vollständige Magisterarbeit - Socialnet
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Seite an Seite in zwei Welten<br />
Sozialpsychologische Aspekte der Sozialisation von jugendlichen<br />
Spätaussiedlern aus Russland
Seite an Seite in zwei Welten<br />
Sozialpsychologische Aspekte der Sozialisation von jugendlichen<br />
Spätaussiedlern aus Russland<br />
<strong>Magisterarbeit</strong> zur Erlangung des akademischen Grades<br />
Magister Artium im Hauptfach „Sozialpsychologie“<br />
an der<br />
Universität Hannover<br />
Institut für Soziologie und Sozialpsychologie<br />
vorgelegt von<br />
Nelly Simonov<br />
Erstprüferin: Dipl. Sozwiss. Silvia Augustin. Note: 1,3<br />
Zweitprüfer: Dipl. Sozwiss. Edgar Zakaria. Note: 1,0<br />
Ort und Datum der Abgabe:<br />
Hannover, 05.04.05
Für meinen Großvater<br />
David Penner
Inhaltsverzeichnis<br />
Einleitung _______________________________________________ 7<br />
1. Hintergründe und Randbedingungen ____________________ 9<br />
1. 1. Aktuelle Situation____________________________________ 9<br />
2. Definition und Begriffsklärung_________________________ 10<br />
2. 1. Sozialisation – Begriffsklärung ________________________ 11<br />
2. 2. Jugend – Begriffsklärung ____________________________ 12<br />
3. Sozialisation in der Familie ___________________________ 13<br />
3.1. Familie - Begriffsklärung______________________________ 13<br />
3.2. Geschichtlicher Wandel der Institution Familie ____________ 16<br />
3.3. Zeitalter der Individualisierung _________________________ 18<br />
4. Geschlechtsspezifische Sozialisation___________________ 20<br />
4.1. Zweigeschlechtlichkeit aus der biologischen Sicht _________ 22<br />
4.2. Zweigeschlechtlichkeit aus der psychoanalytischen Sicht____ 23<br />
4.2.1. Definition und Grundannahme der Psychoanalyse______ 24<br />
4.2.1.1. Der psychische Apparat und das Triebmodell ________ 24<br />
4.2.1.2. Psychosexuelle Phasen _________________________ 25<br />
4.2.2. Chancen/Gefahren ________________________________ 26<br />
5. Sozialisation in der Schule ____________________________ 28<br />
5.1. Aufgaben und Funktionen schulischer Sozialisation ________ 28<br />
6. Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern ___________ 31<br />
6.1. Familienspezifik in Russland __________________________ 31<br />
6.2. Ausreisemotive und Ausreisebedingungen _______________ 33<br />
6.2.1. Einwanderungsbedingungen im Wandel______________ 44<br />
6.3. Wohnsituation der Spätaussiedler in Deutschland _________ 45<br />
6.4. Besonderheiten der Familiensozialisation der Aussiedler ____ 47<br />
6.5. Integrationsmodell __________________________________ 54<br />
6.5.1. „Integrationsfalle“ Ghetto? _________________________ 54<br />
6.5.2. Integration – Begriffsklärung _______________________ 56<br />
6.5.3. Typen des Wandels kultureller Identität ______________ 58<br />
6.6. Zusammenfassung des 6. Kapitels _____________________ 63<br />
7. Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern ________ 64<br />
7.1. Schulspezifik in Russland ____________________________ 65<br />
7.1.1. Bildungsstruktur der Schule in der ehemaligen UdSSR und<br />
Russland ___________________________________________ 68<br />
7.2. Aufnahme der Spätaussiedler in der deutschen Schule _____ 73<br />
7.3. Besonderheiten und Probleme in der schulischen Sozialisation<br />
bei den Spätaussiedlern _________________________________ 74<br />
7.3.1. Integration und Konsum __________________________ 79<br />
4
8. Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration ____ 80<br />
8.1. Identitätskrise ______________________________________ 80<br />
8.2. Trauma ___________________________________________ 85<br />
8.2.3. Trauma im Kindes- und Jugendalter _________________ 90<br />
8.2.3.1. Namensänderung ______________________________ 91<br />
8.2.4. Notwendigkeit der Trauer _________________________ 93<br />
8.2.5. Diathese – Stress – Modell ________________________ 94<br />
