur Klimax<br />

gesteigerte Handlungsläufe, etwa der Mord an<br />

Alan in CALIGARI, sind durch <strong>Schatten</strong> inszeniert“<br />

( Kasten 1990: 153 ). Dabei wird der<br />

„ dramatische Höhepunkt, der Mord an Alan,<br />

... gänzlich durch an die Wand geworfene<br />

<strong>Schatten</strong> dargestellt und wirkt in der indirekten<br />

Darstellung noch unheimlicher“ (Kasten 1990:<br />

46 ). Die indirekte Darstellung des Mörders<br />

in der bloßen <strong>Schatten</strong>darstellung ist auch<br />

noch in gegenwärtigen Filmen ein beliebtes<br />

filmisches Stilmittel, um Angst und Spannung<br />

beim Zuschauer zu erzeugen. Ein berühmtes<br />

Beispiel ist die Mordszene unter der Dusche in<br />

Alfred Hithocks Psycho, der vierzig Jahre später<br />

als der Caligari Film entstand und auf ähnliche<br />

123<br />

filmische Mittel des Schreckens-Inszenierens<br />

zurückgreift (vgl. Kasten 1990: 49 ).<br />

Filmbeispiele: Gemalte <strong>Schatten</strong><br />

Licht und <strong>Schatten</strong>effekte im Film sind aufgemalt<br />

und wirken als graphisches Element.<br />

„ Das Filmkunstwerk muss eine lebendige<br />

Graphik werden“ dabei entsteht eine gesteigerte<br />

bildhafte Dramatik, die unwirklich und<br />

albtraumhaft erscheint. „ Gemalte <strong>Schatten</strong>,<br />

die nicht mit den zu erwartenden Lichteffekten<br />

übereinstimmen“ ( Kracauer : 75 ) unterstützen<br />

die irreale Wirkung der Geschichte. Außerdem<br />

prägen „ starke Helldunkel-Kontraste ... die<br />

Lichtgestaltung“ ( Kasten 1990: 46 ) „ Aufgemalte<br />

helle Lichtflecke bilden häufig den Schwerpunkt<br />

der Bildkomposition“ ( Kasten 1990: 46 )<br />

Sternförmige aufgemalte Lichtausstrahlungen<br />

der Straßenlaternen zum Beispiel (Abb.23). „<br />

Licht ist“ dabei „ als helles Blumenmuster unter<br />

der Laterne aufgemalt und die Schlagschatten<br />

der Häuser sind als dunkel gemalte Rhomben<br />

wiedergegeben“ ( ebd.)<br />

Abb.23 und 24 Gemalte Licht- und <strong>Schatten</strong>effekte,<br />

Standbilder aus „Caligari“<br />

„ Es war ihre expressionistische Einstellung, die<br />

immer wieder deutsche Kamermänner dazu<br />

trieb, <strong>Schatten</strong> zu erzeugen, die wie Unkraut<br />

wucherten“ ( Kracauer 1979: 82 ). Licht und<br />

dazugehöriger <strong>Schatten</strong> können voneinander<br />

unabhängig betrachtet werden und besitzen<br />

durch das gemalte eine Autonomie. „In der<br />

betonten Erzeugung dunkler Kontrastflächen<br />

verstärkten die Beleuchter und Architekten<br />

expressionistischer Filme besonders <strong>Schatten</strong>.<br />

Licht erschien in schattenreichen Bildkompositi


Abb. 25 Cesare wirkt wie ein <strong>Schatten</strong> an der<br />

Mauer, Standbild aus „Caligari“<br />

onen wie „ a frenzied cry of anguish devourced<br />

by the greedy maws of the <strong>shadows</strong>“ ( Kasten<br />

1990: 151 ) Und er stellte „ der Phantastik des<br />

Sujets auch die gesamte Dekoration zur Verfügung.<br />

In diesem Film ist alles von der Bana<strong>lit</strong>ät<br />

des Alltags losgelöst. Straßen und Plätze, Dachfenster<br />

und Stühle erscheinen in einer besonderen<br />

Form betont, seltsam, bedeutungsvoll und<br />

wichtig. Die Dekorationen in DR. CALIGARI sind<br />

nicht gebaut, wie man die Dingen sieht, sondern<br />

wie man sie in besonderen seelisch stark<br />

gespannten Augenblicken empfindet“ (Belach /<br />

Bock 1995: 143 ).<br />

Cesare als wandelnder <strong>Schatten</strong><br />

Eine schattenhafte Gestalt huscht durch die<br />

Stadt. Der Somnambule Cesare ist auf dem<br />

124<br />

Abb. 26 Flucht in den Wahnsinn, Standbild aus<br />

„Caligari“<br />

Weg zu Jane, um sie zu töten. Wie ein schwarzes<br />

Phantom durchstreift Cesare die Gegend<br />

um den Holstenwall und besitzt dabei etwas<br />

Animalisches und Gespenstisches. Er wirkt an<br />

Janes Haus wie ein <strong>Schatten</strong> an der Wand. „<br />

Wenn Conrad Veidts Cesare an einer Mauer<br />

entlangstreifte, so war es nicht anders, als habe<br />

die Mauer ihn ausgedünstet“ ( Kracauer 1979:<br />

S.76, Abb. 25). Conrad Veidt als Cesare „ stelzt<br />

dünn und nicht von dieser Erde durch seine<br />

wirre Welt: einmal ein herrlicher Augenaufschlag,<br />

einmal wie von Kubin, schwarz und<br />

schattenhaft und ganz lang an einer Mauer<br />

hingespensternd“ ( Zitiert nach: Tucholsky: Dr.<br />

Caligari. In: Die Weltbühne, 1920. In: Belach/<br />

Bock 1995: 147). Sinnbildlich schleicht sich<br />

das Böse und Bedrohliche auf leisen Sohlen<br />

Abb.27 Der expressionistische Darsteller wird eins mit dem expressionistischem Dekor, Standbild<br />

aus „Caligari“


Belach, Helga / Bock, Hans-<br />

Michael ( Hrsg.): Das<br />

Cabinet des Dr. Caligari:<br />

Drehbuch von Carl Mayer<br />

und Hans Janowitz zu<br />

Robert Wienes Film von<br />

1919/20 mit einem einf.<br />

Essay von Siegbert S.<br />

Prawer und Materialien<br />

zum Film von Uli Jung<br />

und Walter Schatzberg,<br />

München, edition text +<br />

kritik, 1995.<br />

Frankfurter, Bernhard ( Hrsg.):<br />

Carl Mayer: Im Spiegelkabinett<br />

des Dr. Caligari:<br />

Der Kampf zwischen Licht<br />

und Dunkel, Wien,<br />

Promedia, 1997.<br />

heran. Cesare, ganz in schwarz gekleidet, verkörpert<br />

die dunkle Seite des Menschen. Seine<br />

hölzernen Bewegungen und seine langsame<br />

Gangart wirken abgehakt und starr, als sei alles<br />

Menschliche aus ihm gewichen und er wandle<br />

nur noch wie ein lebender Toter durch die<br />

Stadt. Hier wird im expressionistischen Sinn der<br />

Mensch als leblose Marionette und agierende<br />

Puppe inszeniert ( vgl. Rothe 1977: 35 ). Statt<br />

Jane zu töten, hält Cesare jedoch einen Moment,<br />

in dem er fast aus seinem Schlafwandeln<br />

erwacht inne, ergreift Jane und flüchtet mit ihr<br />

über die Dächer der Stadt. Die schrägen, spitzwinkligen<br />

Dächer, die im expressionistischen<br />

Stil gebaut und gezeichnet sind, führen in die<br />

Irre und zeigen den Weg in den Wahnsinn. „<br />

Dachfenster haben spitze, verzerrte Winkel.<br />

Dächer überschneiden sich in scharfen Linien,<br />

und wir fühlen ( ohne daß es uns gesagt wird),<br />

daß dahinter der Absturz droht“ ( Zitiert nach:<br />

Proskauer: Das Kabinett des Dr. Caligari. In:<br />

Film-Kurier, 1920. In: Belach/ Bock 1995: 144<br />

). Cesare ist nur noch als schwarzer Schehmen<br />

erkennbar. Die verschobenen Perspektiven<br />

der Szenerie verdeutlichen dem Zuschauer in<br />

einer irrealen und phantastischen Welt zu sein<br />

(Abb. 26). Kurz bevor Cesare auf seiner Flucht<br />

vor Erschöpfung zusammenbricht, bäumt sich<br />

sein Körper auf und seine Arme wirken wie die<br />

silhouettenhaften Konturen der dargestellten<br />

Äste und Bäume der expressionistischen Dekoration<br />

Abb. 27). „Der Darsteller Conrad Veidt<br />

ahmt hier die Bäume nach, ...“(Remge 2006:<br />

94). Er bildet „nahezu eine Einheit mit den als<br />

125<br />

Kulisse dienenden Gemälden karger ( kranker?)<br />

Bäume“ ( ebd.), wird also „eins mit der Kulisse“<br />

( ebd.).<br />

Irrenanstaltinsassen führen ein <strong>Schatten</strong>dasein<br />

Auf einer weiteren symbolischen Ebene von<br />

<strong>Schatten</strong> im Film „ Das Cabinet des Dr. Caligari“<br />

lassen sich die Insassen der Irrenanstalt betrachten.<br />

Diese führen ein <strong>Schatten</strong>dasein ihrer<br />

Existenz, welche sie vor der Einlieferung in die<br />

Anstalt besaßen. An mehreren Beispielen wie<br />

z.B. Cesare, der gedankenverloren eine Blume<br />

streichelt oder Jane, die glaubt eine Königin<br />

zu sein, lässt sich schließen, dass die Personen<br />

nicht mehr richtig anwesend und da zu sein<br />

scheinen. Sie besitzen nur noch eine Schehmenhaftigkeit<br />

ihres füheren Lebens und wirken<br />

abgeklärt, fast leblos. Eine in ihrem Dunkel der<br />

Seele spielende Handlung, die für den Außenstehenden<br />

nicht sichtbar erscheint, findet in<br />

ihrem Innnern statt. Wie Scheinlebende führen<br />

sie nur noch ein schattenartiges Dasein ( vgl.<br />

Rothe 1977: 436f., Abb. 28 u. 29). Der Vergleich<br />

von expressionistischen Künstlern mit<br />

Irreninsassen wird in dieser Szene überspitzt<br />

aufgegriffen. Die Bilder von Expressionisten<br />

wurden häufig mit Bildern von Geisteskranken<br />

verglichen. Der expressionistische Mensch und<br />

seine Kunst wurden von den Nationalsozia<strong>liste</strong>n<br />

als „ entartet“ betrachtet. Der Vorwurf<br />

an die expressionistischen Künstler war, dass<br />

sie unfähig seien, die Wirklichkeit rea<strong>lit</strong>ätsnah<br />

abzubilden und die Gesetze der Literatur<br />

Abb. 28 Irrenanstaltinsassen, die nur noch ein <strong>Schatten</strong>dasein ihrer eigentlichen Existenz führen,<br />

Standbild aus „Caligari“


Ihering, Herbert: Ein expressionitischer<br />

Film. In:<br />

Berliner Börsen-Cou rier,<br />

1920. In: Belach/ Bock<br />

1995: 144-145.<br />

Jung, Uli / Schatzberg, Walter:<br />

Robert Wiene der Caligari-<br />

Regisseur, Berlin<br />

1.Aufl. Henschel, 1995.<br />

Kasten, Jürgen: Der expressionistische<br />

Film. Abgefilmtes<br />

Theater oder avantgardistisches<br />

Erzählkino?<br />

Eine stil-, produktions- und<br />

rezeptionsgeschichtliche<br />

Untersuchung, Münster,<br />

MAKS, 1990.<br />

Kracauer, Siegfried: Von<br />

Caligari zu Hitler. Eine<br />

psychologische<br />

Geschichte des<br />

deutschen Films,<br />

Frankfurt am Main,<br />

suhrkamp taschenbuch,<br />

1979.<br />

Ramge, Ralf: Das Dokument<br />

des Grauens: Eine Chronik<br />

des Horrorfilms, 2006.<br />

Rothe, Wolfgang: Der<br />

Expressionismus. Theologische,<br />

soziologische<br />

und anthropologische<br />

Aspekte einer Literatur,<br />

Frankfurt am Main,<br />

Klostermann, 1977.<br />

Proskauer, Martin: Das Kabinett<br />

des Dr. Claigari. In: Film-<br />

Kurier, Nr. 51, 29.2.1920.<br />

In: In: Belach/ Bock<br />

1995:143-144.<br />

Tucholsky, Kurt: Dr.Caligari.<br />

In: Die Weltbühne, 1920,<br />

347-348. In: Belach/Bock<br />

1995: 146-147.<br />

Wiene, Robert: Expressionismus<br />

im Film. In: Berliner Börsen-Courier,<br />

1920.<br />

In: Belach/ Bock 1995:<br />

148-153.<br />

Hamburger Abendblatt,<br />

Rubrik „Kultur und<br />

Medien“ vom 18.5.07<br />

Dokumentation „ Aufschrei<br />

des Ichs – Wahnsinn,<br />

Liebe, Rausch“, Arte,<br />

Januar 2007<br />

Abb. Irrenanstaltinsassen, die nur noch ein <strong>Schatten</strong>dasein ihrer eigentlichen Existenz führen,<br />

