Gruppendiskussion in zwei Welten: Gute Gründe für "schlechte
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Gruppendiskussion in zwei Welten: Gute Gründe für "schlechte
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<strong>Gruppendiskussion</strong> <strong>in</strong> <strong>zwei</strong> <strong>Welten</strong>: <strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> '<strong>schlechte</strong>' Praktiken 1<br />
Claudia Puchta (Fachhochschule Lüneburg) und Stephan Wolff (Universität Hildesheim)<br />
Vortrag auf der Jahrestagung der Sektion „Methoden der qualitativen Sozialforschung“ der Deutschen Gesellschaft <strong>für</strong> Soziologie <strong>in</strong><br />
Tüb<strong>in</strong>gen<br />
Mai 2004<br />
Abstract: Die Methode der <strong>Gruppendiskussion</strong> hat sich relativ unabhängig vone<strong>in</strong>ander im wissenschaftlichen und im Bereich der angewandten Sozialforschung<br />
entwickelt und ausdifferenziert. Daraus ergeben sich jeweils recht unterschiedliche Vorgehensweisen, Qualitätskriterien und Analyseformen, die auch <strong>in</strong>ternational<br />
stark variieren. Der Vortrag zeigt die besondere situative Rationalität der <strong>Gruppendiskussion</strong>spraxis <strong>in</strong> der angewandten Marktforschung und relativiert vor<br />
diesem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>ige <strong>in</strong> der deutschsprachigen Diskussion zu qualitative Methoden gängige Vorstellungen über den methodologischen Status und die Leistungsfähigkeit<br />
dieses Forschungs<strong>in</strong>struments.<br />
1 Wir danken der Deutschen Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft <strong>für</strong> die f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung unserer Projektarbeit (Wo 286-9/1).
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 2<br />
1. Marktforschung hat e<strong>in</strong>en <strong>schlechte</strong>n Ruf<br />
Der Normalbürger assoziiert mit Marktforschung die so genannten „Baggerer“, die e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> Fußgängerzonen auflauern; triste und<br />
chaotische Teststudios, <strong>in</strong> denen man 45 M<strong>in</strong>uten oder noch länger ausgefragt wird (und dann als Dank e<strong>in</strong>e Tube Zahnpasta oder<br />
ähnliches bekommt); oder unangenehme Anrufer, die sich nur abschütteln lassen, wenn man rechtzeitig wieder auflegt. E<strong>in</strong> ähnlich<br />
<strong>schlechte</strong>s Image besitzt die Marktforschung bei den meisten Sozialwissenschaftlern und Methodologen. Sie verb<strong>in</strong>den mit Marktfor-<br />
schung Qualifizierungen wie ‚opportunistisch’ oder quick and dirty’ – auf jeden Fall etwas, was e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung, e<strong>in</strong>en Qualitätsun-<br />
terschied oder e<strong>in</strong>e Verfälschung gegenüber dem zünftigen Vorgehen der gestandenen Sozialforschung zum Ausdruck br<strong>in</strong>gt. Die<br />
Marktforschung ersche<strong>in</strong>t neben ihrer ehrbaren und aufrechten Schwester wie e<strong>in</strong> gefallenes Mädchen.<br />
Wir wollen <strong>in</strong> diesem Referat nicht beweisen, dass die Marktforschung besser ist als ihr Ruf. Wir me<strong>in</strong>en aber, dass sie <strong>in</strong> ihrem Kon-<br />
text gesehen und entsprechend gewürdigt zu werden verdient. Wenn dies geschieht, versteht man nicht nur, dass es im Garf<strong>in</strong>-<br />
kel’schen S<strong>in</strong>ne durchaus ‚gute <strong>Gründe</strong>’ <strong>für</strong> die ‚verme<strong>in</strong>tlich’ <strong>schlechte</strong>n Praktiken gibt. Man erkennt darüber h<strong>in</strong>aus, dass sich aus<br />
der Rekonstruktion der Praxis der qualitativen Markforschung <strong>in</strong>teressante Rückschlüsse auf die Funktionsweise und die Darstellungs-<br />
und Analysepraktiken der zünftigen Sozialforschung ziehen lassen. Indem wir den Blick öffnen <strong>für</strong> die besondere Leistungsfähigkeit<br />
qualitativer Marktforschung <strong>in</strong> ihrem Sett<strong>in</strong>g, werden wir – so ganz nebenbei - auf e<strong>in</strong>ige bislang wenig thematisierte Schwächen auf-<br />
seiten der so selbstsicheren Sozialforscher und Methodologen stoßen.<br />
In se<strong>in</strong>er berühmten Arbeit befasst sich Harold Garf<strong>in</strong>kel (1967) mit den aus wissenschaftlicher Sicht defizitären Aufzeichnungsprakti-<br />
ken <strong>in</strong> Kl<strong>in</strong>iken. Die Probleme, die sich <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Sozialforscher angesichts der „offensichtlichen“ und befremdlichen Unvollständigkeit<br />
und Vagheit von Krankenakten ergeben, betrachtet er als „normale, natürliche Probleme“. Solche „Normalen Probleme“ dürfen nicht<br />
mit allgeme<strong>in</strong>en methodologischen Problemen verwechselt werden. Die Normalität ergibt sich aus der funktionalen Verb<strong>in</strong>dung zwi-<br />
schen der Beschaffenheit der Akten und jenem sozialen System, welches die Akten sowohl erzeugt als auch <strong>in</strong> ihnen dokumentiert<br />
wird. Wollte man versuchen „normalen Probleme“ endgütig zu bewältigen, würde man sich damit nicht nur enorme Schwierigkeiten<br />
2
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 3<br />
e<strong>in</strong>handeln, sondern zugleich das Funktionieren des Betriebs gefährden. Stellt man h<strong>in</strong>gegen die Beziehung von Akten und den prak-<br />
tischen Umständen ihrer Herstellung und ihres Gebrauchs <strong>in</strong> Rechnung, dann wird verständlich, warum es die monierten Diskrepan-<br />
zen gibt und warum sie darüber h<strong>in</strong>aus durchaus S<strong>in</strong>n machen:<br />
• So nimmt der Grenznutzen der zusätzlich gesammelten Informationen rasch ab, besonders wenn man die sachlichen, zeitlichen<br />
und auch sozialen Kosten der Dokumentation <strong>in</strong> Rechnung stellt. Es gibt deshalb Grenzen dessen, was sich e<strong>in</strong>e Organisation<br />
vernünftigerweise als Information leisten kann.<br />
• E<strong>in</strong>träge könnten von Unbefugten zur – unsachgemäßen - Kontrolle des Personal ausgenutzt werden, und s<strong>in</strong>d von daher h<strong>in</strong>rei-<br />
chend vage zu halten.<br />
• Die lockere Verb<strong>in</strong>dung zwischen Regeln <strong>für</strong> die Erfüllung der Berichtspflicht und denen, die <strong>für</strong> den täglichen Betrieb gelten, hängt<br />
auch mit den unterschiedlichen Bezugspunkten und Kriterien beider Bereiche zusammen. E<strong>in</strong>e (zu) enge Kopplung macht nicht<br />
nur ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, sondern kann die Arbeit erheblich erschweren (vgl. Meyer/ Rowan 1977).<br />
• Informationen werden von den Organisationsmitgliedern im H<strong>in</strong>blick auf ihre Verwertung und Interpretation durch kompetente Le-<br />
ser gesammelt und festgehalten. Unter Berücksichtigung der tatsächlichen Relevanzen können selbst jene Akten, die dem Sozial-<br />
