Auszüge - Bachmann Verlag

der antiken Philosophen gewesen, denen ihr Metier als praktische wissenschaft
galt, die lehrte, wie Glück zu erringen sei. auch antike religionsströmungen,
wie die Gnosis, waren davon ausgegangen, daß die
seele durch erkenntnis aus dem leib erlöst werden könne – eine tradition,
der im Mittelalter wenig bedeutung zukam, die sogar als häretisch
beurteilt wurde. Die Deutungsmacht über die welt beanspruchte
(theoretisch unangefochten) die katholische Kirche, oder, wie man damals
sagte: Unsere heilige Mutter Kirche. wie Mütter die Kinder, so
belehrte die Kirche ihre schafe (eine durchaus offizielle Metapher für
die Gläubigen) in allen lebensbereichen darüber, wo es langgeht und
was sache ist.
„Die Sterne und anderes Wissen zu kennen, diese Kenntnisse kommen
vom Studium. Aber sich selbst zu erkennen, das kommt von
keiner Schulung, nicht von der Bildung und nicht vom Buchwissen.
Denn Doktoren des Rechts und der Theologie und Magister in anderen
Wissenschaften kennen zum Teil bisweilen sich selbst nicht und
wollen sich selbst auch gar nicht kennen, um sich von der Sünde zur
Gerechtigkeit zu lenken.“ 3
(aus Jacob’s Well, einer englischen
Predigt des frühen 15. Jahrhunderts)
Da der Mensch aber von seiner anthropologischen Konstitution
her ein ‚neugierdewesen‘ ist – nicht zuletzt deshalb konnte er
die anderen Primaten so weit überflügeln –, finden wir immer wieder
einzelne intellektuelle, die den geschlossenen Kosmos des christlichen
weltbilds mit neuen Fragen aufzubrechen wagten. Dabei gehörten fast
alle von ihnen i. d. r. selbst der Kirche an, da im Früh- und hochmittelalter
diese eben das bildungsmonopol innehatte. Diese neugierigen
blieben mit wenigen ausnahmen (denen ein böses ende beschieden
war) innerhalb des systems, stellen dieses selbst nicht in frage, auch
wenn sie zu erkenntnissen kamen, die es falsifizierten. Dann versuchten
sie lieber, sich durch komplizierte Konstruktionen konsequenten
schlüssen zu entziehen, und sei es um den Preis, die logisch absurde
Koexistenz von zwei nebeneinander bestehenden wahrheiten anneh-
329