Standbild aus „Caligari“<br />

Perspektive zu beachten. „1912 wurden auf<br />

den ersten großen Ausstellungen expressionistischer<br />

Bilder als „Gemälde eines Irrenhauses“<br />

geschmäht. Genau dieses Vorurteil illustriert<br />

der Film und prägte damit kurioserweise die<br />

populäre Expressionismus-Vorstellung“ (vgl.<br />

Kasten 1990: 47). Im Untertitel sollte der Film „<br />

Das Cabinet des Dr. Caligari“ „Wie ein Irrer die<br />

Welt sieht“ heißen. Die Tatsache, dass sich am<br />

Ende herausstellt, dass die gesamte Geschichte<br />

des Films dem Hirngespinst eines Anstaltsinsassen,<br />

Francis, entsprungen ist, hat zu vielerlei<br />

Diskussion geführt. „Es ist bezeichnend, daß das<br />

Filmspiel DAS CABINET DES DR. CALIGARI ...<br />

nur deshalb expressionistisch durchgearbeitet<br />

wurde, weil es im Irrenhaus spielt. Man setzt<br />

also der Vorstellung der gesunden Wirklichkeit<br />

die Vorstellung der kranken Unwirklichkeit entgegen.<br />

Oder: der Wahnsinn als Entschuldigung<br />

für eine künstlerische Idee“ (Zitiert nach Ihering:<br />

Ein expressionistischer Film. In: Berliner Börsen-<br />

Courier, 1920. In: Belach/ Bock 1995: 145). Ein<br />

weiterer zeitgenössischer Filmkritiker schrieb<br />

über den Caligari-Film „Die Idee, die Vorstellung<br />

in den kranken Gehirnen... in expressionistischen<br />

Bildern auszudrücken, ist ebenso<br />

glücklich gewählt wie gelöst. Hier hat dieser Stil<br />

eine Berechtigung, ergibt sich von selbst mit<br />

restloser Logik“ (Kracauer 1979: 76 ).<br />

126


Thimm Bubbel<br />

Inhalt<br />

1 Genre oder Epoche?<br />

2 Neo Noir<br />

3 Themen & Archetypen.<br />

4 Stilmittel<br />

„Film noir“<br />

1 Genre oder Epoche?<br />

Es gibt keine allgemein anerkannte Definition<br />

für den Film noir, die Filmwissenschaftler streiten<br />

sich seit jeher darüber ob der Film noir ein<br />

„Genre“ ist, oder eine bestimmte „Epoche der<br />

Filmgeschichte“ mit diesem Begriff bezeichnet<br />

wird.<br />

Laut Paul Werner gilt der Film noir „als amerikanisches<br />

„Genre“, das eigentlich keins ist“<br />

(Werner 1985: 7). Nach ihm bedient sich der<br />

Film noir gleich mehrerer Genres: „Kriminalfilm,<br />

Gangsterfilm, Detektivfilm, Thriller, Melodram“<br />

(ebd.). Für ihn ist der Film Noir eine Stilrichtung,<br />

„wahrscheinlich die einzige Stilrichtung oder<br />

künstlerische Bewegung, die Hollywood je<br />

hervorgebracht hat“ (ebd.). Die ersten Filme<br />

wurden zu Beginn des zweiten Weltkriegs<br />

produziert. Oft von europäischen Regisseuren,<br />

die vor dem Terror der Nationalsozia<strong>liste</strong>n in<br />

Hollywood Zuflucht suchten. Der Film noir<br />

heißt nicht nur `noir` (frz. für schwarz), da<br />

seine Stilistik besonders mit den Mitteln Licht<br />

127<br />

Abb. 1: „ Das typische Setting des Film noir<br />

und <strong>Schatten</strong> arbeitet, sondern auch auf Grund<br />

seiner Protagonisten: „Nachtgeschöpfe“ und<br />

„Antihelden“, die „das Licht scheuen wie die<br />

Vampire die Sonne“ (Werner 1985: 8).<br />

Herkunft des Namens<br />

Aufgrund eines Importverbots sahen die Franzosen<br />

erst nach dem 2. Weltkrieg erstmals wieder<br />

amerikanische Filme, und stellten fest, dass<br />

sich Stimmung und Stoff der amerikanischen<br />

Filme verdunkelt hatten. Der Begriff `Film noir´<br />

wurde von dem französischen Filmkritiker Nino<br />

Frank geprägt, der zusammen mit Jean-Pierre<br />

Chartier 1946 den ersten Artikel über den Film<br />

noir schrieb (Vgl. Silver und Ursinini 2004, S.10).<br />

Als erster Film Noir gilt allgemein `Die Spur<br />

des Falken (The Maltese Falcon) von 1941, der<br />

letztveröffentlichte Film noir ist `Im Zeichen<br />

des Bösen (Touch of Evil)` aus dem Jahre 1958<br />

(Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Film_noir).


Abb.2 Jalousien.jpg<br />

2 Neo Noir<br />

Mit dem Begriff `Neo-Noir` werden solche<br />

Filme bezeichnet, „die die Tradition des<br />

klassischen Film noir fortführten“ (Vgl. http://<br />

de.wikipedia.org/wiki/Film_noir), also all jene<br />

Filme im gleichen Stil, die nach 1958 veröffentlicht<br />

wurden. Wikipedia sieht ´Wenig Chancen<br />

für morgen´ von Robert Wise als einen der<br />

ersten Neo-Noirs, der bereits 1959 veröffentlicht<br />

wurde (ebd.). Nach Silver und Ursinini<br />

hingegen beginnt diese Stilepoche erst 1974<br />

mit Polanskis `Chinatown`. Zu den aktuelleren<br />

Neo-Noirs zählt er unter anderem Tarantinos<br />

`Reservoir Dogs` (1992) und `Pulp Fiction`<br />

(1994), Singers `Die üblichen Verdächtigen`<br />

(1995), Finchers ´Sieben´ (1995) und Frears`<br />

`Dirty Pretty Things`(Vgl. Silver und Ursinini<br />

2004, S. 9).<br />

3 Themen & Archetypen.<br />

Themen<br />

Bestimmendes Element fast aller Films noirs ist<br />

die Krimina<strong>lit</strong>ät, insbesondere Mord. Häufige<br />

Motive sind Geldgier und Eifersucht. Die Aufklärung<br />

des Verbrechens, durch Privatdetektive,<br />

Polizeikommissare und Privatpersonen „ist ein<br />

häufiges, aber dennoch nicht vorherrschendes<br />

Thema“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Film_<br />

noir). Weitere Themen sind Überfälle, Betrügereien,<br />

Verschwörungen und Affären. Ein Happy<br />

End im Film noir ist selten.<br />

Typen<br />

Films noirs präsentieren dem Zuschauer<br />

Antihelden, „die ungewöhnlich lasterhaft und<br />

moralisch fragwürdig sind“ (ebd.). Sie sind<br />

128<br />

meist pessimistische Einzelgänger, die in der<br />

Anonymität der Großstadt `vegetieren`. Sie<br />

haben keine Freunde, keinen Partner und<br />

keine Familie. Anstatt sich auf einfache Gutund-Böse-Konstruktionen<br />

zu beschränken, baut<br />

der Film noir moralische Zwickmühlen auf, die<br />

ungewöhnlich uneindeutig sind, zumindest<br />

fürs typische Hollywood-Kino. Unter den archetypischen<br />

Charakteren des Film noir finden<br />

sich hartgesottene Detektive, Femmes fatales,<br />

korrupte Polizisten, eifersüchtige Ehemänner,<br />

unerschrockene Versicherungsangestellte und<br />

heruntergekommene Schriftsteller. Der Detektiv<br />

und die Femme fatale werden am ehesten mit<br />

dem Film noir assoziiert, doch nicht alle ´Films<br />

noirs´ zeigen diese beiden Charaktere (Vgl.<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/Film_noir).<br />