forscher defizitär ersche<strong>in</strong>en, von den adressierten Lesergruppe unproblematisch verstanden und <strong>in</strong> ihrer besonderen Qualität und<br />
Rationalität beurteilt werden.<br />
Nur wenn man von diesen und anderen <strong>in</strong> der Situation relevanten Praktischen Umständen abstrahiert, tauchen die ärgerlichen Prob-<br />
leme der Vagheit und Unvollständigkeit auf.2<br />
2 “In order to read a folder’s contents without <strong>in</strong>congruity a cl<strong>in</strong>ic member must expect of himself, expect from other cl<strong>in</strong>ic members, and expect<br />
that as he expects of other cl<strong>in</strong>ic members they expect him to know and use a knowledge (1) of particular persons to whom the record refers, (2) of<br />
3
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 4<br />
2. Blickrichtungen<br />
Die Marktforschung betrachten wir aus e<strong>in</strong>er doppelten Perspektive: Wir, das s<strong>in</strong>d Claudia Puchta, die Marktforscher<strong>in</strong>, die zur Sozial-<br />
forscher<strong>in</strong> wurde, und Stephan Wolff, der Sozialforscher, der <strong>in</strong> Studentenzeiten <strong>in</strong> der Marktforschung gejobbt hat und nun die kom-<br />
munikative Infrastruktur von <strong>Gruppendiskussion</strong>en erforscht.<br />
Als Claudia Puchta nach dem Diplom <strong>in</strong> die Marktforschung schlidderte, weil sie zwar etwas forschen, aber auch Geld verdienen woll-<br />
te, geriet sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e von ‚academia’ so fremde Welt, dass sie sich wunderte, wie beides unter derselben Überschrift „Forschung“ fir-<br />
mieren kann. Während im Studium die Qualität der Arbeit an Gütekriterien wie Reliabilität, Objektivität und Validität gemessen wurde,<br />
schien hier die e<strong>in</strong>zige Messlatte die Zufriedenheit des Kunden se<strong>in</strong>. Statt allumfassender Recherche stand Nützlichkeit und Effizienz<br />
im Vordergrund, also ‚value for money’. Neue Kollegen, die ihre universitären Kriterien <strong>in</strong> dieser Praxis durchsetzen und strikt nach<br />
ihnen arbeiten wollten, wurden ob ihrer Konsequenz nicht nur nicht bewundert, sondern tendenziell <strong>für</strong> <strong>in</strong>kompetent erklärt. Und statt<br />
methodologisch reflektierter Sauberkeit zählte nunmehr die Verständlichkeit des Vorgehens. Wenn es dieser Verständlichkeit – natür-<br />
lich der Verständlichkeit aus Sicht des Klienten - dient, dann wurden Widersprüche und Inkonsistenzen im Material schon e<strong>in</strong>mal et-<br />
was tiefer gehängt.<br />
Stephan Wolff, der methodisch bewusste Sozialforscher, bewunderte dagegen die offensichtliche Professionalität des Marktfor-<br />
schungsbetriebs. Er nahm mit Interesse zur Kenntnis, dass die dort tätigen Moderatoren von <strong>Gruppendiskussion</strong>en im Vergleich zu<br />
ihren sozialwissenschaftlichen Kollegen <strong>in</strong> Durchschnitt viel erfahrener s<strong>in</strong>d und erheblich systematischer vorgehen. Er staunte über<br />
die technische Weltläufigkeit und war auch von der konsequenten Dienstleistungsorientierung der Marktforscher bee<strong>in</strong>druckt. Er wun-<br />
persons who contributed to the record, (3) of the cl<strong>in</strong>ic’s actual organization and operat<strong>in</strong>g procedures at the time the folder’s documents are be<strong>in</strong>g<br />
consulted, (4) of a mutual history with other persons – patients and cl<strong>in</strong>ic members – and (5) of cl<strong>in</strong>ic procedures, <strong>in</strong>clud<strong>in</strong>g procedures of<br />
record<strong>in</strong>g a record.” (Garf<strong>in</strong>kel 1967: 206)<br />
4
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 5<br />
derte sich über die immensen Investitionen <strong>in</strong> diesen Bereich sowie über die geschickte Vermarktung der Ergebnisse. Dabei wusste er<br />
zunächst oft nicht so recht, ob er hier professionelles Handeln, geschickte Inszenierung oder gar Verfälschung, Betrug und Nach-dem-<br />
Munde-Reden diagnostizieren sollte. 3<br />
Wie die anderen Methoden der empirischen Sozialforschung konstituiert die <strong>Gruppendiskussion</strong> <strong>in</strong> ihren verschiedenen Varianten e<strong>in</strong>e<br />
Situation der <strong>in</strong>teraktiven Produktion sozial relevanten Wissens. Art und Qualität der so erhobenen Daten müssen nicht nur nach un-<br />
serem ethnomethodologischen Verständnis im Zusammenhang damit gesehen werden. Daher nähern sich Konversationsanalytiker<br />
Daten aus Interviews oder <strong>Gruppendiskussion</strong>en e<strong>in</strong>erseits mit großer Vorsicht (‚<strong>in</strong>terview data as resource’), andererseits aber auch<br />
mit erheblichen analytischem Interesse (‚<strong>in</strong>terview-data-production-as-topic“).<br />
3. Zur Aktualität der <strong>Gruppendiskussion</strong><br />
Die <strong>Gruppendiskussion</strong> 4 ist systematisch gesehen e<strong>in</strong>e Variante des Interviews, die im akademisch-wissenschaftlichen, und stärker<br />
noch im angewandten Feld e<strong>in</strong>e Rolle spielt. Sie hat sich <strong>in</strong> beiden Feldern weitgehend unabhängig entwickelt. Im anglo-amerikani-<br />
schen Bereich begann <strong>in</strong> den 70er Jahren <strong>für</strong> das <strong>Gruppendiskussion</strong>sverfahren <strong>in</strong> der Marktforschung e<strong>in</strong>e regelrechte „Erfolgsge-<br />
schichte“. In den USA lassen sich rund 70% der Konsumentenforschung dem qualitativen Bereich zurechnen. Praktisch alle großen<br />
Firmen haben bei der Entwicklung ihres Image oder ihrer Market<strong>in</strong>gstrategien <strong>Gruppendiskussion</strong>en e<strong>in</strong>gesetzt. Im Bereich der Politik-<br />
3 Unsere eigene Untersuchung gehört zur angewandten Variante der ethnomethodologischen Konversationsanalyse. Sie baut auf den grundlegenden<br />
Erkenntnissen der konversationsanalytischen Klassiker (wie Sacks, Schegloff und Jefferson) auf und macht diese bei der Rekonstruktion<br />
und Analyse sprachlicher bzw. <strong>in</strong>teraktiver Phänomene <strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutionellen Kontexten nutzbar. Die Untersuchung ließe sich auch der Ethnomethodologie<br />
der empirischen Sozialforschung zurechnen.<br />
4 Wir verwenden diesen Term als Überbegriff, d.h. schließen dar<strong>in</strong> andere Bezeichnungen wie Focusgruppe und Gruppen<strong>in</strong>terview mit e<strong>in</strong>.<br />
5
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 6<br />
forschung werden zwar nur 10% der Gelder <strong>für</strong> qualitative Formate angelegt, aber auch hier entfällt der relativ größte Anteil auf Grup-<br />
pendiskussion. In diesen beiden, wie auch <strong>in</strong> manchen anderen angewandten Bereichen dürfte die Bedeutung der <strong>Gruppendiskussion</strong><br />