8.3. Psychosomatik _____________________________________ 95<br />
9. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sozialisation der<br />
Spätaussiedler__________________________________________ 97<br />
10. Betrachtung nach unterschiedlichen Aspekten ___________ 99<br />
10.1. Geschlechter-Aspekt____________________________ 100<br />
10.2. Zeitpunktaspekt________________________________ 100<br />
10.3. Freiwilligkeitsaspekt ____________________________ 100<br />
10.4. Bildungsaspekt ________________________________ 101<br />
10.5. Herkunftsaspekt _______________________________ 101<br />
10.6. Abschiedsaspekt_______________________________ 102<br />
11. Integrationshilfen___________________________________ 103<br />
11.1. Sichtwechsel ____________________________________ 103<br />
12. Fazit ______________________________________________ 108<br />
13. Literaturverzeichnis _________________________________ 110<br />
5
Abbildungsverzeichnis<br />
ABB. 1 JUGENDPHASEN___________________________________________13<br />
ABB. 2 CHRONOLOGIE DER AUSWANDERUNG__________________________35<br />
ABB. 3 TEUFELSKREIS DER EXKLUSION ______________________________53<br />
ABB. 4 VERÄNDERUNGSTYPEN KULTURELLER IDENTITÄT ________________59<br />
ABB. 5 FORMEN DER INTEGRATION IN DIE AUFNAHMEGESELLSCHAFT_______60<br />
ABB. 6 GEGENÜBERSTELLUNG DER INTEGRATIONSMODELLE BERRY/STROBL<br />
UND KÜHNEL ______________________________________________61<br />
ABB. 7 FAMILIENSOZIALISATION BEI DEN SPÄTAUSSIEDLERN _____________64<br />
ABB. 8 DAS BILDUNGSSYSTEM IN RUSSLAND__________________________66<br />
ABB. 9 BILDUNGSINHALTE, UNTERRICHTSFORM, ERZIEHUNGSIDEALE_______73<br />
ABB. 10 VERTEILUNG AUF DIE SCHULFORMEN _________________________77<br />
ABB. 11 DER EINFLUSS DES GESCHLECHTS AUF DAS AUSMAß<br />
PSYCHOSOMATISCHER BESCHWERDEN ___________________________98<br />
6
Einleitung<br />
7<br />
_________________________________________________________<br />
Einleitung<br />
Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wird die deutsche Ge-<br />
sellschaft mit dem Begriff „Aussiedler“ 1 intensiv konfrontiert.<br />
Es wird viel über die Integration und Integrationsprobleme der Aussied-<br />
ler publiziert, es wird viel über die Maßnahmen zu Integrationshilfe ge-<br />
sprochen. Und doch scheint das Thema „Aussiedler“ an Aktualität nicht<br />
verloren zu haben.<br />
Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem sensibelsten Glied der Gesell-<br />
schaft, mit den Problemen der Kinder und Jugendlichen, im konkreten<br />
Fall mit den Schwierigkeiten und Problemen, mit den Strategien zur<br />
Überwindung der Barrieren und Stolpersteine im Laufe der Sozialisati-<br />
onsprozesse der jungen Spätaussiedler aus Russland.<br />
Ziel dieser Arbeit ist in erster Linie, die Bedeutung der Sozialisations-<br />
prozesse für die Entwicklung der Persönlichkeit herauszustellen und mit<br />
diesem Hintergrund die Sozialisationsprozesse der Spätaussiedler ge-<br />
nauer unter die Lupe zu nehmen. Das Verstehen der besonderen Um-<br />
stände, in der die Sozialisation der Spätaussiedler stattfindet, kann Be-<br />
ratern und Therapeuten helfen in die Problematik tiefer einzudringen<br />
und effektive Problemlösungsansätze anzubieten.<br />
Im ersten Teil der Arbeit wird die theoretische Grundlage der Sozialisa-<br />
tion vorgestellt und die wichtigsten Begriffe der Sozialisation erläutert.<br />
Ein <strong>vollständige</strong>r Überblick zu Sozialisationstheorien und Sozialisations-<br />
forschungen ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich.<br />
Der zweite Teil beschäftigt sich mit den sozialpsychologischen Aspek-<br />
ten der Sozialisation der jugendlichen Spätaussiedler aus Russland.<br />
1 An Stelle der Begriffe Aussiedler/Spätaussiedler könnten hier und im folgenden genauso gut<br />
die Ausdrücke Aussiedlerinnen/Spätaussiedlerinnen stehen. Ich folge weniger der sprachlichen<br />
Konvention aus Gründen der Einfachheit der Formulierung und bitte dies nachzusehen.