Setting<br />

Typische Schauplätze für den Film noir sind die<br />

Metropolen Amerikas. „Die Stadt steht meist<br />

sinnbildlich für ein Labyrinth, in dem die Protagonisten<br />

gefangen sind“ (http://de.wikipedia.<br />

org/wiki/Film_noir). Sie verirren sich in Bars,<br />

Nachtclubs und Spielhöllen. Es ist nach weitläufiger<br />

Meinung zwar so, dass Films noirs<br />

quasi immer bei Nacht und im Regen spielen (s.<br />

Abb.1). Dagegen gibt es aber bei einer Reihe<br />

von Neo-Noirs den Trend, Geschichten über<br />

Betrug, Verführung und Verrat in hellen, offenen<br />

Szenen zu platzieren.<br />

4 Stilmittel<br />

Einige Films noirs sind versehen mit Kommentaren<br />

aus dem Off, der so genannten Voice-Over-<br />

Erzählung (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/


QUELLEN<br />

Abbildungen<br />

Abb.1: Heinzelmeier, Adolf/<br />

Memmingen, Jürgen/<br />

Schulz, Berndt: Kino der<br />

Nacht: Hollywoods<br />

schwarze Serie, Hamburg,<br />

1985, S. 149<br />

Abb. 2 Werner, Paul: Film<br />

Noir – Die <strong>Schatten</strong>spiele<br />

der „schwarzen Serie“,<br />

Frankfurt am Main, 1985, S.<br />

101<br />

Abb. 3: Heinzelmeier, Adolf/<br />

Memmingen, Jürgen/<br />

Schulz, Berndt: Kino der<br />

Nacht: Hollywoods<br />

schwarze Serie, Hamburg,<br />

1985, S. 76<br />

Abb. 4: Alain Silver/ James<br />

Ursini. Paul Duncan (Hrsg.):<br />

Film Noir ,Köln, 2004, S.51<br />

Literatur<br />

Heinzelmeier, Adolf/ Memmin<br />

gen, Jürgen/ Schulz, Berndt:<br />

Kino der Nacht: Hollywoods<br />

schwarze Serie, Hamburg,<br />

1985<br />

Werner, Paul: Film Noir – Die<br />

<strong>Schatten</strong>spiele der „schwar<br />

zen Serie“, Frankfurt am<br />

Main, 1985<br />

Alain Silver/ James Ursini. Paul<br />

Duncan (Hrsg.): Film Noir<br />

,Köln, 2004<br />

Internet<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/<br />

Film_noir, Stand 02.03.2007<br />

Abb.3 Extreme Schrägsicht<br />

Film_noir).<br />

Der häufige Gebrauch von Schrägsichten (s.<br />

Abb. 2) verstärkt den Eindruck Chaos und<br />

Desorientierung in der sich die Protagonisten<br />

befinden (Vgl. Heinzelmeier, Menningen und<br />

Schulz 1985, S79). Eine oft eingesetzte niedrige<br />

Kameraperspektive vermittelt das Gefühl von<br />

Enge und Bedrückung.<br />

4.1 Licht und <strong>Schatten</strong><br />

Laut Silver und Ursini macht den Film noir vor<br />

allem eines aus: Das Spiel von (gedämpftem)<br />

Licht und <strong>Schatten</strong>, und das nicht nur in „nächtlichen<br />

Außenaufnahmen, sondern auch in<br />

halbdunklen Innenräumen“ (Silver und Ursinini<br />

2004: 16). Spannung wird erzeugt durch Tageslicht<br />

fernhaltende Jalousien (s. Abb.3) und<br />

eine „harte, ungefilterte Ausleuchtung von der<br />

Seite (s. Abb. 4) oder von hinten“ (ebd.). Dieser<br />

Beleuchtungsstil „trägt im Amerikanischen den<br />

Namen low key“ (Werner 1985: 91).<br />

Die Dunkelheit im Film noir ist jedoch nicht<br />

nur die physikalische Abwesenheit von Licht,<br />

vielmehr steht sie metaphorisch für die schwarze<br />

Sicht der Dinge und das finstere Weltbild, zur<br />

Zeit des Nationalsozialismus.<br />

Eine weitere Besonderheit des Film noir ist<br />

laut Werner ebenfalls der Verzicht auf das<br />

Beleuchtungsprinzip der `amerikanischen<br />

Nacht`, welches sonst bei den Hollywoodproduktionen<br />

verwendet wurde. Hierbei werden<br />

Nachtszenen tagsüber mit geringer Belichtung<br />

aufgenommen. Der Film noir verwendet im<br />

Gegenzug die viel aufwendigeren, `echten`<br />

Nachtszenen (Vgl. Werner 1985, S. 92).<br />

129<br />

Abb.4 Seitenlicht


Franziska Rählert<br />

Abb. 2 Filmbetrachter<br />

Abb. 3 Einzelbilder<br />

Abb. 4 zerkratztes Filmbild<br />

“Haha Said the Clown”<br />

Super 8mm Scratch-Film<br />

Abbildung 1: „HAHA said the Clown“<br />

Anfangs ergriff mich der Ehrgeiz zur Entwicklung<br />

einer interaktiven Arbeit. Ich wollte den<br />

Betrachter in die Erfahrung der Kunst mit<br />

einbeziehen. Jedoch waren meine Überlegungen<br />

zu kompliziert und verworren um in die<br />

Tat umgesetzt zu werden. Beispielsweise sollte<br />

ein Super-8mm Film auf eine Wand projiziert<br />

werden und die <strong>Schatten</strong> der Betrachter sollten<br />

beim Vorbeigehen den Film vervollständigen.<br />

Es sollte so aussehen, als ob eine Silhouette<br />

eben Bestandteil dieses Films sei. Durch die<br />

Lichtquelle aber, die den <strong>Schatten</strong> auf der<br />

Wand (und somit auf dem Film) erzeugen<br />

sollte, wäre der Film angestrahlt worden und<br />

deshalb kaum mehr sichtbar. So entschied ich<br />

mich, auf die Interaktivität zu verzichten und<br />

mich nunmehr ausschließlich dem Medium des<br />

Super-8mm Films für diese Projekt zu widmen.<br />

Schließlich bevorzuge ich auch im Privaten die<br />

analoge Foto- und Filmtechnik. Aus persönlichen<br />

Erfahrungen war ich schon vertraut mit<br />

der Super-8 Filmerei. Doch ein eigenes Filmscript<br />

viel mir nicht ein, so dass ich kurz und<br />

gut beschloss einen schon gedrehten Film zu<br />

besorgen und zu bearbeiten. Diesen wollte ich<br />

dann mit einem Messer zerkratzen. Um eine<br />

guten Effekt zu erhalten musste es ein Film sein<br />

der Menschen beinhaltete.<br />

Als erstes musste ein schon <strong>fertige</strong>r Super 8mm<br />

Film her. Da ich nicht genug eigene Bildstreifen<br />

130<br />

besaß, kaufte ich einen Stapel bei eBay - ein<br />

gutes Portal zum beschaffen von Materialen zur<br />

künstlerischen Weiterverarbeitung. Die Katze<br />

im Sack kaufend wartete ich ab auf die Lieferung<br />

des Päckchens. Da ich nicht wusste, was<br />

auf den Filmen war, musste ich sie nacheinander<br />

anschauen und Unnützes aussortieren.<br />

Endlich fand ich, worauf ich gewartet hatte,<br />

einen Film mit menschlichen Wesen. Es war<br />

ein Modefilm erstellt für den Otto-Versand.<br />

Faszinierend war dabei, dass es sich um eine<br />

Dokumentation aus den 70er Jahren hielt, passend<br />

also zum Medium selbst. Man sah Frauen<br />

die Mode präsentierten, aber später auch eine<br />

lange Sequenz, in der sich Kinder vor der Kamera<br />

zeigten. Letzteres sollte für meine Arbeit<br />

interessant sein. Nun begann ich einzelne Szenen<br />

mit Hilfe des Super 8mm Betrachters (Abb.<br />

2) herauszusuchen. Am intensivsten waren sie<br />

Close-Ups der Kinder, die die Mode präsentieren.<br />

Die Kratzer an der Stelle der Gesichter hätten<br />

die gewünschte Wirkung. Da die einzelnen<br />

Frames bei dieser Filmart sehr klein sind, war<br />

die Arbeit besonders schwierig und es musste<br />

Geduld bewiesen werden (Abb. 3). Mit einem<br />

Skalpell, manchmal mit einer Nadel, wurde<br />

die beschichtete Seite des Streifens sozusagen<br />

beschädigt. Der Prozess des Zerkratzens ging<br />

recht schnell vonstatten. Nur die Masse der<br />

Bilder forderte Zeit. Da es recht anstrengend<br />

war, ständig auf die Miniaturköpfe zu starren


Abb. 5 scratched filmstill<br />

Abb. 6 scratched filmstill<br />

Abb. 7 scratched filmstill<br />

und das Messer an dem dünnen Griff zu halten,<br />

achtete ich zwischendurch auf weitwinklige<br />

Szenen, die ich nicht gebrauchen konnte, und<br />

trennte sie von den anderen. Danach fügte ich<br />

diejenigen Filmstreifen, die ich weiter zerkratzen<br />

wollte, mit einer Klebepresse zusammen.<br />

So hatte ich nach einer Weile die Arbeit fertig<br />

und sah sie mir mit dem Projektor an. Weiter<br />

sollten schwarze zerkratzte Filmstreifen den<br />

Film unterbrechen. Eine Überlegung im Vorfeld<br />

bestand aus einem vollständig zerkratzen und<br />

anschließend koloriertem Film. Dies Vorhaben<br />

scheiterte an dem nicht auffindbaren geeigneten<br />

Material. Trotzdem besaß ich selbst kleine<br />

Stücke schwarz gebliebenem Super 8mm Film,<br />

den ich für meine Zwecke benutzen konnte.<br />

Im Endeffekt gelang mir die Bearbeitung dieser<br />

dunklen Ausschnitte und ich setzte sie zwischen<br />

die einzelnen Szenen des jetzt unkenntlich<br />

gemachten Modefilms.<br />

Der editierte Film zeigt Kinder in Sachen der<br />

siebziger Jahre. Sie werden mal zusammen<br />

mal einzeln dem Zuschauer präsentiert. Sie<br />

stehen nicht einfach nur da, sondern spielen<br />

mit neuen Baukästen, Rollern, Handpuppen,<br />

Luftballons oder Puppenwägen. Die Kamera<br />

zoomt ihre Gesichter heran. Dann schwenkt<br />

sie von Kopf bis Fuß. Die Gesichter sind ganz<br />

und gar oder nur Teilweise bedeckt von hellen<br />

Kritzeleinen, mal kreisförmig mal x-förmig. Diese<br />

Kratzer sind gelblich grün, nicht weiß, wie<br />

man annehmen würde (Abb. 5 bis 7). Durch<br />

den Farbfilm blieben Restspuren erhalten. Das<br />

Skalpell hinterließ unsaubere Spuren. Nicht<br />

zerkratzt wurde das Clownsgesicht, welches<br />

während des Filmes auftaucht, ohne speziellen<br />

Grund - eine Figur, die als lustig und vertraut<br />

verstanden, hier jedoch auf eine andere Weise<br />

erfahren wird.<br />

Der Farbfilm wird auf eine weiße Betonwand<br />

projiziert. Auf ihr sieht man Risse. Der Film<br />

selbst zeigt durch die Bearbeitung kleine unbeabsichtigte<br />

Kratzer, die normal sind für jeden<br />

Super 8mm Film.<br />

Der Bezug zum <strong>Schatten</strong> ist möglicherweise<br />

nicht gleich ersichtlich aus der Arbeit. Der<br />

<strong>Schatten</strong> hier ist auf einer anderen Ebene als<br />

auf der buchstäblichen offensichtlichen zu<br />

suchen. Ein Film ist eine Projektion des Lebens,<br />

sichtbar im projizierten Bild. Ein <strong>Schatten</strong> in<br />

jedem einzelnen Filmbild. Als eine Art <strong>Schatten</strong><br />

der Rea<strong>lit</strong>ät kann demzufolge jeder einzelne<br />

Frame aufgefasst werden. Zerkratzt man den<br />

Film, verzerrt man die Rea<strong>lit</strong>ät des Films.<br />

Der Inhalt des Films fließt durch die verletzliche<br />

und unschuldige Ausstrahlung der Kinder ein,<br />

aus heutiger Perspektive nehmen sie eine Opferrolle<br />

ein, wenn sie mit der Kamera sozusagen<br />

verfolgt werden. Auffällig ist, dass die Kamera,<br />

einzelne Kinder oft ganz nah zeigt und - was<br />

besonders anzüglich erscheint - von oben bis<br />

unten an ihren Körpern entlangfährt. Das Missverständnis<br />

der Präsentation von Mode und<br />

131<br />

vom Modell ist damit möglich. Gerade dann<br />

führt die Vorstellung zu Kindesmissbrauch,<br />

Kindesmisshandlung oder Kindesmissachtung.<br />

Insbesondere die Kratzer könnten diese<br />

Vermutungen bestätigen. Die Kratzer auf den<br />

Gesichtern der Kinder haben den Effekt der<br />

Zerstörung. <strong>Schatten</strong> sind hierbei die negativen<br />

Seiten des Lebens. Der metaphorische Sinn<br />

wird bekräftigt durch das Clownsgesicht bzw.<br />

den Clown, der ab und zu auftaucht, der im<br />

Original eigentlich komisch und freundlich sein<br />

soll, in diesem Film aber eher Furcht einflößend<br />

und gefährlich wirkt. So werden die Kinder<br />

noch mehr als schutzlos und bedrängt angesehen.


132


Absolute<br />

<strong>Schatten</strong><br />

133


Tim - Simon Herrmannsen<br />

Monika Sophie Panek<br />

Inhalt<br />

1. Biographie Dante<br />

Alighieris<br />

2. „Die göttliche Komödie“<br />

3. Der Aufbau von Dante<br />

Alighieris Jenseitsreich<br />

4. Verknüpfung der<br />

göttlichen Komödie<br />

mit dem Thema „<strong>Schatten</strong>“<br />

Dante Alighieri: „Die<br />

göttliche Komödie“<br />

Abb. 1: „Maler unbekannt 1530 Florenz: Portrait von Dante Alighieri<br />

1. Biographie Dante Alighieris<br />

Dante (Durante) ALighieri ist im Jahre 1265 in<br />

Florenz geboren, das genaue Geburtsdatum ist<br />

nicht überliefert. Seine Familie war nach seinem<br />

eigenen Zeugnis adelig. Über seine Kindheit<br />

ist wenig bekannt, als zehnjähriger verlor er<br />

seine Mutter, sein Vater starb, bevor Dante das<br />

19. Lebensjahr erreichte. Das bedeutsamste<br />

Ereignis seiner Jugend war nach Dantes Bekundungen<br />

die Begegnung mit der Florentinerin<br />

Beatrice im Jahr 1274. Beatrice war die Tochter<br />

des Adeligen Portinari und starb 1290 im Alter<br />

von nur 24 Jahren. Sie hat sein Leben und sein<br />

dichterisches Schaffen bedeutend beeinflusst.<br />

Über seine schulische Ausbildung liegen keine<br />

134<br />

gesicherten Angaben vor. Doch kann man<br />

sagen das seine Werke von einer Gelehrsamkeit<br />

zeugen, die nahezu das gesamte Wissen des<br />

Mittelalters umfassen. Man kann aber sicher<br />

sagen, dass er von Brunetto Latini unterrichtet<br />

wurde, einem bedeutenden Philosophen und<br />

Rhetoriker. Möglicherweise studierte er auch<br />

Jura an der dortigen <strong>Universität</strong>. Er heiratete<br />

1295 Gemma Donati, die einer Guelfenfamilie<br />

angehörte. Um sich po<strong>lit</strong>isch betätigen zu können,<br />

trat er der Ärzte- und Apothekerzunft bei.<br />

Durch po<strong>lit</strong>ische Spannungen zwischen zwei<br />

Fraktionen der Guelfen, den Schwarzen, die im<br />

Papst einen Verbündeten gegen die Kaiser-


Abb. 2 Gustave Doré: Dante und Vergil im 9. Kreis der Hölle<br />

Abb. 3 Sandro Botticelli: Das Inferno<br />

macht sahen, und den Weißen, die entschlossen<br />

waren vom Papst als auch vom Kaisertum<br />

unabhängig zu bleiben. Florenz geriet ganz in<br />

die Hände der „Schwarzen“, hunderte von Weißen<br />

wurden verbannt, darunter auch Dante.<br />

Er verbrachte eine lange Zeit in Verona und in<br />

der Toskana. Um 1309 besuchte Dante für ein<br />

Jahr Paris, wo er sich philosophischen Studien<br />

widmete. Im Jahre 1315 machte Florenz<br />

Dante ein Angebot zur Rückkehr in die Stadt,<br />

doch Dante lehnte ab. Dante lebte weiterhin<br />

im Exil und verbrachte die letzten Jahre seines<br />

Lebens im Dienst des Fürsten Guido da Polenta<br />

in Ravenna, wo er nach einer Erkrankung, die<br />

er sich bei seiner diplomatischen Mission nach<br />

Venedig zugezogen hatte. Am 14.September<br />

1321 verstarb Dante, er wurde in der Franziskanerkirche<br />

Santa Pier Maggiore beigesetzt.<br />

135<br />

2. „Die göttliche Komödie“<br />

Allgemeines<br />

Die göttliche Komödie gehört zu den bedeutendsten<br />

Hauptwerken der Italienischen Literatur<br />

und ist das erste dichterische Werk in der<br />

italienischen Sprache von solch einem Umfang.<br />

Dieses epische Gedicht hat über Jahrhunderte<br />

hinweg bildende Künstler wie Sandro Botticelli<br />

(1480), William Blake (1827) und Gustave Doré<br />

(1861) zu Illustrationen inspiriert (Abb. 2). Dante<br />

Alighieri hat die göttliche Komödie in der<br />

Zeit von 1307 bis 1321 verfasst, er war damals<br />

35 Jahre, was gemäß den Vorstellungen jener<br />

Zeit etwa der Mitte seines Lebens entspricht.<br />

Die göttliche Komödie ist ein sehr breit angelegtes<br />

Gedicht und durch eine große harmonische<br />

Geschlossenheit charakterisiert, wobei es<br />

sich in drei Teile aufgliedert. Inferno (die Hölle),<br />

Purgatorio (der Läuterungsberg) und Paradiso (<br />

das Paradies) Jeder dieser Abschnitte wird in je<br />

33 Gesängen von Dante durchwandert und ist<br />

in jeweils neun Stufen unterteilt.<br />

Inhalt<br />

Die Göttliche Komödie stellt eine große Vision<br />

Dantes dar, die ihm im Traum erschienen ist.<br />

In ihr schildert er das persönliche Erlebnis einer<br />

Wanderung durch das Jenseits. Diese Reise ist<br />

für Dante notwendig, da er „vom Rechten Weg<br />

abgekommen ist“.<br />

Dante verliebte sich mit neun Jahren unsterblich<br />

in ein Mädchen namens Beatrice. Beide trafen<br />

sich nur zwei- oder dreimal und niemand weiß,<br />

was sie über ihn dachte bzw. für ihn empfand<br />

und ob sie seine Liebe teilte. Dante verlor sich in<br />

dieser Liebe und so wurde Beatrice, die Quelle<br />

seiner Inspiration. Die Reise dient also der<br />

Läuterung und ist zugleich eine große Gnade,<br />

da Dante als Lebender durch die Welt der Toten<br />

reisen darf.<br />

Die ganze Reise hindurch wird Dante, erst vom<br />

<strong>Schatten</strong> des von ihm am meisten bewunderten<br />

Dichters Vergil, dann durch Beatrice selbst<br />

und zuletzt durch den Heiligen Bernhard von<br />

Clairvaux geführt. Dante durchschreitet mit dem<br />

römischen Dichter Vergil, der auf Geheiß von<br />

Beatrice zu ihm geschickt wurde, um ihn zum<br />

Ort der Erlösung zu führen, erst das Inferno (die<br />

Hölle), angefangen vom Limbos (die Vorhölle),<br />

wo sich die unschuldig schuldig Gewordenen,<br />

die ungetauften Kinder sowie die antiken Dichter<br />

und Denker aufhalten, bis hin zur innersten<br />

Hölle. Anschließend gelangen Dante und Vergil<br />

in das zweite Reich des Jenseits, auf den Läuterungsberg<br />

(Purgatorio). Hier befinden sich die<br />

Verstorbenen mit den größten Vergehen. Es ist<br />

immer noch ein Ort des Leidens, aber auch eine<br />

Region der Liebe und der Freude, denn dort<br />

sind die Seelen schon auf ihrer Reise zu Gott und<br />

die Ängste, die Verzweiflungen und Schrecken<br />

der Hölle sind vorbei. Auf dem Gipfel des Läuterungsberges<br />

übernimmt Beatrice die Führung,<br />

sie wird als eine engelsgleiche, idealisierte Frauengestalt<br />

dargestellt. Mit ihr durchschwebt Dante<br />

das Paradiso (Paradies), wo er ganz zuletzt<br />

die Trinität und Gott selbst erahnen darf.