als Untersuchungs<strong>in</strong>strument <strong>in</strong> absehbarer Zeit sogar noch weiter steigen.<br />
Trotz e<strong>in</strong>er Ahnenreihe, die bis Robert K. Merton zurückreicht, <strong>in</strong>teressierte sich demgegenüber <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften bis vor<br />
etwa 10 Jahren kaum jemand <strong>für</strong> die <strong>Gruppendiskussion</strong>. Erst Handbücher jüngeren Datums (wie Flick et al. (2000), Denz<strong>in</strong> et al.<br />
(2000), Seale et al (2004) oder Silverman (2004)) räumen ihr e<strong>in</strong> eigenes Kapitel e<strong>in</strong>. Sue Wilk<strong>in</strong>son’s Artikel über „Focus Groups“<br />
beispielsweise wurde Silverman’s Reader „Qualitative Research“ erst <strong>in</strong> der <strong>zwei</strong>ten Auflage 2004 h<strong>in</strong>zugefügt, während man 1997<br />
offenbar noch ke<strong>in</strong>en Anlass <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e derart umfangreiche Behandlung der Methode sah. Dies reflektiert den enormen und rapiden<br />
Popularitätsgew<strong>in</strong>n der <strong>Gruppendiskussion</strong>, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> ihrer Variante als „Focus Group“. Schon seit den 80er Jahren setzt man<br />
aber die <strong>Gruppendiskussion</strong> im Bereich der Handlungsforschung e<strong>in</strong>, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der Gesundheitserziehung und Gesundheits-<br />
prävention. Zugleich war e<strong>in</strong> zunehmendes Interesse an <strong>Gruppendiskussion</strong>en von Seiten jener zu verzeichnen, denen es auf „voice“<br />
ankommt, also auf das Hörbarmachen bislang nicht repräsentierter „Stimmen“ von Bevölkerungsgruppen. E<strong>in</strong>e besondere Konjunktur<br />
erleben <strong>Gruppendiskussion</strong>en daher seit längerem <strong>in</strong> der fem<strong>in</strong>istischen Forschung (s. Madriz 2000). Deutschland zeigt <strong>in</strong> verschie-<br />
dener H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e Sonderentwicklung (s.u.)<br />
Die Unterschiede <strong>in</strong> der Nutzung von <strong>Gruppendiskussion</strong> zeigen sich nicht nur zwischen angewandtem und Grundlagenbereich. Auch<br />
<strong>in</strong>nerhalb dieser Bereiche lassen sich Differenzen im Vorgehen, <strong>in</strong> der theoretischen Fundierung und <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>schätzung der Ergeb-<br />
nisse konstatieren. Quer dazu liegen ausgeprägte nationale Traditionsl<strong>in</strong>ien. E<strong>in</strong>ige der wichtigsten Differenzierungen möchten wir mit<br />
Hilfe des folgenden Schemas erläutern.<br />
6
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 7<br />
Deutschland<br />
Begriff: „GD“<br />
Größe: 7-8<br />
„Sozialforscher“<br />
„Interpret“<br />
„Moderator“<br />
USA<br />
Begriff: „FG“<br />
Größe: 10-12<br />
„Moderator“<br />
United K<strong>in</strong>gdom<br />
Begriff:<br />
„GD“ und „FG“<br />
(seit 1990)<br />
Größe: 7-8<br />
„Researcher“<br />
„Moderator“<br />
Historisches<br />
Kritik an<br />
Umfrageverfahren<br />
Regionale<br />
Spezialität<br />
Kaum angewandte<br />
Varianten<br />
Entwicklung aus der<br />
Wirkungsforschung<br />
Angewandte<br />
Varianten<br />
action research<br />
„voice“<br />
Entwicklung aus der<br />
Wirkungsforschung<br />
GD-Variante<br />
US-Import der FG<br />
Angewandte<br />
Varianten<br />
action research<br />
Bedeutung<br />
In SF: relativ<br />
randständig<br />
In MF:<br />
zunehmend<br />
wichtig<br />
In SF:<br />
erhebliche<br />
Bedeutung<br />
In MF:<br />
sehr große<br />
Relevanz<br />
In SF:<br />
erhebliche<br />
Bedeutung<br />
In MF:<br />
sehr große<br />
Relevanz<br />
Verhältnis<br />
SW und MF<br />
Hermetische<br />
Trennung<br />
Nebene<strong>in</strong>ander<br />
Methodische<br />
Diskussion nur <strong>in</strong><br />
der SF<br />
Kaum<br />
Unterschiede<br />
Methodische<br />
Diskussion wenig<br />
ausgeprägt<br />
Weitgehende<br />
Trennung<br />
Nebene<strong>in</strong>ander<br />
Methodische<br />
Diskussion auf<br />
beiden Seiten<br />
beg<strong>in</strong>nt gerade<br />
Quellen: Ereaut 2002, 2004, p.M., Macnaghten/ Myers 2004; eigene Erhebungen<br />
Analyse<br />
SF: Interpretierende<br />
Rekonstruktion<br />
MF: vorsichtig<br />
Interpretierend mit<br />
Bezug auf<br />
View<strong>in</strong>g experience<br />
Knapper Bericht<br />
SF: wenig<br />
Interpretierender<br />
Bericht (voice)<br />
MF: nicht<br />
Interpretierend<br />
View<strong>in</strong>g experience<br />
Summany Report<br />
SF: Interpretierender<br />
Bericht (voice)<br />
MF: <strong>in</strong>terpretierend<br />
und wenig<br />
<strong>in</strong>terpetierend mit<br />
Bezug auf<br />
View<strong>in</strong>g experience<br />
Summary Report<br />
7
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 8<br />
4. <strong>Gruppendiskussion</strong> <strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationalen Vergleich<br />
In Deutschland wurde die Methode der <strong>Gruppendiskussion</strong> zuerst <strong>in</strong> den 50er Jahren am Frankfurter Institut <strong>für</strong> Sozialforschung e<strong>in</strong>-<br />
gesetzt. Den Ausgangspunkt bildete hier die theoretisch ambitionierte sozialwissenschaftlichen Kritik an herkömmlichen Umfrageme-<br />
thoden. Pollock (1955) g<strong>in</strong>g davon aus, dass die nicht-öffentliche Me<strong>in</strong>ung des e<strong>in</strong>zelnen, die nach dem Freud’schen Konzept auch<br />
tiefer liegende Bewusstse<strong>in</strong>sschichten erfasst, zwar nicht durch Gruppenprozesse generiert wird, aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gruppensituation bes-<br />
ser artikuliert werden kann. Gegenüber Pollock bestreitet Mangold (1960), dass <strong>in</strong>dividuelle Me<strong>in</strong>ungen sich im Rahmen e<strong>in</strong>er Grup-<br />
pendiskussion erfassen lassen. In e<strong>in</strong>er Gruppe könne nur die <strong>in</strong>formelle Gruppenme<strong>in</strong>ung studiert werden. Da e<strong>in</strong>e solche <strong>in</strong>formelle<br />
Gruppenme<strong>in</strong>ung aber die <strong>in</strong>dividuelle Me<strong>in</strong>ung bee<strong>in</strong>flusst, ist es relevant, diese zu erfassen. Die wechselseitige Bee<strong>in</strong>flussung der<br />
Gruppenmitglieder wird somit nicht als Störfaktor betrachtet. Im Gegenteil: Nur weil sich die Gruppenmitglieder wechselseitig bee<strong>in</strong>-<br />
flussen, kann die Gruppenme<strong>in</strong>ung valide erhoben werden. Für die heutige deutsche Diskussion maßgebend ist die Weiterführung<br />
und theoretische Neufundierung des <strong>Gruppendiskussion</strong>sverfahrens durch Ralf Bohnsack Er möchte die <strong>Gruppendiskussion</strong> zu e<strong>in</strong>em<br />