Einleitung<br />
8<br />
_________________________________________________________<br />
Instrumente<br />
Da diese Arbeit auf den bereits bestehenden Forschungen und Analy-<br />
sen fußt und sich auf keine eigenständige quantitative Untersuchung<br />
stützt, wird auf eine konkrete Einschränkung des Alters der jungen<br />
Spätaussiedler verzichtet. Angesprochen wird die Gruppe, die sich - im<br />
sozialwissenschaftlichen und sozialpsychologischen Sinne - zwischen<br />
der späten Kindheit 8-12 Jahren und der frühen Adoleszenz 14-17 Jah-<br />
ren befindet. Gemeint ist ein Zeitraum in dem ein Kind bzw. Jugendli-<br />
cher im Regelfall eine allgemeinbildende Schule besucht.<br />
Um dieser Arbeit einen zeitlichen Rahmen zu verleihen und der Aktuali-<br />
tät gerecht zu werden, begrenze ich die ethnische Gruppe der Aussied-<br />
ler aus Russland auf die Aussiedler mit dem Rechtsstatus „Spätaus-<br />
siedler“. Den Rechtsstatus eines Spätaussiedlers erhalten jene, die vor<br />
dem 1.1.1993 geboren wurden, nach dem 31.12.1992 einen Aufnah-<br />
mebescheid gemäß § 26 BVFG erhalten haben und sich seit dem<br />
1.1.1993 in der BRD aufhalten (Strobl, 2000).<br />
In dieser Arbeit wird der Begriff Aussiedler stellvertretend für Aussiedler<br />
und Spätaussiedler verwendet, da beide Gruppen ähnliche Migration-<br />
serfahrungen machen. Wird der Begriff Spätaussiedler verwendet, so<br />
richtet sich das Augenmerk auf die Gruppe der Aussiedler mit dem<br />
Rechtsstatus Spätaussiedler.<br />
Eine weitere Präzisierung der zu untersuchenden Gruppe erfolgt durch<br />
die Bestimmung ihrer Herkunft. Es handelt sich um die jungen Spätaus-<br />
siedler aus Russland. Die ethnische Minderheit der Deutschen ist ge-<br />
schichtlich und politisch bedingt verstreut über das ganze Gebiet der<br />
ehemaligen Sowjetunion. Durch den Zerfall der Sowjetunion, haben die<br />
unabhängigen Staaten eine eigene politische Dynamik entwickelt und<br />
machen eine enorme kulturelle Wandlung durch. Aus diesem Aspekt<br />
der Multikulturalität möchte ich die zu untersuchende Gruppe homogen<br />
halten und mich nur auf die deutsche Minderheit aus Russland bezie-<br />
hen, wobei ich in dem Kapitel „Ausreisemotive und Ausreisebedingun-<br />
gen“ den Aspekt der Herkunft im Hinblick auf die Ausreisehintergründe<br />
einmal aufgreifen muss.