Abb. 4 Illustrationon aus: Die Himmelstür zum Cyberspace, Wertheim, 1999<br />

Abb. 5 Sandro Botticelli: Achter Kreis Bestrafung der Kuppler, Verführer,<br />

Schmeichler und Huren<br />

136<br />

3. Aufbau von Dante Alighieris Jenseitsreich<br />

Seit der Renaissance haben die Menschen<br />

immer wieder komplizierte Karten mit genauen<br />

Maßangaben der drei Jenseitsreiche angefertigt.<br />

Eine riesige Höhle unter der gesamten<br />

nördlichen Erdhalbkugel, so stellt sich Dante<br />

das Inferno vor (Abb. 3). Nach einem Vorhof<br />

und dem Grenzfluss Acheron verengt es sich<br />

um die Achse des Planeten über acht konzentrische<br />

Kreise bis hin zum tiefsten, neunten Bezirk.<br />

Dieser neunte Bezirk markiert, bestehend aus<br />

einer Eisfläche, den Mittelpunkt der Welt.<br />

Genau dort hat Luzifer seinen Sitz. Mit Hilfe<br />

von Figuren und Handlungen stellt Botticelli im<br />

Höllentrichter stark vereinfacht den Ablauf der<br />

Danteschen Erzählung dar (Abb. 4).<br />

Die Hölle<br />

Die Hölle ist im Erdinnern gedacht, als ungeheurer,<br />

sich nach unten verengender Trichter;<br />

Je tiefer es hinab geht, umso kleiner werden<br />

die Kreise, aber umso größeres Leid umschließen<br />

sie. In der Vorhölle, am obersten Rand des<br />

Schlundes, drängen sich die „lauen Seelen“, das<br />

Jammervolk, das nie recht lebend war, ohne<br />

Ruhm und Schande lebten sie, die Gleichgültigen<br />

und Wertlosen ,die weder Himmel noch<br />

die Hölle haben will.<br />

1. Im ersten der Höllenkreise weilen in stiller<br />

Sehnsucht die Weisen, Dichter und Helden des<br />

Altertums, von Christus unerlöst.<br />

2. Im zweiten, der Liebeshölle, werden die vom<br />

Sinnentrug betörten, die Sünder aus Liebesleidenschaft<br />

von furchtbaren Orkanen durch<br />

die Ewigkeit gepeitscht: Semiramis, Kleopatra,<br />

Helena, Achill, Paris, Tristan, tauchen im Zug<br />

der heulenden, vorüberbrausenden <strong>Schatten</strong><br />

auf.<br />

3. Im dritten Höllenkreis, von ewigem, kalten<br />

gottverfluchten Regen überschauert, schleppen<br />

sich die Schlemmer, deren Gott der eigene Leib<br />

war, durch ekelhaften Kot.<br />

4. Im vierten wälzen Geizige und Verschwender<br />

heulend Steinlasten auf sich zu, fühlen sich<br />

durch den gegenseitigen verhassten Anblick<br />

doppelt gestraft.<br />

5. Der fünfte Kreis wird durch den Stygischen<br />

Sumpf gebildet, in dessen stinkenden Wassern<br />

die Zornigen einander zerfleischen. Dieser<br />

Sumpf liegt vor der brennenden Stadt Dis.<br />

(In den oberen Stufen büßen die Sünder aus<br />

Schwachheit, die mehr passiven, so leiden in<br />

den tieferen die Sünder aus Bosheit, die aktiv<br />

Bösen.)<br />

6. Im sechsten Kreis beginnt die untere Hölle.<br />

In feurigen Grüften liegen still die Ketzer, die<br />

von der Kirche Geächteten:<br />

Kaiser Friedrich II, der große Ghibelline Farinata<br />

degli Uberti, auch ein Papst, Anastasius II.<br />

7. Der siebte Höllenkreis zeigt die in einer<br />

schauerlichen, von blutigen Wassern<br />

durchrauschten Schlucht eingeschlossenen<br />

Tyrannen, Mörder, und Straßenräuber, den<br />

düsteren Wald der Selbstmörder, die glühende,


Abb. 6 Illustration aus: Die Himmelstür zum Cyberspace, Wertheim, 1999<br />

Quellen<br />

Literatur:<br />

Wertheim, Margaret (1999):<br />

Die Himmelstür zum<br />

Cyberspace, Eine<br />

Geschichte des Raumes<br />

von Dante zum Internet,<br />

Zürich: Ammann (2000)<br />

Busse, Carl: Geschichte der<br />

Welt<strong>lit</strong>eratur; Bielefeld<br />

u.a.: Velhagen & Klasing<br />

(1910-1913)<br />

Internet:<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/<br />

Die_Göttliche_Komödie<br />

http://www.klassiker-derwelt<strong>lit</strong>eratur.de/dante.<br />

htm<br />

von feurigem Regen überströmte Wüste, in der<br />

die Gotteslästerer, Wucherer und die der unnatürlichen<br />

Laster Schuldigen gequält werden.<br />

8. Im achten Höllenkreis findet man Kuppler<br />

und Verführer, Schmeichler und Buhlerinnen,<br />

bestechliche Beamte und Priester, die ihr Amt<br />

erschacherten, Heuchler und Diebe, Sektenstifter<br />

und ähnliche Sünder, und für jede einzelne<br />

Kategorie ist mit raffinierter Grausamkeit eine<br />

andere Folter erdacht (vgl. Abb. 5).<br />

9. Der neunte Kreis wird von der Eishölle gebildet;<br />

blau gefrorene Köpfe und Leiber starren in<br />

der grünen durchsichtigen Tiefe umher. Dort<br />

sind die Verräter, die Bruder- und Vatermörder.<br />

Im Erdmittelpunkt dann, von den Himmeln am<br />

weitesten entfernt, steht als Abschluss der Hölle<br />

Luzifer; riesenhaft ragen seine drei Häupter, deren<br />

Mäuler fortwährend, von Ewigkeit zu Ewigkeit,<br />

die drei schrecklichsten Sünder zermalmen:<br />

Judas Ischariot, den Verräter Christi; Brutus<br />

137<br />

und Cassius, die Verräter und Mörder Cäsars.<br />

Nach diesen Höllenkreisen voll schauerlicher<br />

Phantasie, wahnwitziger Strafen, gelangt man<br />

zur anderen Hemisphäre, der des unendlichen<br />

Wassers, zum Fuße des auf Inselmitten sich<br />

erhebenden Läuterungsberges (Purgatorio).<br />

Der Läuterungsberg ragt über neuen Ebenen<br />

kegelförmig nach oben, und auf jeder Ebene<br />

sind die Seelen geläuterter als auf der darunter<br />

liegenden. Während es aus dem Inferno kein<br />

Entrinnen gibt, sind hier die Seelen „in Bewegung“<br />

und haben eine Chance, die höchste<br />

Ebene, das Paradies doch noch zu erreichen.<br />

Deshalb ist der Läuterungsberg auch ein „Ort<br />

der Hoffnung“ (vgl. Abb. 6).<br />

4. Verknüpfung der göttliche Komödie<br />

mit dem Thema <strong>Schatten</strong><br />

“Die Erde ist nur ein <strong>Schatten</strong> der ewigen<br />

Reiche, sie sind der Schlüssel zum Verständnis<br />

unseres Lebens.“ Auszug aus dem Prolog<br />

der göttlichen Komödie. In Dantes göttlicher<br />

Komödie wird das Leben auf der Erdoberfläche<br />

zu einem <strong>Schatten</strong>. Das physische, reale<br />

Leben erscheint hier als eine <strong>Schatten</strong>welt im<br />

Gegensatz zu dem darauf folgenden, spirituellen<br />

Leben in der Hölle und dem Paradies.<br />

Unser heutiges wissenschaftliches Weltbild<br />

erfasst „nur“ den Körper und damit „nur“ den<br />

Raum der Lebenden. Das christlich geprägte,<br />

mittelalterliche Weltbild zu Dante Alighieris<br />

Zeit, schloss sowohl die Räume der Lebenden<br />

als auch die der Toten mit ein. In diesem System<br />

spiegeln Körper-Raum und Seelen-Raum einander.<br />

Dieses vorherrschende mittelalterliche<br />

Weltbild und die damit zusammenhängenden<br />

Grundzüge von einem dualistischen System,<br />

aufgeteilt in das reale Leben und das spirituelle<br />

Leben, spielen in Dantes Werk eine entscheidende<br />

Rolle und sind somit Grundlage für die<br />

göttliche Komödie. Unser Leben auf der Erdoberfläche<br />

wirft in diesem Sinn einen <strong>Schatten</strong>,<br />

der für unser Leben danach entscheidend ist.<br />

Das Leben, welches auf der Erde stattfindet ist<br />

hier eine Bewährungsprobe für das eigentliche<br />

„ewige“ Leben in der Hölle oder dem Paradies.<br />

Was nach dem Leben im physikalischen Raum<br />

geschieht, wird durch unsere dortigen Handlungen<br />

bestimmt und ist somit nur ein <strong>Schatten</strong><br />

unseres eigentlichen Lebens. Dante schreibt<br />

dazu im Prolog: „Das Heil des Menschen ist auf<br />

Erden nicht zu finden“ Dante Alighieris Genia<strong>lit</strong>ät<br />

verdeutlicht sich in der göttlichen Komödie<br />

in der Verbindung zwischen seinem realen und<br />

persönlichen Leben mit dem gesamten christlichen<br />

Epos. Die gesamte Reise hindurch trifft<br />

er auf reale und bekannte Persönlichkeiten mit<br />

denen er spricht und Fragen der Philosophie<br />

und Theologie erörtert. Hier zeigt sich wieder<br />

die Verbindung zum Thema „<strong>Schatten</strong>“, da für<br />

Dante Alighieri die physikalische Welt immer<br />

und jederzeit ein Spiegelbild und somit ein<br />

<strong>Schatten</strong> des Seelenlebens darstellt.


Isabelle Behnke<br />

Holocaust, Hiroshima<br />

Abb. 1: „Die maschinelle Sonnenfinsternis im Zeitraffer“<br />

Einleitung<br />

In dieser kurzen Ausarbeitung zum Thema<br />

„Holocaust und Hiroshima- Die Kunst danach“,<br />

wird ein kurzer Rückblick in die Zeit des zweiten<br />

Weltkrieges geworfen. Anhand von Bildern<br />

soll verdeutlicht werden, welche Ausmaße die<br />

Judenverfolgung zur damaligen Zeit angenommen<br />

hat und welche Folgen der Atombombenabwurf<br />

über Hiroshima am 09.08.1945 mit<br />

sich brachte. Zu den Bildern werden wichtige<br />

geschichtliche Daten und Umstände genannt<br />

um die Realisierung des Ausmaßes zu verdeutlichen.<br />

Anschließend soll über die etwa<br />

zwanzigminütige Diskussion berichtet werden.<br />

Eigene Eindrücke und Überlegungen bilden<br />

den Schluss der Arbeit.<br />

1933-1935 Machtergreifung und Gleichschaltung<br />

des deutschen Reiches<br />

In den Jahren 1933-1935 fand in Deutschland<br />

die Machergreifung und die Gleichschaltung<br />

statt. Am 30.01. 1933 wurde Adolf Hitler durch<br />

P. v. Hindenburg zum Reichkanzler ernannt.<br />

Durch dieses Ereignis wurde das Ende der Weimarer<br />

Republik markiert und der Beginn der<br />

Diktatur wurde von den Nationalsozia<strong>liste</strong>n als<br />

Machtergreifung gefeiert. Nach den Neuwahlen<br />

am 5.3.1933 wurde Deutschland gleichgeschaltet.<br />

Die hoheitlichen Aufgaben der Länder<br />

wurden von Parteien, Gewerkschaften, Organisationen<br />

und Verbänden übernommen. Die<br />

freie Presse und Kultur wurde ebenfalls durch<br />

die NS-Propaganda ersetzt. Die Bevölkerung<br />

Deutschlands wurde in ihren Grundrechten<br />

eingeschränkt als Reichspräsident Hindenburg<br />

138<br />

die Reichstagsbrandverordnung verabschiedete.<br />

Der Reichstagsbrand war außerdem eine<br />

passende Begründung für die Verhaftung<br />

vieler Parlamentsmitglieder und war Grund<br />

genug die KPD zu verbieten. Die Inszenierung<br />

des Tages von Potsdam am 21. März 1933<br />

verschaffte den Nationalsozia<strong>liste</strong>n bezüglich<br />

der Machtübernahme weiteren Rückhalt im<br />

In- und Ausland. Kurz darauf folgte am 23.März<br />

die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetztes,<br />

welches für die Regierung eine nahezu<br />

uneingeschränkte Gesetzgebungsbefugnis<br />

ermöglichte.<br />

Nach der Unterdrückung der linken Parteien,<br />

der Einschränkungen im öffentlichen und auch<br />

beruflichen und wirtschaftlichen Handlungsbereich<br />

der Juden und der Nötigung aller<br />

liberalen und demokratischen Gruppierungen<br />

wurde 1933 das erste Konzentrationslager in<br />

Dachau eingerichtet. Hier wurden zunächst<br />

allerdings eher po<strong>lit</strong>ische Gegner des Systems<br />

untergebracht. Dieses KZ und viele andere im<br />

Gebiet des deutschen Reiches wurden durch<br />

eine Polizeimaßnahme gerechtfertigt. Am 01.<br />

April 1933 wurde durch die SA ein Boykott<br />

jüdischer Geschäfte organisiert. Dessen Folge<br />

war die Ausschließung aller Juden aus dem<br />

öffentlichen Leben und die Entlassung jeglicher<br />

jüdischer Beamter aus dem Staatsdienst (Abb.<br />

1). Am 02.08.1934 wird Hitler schließlich nach<br />

Hindenburgs Tod Führer und Reichskanzler.<br />

Die Reichswehr musste einen Führereid ablegen,<br />

ebenso das gesamte Berufsbeamtentum.<br />

So stellte Hitler sicher, dass Systemgegner oder<br />

Systemkritische ihr Amt ablegen mussten.