Verfahren machen, das Zugang zu kollektiven Phänomenen eröffnet, die sich se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach <strong>in</strong> Realgruppen sozusagen natur-<br />
wüchsig oder doch <strong>in</strong> statu nascendi manifestieren. Dazu soll der Gruppenleiter nach der Initiierung des Gesprächs sich soweit <strong>in</strong>ter-<br />
aktiv aufblenden, dass sich die <strong>Gruppendiskussion</strong> e<strong>in</strong>em selbstläufigen, ‚normalen’ Gespräch annähern kann. <strong>Gruppendiskussion</strong>en<br />
werden „begriffen als „repräsentante Prozessstrukturen“, d.h. als prozesshafte Abläufe von Kommunikationen, <strong>in</strong> denen sich Muster<br />
dokumentieren, die weder als zufällig noch als emergent anzusehen s<strong>in</strong>d. Diese Muster verweisen auf kollektiv geteilte „existentielle<br />
H<strong>in</strong>tergründe“ der Gruppen, also auf geme<strong>in</strong>same biographische und kollektivbiographische Erfahrungen, die sich <strong>in</strong> milieu-, ge-<br />
schlechts- und generationsspezifischen Geme<strong>in</strong>samkeiten niederschlagen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>Gruppendiskussion</strong> <strong>in</strong> Form „kollektiver Orien-<br />
tierungsmuster“ (Bohnsack 1997) zur Artikulation gelangen“ (Loos/ Schäffer 2001: 27)<br />
Auffällig an dieser Konstruktion ist die parallele Bauweise der Begründung der Methode zur jener des narrativen Interviews durch Fritz<br />
Schütze, allerd<strong>in</strong>gs hier mit der Schwäche, dass man im Falle der <strong>Gruppendiskussion</strong> nicht plausibel von „stillschweigenden Gestal-<br />
8
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 9<br />
tungszwängen“ als e<strong>in</strong>er Art immanenter Dynamik <strong>in</strong> der Erhebungssituation ausgehen kann. Die besagten kollektiven Orientierungs-<br />
muster zeigen sich offen nicht an der Oberfläche des Gesprächs, sondern müssen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em komplexen Interpretationsprozess vom<br />
Forscher rekonstruiert werden. 5 H<strong>in</strong>weise auf Pollock, Mangold und Bohnsack als Autoren oder auf e<strong>in</strong>e ähnliche grundlagentheore-<br />
tisch ansetzende Position wird man <strong>in</strong> der angelsächsischen Literatur zur <strong>Gruppendiskussion</strong> ebenso vergeblich suchen, wie e<strong>in</strong>e<br />
diesbezügliche Defizitanalyse.<br />
In Großbritannien spricht man traditionell von „group discussions“, wenngleich sich von den USA herkommend zunehmend der Be-<br />
griff „focus groups“ durchsetzt (und mit ihr e<strong>in</strong>e anders akzentuierte Praxis). Die Geschichte der <strong>Gruppendiskussion</strong> wird im UK ähn-<br />
lich wie <strong>in</strong> den USA geschrieben. Auch die faktische Bedeutung der <strong>Gruppendiskussion</strong> sche<strong>in</strong>t vergleichbar zu se<strong>in</strong>; d.h. die Grup-<br />
pendiskussion spielt nicht nur <strong>in</strong> der Markt- und der Politikforschung e<strong>in</strong>e große Rolle, sondern ebenso <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften<br />
und <strong>in</strong> der Aktionsforschung. Im UK s<strong>in</strong>d - wie generell im übrigen Europa - Gruppengrößen zwischen sieben und acht Personen die<br />
Regel. Der Moderator spielt <strong>in</strong> Großbritannien als Interpret der von ihm erhobenen Daten e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, wenngleich nicht e<strong>in</strong>e<br />
so herausgehobene wie <strong>in</strong> Deutschland. In der Regel werden die Entscheidungen des Kunden solange aufgeschoben, bis der For-<br />
scher die Ergebnisse analysiert hat. Fast immer arbeitet man mit psychologischen Konstrukten wie E<strong>in</strong>stellung oder Motivation. Bei<br />
der Auswertung spielen der Gruppenprozess, aber auch die nonverbalen Signale der Teilnehmer e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. Zusammenfas-<br />
send kann man sagen, dass man die Gruppe im europäischen Raum eher wie e<strong>in</strong>en flexiblen Rahmen handhabt, um komplexe Daten<br />
zu gew<strong>in</strong>nen, die dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>zwei</strong>ten Schritt vielschichtig <strong>in</strong>terpretiert werden. Anders dagegen der Zugang <strong>in</strong> den USA.<br />
5 Dabei werden verschiedene Interpretationsschritte komb<strong>in</strong>iert: unterschieden wird zwischen der formulierenden (Paraphrasierung), der reflektierenden<br />
(dokumentarische Methode) und die Rekonstruktion der Diskursorganisation (als eher konkurrierend oder eher parallelisierend).<br />
9
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 10<br />
In den USA wird die optimale Gruppengröße mit zehn bis zwölf Teilnehmern angegeben. Dort liegt der Akzent auf dem, was <strong>in</strong> der<br />
Gruppe gesagt wird. Ergebnisse werden weitgehend mit dem während des Gruppengesprächs Geäußerten gleich gesetzt. 6 Wenn<br />
das, was die Gruppenmitglieder sagen, als authentisch gelten und <strong>für</strong> sich stehen soll, dann muss e<strong>in</strong>er Kontam<strong>in</strong>ation dieser Aussa-<br />
gen durch Gruppenprozesse <strong>in</strong> geeigneter Weise vorgebeugt werden. Zur Ergebnissicherung wie zur Neutralisierung dient e<strong>in</strong> recht<br />
direktives Moderatorverhalten sowie. der E<strong>in</strong>satz von Flipcharts und diversen Moderationstechniken. Typischerweise beobachten die<br />
Auftraggeber das Gruppengeschehen durch e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>wegspiegel. Diese „view<strong>in</strong>g experience“ und die Diskussion zwischen den Kun-<br />
den und dem Moderator unmittelbar nach e<strong>in</strong>er <strong>Gruppendiskussion</strong>ssitzung werden als der Kern der Forschung angesehen. Während<br />
<strong>in</strong> Deutschland (und teilweise auch im UK) der Zweck e<strong>in</strong>er <strong>Gruppendiskussion</strong> die Exploration und die (Roh-)Datensammlung ist,<br />
dient sie <strong>in</strong> den USA e<strong>in</strong>deutig der Demonstration (Goodyear 1996). Deutsche Marktforscher orientieren sich ganz überwiegend und<br />
zunehmend an dem Vorgehen <strong>in</strong> den USA.<br />
Bei der Beurteilung der Kompetenz von <strong>Gruppendiskussion</strong>sleitern spielt deren Fähigkeit, e<strong>in</strong>e Gruppe so moderieren zu können,<br />
dass den Zuschauern h<strong>in</strong>ter der Scheibe <strong>in</strong>teressante und relevante „<strong>in</strong>sights“ vermittelt werden, e<strong>in</strong>e besondere Rolle. In den e<strong>in</strong>-<br />
schlägigen Ausbildungen werden konsequenterweise zwar Kurse zum Moderieren, aber kaum solche zur Auswertung angeboten. In<br />
Bezug auf die sozialwissenschaftlichen <strong>Gruppendiskussion</strong>en beobachten wir genau das Gegenteil: nämlich analytisch hoch tra<strong>in</strong>ierte<br />
oder doch zum<strong>in</strong>dest hoch ambitionierte, zugleich aber relativ unerfahrene und hilflos agierende Gruppenleiter.<br />