Einleitung<br />
9<br />
_________________________________________________________<br />
Als Instrumente dieser Arbeit dienen die einschlägige Literatur, Recher-<br />
che in den Fachdatenbanken, sozialwissenschaftliche, psychologische,<br />
sozialpsychologische, politologische, pädagogische Zeitschriften, russi-<br />
sche Periodika und Recherche in dem weltweitem Web, mit dem<br />
Hauptaugenmerk auf den Seiten aus Deutschland und Russland.<br />
Nicht zu vergessen ist die eigene Erfahrung mit dieser ethnischen Min-<br />
derheit, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass diese Arbeit entste-<br />
hen konnte. Die Erfahrung bewirkte nicht nur das Entstehen, sie beglei-<br />
tet und beeinflusst die Diskussion und formt einen festen Rahmen in<br />
dem sich meine Dialektik bewegt.<br />
1. Hintergründe und Randbedingungen<br />
Laut Grundgesetz - Art. 116, Abs. 1: „Deutscher im Sinne dieses Grundge-<br />
setzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche<br />
Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher<br />
Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebie-<br />
te des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Auf-<br />
nahme gefunden hat.“ (Grundgesetz, 2003) – steht den Aussiedlern und<br />
den Spätaussiedlern die deutsche Staatsbürgerschaft zu.<br />
Das unterscheidet sie von Gastarbeitern oder Flüchtlingen anderer<br />
Herkunft, denen die deutsche Staatsbürgerschaft erst nach langen Jah-<br />
ren des Aufenthaltes auf Antrag zugestanden wird.<br />
1. 1. Aktuelle Situation<br />
Seit Mitte der 90er Jahre ist die Zahl der Ausreiseanträge rückläufig.<br />
1990 kamen 147.950 Aussiedler nach Deutschland, im Jahre 1999 wa-<br />
ren es 103.599 Personen. Die Einführung eines Sprachtests im Her-<br />
kunftsland im Rahmen eines Aufnahmeverfahrens beeinflusste erheb-<br />
lich die Anzahl der Einreisenden. Mittels bestimmter geregelter Auf-<br />
nahmeverfahren wurde seit 1990 der Aussiedlerzuzug gesteuert. Die
Hintergründe und Randbedingungen<br />
10<br />
_________________________________________________________<br />
Zuwanderung wurde auf 225.000 Personen jährlich beschränkt (Infor-<br />
mationen zur politischen Bildung, 2000).<br />
Von 1989 bis 1998 wurden (ohne natürlichen Zuwachs in Deutschland<br />
und Weiterwanderungen aus Deutschland) 2.301.315 neu zugewander-<br />
te Aussiedler registriert (Bade, 1999 S. 9).<br />
Jugendliche Aussiedler bilden bei einem Anteil von 14% an der gesam-<br />
ten Aussiedlerzuwanderung im Zeitraum 1990 bis 1998 eine Gruppe im<br />
Umfang von etwa 275.000 Menschen (ebd. S.45).<br />
Die demografischen Daten aus dem Jahr 2002 ergeben, dass 29.425<br />
der eingereisten Spätaussiedler unter 20 Jahre sind (Mies-van Engels-<br />
hoven, 2002).<br />
Die Bundesregierung hat sich als Ziel gesetzt, die Lebensbedingungen<br />
der Russlanddeutschen in Russland zu verbessern und damit den<br />
Verbleib der deutschen Minderheiten in Russland zu fördern (Informati-<br />
onen zur politischen Bildung, 2000).<br />
Aussiedler heute sind in der Mehrzahl keine Flüchtlinge, die wegen un-<br />
mittelbarer Repressionen ihr Land verlassen müssten. Bei den Aussied-<br />
lern geht es um Veränderungen in den Zukunftsperspektiven wirt-<br />
schaftlicher Art oder auch um Familienzusammenführung mit jenen<br />
Verwandten, die schon vor Jahren ausgesiedelt waren. Bei der Aus-<br />
siedlung geht es um eine selbst gewählte Veränderung der persönli-<br />
chen Entwicklungschancen (Silbereisen, 1999 S. 17). Die Ausreisemo-<br />
tive sind vielfältig und sollen im Kapitel „Ausreisemotive und Ausreise-<br />
bedingungen“ näher erläutert werden.<br />
2. Definition und Begriffsklärung<br />
Zunächst soll die theoretische Grundlage geschaffen werden und die<br />
Begrifflichkeit definitorisch ausdiskutiert werden. Dieses ist notwendig,<br />
um den Transfer von den allgemeinen Theorien der Sozialisation auf<br />
die Sozialisation der spezifischen Gruppe der jungen Aussiedler leisten<br />
zu können.