Abb. 2 Isolierung der in<br />

deutschland lebenden Juden<br />

1935-1939 Stabilisierung der Macht, Aufrüstung<br />

und Vergrößerung des<br />

deutschen Reiches<br />

1935 wurden auf dem Reichsparteitag der NS-<br />

DAP die Nürnberger Rassegesetze beschlossen.<br />

Demnach wurde die bereits 1933 begonnene<br />

Ausgrenzung und Isolierung der in Deutschland<br />

lebenden Juden bestätigt, wodurch<br />

Rassismus und Antisemitismus als Staatsgesetze<br />

verankert wurden. Nach dem 07.11.1938<br />

wurden aufgrund eines Anschlages auf Ernst<br />

E. v. Rath die Novemberpogrome von den<br />

Nationalsozia<strong>liste</strong>n inszeniert. Mitglieder der SA<br />

und SS legten in vielen Synagogen Feuer und<br />

zerstörten Häuser und Wohnungen zahlreicher<br />

Juden. Etliche Juden ließen ihr Leben durch<br />

Ermordungen und Misshandlungen der SA<br />

und SS vor den Augen der Polizei, welche laut<br />

Befehl nicht eingreifen sollten. Ab dem 10.<br />

November nach den Pogromen begannen die<br />

Deportationen vieler Juden in Konzentrationslager.<br />

1939-1945 Zweiter Weltkrieg<br />

Der zweite Weltkrieg wurde durch den Einfall<br />

der Wehrmacht in Polen ausgelöst. Während<br />

des „B<strong>lit</strong>zkrieges“ fiel die Wehrmacht nach<br />

Dänemark, Norwegen und in die Beneluxstaaten<br />

ein. Auch Frankreich wurde 1940 besiegt,<br />

wodurch Hitlers „Karriere“ seinen Höhepunkt<br />

erreichte, da nun das Versailles-Problem ausgelöscht<br />

war. Beim Unternehmen Barbarossa (ab<br />

dem 22.Juni 1941) drang die Wehrmacht bis<br />

Moskau, Stalingrad und Leningrad vor.<br />

Es folgte eine systematische Ausplünderung<br />

der besetzten Ostgebiete. Die Nahrungsmittel<br />

der dortigen Bevölkerung wurden für die<br />

Wehrmacht verwendet, welche somit nicht<br />

gezwungen war sich aus dem weit entfernten<br />

deutschen Reich zu versorgen. Dabei waren<br />

die auf die Plünderung folgenden Hungersnöte<br />

der Bevölkerung einkalkuliert, da die dort<br />

lebende Bevölkerung als „Untermenschen“<br />

bezeichnet wurden. Die gesamte jüdische<br />

Bevölkerung wurde in Konzentrationslager<br />

deportiert. Sie mussten ihr Eigentum der<br />

Wehrmacht überlassen, welche dadurch über<br />

finanzielle Mittel in der damaligen Landeswährung<br />

verfügte.<br />

Die erste Niederlage musste das Deutsche<br />

Reich im Winter 1941/1942 verbuchen, in<br />

dem die Schlacht um Stalingrad durch falsche<br />

Entscheidungen Hitlers verloren wurde. Im<br />

Dezember 1941 wurde auch den USA der Krieg<br />

erklärt. Die Rote Armee eroberte bis Ende des<br />

Jahres 1943 weite deutsch- besetzte Gebiete<br />

zurück. Die deutsche Wehrmacht musste in<br />

Nordafrika kapitulieren.<br />

Währenddessen war der schon lange geplante<br />

Völkermord an den Juden, der sog. Holocaust<br />

in vollem Gange. Ab September 1941 mussten<br />

alle Juden als Kennzeichnung einen Judenstern<br />

an der Kleidung tragen. Es fanden Massenerschießungen<br />

statt. Die jüdische Bevölkerung<br />

wurde entrechtet, enteignet und in sog. „Judenwohngebieten“<br />

untergebracht. Nachdem<br />

139<br />

1942 auf der Wannseekonferenz die „Endlösung<br />

der Judenfrage“ beschlossen wurde,<br />

errichtete man im Osten die Vernichtungslager<br />

Auschwitz, Treblinka und Majdanek. Bis zum<br />

Kriegsende wurden in diesen Vernichtungslagern<br />

6 Millionen Menschen erschossen und zu<br />

Tode gefoltert. Sie verhungerten, starben an<br />

den Folgen medizinischer Versuche oder starben<br />

durch die Verbreitung von Krankheiten,<br />

wie Typhus oder Tuberkulose u. a..<br />

Nachdem die Bombardierung deutscher Städte<br />

durch die Alliierten 1943 begonnen hatte,<br />

nahmen sich Hitler und Goebbels das Leben.<br />

Generaloberst Jodl unterzeichnete am 7. Mai<br />

1945 die bedingungslose Gesamtkapitulation<br />

des deutschen Reiches.<br />

Atombombenabwürfe über Hiroshima<br />

und Nagasaki<br />

Am 06.August und am 09.August geschahen<br />

die beiden Atombombenabwürfe über Hiroshima<br />

und Nagasaki. Der damalige US-Präsident<br />

Harry S. Truman befahl sie und ließ sie von<br />

US- amerikanischen Bombern durchführen.<br />

Diese beiden Atombomben gehörten zu den<br />

ersten drei einsatzfähigen Atomwaffen, welche<br />

in einem Krieg gezündet wurden. Obwohl<br />

beide Atombombenabwürfe als Kriegsverbrechen<br />

bezeichnet werden, wurden sie niemals<br />

derart untersucht oder geahndet. Als Grund<br />

für die Abwürfe wurde von der US-Regierung<br />

die schnellere Kapitulation Japans zur Lebensrettung<br />

vieler amerikanischer Soldaten als<br />

Grund hervorgebracht. Diese Rechtfertigung ist<br />

jedoch bis heute sehr umstritten. Geschwächt<br />

von den Folgen der Atomexplosionen kapitulierte<br />

Japan am 16.August 1945, wodurch der<br />

zweite Weltkrieg auch in Südostasien beendet<br />

wurde. Als globale Folge der Atombombenabwürfe<br />

begann ein Rüstungswettlauf zwischen<br />

den USA und der Sowjetunion, welcher ein<br />

großer Bestandteil des Kalten Krieges war aber<br />

auch Friedensbewegungen ins Leben rief. Wie<br />

man an den aktuellen Diskussionen bezüglich<br />

des Iraks erkennen kann, sind die Folgen von<br />

Atombomben als Drohmittel und Kriegswaffe<br />

noch heute zu spüren.<br />

Ablauf des Atombombenabwurfes,<br />

Auswirkungen und Details<br />

Das japanische Frühwarnsystem entdeckte<br />

eine Stunde vor dem Abwurf gegen 7.00 Uhr<br />

Ortszeit drei Flugzeuge der US-Luftwaffe. Durch<br />

dieses beabsichtigte Täuschungsmanöver der<br />

USA wurden in Japan Radiosendungen unterbrochen<br />

und Alarm ausgerufen. Eine Stunde<br />

später gegen 8.00 Uhr hob die Radarüberwachung<br />

den Alarm wieder auf, da die Enola Gay,<br />

der US-Bomber mit der Atombombe an Bord,<br />

lediglich für ein Aufklärungsflugzeug gehalten<br />

wurde, da sie sehr hoch flog. Bereits einige<br />

Tage zuvor, hatte die US-Waffe einzelne Flugzeuge<br />

in den Luftraum über Hiroshima fliegen<br />

lassen, um die Reaktion der Entwarnung von<br />

Seiten Japans hervorzurufen.<br />

Um Punkt 08:15:17 Uhr Ortszeit wurde die


Abb. 3 The Hospital Block<br />

Courtyard at Auschwitz<br />

(Photo: Alan Jacobs 1980,<br />

1996)<br />

Abb. 4 Scheinwerfer am Hauptturm<br />

(Photo: Alan Jacobs)<br />

Abb. 5 Ein jüdischer Mann vor<br />

seinem Tod in der Gaskammer<br />

(Photo: Main Commission<br />

fort he Investigation of Nazi<br />

Crimes)<br />

Abb. 6 Kinder die in Auschwitz<br />

für medizinische Versuche<br />

missbraucht wurden<br />

(Photo: Yitzhak Arad)<br />

Atombombe von einem US-Bomber namens<br />

Enola Gay in 9.450 Metern Höhe über der Stadt<br />

ausgeklinkt. Sie detonierte um 08:16:02 Uhr in<br />

580 Metern Höhe über der Stadt. Die dadurch<br />

entstehende Druckwelle machte innerhalb von<br />

43 Sekunden 80% der Innenstadtfläche dem<br />

Erdboden gleich. Gleichzeitig entstand ein<br />

Feuerball mit einer Innentemperatur weit über<br />

einer Million C°. Die unglaubliche Hitze dieses<br />

Feuerballs ließ noch in 10 Km Entfernung<br />

Bäume in Flammen aufgehen. Der durch die<br />

Detonation entstandene, aus aufgewirbeltem<br />

Material bestehende Atompilz stieg 13Km in die<br />

Höhe auf und ging 20 min. später als radioaktiver<br />

Niederschlag über Hiroshima und Umgebung<br />

nieder.<br />

Gemeinsam mit dem Atombombenabwurf<br />

über Nagasaki wurden bei diesen Explosionen<br />

etwa 155.000 Menschen sofort getötet.<br />

110.000 Menschen starben schon wenige<br />

Wochen später an den Folgen radioaktiver<br />

Strahlung und Verbrennungen. Bis zu 100.000<br />

Menschen starben noch Jahre und Jahrzehnte<br />

später an den Folgeschäden, welche zum Großteil<br />

aus radioaktiven Verbrennungen bestehen,<br />

bei denen die langsame Zersetzung der inneren<br />

Organe hervorgerufen wird.<br />

Abb. 3 bis 12 Bildteil Holocaust und Hiroshima<br />

Unterhaltung über Gefühle und Eindrücke<br />

während des Betrachtens<br />

Nachdem ich meine Powerpoint- Präsentation<br />

vorgetragen hatte, zeigte ich erneut die Fotografien<br />

zu beiden Themen um die Eindrücke<br />

der anderen zu erfahren und zu sammeln.<br />

Ich entschied mich zunächst dafür die Bilder (s.<br />

o.) ohne Worte zu zeigen und auf Wortmeldungen<br />

zu warten.<br />

Es stellte sich heraus, dass die Bilder auf denen<br />

Gesichter zu sehen waren (Abbildungen: 5, 6<br />

7, 8) im Falle unserer Gruppe am meisten Wortmeldungen<br />

auslösten. Die Abbildungen zum<br />

Thema Hiroshima, besonders die Abbildungen<br />

15 und 16, lösten bei den meisten Personen<br />

großes Entsetzen aus, da sie noch nie Fotos mit<br />

einem solchen Inhalt gesehen hatten.<br />

Um zum Thema zu gelangen, schickte ich die<br />

Frage voraus, wo in den Bildern der Bezug zum<br />

Thema <strong>Schatten</strong> gesehen werden kann.<br />

Gemeinsam stellten wir fest, dass „<strong>Schatten</strong>“ in<br />

diesen Bildern mehrere Bedeutungen haben<br />

können.<br />

Zum einen stellen sie sicherlich etwas Bedrohliches<br />

dar, wie man z.B. in Abbildung 3 sehen<br />

kann. Dort wird der freie Blick auf den kitschig<br />

roten Abendhimmel durch dunkle Gemäuer<br />

versperrt. Türen, Fenster und Mauervorsprünge<br />

werfen dunkle, bedrohlich wirkende <strong>Schatten</strong>.<br />

Zum anderen versperren <strong>Schatten</strong> in einigen<br />

Bildern, den Blick ins Innere des Menschen.<br />

In den bereits erwähnten Abbildungen 5-8,<br />

spiegeln die <strong>Schatten</strong> für einen Großteil der<br />

Betrachter die Leere der gezeigten Personen<br />

wieder.<br />

140<br />

Abb. 7 Ein Überlebender des KZs in Dachau am<br />

Tag der Befreiung (Photo: US National Archives)<br />

Abb.8 Ein Kind, das den Holocaust überlebte...<br />

(Photo: Holocaust Museum Houston)<br />

Abb. 9 Überbleibsel eines in Babi Yar exekutierten<br />

Juden (Photo: www.ncssm.edu)