6 Das veranlasst Krueger davor zu warnen: “If anyth<strong>in</strong>g, the face validity of focus groups may be too high. Focus group results seem so believable<br />
that decision makers may have the tendency to rush out and implement the result<strong>in</strong>g recommendations without adequate scepticism.” (1994:32)<br />
Wenn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Focus Group das Gesagte schon gleich auch als das Ergebnis angesehen wird, dann ersche<strong>in</strong>t es nur logisch, wenn im Buch des<br />
Marktforschers Greenbaum (1998) ‚analysis’ Stichwortverzeichnis fehlt, und im Kapitel über „Common Mistakes <strong>in</strong> Focus Groups“ lediglich drei<br />
Seiten dem Thema Auswertungsfehler widmet s<strong>in</strong>d.<br />
10
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 11<br />
5. E<strong>in</strong> typisches Projekt<br />
Das typische Marktforschungsprojekt ist meist e<strong>in</strong>geschränkt auf e<strong>in</strong>en bestimmten Aspekt e<strong>in</strong>es Produkts oder e<strong>in</strong>er Dienstleistung<br />
und bezieht sich auf e<strong>in</strong>e im Unternehmen zu treffende Entscheidung. Größere Unternehmen beschäftigen eigene Spezialisten (meist<br />
betriebliche Marktforscher) <strong>für</strong> den E<strong>in</strong>kauf von Markt-Forschung. Diese fungieren als Broker zwischen den Lieferanten (d.h. den<br />
Marktforschungs<strong>in</strong>stituten bzw. den Institutsmarktforschern) und den <strong>in</strong>ternen Nutzern, das ist <strong>in</strong> der Regel das jeweilige Produktma-<br />
nagement.<br />
Aus e<strong>in</strong>er Internetanzeige:<br />
„… Platz <strong>für</strong> Studiotests aller Art, E<strong>in</strong>zelexplorationen und <strong>Gruppendiskussion</strong>en <strong>in</strong>klusive neuester Videotechnik. Selbstverständlich<br />
dürfen Sie uns auch selbst vom bequemen Sessel aus auf die Pfoten schauen - durch die ‚geheime Wand‘ - na Sie wissen schon …“<br />
11
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 12<br />
Aus e<strong>in</strong>er Internetanzeige:<br />
„Funktional und bequem: unser Kundenraum mit 9 Plätzen auf der anderen Seite der Scheibe ...“<br />
Fast immer erfolgt die Erhebung <strong>in</strong> speziellen E<strong>in</strong>richtungen und <strong>in</strong> mit E<strong>in</strong>wegspiegeln und Video- und Audioaufnahmemöglichkeiten<br />
ausgestatteten Räumen (FOTO) von Marktforschungs<strong>in</strong>stituten, die auch <strong>für</strong> die Rekrutierung der Teilnehmer nach mit dem Kunden<br />
abgestimmten Quotierungsmerkmalen verantwortlich s<strong>in</strong>d (zum Beispiel Geschlecht, Alter, Verwendung e<strong>in</strong>es bestimmten Produkts).<br />
Typisch s<strong>in</strong>d Projekte mit <strong>zwei</strong> bis fünf <strong>Gruppendiskussion</strong>en. Der Moderator ist entweder mit dem Institut liiert oder aber hat se<strong>in</strong>er-<br />
seits die so genannte „Feldarbeit“ (d.h. die Rekrutierung der Teilnehmer) und die Räumlichkeiten als Dienstleistung e<strong>in</strong>gekauft. In der<br />
Regel ist er schon lange mit dem Auftraggeber bekannt, so dass e<strong>in</strong> kurzes Brief<strong>in</strong>g zur Zielsetzung und Aufgabenstellung des Pro-<br />
jekts ausreicht.<br />
12
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 13<br />
.<br />
Nach Abschluss der meist nur wenige Tage währenden Erhebungsphase und weiteren zehn bis vierzehn Tagen wird der Moderator<br />
se<strong>in</strong>en Bericht vorlegen. Nicht selten ist dieser Report <strong>für</strong> das aktuelle Projekt gar nicht mehr <strong>in</strong>teressant, weil auf der Basis der E<strong>in</strong>-<br />
drücke h<strong>in</strong>ter dem Spiegel schon entschieden und gehandelt wurde. Das aber heißt nicht, dass dem Bericht <strong>in</strong> solchen Fällen über-<br />
haupt ke<strong>in</strong>e Bedeutung zukommt und er nur aus eilig zusammengehefteten Notizen besteht. Zum e<strong>in</strong>en ist der Bericht neben der life<br />
demonstrierten Moderationsfähigkeiten die Visitenkarte des Moderators; zum anderen wird e<strong>in</strong> <strong>Gruppendiskussion</strong>sprojekt <strong>in</strong> der Re-<br />
gel dann <strong>in</strong>s Leben gerufen, wenn e<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ungsverschiedenheit zwischen e<strong>in</strong>zelnen Gruppen des Auftraggebers besteht und ent-<br />
schieden werden muss: zum Beispiel Vorstand versus Produktmanagement oder Produktmanagement versus Werbeagentur. Jeder,<br />
der später den <strong>Gruppendiskussion</strong>sbericht <strong>in</strong> den Händen hält, wird pe<strong>in</strong>lichst genau prüfen, <strong>in</strong>wieweit der Report – bis h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>zel-<br />
nen Formulierungen – se<strong>in</strong>em Interesse entspricht. Der Moderator wird an se<strong>in</strong>em Bericht feilen und se<strong>in</strong>e Schlussfolgerungen mit<br />
wörtlichen und möglichst „sprechenden“ Zitaten aus den Diskussionen untermauern.<br />
13
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 14<br />
Der Moderator nimmt im Forschungsprozess e<strong>in</strong>e doppelte Rolle e<strong>in</strong>: er muss e<strong>in</strong>erseits objektiv, methodisch fundiert und sorgfältig<br />
ersche<strong>in</strong>en; andererseits sollte er sich bereitwillig auf die Zeittakte und Rezeptionsmöglichkeiten se<strong>in</strong>er Auftraggeber e<strong>in</strong>stellen und<br />
ihnen relevante, d.h. an ihren Interessen orientierte und nützliche Forschungsergebnisse liefern. Dazu muss er lernen se<strong>in</strong>e Ergeb-<br />
nisse zugleich transparent und stimmig zu präsentieren. Um die da<strong>für</strong> nötige Klientenerfahrung zu erwerben, muss sich e<strong>in</strong> Moderator<br />
mit den speziellen Fragestellungen se<strong>in</strong>es Kunden und mit den allgeme<strong>in</strong>en Eigenschaften und Tendenzen des jeweiligen Marktes<br />
vertraut machen. Die Kenntnis des Marktes ist <strong>für</strong> die angemessene Interpretation der <strong>Gruppendiskussion</strong> unerlässlich. Sie ist nämlich<br />
e<strong>in</strong>e Grundbed<strong>in</strong>gung da<strong>für</strong> ‚validity assessments“ vornehmen, d.h. das erhobene, notwendig selektive und knappe Material e<strong>in</strong>em<br />
Plausibilitätskontrolle unterziehen zu können. Da dieses Wissen nur ganz selten <strong>in</strong> Schriftform vorliegt, braucht e<strong>in</strong> solcher Lernpro-<br />
zess <strong>in</strong> der Regel Monate bis Jahre. Junior-Moderatoren lernen ihr zukünftiges E<strong>in</strong>satzgebiet als zunächst stumme Kofferträger ihrer<br />
Vorgesetzten on the job kennen. Es wundert von daher nicht, dass e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>mal von e<strong>in</strong>em Unternehmen akzeptierter Moderator ihm<br />