Definition und Begriffsklärung<br />
11<br />
_________________________________________________________<br />
2. 1. Sozialisation – Begriffsklärung<br />
Die Literaturlage zum Thema Sozialisation ist zum Teil unübersichtlich,<br />
da es sehr viele unterschiedliche Sozialisationstheorien gibt und es im-<br />
mer wieder neue Theorien dazu kommen.<br />
Es gibt zahlreiche unterschiedliche Definitionen zum Begriff Sozialisati-<br />
on. Zimmermann stellt in seinem Buch (Zimmermann, 2003) mehrere<br />
Definitionen zusammen und schlägt eine Definition vor, die die wichtigs-<br />
ten Aspekte in Kürze zusammenfasst.<br />
Diese Definition stammt von Geulen und Hurrelmann und lautet:<br />
„(...) Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechseln-<br />
der Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen<br />
Umwelt. Die Akzentuierung bei sozialisationstheoretischen Fragestellungen<br />
liegt im Mitglied-Werden in einer Gesellschaft.“ (Zitat ebd. S. 16)<br />
Mit der wechselnden Abhängigkeit ist das aktive Subjekt gemeint, das<br />
auf vielfältige Weise mitwirkt. Das Subjekt steht durch die Art seiner<br />
inneren Verarbeitung von Erfahrungen und durch sein Handeln in einer<br />
komplexen Wechselwirkung mit der Umwelt. Der Hinweis auf den Pro-<br />
zesscharakter bedeutet, dass die Sozialisation nicht ein einmaliges Er-<br />
eignis ist, sondern über die ganze Lebensspanne stattfindet. Die Sozia-<br />
lisation eines jeden Subjektes findet in der jeweils spezifischen Umwelt<br />
statt, in einem bestimmten familialen, schulischen usw. Umfeld. Somit<br />
verläuft die Sozialisation bei verschiedenen Menschen sehr unter-<br />
schiedlich und führt zu unterschiedlichen Ausprägungen.<br />
Die Sozialisation unterliegt einem gesellschaftlichen, kulturellen und<br />
auch einem historischen Wandel. Das Verhältnis von Anlage und Um-<br />
welt ist als komplexes Interaktionsgeschehen zu begreifen, wobei die<br />
Einflüsse der Umwelt, nach Aussagen der Biologen und auch der So-<br />
zialisationsforscher, in jedem Fall von enormer Relevanz sind.<br />
Die Sozialisation ist jedoch nicht mit „Hilfe“, „Erziehung“ und „Therapie“<br />
gleichzusetzen, denn dieses ist geplantes Handeln und setzt in der Re-<br />
gel Professionalität voraus. Die Sozialisation geht über die initiierten<br />
Lernprozesse hinaus. (Zimmermann, 2003 S. 16)
Definition und Begriffsklärung<br />
12<br />
_________________________________________________________<br />
2. 2. Jugend – Begriffsklärung<br />
Die Jugend - als Teilnehmer der Sozialisation - lässt sich als Lebens-<br />
phase nicht einfach auf ein Lebensalterintervall festmachen. Dafür sind<br />
die einzelnen Biografien viel zu unterschiedlich und die Bestimmungs-<br />
kriterien für „Jugend“ je nach Argumentation abweichend.<br />
Als traditionelle Kriterien hierzu nannten die Soziologen, wie zum Bei-<br />
spiel Neidhardt (Neidhardt, 1975 S. 14), in den 70er Jahren vor allem<br />
die volle Berufstätigkeit und die Heirat. Die gesellschaftlichen Entwick-<br />
lungen der letzten 30 Jahren lassen jedoch diese Kriterien unbrauchbar<br />
erscheinen. Die Ausbildungszeiten wurden immer länger, so dass der<br />
Berufseintritt oft erst nach dem 30. Lebensjahr erfolgen kann. Neben<br />
der Ehe existieren auch andere Lebensformen (nichteheliche Partner-<br />
schaften, Wohngemeinschaften, Singleleben), die gesellschaftlich weit-<br />
gehend anerkannt sind. Somit kann heute neben dem Berufseintritt<br />
auch die Ehe keinen klaren Rahmen für die Bestimmung der Jugend-<br />
phase bieten. Heute finden sich immer unterschiedlichere Lebenswege<br />
durch die Jugendphase. Dieses Phänomen wird als „Pluralisierung“ des<br />
Jugendalters bezeichnet (Tillmann, 2000 S. 197).<br />
Es ist nicht eindeutig festlegbar, wann die Jugendphase anfängt und<br />
vor allem wann diese endet. Das Ende der Jugend ist besonders prob-<br />
lematisch in der Definition, denn aufgrund der verlängerten Schul- und<br />
Ausbildungszeit verlängert sich auch die ökonomische Abhängigkeit. So<br />
lassen sich zum Beispiel die Studierenden von ihrem Lebensalter, ihren<br />
Erfahrungen und ihrer intellektuellen Entwicklung her nicht mehr als<br />
Jugendliche charakterisieren, jedoch aufgrund der daraus häufig resul-<br />
tierenden ökonomischen Abhängigkeit von den Eltern (ebd. 194f).<br />
In der wissenschaftlichen Literatur findet man unterschiedliche Definiti-<br />
onen über die Jugend. Am häufigsten wird Jugend als eine Übergangs-<br />
phase zwischen Kindheit und Erwachsenheit bezeichnet. Es ist eine<br />
Altersphase in einer Spanne zwischen 13 und ca. 25 Jahren. Die Rän-<br />
der dieser Zeitspanne sind jedoch sehr unscharf und individuell unter-<br />
schiedlich.