Abb. 10 25.000 Paar Schuhe,<br />

von den in Auschwitz ermordeten<br />

Juden (Photo: Alan Jacobs)<br />

Abb. 11 Auschwitz: Ein Berg<br />

aus Besteck... (Photo: Alan<br />

Jacobs)<br />

Abb. 13 Der Dom von Hiroshima<br />

nach der Detonation der<br />

Atombombe (Photo: www.<br />

justwartheory.com)<br />

Abb. 14 Manche Menschen lassen<br />

nur ihren <strong>Schatten</strong> zurück<br />

(Photo: www.lenoci.org)<br />

Abb. 12 Innenstadt von Hiroshima nach der Detonation der Atombombe (Photo: www.justwartheory.com)<br />

Obwohl man sagen muss, dass sich die<br />

genannten Bilder durch etwas Wesentliches<br />

unterscheiden.<br />

In Abbildung 5 stellen die <strong>Schatten</strong> in der nahen<br />

Umgebung der Person etwas Bedrohliches<br />

dar, das immer näher kommt. Im Gesicht des<br />

Mannes hingegen, verdecken die <strong>Schatten</strong> eher<br />

einen widerstandlosen Blick des gebrochenen<br />

Willens und nicht eine eher panisch zu erwartende<br />

Haltung. Das Bevorstehende wird durch<br />

die <strong>Schatten</strong> aufgezeigt.<br />

In Abbildung 6-8 spiegeln die <strong>Schatten</strong> in den<br />

Gesichtern der abgebildeten Personen das Erlebte<br />

nahezu wieder. Es handelt sich ebenfalls<br />

um den gebrochenen Willen, jedoch zusätzlich<br />

um das Elend, welches hinter den Personen<br />

liegt. Die nahe Vergangenheit hat nicht nur<br />

körperliche, sondern auch tiefe seelische Wunden<br />

gerissen, welche für den Betrachter durch<br />

die <strong>Schatten</strong> angedeutet werden.<br />

Bei Abbildung 15 und 16 fällt es schwer zu<br />

glauben, dass es sich tatsächlich um Fotos und<br />

nicht um Fotomontagen oder gar Zeichnungen<br />

handelt. Die Form des <strong>Schatten</strong>s aus Asche<br />

und Rauch ist das Einzige, was auf die vergangene<br />

Existenz eines Menschen hindeutet. Sie<br />

lässt den Betrachter erahnen, dass anstelle des<br />

<strong>Schatten</strong>s einmal ein Mensch existierte.<br />

Eigene Empfindungen<br />

Abschließend möchte ich nun von meinen<br />

eigenen Eindrücken bezüglich der Bilder<br />

berichten. Als ich im Internet recherchierte und<br />

die Bilder zum Thema fand, hatte jedes Bild auf<br />

141<br />

Abb. 15 Manche Menschen wurden bei der<br />

Arbeit von der Druckwelle und dem Feuerball<br />

erfasst (Photo: www.lenoci.org)


Panorama der Weltgeschichte,<br />

Band III Die Moderne, Von<br />

Napoleon bis zur<br />

Gegenwart; Hrsg. H.<br />

Pleticha, G.Siefer,<br />

P.Stromberger, W. Teichert,<br />

Gütersloh 1976<br />

Internet<br />

Krzysztof Antonczyk, Ryszard<br />

Domasik, Marek Lach,<br />

Jarosław Mensfelt, Teresa<br />

Swiebocka: www.auschwitz.<br />

org.pl, 1999-2003; Stand<br />

28.12.2006<br />

Holocaust Community: www.<br />

remember.org, 1995, Stand<br />

28.12.2006<br />

Abbildungen<br />

Abb. 1: Boykott jüdi<br />

scher Geschäfte, www.<br />

ncssm.edu/holocaust/<br />

images/20210thumb.jpg;<br />

Stand: 15.01.07<br />

Abb. 2: Gettoisierung der<br />

jüdischen Bevölkerung;<br />

www.ncssm.edu/holocaust/<br />

images/37316_thumb.jpg;<br />

Stand: 15.01.2007<br />

Abb. 3:The Hospital Block cour<br />

tyard at Ausschwitz, Alan Ja<br />

cobs, Photografie, 1979-<br />

1981; www.remember.<br />

org/jacobs/index.html<br />

Abb. 4:Black Flower, Alan Ja<br />

cobs, Photografie, 1979-<br />

1981; www.remember.<br />

org/jacobs/index.html<br />

Abb. 5: Jewish man awaiting<br />

death in a gas van, Photo<br />

grafie: Main Comission<br />

for the Investigation of Nazi<br />

Crimes; www.othervoices.<br />

org/2.1/images/chelmno.<br />

jpg<br />

Abb. 6: Childrem subjec<br />

ted to medical experiments<br />

in Ausschwitz, Photografie:<br />

The Pictorial History of<br />

Holocaust, ed. Yitzhak Arad<br />

NY: Macmillan 1990; www.<br />

english.uiuc.edu/.../medical<br />

exp.jpg<br />

Abb. 7: Dachau survivor on the<br />

day of liberation, Photo<br />

grafie: US National Archives,<br />

Francis Robert Arzt collec<br />

tion; www.isurvived.org/.../<br />

dachau-survivor.GIF<br />

Abb. 8: Holocaust Child;<br />

www.isurvived.org/.../holo<br />

caust-child.GIF<br />

Abbildung 9:b Babi Yar, 33.771<br />

mich eine erschütternde Wirkung. Die in Lexika<br />

gesammelten schriftlichen Informationen lagen<br />

nun in Bildform vor und machten die Fakten<br />

vorstellbar. Die Ausmaße und Folgen beider<br />

Katastrophen wurden sichtbar und in gewisser<br />

Weise nachvollziehbar.<br />

Zunächst stellte sich der Bezug von Holocaust<br />

und Hiroshima auf das Thema <strong>Schatten</strong> für<br />

mich als schwierig dar. Ich stellte jedoch fest,<br />

dass es nahe liegender war als gedacht.<br />

<strong>Schatten</strong> in jeglicher Form, sind Räume in die<br />

kein Licht einfallen kann. Gegenstände und<br />

Personen, die sich in einem <strong>Schatten</strong> befinden<br />

sind nahezu unsichtbar. Alles was ein Mensch<br />

nicht sehen kann, was also im Verborgenen<br />

bleibt, macht unweigerlich Angst oder löst zumindest<br />

Verunsicherung aus, da Licht, welches<br />

zum Leben notwendig ist, im <strong>Schatten</strong> nicht<br />

vorhanden ist.<br />

In allen gezeigten Bildern deuten <strong>Schatten</strong><br />

meines Erachtens, also auf eine Katastrophe<br />

hin und spiegeln Leid wieder, wodurch beim<br />

Betrachter Erschütterung und Traurigkeit ausgelöst<br />

wird.<br />

Literatur<br />

Print<br />

142<br />

Jews executed,<br />

what is left behind; www.ncssm.edu/holo<br />

caust/images/83559.jpg<br />

Abbildung 10: Shoe Heap, Alan Jacobs, Photo<br />

grafie, 1979-1981; www.remember.org/ja<br />

cobs/index.html<br />

Abbildung 11: Small Spoons, Alan Jacobs, Pho<br />

tografie, 1979-1981; www.remember.org/ja<br />

cobs/index.html<br />

Abbildung 12: Hiroshima- der Tag danach;<br />

www.justwartheory.com<br />

Abbildung 13: Hiroshima Dom- der Tag da<br />

nach; www.atomwaffena-z.info/bilder/hi<br />

roshima_dom.jpg<br />

Abbildung14: Hiroshima 09.08.1945, vorhernachher;<br />

www.freigeister-forum.de/blogs/silent_whis<br />

pering/vorher-nachher.html<br />

Abbildung 15: Hiroshima- eingebrannte Schat<br />

ten 1 (Treppe);<br />

www.stauff.de/matgesch/bilder/shdw.jpg<br />

Abbildung 16: Hiroshima- eingebrannte Schat<br />

ten 2 (Leiter);<br />

www.lenoci.org/megafono/imgs/Hiroshi<br />

ma.jpg


Annette Wallmoden<br />

Sarah Schreinecke<br />

Inhalt<br />

Inhalt Seite<br />

1 Christian Boltanski<br />

2 Boltanskis Leben und<br />

die Auswirkungen<br />

auf die Kunst<br />

3 Die Werke Boltanskis<br />

4 Les regards<br />

5 La maison manquante<br />

6 Inventaire des objets<br />

avant appartenu a<br />

une femme de Bois<br />

– Colombes<br />

7 Liste des artistes ayant<br />

participé a la Biennale<br />

de Venise 1895-1995<br />

8 Reconstitution d’un<br />

accident qui ne m’est<br />

pas encore arrive et<br />

ou j´ai trouvé la<br />

mort<br />

9 Schlusswort<br />

Literatur<br />

Christian Boltanski<br />

ausgesuchte Werke<br />

Abbildung 1: Beil, Ralf. S. 30<br />

1 Christian Boltanski<br />

Christian Boltanski wurde am 6. September<br />

1944 in Paris geboren. Es war zu einer Zeit<br />

in der Krieg herrschte. In seiner Familie gab<br />

es deshalb Probleme und so wuchs er unter<br />

erschwerten Bedingungen auf.<br />

Seine Eltern waren juristisch gesehen getrennt,<br />

weshalb sein Vater bei der Meldung im Rathaus<br />

auch angab, dass es keine Papiere der Mutter<br />

gäbe und er keine Ehefrau habe. Dadurch kam<br />

es auf Christian Boltanskis Papieren zu dem<br />

Vermerk „Mutter unbekannt“, der auch noch<br />

häufig in Boltanskis Werken auftaucht.<br />

Ein Jahr später haben seine Eltern wieder<br />

geheiratet. Seine beiden Brüder aus erster Ehe<br />

und Christian Boltanski selber waren bei der<br />

Hochzeit dabei. Alle hatten dieselben Eltern,<br />

jedoch nicht die gleichen Papiere. Dieses verwirrende<br />

Ereignis seiner Kindheit machte Boltanski<br />

zur Grundlage und zum Kontext seiner<br />

heutigen Werke.<br />

Seine außergewöhnliche Kindheit, so sagt er<br />

selbst, hat ihn geprägt. Obwohl er sich immer<br />

eine ganz normale Kindheit gewünscht hat, ist<br />

das Gegenteil eingetreten. Er lebte mit seiner<br />

Familie in einem großen Haus in Paris. Sie nutzten<br />

jedoch nur ein Zimmer. Alle hatten Angst<br />

und <strong>lit</strong>ten sehr unter der Vorstellung verfolgt<br />

zu werden. Nach dem Krieg hat sich sein Vater<br />

nicht mehr auf die Straße getraut. Obwohl er<br />

143<br />

ein angesehener Arzt war, ging der jüdisch-ukrainische<br />

Mann nicht mehr vor die Tür.<br />

Boltanskis Kindheit war geprägt von dem Gedanken,<br />

dass die Welt gefährlich sei. Während<br />

der Besatzungszeit wurden seiner Familie viele<br />

Rechte abgesprochen. Sie hielten sich an diese<br />

Verbote aus Angst verfolgt und bestraft zu<br />

werden.<br />

Schulzeit<br />

Christian Boltanski ging nicht zur Schule. Stattdessen<br />

saß er stundenlang in seinem Zimmer<br />

ohne etwas zu tun. Eines Tages begann er<br />

jedoch mit dem Schnitzen kleiner Holzstücke.<br />

Darin fand er eine Beschäftigung. Seine Eltern<br />

meldeten ihn von der Schule ab und zwangen<br />

ihn nicht einmal dazu eine Ausbildung zu<br />

machen. Sie ließen ihm die Freiheit sich mit Dingen<br />

zu beschäftigen die ihm Freude bereiteten.<br />

Seine Ticks, sich stundenlang im Zimmer einzuschließen<br />

und Zuckerstückchen zu schnitzen,<br />

oder gar Erdkugeln zu Formen, wurden glücklicherweise<br />

von seinen Eltern akzeptiert und sein<br />

Verhalten als künstlerische Phase ausgelegt.<br />

Seinem intellektuellen Elternhaus hat er es zu<br />

verdanken, dass er schon früh mit der Kunst in<br />

Berührung kam. Denn in einem Interview sagt<br />

Boltanski selbst, dass ihn die Kunst vor dem<br />

Wahnsinn bewahrt hat.