auch lange treu bleibt und vice versa. Besonders wichtige Präsentationen werden mitunter von den Vorgesetzen übernommen, wenn<br />
diese <strong>für</strong> den heiklen Vermittlungsprozess aufgrund ihrer besonderen Kundenkenntnis besser geeignet ersche<strong>in</strong>en. 7 Macnaghten/ My-<br />
ers (2004), sprechen davon, dass zum<strong>in</strong>dest <strong>zwei</strong> Jahre Erfahrung mit <strong>zwei</strong> bis drei Gruppen pro Woche notwendig seien, damit je-<br />
mand als „erfahrener“ Moderator gilt.<br />
7 Ähnliches haben wir im Rahmen rechtssoziologischer Forschungsprojekte bezüglich der Begründung von Revisionsbegründungen und bei der<br />
Jugendgerichtshilfe beobachten können; vgl. Wolff/Müller 1997)<br />
14
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 15<br />
Gütekriterien<br />
Empirische<br />
Sozialfoschung<br />
Qualitative<br />
Marktforschung<br />
Objektivität Transparenz, Feel<strong>in</strong>g <strong>für</strong> Bereich<br />
Reliabilität Nachvollziehbarkeit, Konsistenz<br />
Validität Authentizität, Kommunikative Validität, Kumulative Validität<br />
Nützlichkeit, Preisgünstigkeit<br />
E<strong>in</strong> professioneller Moderator redet se<strong>in</strong>em Auftraggeber nicht nach dem Mund. Es soll die Konsumentensprache sprechen und diese<br />
an die Firmensprache se<strong>in</strong>es Auftraggebers anschlussfähig machen. Letztendlich ist e<strong>in</strong> Moderator Vermittler zwischen <strong>zwei</strong> Wel-<br />
ten, die manchmal so verschieden wie nur möglich s<strong>in</strong>d; zum Beispiel dann, wenn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Woche Gruppen mit tr<strong>in</strong>kfesten, starken<br />
Rauchern aus ärmeren Milieus moderiert werden, deren E<strong>in</strong>stellungen <strong>in</strong> der nächsten Woche dem Market<strong>in</strong>gvorstand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em nüch-<br />
ternen postmodernen Ambiente nahe gebracht werden sollen. Dabei muss e<strong>in</strong> Moderator <strong>zwei</strong> widerstreitende Tendenzen auszuba-<br />
lancieren: E<strong>in</strong>erseits gilt es Nachvollziehbarkeit, Plausibilität und Anschlussfähigkeit zu sichern, andererseits aber auch e<strong>in</strong>e gewisse<br />
Tiefe der Analyse anzustreben. Mit der Dauer der Beziehung zum Kunden verbessert sich der diesbezügliche Rapport und es steigt<br />
die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit <strong>für</strong> wechselseitige Lernprozesse.<br />
Das aktuelle Stichwort dazu lautet ‚consumer <strong>in</strong>sight schaffen’. Im Unterschied zur klassischen Motivforschung a la Ernest Dichter ist<br />
damit nicht die Ausdeutung der ‚Seele des Konsumenten“ und ihre Offenbarung an die Auftraggeber geme<strong>in</strong>t. In der aktuellen Markt-<br />
15
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 16<br />
forschung wird zunehmend die wechselseitige consumer-<strong>in</strong>dustry-Beziehung thematisiert. Catterell (2002: 214) spricht von e<strong>in</strong>er aktu-<br />
ell erkennbaren Verschiebung von der technischen Kompetenz bei der Durchführung von <strong>Gruppendiskussion</strong>en h<strong>in</strong> zur Fähigkeit zur<br />
Ergebnis gestützten Beratung, der Übermittlung von Wissen über Konsumenten h<strong>in</strong> zur Vermittlung von hilfreichen E<strong>in</strong>sichten <strong>für</strong> zu-<br />
künftige strategische Market<strong>in</strong>gentscheidungen. 8<br />
Wie sich zeigt, ist die <strong>Gruppendiskussion</strong> <strong>in</strong> der Marktforschung e<strong>in</strong>e an die dortigen Anforderungen gut angepasste qualitative Me-<br />
thode. Sie erlaubt auf e<strong>in</strong>e <strong>für</strong> die meisten praktischen Zwecke ausreichende Weise dem Management „E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> den Markt“ , die<br />
sich durch Plausibilität (angemessene Repräsentanz möglicher Kunden), Authentizität (natürliche Atmosphäre), Detailliertheit (wörtli-<br />
che Zitate), Deutlichkeit (Fragetechniken und Ratifizierungen) und e<strong>in</strong>e gewisse Kommunikative Validierung (Akzeptanz <strong>in</strong> der Grup-<br />
pe) auszeichnen.<br />
8 Insoweit es hier um den Konsum von Daten <strong>für</strong> organisatorische Zwecke geht, muss man angewandte Forschung und deren Ergebnisse auch<br />
als e<strong>in</strong> Gesprächsangebot lesen und <strong>in</strong> ihrer Leistungsfähigkeit und Qualität danach beurteilen. (vgl. Feldman/March 1981)<br />
16
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 17<br />
Unterscheidung des Stils von Focus groups und Group<br />
discussions nach Eraut (2004)<br />
Focus group<br />
� Gruppe ist grundlegend <strong>für</strong><br />
Forschung<br />
� Darstellung von prägnanten<br />
E<strong>in</strong>stellungen, Me<strong>in</strong>ungen,<br />
Bewertungen und Beschreibungen <strong>für</strong><br />
zusehende Dritte<br />
� Aussagen werden weitgehend<br />
unbearbeitet übernommen bzw. In<br />
e<strong>in</strong>em ‘summary report’ mit vielen<br />
Zitaten zusammengefasst<br />
� Beobachbarkeit des Marktes (“<strong>in</strong>sight”)<br />
ist oberstes Ziel<br />
� Wenig oder gar ke<strong>in</strong>e Analyse<br />
über die Gruppe h<strong>in</strong>aus<br />
� Moderator beschränkt sich auf se<strong>in</strong>e<br />
Rolle im engeren S<strong>in</strong>n<br />
Group discussion<br />
� Gruppe ist lediglich e<strong>in</strong> Teil des<br />
Forschungsprozesses<br />
� Komplexe E<strong>in</strong>sichten, Unterscheidungen<br />
und Erklärungen werden erhoben ohne<br />
zuhörende Dritte<br />
� Diverses Material wird gesammelt, das <strong>für</strong><br />
sich noch ke<strong>in</strong> Ergebnis darstellt<br />
� Beobachtbarkeit ist ke<strong>in</strong> Ziel/ wird als<br />
H<strong>in</strong>dernis <strong>für</strong> die Erreichung von<br />
Forschungszielen betrachtet<br />
� Moderator versteht sich auch als<br />
Forscher<br />
� Interpretative Problemanalyse und<br />
Datenanalyse vor und nach der<br />
Feldphase. Ausführlicher Bericht<br />
17
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 18<br />
6. Interaktive Datenproduktion vor Ort<br />
In sozialwissenschaftlichen <strong>Gruppendiskussion</strong>en wird e<strong>in</strong>e gewisse E<strong>in</strong>heitlichkeit und Kohärenz der Gruppenme<strong>in</strong>ung angestrebt.<br />
Zum<strong>in</strong>dest versucht man möglichst günstige Bed<strong>in</strong>gungen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Selbstläufigkeit des Gruppengeschehens zu schaffen. Wichtig <strong>für</strong><br />
die Zwecke der Marktforschung ist h<strong>in</strong>gegen, dass die erhobenen Daten im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er breiten Abbildung des Marktes empfunden<br />
werden können. Daher ist allzu große Kohärenz <strong>in</strong> den Ergebnissen problematisch. Ziel des Moderators ist es deshalb, möglichst viel<br />