Definition und Begriffsklärung<br />
13<br />
_________________________________________________________<br />
In der Alltagssprache wird die Jugend häufig mit der Pubertät gleichge-<br />
setzt.<br />
Der Begriff „Adoleszenz“ stammt aus der Psychologie und beschreibt<br />
die Phase, die über die Pubertät hinausgeht. Mit der Postadoleszenz<br />
bezeichnet man in der Psychologie den Zeitraum vor der Erwachsen-<br />
heit.<br />
Zimmermann stellt in seinem Buch folgende anschauliche Darstellung<br />
der Jugendphasen vor, die ich an dieser Stelle übernehmen möchte.<br />
(Zimmermann, 2003 S. 167)<br />
Abb. 1 Jugendphasen<br />
Mädchen Jungen Phase<br />
8-10 Jahre 10-12 Jahre Späte Kindheit<br />
10-12 J. 12-14 J. Vorpubertät<br />
12-14 J. 14-16 J. Pubertät<br />
14-15 J. 16-17 J. Frühe Adoleszenz<br />
15-17 J. 17-19 J. Mittlere Adoleszenz<br />
17-19 J. 19-21 J. Späte Adoleszenz<br />
19-25 J. 21-25 J. Post-Adoleszenz<br />
Diese Zeiträume dürfen nicht verallgemeinert werden und können bei<br />
jedem Individuum unterschiedlich lang dauern.<br />
Bis zum 14. Lebensjahr ist die Pubertät in den meisten Fällen abge-<br />
schlossen und es beginnt die jugendliche Lebensphase. Mit 21 Jahren<br />
hat der nun Heranwachsende meist eine konkrete Berufsvorstellung, ist<br />
selbständig und strafrechtlich als ein Erwachsener zu betrachten.<br />
3. Sozialisation in der Familie<br />
3.1. Familie - Begriffsklärung<br />
Der Ort der primären Sozialisation ist die Familie. Die Familie ist der<br />
zentrale Ort für die Herausbildung grundlegender Gefühle, Verhaltens-<br />
muster, Welt- und Wertvorstellungen und Orientierungen.