Boltanski heute<br />

Christian Boltanski ist einer der wichtigsten Gegenwartskünstler<br />

weltweit und wurde im Jahr<br />

2006 für sein Lebenswerk mit dem Praemium<br />

Imperiale, dem „Nobelpreis der Künste“ der Japan<br />

Art Association, ausgezeichnet, den er aus<br />

den Händen des japanischen Prinzen Hitachi<br />

entgegennehmen durfte. 1<br />

In seinen Werken beschäftigt sich Christian<br />

Boltanski immer wieder mit den „zentralen<br />

Parametern menschlichen Daseins“ 2 . Diese sind<br />

für ihn Lebenszeit, Identität, Körper, Tod und<br />

Vermächtnis.<br />

Für ihn ist Kunst „ein Abenteuer, in das man mit<br />

Haut und Haaren eintaucht“ 3 .<br />

Christian Boltanski ist ein Meister der Inszenierung<br />

von Situationen und Räumen. In der<br />

Ausstellung „Zeit“ auf der Mathildenhöhe in<br />

Darmstadt (12. November 2006 bis zum 11.<br />

Februar 2007), zeigt Boltanski einige seiner<br />

bereits schon länger vorhandenen, sowie<br />

eigens für die Ausstellung entwickelte Werke.<br />

Der Besucher wird von einem Ereignis zum<br />

Nächsten durch die Ausstellung gebracht und<br />

hat dadurch Teil an Boltanskis Leben.<br />

In seinen Arbeiten verwendet er Bilder und<br />

Szenarien, die ersetzt werden können und austauschbar<br />

sind. Fotos und austauschbare Bilder<br />

deshalb, um die eigene Identität zu schützen,<br />

zu wahren und stellvertretend für eine breite<br />

Masse von Menschen, denen dasselbe Leid<br />

widerfahren ist.<br />

Häufig hat Boltanski, der als Maler begann, auf<br />

Bildmaterial, vor allem Fotografien zurückgegriffen<br />

und holt in vielen seiner Arbeiten, die in<br />

der Ausstellung in Darmstadt zu sehen sind, die<br />

Toten, die Vergessenen und das Verschollene<br />

ans Licht.<br />

Boltanski beschreibt sich selbst als ein Künstler,<br />

der Gefühle wecken möchte. Ihm ist es wichtig,<br />

dass die Betrachter seiner Werke in das „Innere“<br />

des Kunstwerkes vordringen und sich hineinversetzten<br />

können.<br />

Kunst bedeutet für Boltanski nicht nur Fragen<br />

zu stellen, sondern es geht ihm vielmehr<br />

darum, dass das Publikum ihn versteht. Das<br />

Publikum soll „kommen und fühlen“. Die Kunst<br />

als ein Abenteuer erleben, in das man mit Haut<br />

und Haaren eintauchen muss.<br />

Um nicht vergessen zu werden wünscht<br />

Boltanski sich, dass seine Kunst weitergegeben<br />

wird und dass seine Werke noch nach seinem<br />

Tod in einem angemessenen Rahmen gezeigt<br />

werden. Für ihn sind es Werke, die immer<br />

wieder in einem passenden Kontext gezeigt<br />

werden können. Er beschreibt sich als Pianist,<br />

der seine eigenen Kompositionen immer wieder<br />

aufführt. Und er wünscht sich, dass seine<br />

„Musik“ später auch von anderen gespielt wird.<br />

2. Boltanskis Leben und die Auswirkungen<br />

auf die Kunst<br />

Die Erlebnisse und Ereignisse seiner Kindheit<br />

haben ihn geprägt. Die Erinnerungen kommen<br />

immer wieder und ein Vergessen gibt es bei<br />

ihm nicht. Er arbeitete zu Themen seiner Kind-<br />

144<br />

heit, in der Hoffnung sie dadurch verarbeiten<br />

und vergessen zu können. Das Thema Kindheit<br />

ist ihm wichtig, denn diese Zeit ist es, die in<br />

jedem Menschen zu erst stirbt. Er beruft sich dabei<br />

auf das Zitat von dem Dramaturg, Tadeusz<br />

Kantor „ Wir alle tragen ein totes Kind in uns“ 4 .<br />

In den gesamten Arbeiten über die ersten<br />

Lebensjahre verwendete Boltanski Bilder und<br />

Szenarien, die an eine gewöhnliche Kindheit eines<br />

französischen Kindes erinnern. Nie verwendet<br />

er Details, die mit seiner eigenen Kindheit<br />

zu tun haben. Diese wären ihm, so sagt er<br />

selbst, viel zu speziell gewesen. Er entschied<br />

sich deshalb zu einem völlig austauschbaren<br />

Album, in dem man hätte alle Fotos mit denen<br />

einer weiteren französischen Familie ersetzen<br />

können. Der gewisse Marcel Durand war<br />

stellvertretend in diesem Werk zu finden. Ein typischer<br />

französischer Junge, dessen Name der<br />

wohl geläufigste Nachname in Frankreich war,<br />

erlebte eine ganz normale Kindheit, wie sie sich<br />

Christian Boltanski immer wünschte. Dieses Leben<br />

und Klischee stand an Stelle seiner eigenen<br />

erlebten Kindheit.<br />

Christian Boltanski kann sich noch sehr gut<br />

an den Moment erinnern, in dem ihm deutlich<br />

wurde, dass seine Kindheit von diesem<br />

Zeitpunkt an zu Ende war und ein neuer<br />

Lebensabschnitt begann. Im Prinzip versucht<br />

er dadurch Dinge zu erhalten und die Vergangenheit<br />

wieder zu finden, obwohl er weiß, dass<br />

das unmöglich ist. Davon handeln auch seine<br />

Werke. Die Dinge zu bewahren im Wissen um<br />

ihre Vergänglichkeit.<br />

Was bedeutet Zeit?<br />

Es geht dem Künstler Christian Boltanski nicht<br />

um die Zeit, es geht ihm um den Tod. Doch das<br />

eine ist untrennbar mit dem anderen verbunden.<br />

Jeder Mensch ist so einzigartig, aber doch<br />

so vergänglich. Was bleibt von den Menschen?<br />

Mit dieser Frage beschäftigt sich Boltanski häufig<br />

in den Werken. Er hat sich die Frage nach<br />

dem Tod schon immer gestellt, jedoch hat sie<br />

sich im Laufe der Zeit verändert. In dem Werk<br />

„ Mes morts“ (meine Toten) schafft Boltanski<br />

eine Arbeit, in der er den Tod seiner Freunde<br />

aufgreift. Die Wandinstallation aus dem Jahr<br />

2002 ist ein Werk mit den Todesdaten seiner<br />

Bekannten und Freunde. Auf sechzehn Metalltafeln<br />

hat Boltanski mit schwarzer Farbe in<br />

schmalen Zahlen die Geburts- und Sterbedaten<br />

seiner Angehörigen und Freunde geschrieben.<br />

Als ob es sich um neuzeitliche Grabstätten<br />

handelt, ist das ewige Licht durch eine Neonleuchte<br />

ersetzt worden. Das sterile Licht symbolisiert<br />

nicht etwa den ewigen Frieden und<br />

das ewige Leben, sondern das definitive Ende<br />

der verstorbenen Menschen. Kein Foto, kein<br />

Souvenir, nur die bloßen Zahlen. Das ist das<br />

was bleibt. Ein Menschenleben wird somit auf<br />

Jahreszahlen reduziert. Sie markieren lapidar<br />

Anfang und Ende. Nur der kleine Bindestrich<br />

verweist auf die Dauer und Intensität eines<br />

gelebten Lebens. Doch auch bald werden auch<br />

diese Jahreszahlen nichts mehr bedeuten. Was


Abbildung 2: Beil, Ralf. S. 44<br />

am Ende von uns bleibt sind zwei Daten und<br />

ein kurzer schwarzer Strich. Und dadurch tritt<br />

Boltanski immer näher an die Frage nach dem<br />

eigenen Tod und macht sich Gedanken über<br />

sein eigenes Verschwinden.<br />

Der Tod<br />

Die Frage nach dem was nach dem Tod bleibt,<br />

beschäftigt Boltanski zunehmend in seinen<br />

Werken. Ihm ist bewusst, dass er ins völlige<br />

Vergessen gerät, sobald sich nachfolgende<br />

Generationen nicht mehr an ihn erinnern. „Die<br />

wahre Radika<strong>lit</strong>ät ist es, dass wir alle vergessen<br />

werden. Egal ob arm, ob reich, ob alt, ob jung,<br />

im Laufe der Zeit erlischt die Erinnerung an<br />

einen jeden Menschen“ 5 .<br />

<strong>Schatten</strong><br />

1985 zeigt Boltanski bei der Pariser Biennale<br />

seine „<strong>Schatten</strong>“: zerbrechliche Figürchen aus<br />

Pappe und Metall, die, von Lichtprojektoren<br />

angestrahlt, große schemenhafte <strong>Schatten</strong> an<br />

die Wand werfen. Verschiedene <strong>Schatten</strong>spiele<br />

werden in diesen Jahren zur Grundlage der<br />

Monumente- Serie, in denen vergrößerte Porträtfotografien<br />

mit Kabeln und Glühbirnen zu<br />

großen Wandbildern werden- Andachtsbilder<br />

einer Epoche, der die Andacht mit den Massenmedien<br />

verloren ging.<br />

Er selbst machte die Erfahrung in einer Basler<br />

Ausstellung, in der er einen Fußboden mit<br />

alten Kleidungsstücken bedeckte. Während die<br />

Erwachsenen sich kaum trauten einen Fuß darauf<br />

zu setzten, spielten die Kinder munter auf<br />

diesem riesigen Berg von Kleidungstücken. Sie<br />

dachten dabei nicht an Leichen und Kleidungsstücke<br />

von Verstorbenen.<br />

Das hat ihm gezeigt, wie unterschiedlich seine<br />

Werke betrachtet und wahrgenommen werden,<br />

je nach persönlichen Vorgeschichten und<br />

Erfahrungen. Jeder sieht das was er sehen will.<br />

3 Die Werke Boltanskis<br />

„Was bleibt am Ende vom Leben? Zwei Daten<br />

und ein kurzer schwarzer Strich.“ 6<br />

(Christian Boltanski)<br />

Die Kunst Boltanskis beschäftigt sich mit dem<br />

Alltäglichen und doch so Unalltäglichem. In der<br />

Gegenwart leben wir, die Zukunft erwarten wir<br />

und die Vergangenheit vergessen wir. Boltanskis<br />

Kunst weist auf dieses Vergessen hin und<br />

auf die Tatsache, dass niemand davor gefeit<br />

ist. Wir alle sind vergänglich und sterben. Zum<br />

einen den biologischen Tod, zum anderen den<br />

Tod des Vergessens. Diesen sterben wir, wenn<br />

alle Menschen, in deren Erinnerung wir lebten<br />

auch aus der Gegenwart in die Vergangenheit<br />

geschieden sind. Mit einfachen Mitteln zeigt<br />

uns Boltanski, das was wir verdrängen, dass ein<br />

jeder von uns irgendwann in Vergessenheit<br />

gerät.<br />

Die folgenden Werke sollen ein Beispiel für die<br />

Intentionen des Künstlers sein und die Gedanken,<br />

die dem Betrachter kommen (könnten)<br />

darlegen und beschreiben.<br />

145<br />

4 Les regards<br />

Riesige Augenpaare blicken von Werbetafeln<br />

und Litfasssäulen in europäische Innenstädte.<br />

Hinein in das Leben und Treiben von Paris<br />

(1998), Warschau (2001), Bremen (2004), sowie<br />

Darmstadt und Frankfurt am Main (jeweils<br />

2006).<br />

Les regards (Die Blicke) heißen die in aller<br />

Öffentlichkeit ausgestellten Plakate, die ohne<br />

jegliche Erklärung auf die vorübergehenden<br />

Menschen blicken.<br />

Plakate, die die Menschen unangenehm berühren.<br />

Auf riesigen Werbeflächen angebracht,<br />

ohne Werbung zu machen oder Aufforderungen<br />

mit grellen Lettern in die Welt schreiend.<br />

Schreien können sie nicht – der Mund fehlt. Sie<br />

bleiben stumm. Stumm blicken sie die Menschen<br />

an und doch nicht verstummend. Den<br />

Passanten fällt auf, dass es sich um ältere Fotos<br />

handeln muss. So alt, dass die Menschen die<br />

zu den Augenpartien gehören vielleicht schon<br />

nicht mehr unter uns weilen.<br />

Die Augen werfen Blicke aus der Vergangenheit<br />

in die Gegenwart. Und wir blicken zurück.<br />

Zurück in Gesichterpartien, die wir weder kennen<br />

noch zuordnen können, in eine Zeit, die<br />

uns nicht vertraut und schon längst vergangen<br />

ist.<br />

Dieses ist das verstörende Element an diesem<br />

Werk Boltanskis. In hundert Jahren vielleicht<br />

sind wir der zukünftigen Generation genauso<br />

fremd, wie diese Menschen, diese Blicke uns<br />

nun. 7 (vgl. Abb. 2)<br />

5 La maison manquante<br />

Das 1990 von Boltanski in Berlin geschaffene<br />

La maison manquante (Das fehlende Haus) beeindruckt<br />

den Betrachter durch die Größe und<br />

die eigentliche Abwesenheit des Kunstwerks.<br />

Boltanski holt ein Gebäude, welches nur noch<br />

in den Erinnerungen einiger Menschen besteht,<br />

wieder in unser aller Gedächtnis zurück.<br />

Und nicht nur das, er belebt die Geschichte des<br />

Hauses und der Bewohner wieder. Durch an<br />

die Brandmauern der Nachbargebäude angebrachte<br />

Namenstafeln der ehemaligen Hausbewohner,<br />

wird wieder lebendig was schon tot<br />

war: Erinnerungen an Vergangenes.<br />

Erinnerungen an Vergangenes, das uns jedoch<br />

durch eine Gegebenheit aufschrecken lässt:<br />

die meisten der ehemaligen Bewohner des<br />

Hauses waren Juden. Sie wurden während der<br />