nutzbare Varianz zu schaffen. In Marktforschungsgruppendiskussionen geht es deshalb eher um die Evozierung verallgeme<strong>in</strong>erbarer<br />
E<strong>in</strong>zelme<strong>in</strong>ungen.<br />
In Marktforschungsgruppendiskussionen betätigt sich der Moderator gleichsam als Kohärenzunterbecher. Er generiert durch bestimm-<br />
te Fragetechniken und Ratifizierungen frei stehende E<strong>in</strong>zelme<strong>in</strong>ungen. Die besondere Kunst der Beteiligten (also nicht nur des Mode-<br />
rators) besteht diesbezüglich dar<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Menge von E<strong>in</strong>zelme<strong>in</strong>ungen zu elizitieren ohne dass die Unterschiede zwischen diesen E<strong>in</strong>-<br />
zelme<strong>in</strong>ungen sogleich als Dissens <strong>in</strong>terpretiert bzw. <strong>in</strong>teraktiv bearbeitet werden müssen. Moderatoren wie Gruppenmitglieder s<strong>in</strong>d<br />
an der Aufgabe der Sicherung und Sichtbarmachung dessen orientiert, was als Datum (Me<strong>in</strong>ung, Bewertung, Übere<strong>in</strong>kunft etc.) gel-<br />
ten soll – sei es <strong>für</strong> unmittelbare Zuhörer, sei es <strong>für</strong> die spätere Berichtslegung.<br />
Der <strong>in</strong>teraktive Charakter der Datenproduktion <strong>in</strong> <strong>Gruppendiskussion</strong>en zeigt sich auch dar<strong>in</strong> (wie <strong>in</strong> ähnlich ansetzenden konversati-<br />
onsanalytische Untersuchungen zum Interview; vgl. Maynard et al. 2002), dass die Gruppenmitglieder von den Moderatoren wie von<br />
ihren Kollegen nicht bzw. nicht nur „Individuen“ adressiert werden, sondern als Repräsentanten e<strong>in</strong>er bestimmten Perspektive, Mit-<br />
gliedschaftskategorie oder Situationsrolle (als ‚members of ‚broader’ categories’). Auch die Teilnehmer selbst sprechen von sich nicht<br />
18
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 19<br />
immer als „Individuen“, sondern betätigen <strong>in</strong> kunstvoller Weise als praktische Sozialforscher <strong>in</strong> eigener Sache - etwa im S<strong>in</strong>ne von<br />
praktischen Autoethnographen bzw. als E<strong>in</strong>zelfallanalytikern. 9<br />
• Sie wechseln ihre Teilnehmerkategorie (von Berichterstatter zur Privatperson und wieder zum Experten <strong>für</strong> bestimmte Fragen)<br />
und markieren so nicht nur ihre jeweils aktuelle soziale und situative Identität, sondern steuern damit auch die „Objektivität“ und<br />
„Gültigkeit“ der gerade von ihnen getroffenen Aussage.<br />
• Sie setzen Lachen, Humor, „hedges“ wie auch nonverbale H<strong>in</strong>weise se<strong>in</strong>, um die besondere Qualität, Repräsentativität und Re-<br />
levanz oder Delikatesse und damit die Zitierfähigkeit ihrer Aussagen zu qualifizieren.<br />
• Sie machen durch Wechsel des „Foot<strong>in</strong>g“ (Goffman) deutlich, wie sie selbst zur Orig<strong>in</strong>alität und Verallgeme<strong>in</strong>erbarkeit ihrer<br />
Aussagen stehen.<br />
An solchen Beispielen lässt sich demonstrieren, dass Moderatoren und <strong>Gruppendiskussion</strong>steilnehmer nicht nur Frage und Antworten<br />
austauschen, sondern gleichsam <strong>in</strong>teraktives Wissensmanagement vor Ort betreiben und sich <strong>in</strong> kunstvoller Weise um ihre „Beob-<br />
achtbarkeit“ kümmern. Ihr Wissensmanagement impliziert also e<strong>in</strong>e Pädagogik des Zeigens und Demonstrierens, die den Beobach-<br />
tern bei ihren E<strong>in</strong>-Sichten behilflich ist. (vgl. Mohn 2002)<br />
7. Die Fiktion der transparenten Fensterscheibe<br />
Nimmt man die sozialwissenschaftliche Literatur zum Maßstab, dann sche<strong>in</strong>t die <strong>Gruppendiskussion</strong> als <strong>in</strong>teraktives Geschehen vor<br />
Ort e<strong>in</strong>e relativ simple Angelegenheit zu se<strong>in</strong>, die ke<strong>in</strong>er großen methodologischen Diskussion bedarf ist. Man beschränkt sich auf die<br />
Organisation der Datensammlung und richtet se<strong>in</strong> Augenmerk auf die spätere Interpretation der ordnungsgemäß angelieferten Rohda-<br />
9 E<strong>in</strong>schränkend muss man allerd<strong>in</strong>gs bemerken, dass e<strong>in</strong>e zu deutliche Akzentuierung des Mitgliederverhaltens <strong>in</strong> diese Richtung, etwa die E<strong>in</strong>nahme<br />
der Rolle e<strong>in</strong>es Co-Marktforschers nicht gewünscht ist und von den Moderatoren <strong>in</strong> der Regel zurückgewiesen wird.<br />
19
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 20<br />
ten, wo<strong>für</strong> bewährte <strong>in</strong>haltanalytische, hermeneutische oder anderweitig rekonstruktive Techniken zur Verfügung stehen. In der Litera-<br />
tur zum <strong>Gruppendiskussion</strong>sverfahren im Marktforschungsbereich tendiert man umgekehrt dazu, den Analyseprozess zu trivialisieren<br />
und e<strong>in</strong>e unproblematische „E<strong>in</strong>sichtigkeit“ der <strong>Gruppendiskussion</strong> vor und h<strong>in</strong>ter dem E<strong>in</strong>wegspiegel zu unterstellen. Beide Gruppen<br />
vertreten mit jeweils unterschiedlichen Vorzeichen die Fiktion des transparenten Fensters.<br />
Diese Fiktion, Sue Wilk<strong>in</strong>son (2004) spricht sogar von der „transparent-w<strong>in</strong>dow-theory“, läuft auf die Unterstellung h<strong>in</strong>aus, dass e<strong>in</strong>e<br />
geschickt bestückte und gut (das kann auch bedeuten: konsequent gar nicht 10 ) moderierte <strong>Gruppendiskussion</strong> e<strong>in</strong>en „Durchblick“ auf<br />
Me<strong>in</strong>ungen, Erfahrungen und Realitäten von Teilnehmern bzw. Teilnehmergruppen erlauben würde. Selbst bei schwierigen Themen<br />
können so Analytiker und ggf. auch weitere Zuschauer die ausgewählten Vertreter von Märkten, Generationen und Milieus <strong>in</strong> legitimer<br />
und strukturierter Weise belauschen („structured eavesdropp<strong>in</strong>g“; Powney 1988). Wie die Teilnehmer, d.h. Moderatoren und Grup-<br />
penmitglieder es aber geme<strong>in</strong>sam anstellen, die Transparenz dieser Fensterscheibe herzustellen und <strong>in</strong> ihrer Durchlässigkeit zu do-<br />
sieren, wie sie also ihre „Belauschbarkeit“ herstellen, bliebt dabei allerd<strong>in</strong>gs ungeklärt. 11 Anders als die Vertreter der Fiktion von der<br />
transparenten Fensterscheibe schlagen wir vor, die <strong>Gruppendiskussion</strong> als e<strong>in</strong>en sozialen Kontext eigener Art zu verstehen. Das be-<br />
deutet sie selbst zum Untersuchungsgegenstand zu machen, und nicht nur als Dokument <strong>für</strong> etwas zu behandeln, was außerhalb<br />
liegt. E<strong>in</strong> solcher Perspektivenwechsel gäbe dem Gruppengespräch e<strong>in</strong>en anderen epistemologischen Status und auch den “Resulta-<br />
