gPDF - SFB 580 - Friedrich-Schiller-Universität Jena
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ELENA<br />
KAPITEL<br />
V. MÜLLER<br />
1<br />
in einer Kernfamilie, wie man bereits aus den<br />
Experimenten mit Kommunen in der frühen<br />
Sowjetzeit lernen konnte.<br />
Seite 16 16<br />
6<br />
Das Festhalten am Ideal der Jugend bei der<br />
gleichzeitigen natürlichen Alterung der Elite<br />
wurde dem Stalinismus zunehmend zum Verhängnis.<br />
Der Versuch der Nachkriegskultur,<br />
die reifen Familienväter zu Helden zu machen<br />
misslang, Werke, die diesem Ideal verpflichtet<br />
sind, wie beispielsweise die als Epopöe angelegte<br />
Erzählung Žurbiny von Vsevolod Kočetov<br />
(1912-1973) aus dem Jahr 1952 wurden von<br />
den Rezipienten nicht angenommen. Die Konflikte,<br />
die aus den Verpflichtungen der eigenen<br />
Kleinfamilie und der großen sowjetischen<br />
Großfamilie gegenüber resultieren, wurden in<br />
dieser Zeit Dank der in der Kunst propagierten<br />
„Theorie der Konfliktlosigkeit“, der Nachkriegsausgabe<br />
des sozialistischen Realismus,<br />
förmlich verleugnet. 7 Der schwelende Konflikt<br />
zwischen alt und jung, zwischen Vätern und<br />
Söhnen, zwischen Erfahrung und Innovation<br />
wurden in den Medien nicht thematisiert. Die<br />
alternde Elite blieb weiterhin an der Macht<br />
und konnte den wachsenden Widerspruch<br />
zwischen der propagierten Jugend und ihrer<br />
faktischen Alterung nicht mehr auflösen.<br />
Die Entstalinisierung und Tauwetterperiode<br />
wurde zum Revival der wahren Jugend-<br />
Ideale in der Sowjetgesellschaft. Erneut setzte<br />
die Macht auf die Jugend und bevorzugte sie<br />
gegenüber der während des Stalinismus versagenden<br />
Generationen. Jugendfestivals,<br />
Jugendklubs etc. kennzeichnen<br />
diese Jahre. In der Kultur bekamen die<br />
jüngeren die lang ersehnte Chance,<br />
junge Autoren, junge Filmemacher<br />
und die frischen Gesichter der jungen Schauspieler<br />
veränderten erneut radikal das Antlitz<br />
der Sowjetkultur. Die neuen Machthaber<br />
suchten bei der kaum vorbelasteten Jugend<br />
ihre Verbündeten. So war die Idee der Urbarmachung<br />
des Neulandes (die sich sehr bald als<br />
ein wirtschaftliches und ökologisches Desaster<br />
entpuppte) eine Hinwendung speziell zu der<br />
neuen Generation, eine Chance für sie, sich<br />
heroisch zu bewähren.<br />
Der verstärkte Wohnungsbau, heute als<br />
„Chruščeby“ 8 verunglimpft, richtete sich ebenfalls<br />
an die Jüngeren, denn so sollten sie endlich<br />
eine Chance bekommen, sich räumlich von den<br />
Eltern zu lösen, und selbst erwachsen werden.<br />
Die Raumfahrt und die sportlichen Erfolge, die<br />
durch die Rückkehr in die Weltgemeinschaft<br />
und Abschwächung des Kalten Krieges möglich<br />
wurden, bewirkten weiter, dass die wirklich<br />
jungen Menschen und nicht die, die für sich die<br />
metaphysische ewige Jugend beanspruchten, in<br />
das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit<br />
rückten.<br />
Diese Epoche dauerte allerdings, wie wir<br />
wissen, nur kurz. Auf das Tauwetter folgte<br />
erneut die gesellschaftliche und politische<br />
Kälte. Die Zeit nach der Absetzung von<br />
Chruschtschows Mitte der sechziger Jahre,<br />
heute als „Stagnation“ bezeichnet, ist durch<br />
den Stillstand in allen gesellschaftlichen Bereichen<br />
gekennzeichnet. Als die Hoffnungen auf<br />
einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“<br />
spätestens 1968 verblassten, konzentrierten<br />
sich die Machthaber nur noch auf den Erhalt<br />
der eigenen Macht und ihrer Privilegien.<br />
Den Anspruch, die Welt-Avantgarde zu sein,<br />
den man noch in der Chruschtschow-Zeit<br />
zu aktualisieren versuchte, wurde endgültig<br />
stillschweigend aufgegeben. Innenpolitisches<br />
Ziel blieb es, durch allgemeinen bescheidenen<br />
Wohlstand die Gesellschaft ruhig zu halten.<br />
Und bereits dieses Ziel ließ sich immer schwerer<br />
verwirklichen.