Zeit des Dritten Reiches in Vernichtungslager<br />

deportiert und verschwanden aus ihrem Haus,<br />

aus ihrer Stadt, aus den Gedächtnissen ihrer<br />

Mitmenschen, aus dem allgemeinen Leben.<br />

Doch wohin verschwanden sie? So provokativ<br />

und einfach, wie sich diese Frage zunächst<br />

darstellt, ist sie nicht. Uns allen sind wohl die<br />

Bilder von KZs wie Auschwitz gut und „lebendig“<br />

in Erinnerung. Doch sehen wir immer nur<br />

die Masse der Menschen, die dort ihre Würde<br />

sowie ihr Leben verloren (vgl. Abb.1)<br />

Selten, wenn nicht sogar nie, sehen wir einzelne<br />

Personen, individuelle Schicksale. Die<br />

Bewohner des Hauses, die Namen, Gesichter,


Abbildung 3 Beil, Ralf. S. 24.<br />

Literatur<br />

Print<br />

Beil, Ralf (Hrsg.): Boltanski Zeit.<br />

Hatje Cantz Verlag. Ostfil<br />

dern. 2006.<br />

Darmstädter Echo, Samstag,<br />

11. November 2006, Seite<br />

3ff.<br />

Interview Ralf Beil, Direktor<br />

der Mathildenhöhe Darm<br />

stadt mit Christian Boltanski,<br />

24.Mai 2006 im Atelier des<br />

Künstlers in Malakoff bei<br />

Paris.<br />

Frankfurter Allgemeine Zei<br />

tung, Montag, 30. Oktober<br />

2006, Nr. 252, Seite B4<br />

Berufe, ja Persönlichkeiten hatten, wurden dort<br />

von der Masse der Anonymität verschluckt<br />

und verschwanden mit dieser im kollektiven<br />

Vergessen.<br />

Doch durch Boltanski gelangen die vierundzwanzig<br />

ehemaligen Bewohner wieder in das<br />

Gedächtnis der Menschen. Doch dieses tut er<br />

nicht in Form einer genauen Rekonstruktion<br />

der Leben der einzelnen Personen – er erweckt<br />

sie nicht wieder. Jedoch was er zum Leben,<br />

also in die Gegenwart, erweckt sind eher die<br />

<strong>Schatten</strong> der Personen. Man weiß nun die<br />

Namen, die Adresse, die, durch die jüdische<br />

Herkunft, vermuteten Schicksale. Doch wirklich<br />

wissen tut man nichts über die Personen.<br />

Und das ist das unheimliche an der Arbeit Boltanskis.<br />

Er holt die Leute nicht in die Gegenwart<br />

zurück, er lässt sie nicht im Vergessenen ruhen.<br />

Er öffnet eine „Zwischenwelt“: dadurch, dass<br />

er auf die vergessenen Menschen aufmerksam<br />

macht, werden die <strong>Schatten</strong> dessen, was sie<br />

einmal waren, wieder lebendig und bleiben<br />

doch tot. 8<br />

6 Inventaire des objets avant<br />

appartenu a une femme de Bois<br />

– Colombes<br />

(vgl. Abb.3). Beim Ansehen des Werkes Inventaire<br />

des objets avant appartenu a une femme<br />

de Bois – Colombes (Inventar der Dinge, die<br />

einer Frau in Bois – Colombes gehörten) kom-<br />

men in dem Betrachter beklemmende Gefühle<br />

auf. Sechzig Kästen mit unterschiedlichen<br />

Alltagsgegenständen sind das, was von der Besitzerin<br />

nach ihrem Tod zurückgelassen wurde.<br />

Alltagsgegenstände wie Kleidung, Schuhe,<br />

Schmuck. Alltagsgegenstände, die jeder in seinem<br />

Besitz hat. Alltagsgegenstände, die nicht<br />

individuell sondern austauschbar sind.<br />

Das ausgestellte Inventar könnte zu jeder Frau<br />

gehören, die zu der entsprechenden Zeit im<br />

entsprechenden Land gelebt hat. Ist das also<br />

unser Leben, unser Schicksal? Ist es das, was<br />

von unserer Existenz bleibt? Sechzig Gegenstände,<br />

die zu jedem gehören könnten?<br />

Diese und ähnliche Fragen wirft Boltanski mit<br />

seinem Werk auf. Ein anonymes Schicksal, dass<br />

einerseits durch die austauschbaren Gegen-<br />

146<br />

stände anonym bleibt, andererseits aber, durch<br />

das Bewusstsein des Betrachters, dass es sich<br />

um die getragenen Besitztümer einer Frau aus<br />

Bois – Colombes handelt, erschreckend persönlich<br />

wird. Durch diese Vermischung sieht sich<br />

der Betrachter plötzlich selbst von der Thematik<br />

betroffen, was letztendlich von einem bleibt.<br />

Und was bleibt –so wird überdeutlich – sind<br />

Anonymität, Vergessen, das Verschwinden von<br />

Personen in Gegenstände, die irgendwann<br />

auch in den Tiefen von Speichern, Altkleidersammlungen<br />

oder Deponien verloren gehen.<br />

Was von uns bleibt ist also lediglich ein <strong>Schatten</strong><br />

von dem, was wir waren und auch dieser<br />

wird eines Tages unbemerkt verschwinden.<br />

Boltanski „…entwirft ein <strong>Schatten</strong>theater, das<br />

das Leben des Betrachters in die Vergangenheit<br />

projiziert. Wir stehen neben den eigenen<br />

<strong>Schatten</strong>.“ 9<br />

Das ist das Erschreckende an der Kunst Boltanskis.<br />

Ihm gelingt es, das zu thematisieren, was<br />

jedem bewusst ist, sich aber niemand einzugestehen<br />

traut. Er tut dieses ohne verschleiernde<br />

Elemente oder mit einem religiösen Pathos.<br />

Stattdessen greift er zu armen, alltäglichen Materialien<br />

und einer sachlichen Nüchternheit.<br />

Vor allem hiermit trifft Boltanski den Kern der<br />

Sache, durch die Verwendung von Alltäglichem<br />

wird hier das Alltägliche in seiner ganzen<br />

Auswirkung oder eher Grausamkeit deutlich. 10<br />

7 Liste des artistes ayant participé a la<br />

Biennale de Venise 1895 – 1995<br />

Die Liste des artistes ayant participé a la Biennale<br />

de Venise 1895 – 1995 (Liste der Künstler,<br />

die auf der Biennale in Venedig präsent waren<br />

1895 – 1995) macht das Thema des Vergessens<br />

dem Betrachter auf eine neue Art und Weise<br />

präsent.<br />

Wieder einmal schafft es Boltanski mit einfachsten<br />

Mitteln zum Denken anzuregen und die<br />

Vergänglichkeit des Seins ungeschönt und<br />

präzise darzustellen.<br />

Doch wie gelingt das, mag man sich jetzt fragen,<br />

wenn man lediglich den Titel des Werkes<br />

vor Augen hat. Schließlich ist die Biennale in<br />

Venedig der „Oscar“ der Künstler und diejenigen,<br />

die ihn bekommen sind bekannt und<br />

durch ihre Werke vor dem Vergessen gesichert.<br />

Oder etwa nicht?<br />

In der von Boltanski aufgeführten Liste finden<br />

sich tausende und abertausende Künstlernamen<br />

wieder. Selbst der fachkundige Leser muss<br />

schon nach kurzer Zeit erkennen, dass er von<br />

den aufgeführten Namen kaum einen kennt.<br />

Die bekannten Künstler tauchen nur ab und<br />

an in der großen Masse der Anonymität auf<br />

und wirken seltsam fehl am Platz. Nach und<br />

nach wird dieses „Wiedererkennungsgefühl“<br />

von einem anderen, verstörenden Eindruck<br />

überdeckt.<br />

Der Eindruck vermittelt dem Betrachter nämlich<br />

auf klare Art, dass selbst Personen, die bekannt<br />

sein sollten nicht vor dem Vergessen geschützt<br />

sind. Und nun holt wieder die harte Rea<strong>lit</strong>ät<br />

den Betrachter unvermittelt ein: wenn es schon


Internet<br />

http://www.hr-online.de/web<br />

site/rubriken/kultur/<br />

index.jsp?rubrik=2055&<br />

key=standard_document_<br />

27878334,12.01.2006<br />

Titelbild<br />

http://images.google.<br />

de/imgres?imgurl=http://<br />

www.experimentoscultu<br />

rales.com/textos/boltanski.<br />

jpg&imgrefurl=http://www.<br />

experimentosculturales.<br />

com/textos/Boltanski.<br />

html&h=500&w=351&sz=4<br />

7&hl=de&start=8&tbnid=zs<br />

g06qJMlVrONM:&tbnh=130<br />

&tbnw=91&prev=/images<br />

%3Fq%3Dboltanski%26svn<br />

um%3D10%26hl%3D<br />

de%26client%3Dfirefoxa%26rls%3Dorg.mozilla:de:<br />

official%26sa%3DN<br />

Stand: 02.03.07<br />

Fußnoten<br />

1 http://www.hronline.de/web<br />

site/rubriken/kultur/index.<br />

jsp?rubrik=2055&key=stand<br />

ard_document_27878334<br />

2 Frankfurter Allgemeine Zei<br />

tung, (30.10.2006), Seite B 4<br />

3 Darmstädter Echo, Samstag,<br />

11. November 2006, Seite 5<br />

4 Darmstädter Echo, Samstag,<br />

11. November 2006, Seite<br />

10<br />

5 Darmstädter Echo, Samstag,<br />

11. November 2006, Seite 3<br />

6 Beil, Ralf. S. 65<br />

7 vgl.: Darmstädter Echo,<br />

Samstag, 11. November<br />

2006, Seite 5<br />

8 vgl. Beil, Ralf. S. 29.<br />

9 Beil, Ralf: S.24<br />

10 vgl.: Beil, Ralf: S. 29f.<br />

11 vgl.: Beil, Ralf: S.29<br />

12 Beil, Ralf: S.29<br />

13 vgl.: Beil, Ralf: S.31<br />

14 Beil, Ralf: S. 64<br />

prämierten Künstlern, die mit ihrem Werken<br />

über Generationen hinaus präsent sind, nicht<br />

gelingt im Geiste des Betrachters weiterzuexistieren<br />

und so den Staus der „Unsterblichkeit“<br />

zu erlangen, wie soll es dann ein „einfacher“<br />

Mensch schaffen?<br />

Die Antwort, die niemand hören will, aber von<br />

dem Werk Boltanskis in die Welt geschrieen<br />

wird ist einfach: gar nicht. Überall ein sachliches<br />

„Memento mori“, überall ein „bedenke,<br />

dass du sterben musst“. Niemand ist vor dem<br />

eigentlichen, biologischen Tod und dem endgültigen<br />

Tod durch das Vergessen geschützt,<br />

auch in diesem Werk macht der Künstler dieses<br />

deutlich. 11 Denn auch hier sind es „Namen oder<br />

Gesichter, die kein Gedächtnis vor dem Vergessen<br />

behütet.“ 12<br />

8 Reconstitution d’un accident qui ne<br />

m’est pas encore arrive et ou j´ai<br />

trouvé la mort<br />

In seinen späteren Werken beschäftigt sich<br />

Botanski nicht mehr mit dem allgemeinen Tod<br />

und Vergessen, sondern mit seiner eigenen<br />

Vergänglichkeit. Reconstitution d’un accident<br />

qui ne m’est pas encore arrive et ou j´ai trouvé<br />

la mort (Rekonstruktion eines Unfalls, der mir<br />

noch nicht zugestoßen ist und bei dem ich den<br />

Tod gefunden habe) ist ein typisches Beispiel<br />

hierfür.<br />

Ein Polizeibericht der seinen fiktiven Tod<br />

behandelt. Wobei, fiktiver Tod? Der Tod eines<br />

jeden ist so alltäglich wie das Leben auch und<br />

doch so unalltäglich, dass wir ihn verdrängen,<br />

vergessen, versuchen nicht darüber nachzudenken.<br />

Doch grade das zwingt uns Christian Boltanski<br />

zu tun. Er konstruiert einen – seinen – Tod und<br />

was letztendlich von ihm bleibt ist eine Polizeiakte<br />

in einem Meer von anderen Dokumenten.<br />

Diese drastische Weise sich mit dem eigenen<br />

Tod zu beschäftigen und ihn darzustellen<br />

berührt den Betrachter. Er bringt das auf den<br />

Punkt, was eigentlich ein Tabu ist. Wer möchte<br />

schon daran erinnert werden, dass er sterblich<br />

ist und eines Tages zu der Vergangenheit gehört?<br />

Boltanski bringt dieses unsentimental und<br />

durch die Tatsache, dass es sein Tod ist, klar<br />

und deutlich zu Worte.<br />

Er holt das Verdrängen des Zukünftigen in die<br />

Gegenwart, um das Vergessen des Vergangenen<br />

präsent zu machen. 13<br />

9 Schlusswort<br />

„Ich bin ein Künstler der Gefühle wecken will.“ 14<br />

(Christian Boltanski)<br />

Dieser Ausspruch Boltanskis ist wohl als Tatsache<br />

zu bewerten. Seine Werke wecken Gefühle.<br />

Jedoch nicht die angenehmen Empfindungen<br />

werden in dem Betrachter wach, vielmehr<br />

werden die unangenehmen, verdrängten, tief<br />

in einem verschütteten Emotionen wieder an<br />

das Tageslicht gebracht.<br />

Und dieses ist schockierend. Man sieht sich mit<br />

Tatsachen konfrontiert, die so drastisch einwir-<br />

147<br />

ken, dass man ihnen nicht entkommen kann.<br />

Tod, Vergessen, Vergangenheit. Wir alle wissen<br />

um diesen Kreislauf, jedoch wagen wir nicht<br />

darüber nachzudenken. Boltanski präsentiert<br />

uns diese Rea<strong>lit</strong>ät mit einfachen Mitteln und<br />

emotionslos und bewirkt damit eine Lawine<br />

von Emotionen.<br />

Wenn man sich aus dieser Lawine befreit hat,<br />

bleibt die Erkenntnis zurück, dass was von<br />

einem bleibt lediglich ein <strong>Schatten</strong> der Person<br />

ist und auch dieser bald von dem großen, anonym<br />

machenden <strong>Schatten</strong> der Vergangenheit<br />

eingeholt wird.

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