ten” e<strong>in</strong>en anderen S<strong>in</strong>n: <strong>Gruppendiskussion</strong>en wäre demnach kunstvolle Arrangements des <strong>in</strong>teraktiven Erzeugens und Dokumentie-<br />
rens mehr oder weniger direkt ‚zitierfähiger’ Daten, Me<strong>in</strong>ungen und Bewertungen über bestimmte ausgewählte Aspekte und Bereiche<br />
von Wirklichkeit.<br />
10 Kompetentes Moderatorenverhalten kann nach dem Verständnis maßgeblicher deutscher Autoren nämlich auch dar<strong>in</strong> bestehen nach der Initiierung<br />
des Kommunikationsprozesses sich soweit unsichtbar zu machen, dass die <strong>Gruppendiskussion</strong> abläuft, als ob der Moderator gar nicht anwesend<br />
wäre und das Geschehen sich e<strong>in</strong>em ‚normalen’ Gespräch annähert. (Loos/ Schäffer 2001: 13) Dies ist natürlich selbst e<strong>in</strong>e – <strong>schlechte</strong> –<br />
Fiktion.<br />
20
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 21<br />
Manche Vertreter der sozialwissenschaftlichen <strong>Gruppendiskussion</strong> gerade <strong>in</strong> Deutschland gehen so vor, als ob nur die rekonstruktive<br />
Analyse erweisen könnte, dass und welche Ergebnisse vorliegen. In begrenztem Maße mag dies auch zutreffen. Allerd<strong>in</strong>gs bleiben<br />
dabei zum<strong>in</strong>dest die <strong>für</strong> die Marktforscher zentrale „view<strong>in</strong>g experience“ und die von uns angesprochenen Prozesse der <strong>in</strong>teraktiven<br />
Daten- und Ergebnisproduktion vor Ort ausgeblendet. Unterschlagen wird der aktive Part, den Moderatoren und Teilnehmer bei der<br />
Herstellung und „Veredelung der Daten“ spielen. 12<br />
Wie wir mit unseren Bemerkungen zeigen wollten, muss die <strong>Gruppendiskussion</strong> aber nicht erst von tief schürfenden Analytikern zum<br />
Sprechen gebracht werden. Sie spricht selbst! In gewisser Weise erweisen sich daher die Marktforscher gerade wegen ihrer verme<strong>in</strong>t-<br />
lich „<strong>schlechte</strong>n Praktiken“ als die aufs Ganze gesehen sensibleren „kommunikativeren“ Sozialforscher.<br />
11 Vgl. Gusfield (1973) und Wolff (1995), die solche Fensterscheiben und deren Herstellung unter dem Stichwort „Rhetorik“ zum Thema empiri-<br />
scher Untersuchungen machen.<br />
12 Diese eigentümliche Scheu vor dem <strong>in</strong>teraktiven Geschehen <strong>in</strong> der <strong>Gruppendiskussion</strong> zeigt sich bis <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>e Details: sowohl <strong>in</strong> der sozialwissenschaftlichen<br />
Praxis wie <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>schlägigen Methodenbüchern f<strong>in</strong>den sich kaum H<strong>in</strong>weise auf den E<strong>in</strong>satz von Videos, deren E<strong>in</strong>satz im<br />
Marktforschungsbereich Standard ist. Andererseits werden bei sozialwissenschaftlichen Demonstrations-Videos genau jene Sequenzen als Belege<br />
zitiert, <strong>in</strong> denen die Beteiligten aktiv und erkennbar Datenproduktion betreiben.<br />
21
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 22<br />
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Seale, Clive, Gobo, Giampietro, Gubrium, Jaber F., Silverman, David (eds.) (2004):<br />
Qualitative Research Practice. London: Sage Silverman, David (2004):Qualitative Research. 2nd. Edition. London: Sage<br />
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Mohn, Elisabeth (2002):<br />
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Wolff Stephan, Müller, Hermann (1997):<br />
Kompetente Skepsis. Konversationsanalytische Untersuchungen zur Glaubwürdigkeit vor Gericht. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />
22
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04) 23<br />
Anhang I: Bericht der betrieblichen Marktforschung (fast vollständiger Auszug)<br />
Dieses Projekt wurde von der <strong>in</strong>ternen Marktforschungsabteilung e<strong>in</strong>es Zigarettenunternehmens e<strong>in</strong>em zu diesem Zeitpunkt als freelancer<br />
arbeitenden Moderator <strong>in</strong> Auftrag gegeben. Bei Abschluss des Projekts liegt der Bericht der betrieblichen Marktforschung vor.<br />
In diesem Bericht zieht die zuständige betriebliche Marktforscher<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Fazit und verweist, was die detaillierten Ergebnisse anlangt, auf<br />
den Bericht des Moderators:<br />
H<strong>in</strong>tergrund und Zielstellung<br />
Die Rückseitengestaltung der XY-Marken umfasst das Filtertechniksymbol APLHA Es wurde überlegt, dieses Symbol statt der traditionellen<br />
Tabakstaude auch auf die Vorderseite zu setzen. Dadurch sollte der <strong>in</strong>novative, moderne und e<strong>in</strong>zigartige Produktcharakter<br />
als added value erlebt werden – ohne dass aber Tabakkompetenz, Markenherkunft, Tradition und Rauchgenuss, wie bislang durch die<br />
Tabakblätter transportiert, verloren gehen.<br />
Vorgehen<br />
Wir führten 4 <strong>Gruppendiskussion</strong>en durch. (Die Stichprobe wird hier nicht dargestellt.)<br />
Ergebnis<br />
Die Packungen mit dem ALPHA-Symbol wirken e<strong>in</strong>deutig moderner und chicer/ ästhetischer, z.T. allerd<strong>in</strong>gs aufgesetzt. Das Symbol<br />
wird i.S. e<strong>in</strong>er besonderen Tabakbearbeitung verstanden. Diese jedoch ist nicht genau vorstellbar bzw. mit negativen Verdachtsmomenten<br />
besetzt (genmanipuliert, Zusatzstoffe?). Gleichzeitig kann das neue Symbol nicht wie die herkömmliche Tabakkrone heritage,<br />
tradition und smok<strong>in</strong>g enjoyment vermitteln.<br />
Fazit<br />
Von e<strong>in</strong>er Platzierung des Symbols auf der Vorderseite raten wir ab, <strong>in</strong>sofern der added value nur <strong>in</strong> vordergründiger Modernisierung<br />
besteht und Tabakkompetenz wie glaubwürdige Natürlichkeit verloren gehen.<br />
23
<strong>Gute</strong> <strong>Gründe</strong> <strong>für</strong> <strong>schlechte</strong> Praktiken (11.06.2004/04)<br />
Anhang II: Aus dem Bericht des Moderators<br />
Summary<br />
Packungen mit dem ALPHA-Symbol vorne werden als chicer und moderner erlebt. Man versteht vom Kopf her auch, was gewollt ist,<br />
aber vom Bauch her weckt das Symbol vorne Unbehagen:<br />
“Die XY Light Flavor Packung, die jetzt auf dem Markt ist, hat sich dazu entschieden, e<strong>in</strong>e Zigarette zu se<strong>in</strong> und nicht e<strong>in</strong> Derivat, das<br />
... <strong>in</strong>dustriell verfe<strong>in</strong>ert ist. Da ist Tabak drauf und da s<strong>in</strong>d Zigaretten dr<strong>in</strong> - auch wenn das ALPHA-Symbol chicer ist.“<br />
Verständnis des ALPHA-Symbols<br />
Das ALPHA-Symbol weckt Fragen:<br />
“Ich weiß immer noch nicht, was das XY-Flavor-System ist. Heißt das, die Zigarette enthält Füllstoffe?”<br />
“der Händler müsste <strong>für</strong> Nachfragen e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Heftchen haben”<br />
24<br />
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