Sozialisation in der Familie<br />
14<br />
_________________________________________________________<br />
Die Familie, als eine Instanz, ist sehr komplex und kann abhängig von<br />
der untersuchenden Wissenschaftsdisziplin unterschiedlich definiert<br />
werden.<br />
Was eine Familie darstellt, definiert zum Beispiel das Statistische Bun-<br />
desamt folgendermaßen:<br />
„Als Familie im Sinne der amtlichen Statistik zählen – in Anlehnung an Emp-<br />
fehlung der vereinten Nationen – Ehepaare ohne und mit Kind(ern) sowie al-<br />
leinerziehende ledige, verheiratet getrenntlebende, geschiedene und verwit-<br />
wete Väter und Mütter, die mit ihren ledigen Kindern im gleichen Haushalt<br />
zusammenleben“. (Statistisches Bundesamt, 1999)<br />
Bei dieser Definition ist es nicht explizit klar, ob es sich dabei nur um<br />
miteinander verwandte Mitglieder handelt. An dieser Stelle möchte ich<br />
die subjektive Sichtweise der Familienmitglieder hinzufügen. Zimmer-<br />
mann (Zimmermann 2003, S. 86) spricht hier von einer „wahrgenom-<br />
menen Familie“. Dazu gehören zum Beispiel Pflegekinder oder auch<br />
Stiefeltern. Diese erweiterte Definition stellt der Familiensoziologe Bert-<br />
ram vor:<br />
„Familienmitglieder sind meist Verwandte, müssen es aber nicht sein. Aus der<br />
Sicht der Befragten sind jedoch nicht alle, die zur Familie gehören könnten,<br />
auch tatsächlich Mitglieder ihrer Familie. Andererseits werden Personen zur<br />
eigenen Familie gerechnet, die nach dem allgemeinen Verständnis nicht dazu<br />
gehören.“ (Bertram in Zimmermann, 2003 Zitat S. 86)<br />
Die Psychologen Schneewind und Schmidt (Lexikon der Psychologie,<br />
2000, Suchbegriff: Familie) stellen eine umfassende Definition vor, die<br />
neben der subjektiven Wahrnehmung der Familie auch die Dynamik<br />
und die Entwicklung der Familie berücksichtigt.<br />
Die Familie wird "(...) unabhängig von räumlicher und zeitlicher Zusammen-<br />
gehörigkeit als Folge von Generationen, die biologisch, sozial und/oder recht-<br />
lich miteinander verbunden sind" definiert.
Sozialisation in der Familie<br />
15<br />
_________________________________________________________<br />
„(...) Aus psychologischer Sicht lassen sich Familien als Personensysteme<br />
besonderer Art begreifen, deren Mitglieder im Spannungsfeld von Autonomie<br />
und Verbundenheit zur Entstehung enger persönlicher Beziehungen beitragen<br />
und sich in diesem Beziehungskontext entwickeln.“(ebd.)<br />
Schneewind und Schmidt charakterisieren das Familiensystem durch<br />
folgende Kennzeichen:<br />
• ein mehr oder minder großes Ausmaß an Abgrenzung, Privatheit,<br />
Dauerhaftigkeit und Nähe<br />
• Geben und Nehmen im Sinne von Symmetrie und Komplementarität<br />
• Ausmaß an Ähnlichkeit beziehungsrelevanter Merkmale wie Persön-<br />
lichkeit, Interessenlagen, Werthaltungen, Lebensstile der Beziehungs-<br />
partner<br />
• Formen der Machtausübung und Konfliktregulierung<br />
• Grad der Offenheit der Kommunikation<br />
• Besonderheiten der Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung im<br />
interpersonalen Geschehen<br />
• Ausmaß des wechselseitigen Vertrauens<br />
• Verpflichtungscharakter bezüglich der Aufrechterhaltung der Bezie-<br />
hung<br />
Die Dynamik und die Entwicklung des Familiensystems kann in einem<br />
Phasenmodell betrachtet werden. Kreppner (in: Hurrelmann/Ulich 2002,<br />
S. 324f) hebt aus der gesamten Lebensspanne drei Phasen hervor, in<br />
denen die Familien spezifische Aufgaben zu erfüllen haben:<br />
a) Übergang zur Elternschaft und Familie mit Kleinkindern<br />
b) Jugendlicher in der Familie<br />
c) Alte Eltern in der Familie<br />
Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf die zweite Phase der Familien-<br />
entwicklung, also auf die Phase „Jugendlicher in der Familie“.<br />
Die Themen in dieser Phase sind: die Rolle der Mütter bei der Lösung<br />
der Kinder aus der Familie, die Umstrukturierung der bestehenden Be-<br />
ziehungen und die Veränderung von geschlechtsspezifischen Eltern-
Sozialisation in der Familie<br />
16<br />
_________________________________________________________<br />
Kind-Interaktionen in der verschiedenen Altersstufen Präadoleszenz,<br />
Adoleszenz und Adoleszenz.<br />
Die unterschiedlichen Nuancen des Begriffes Familie sind gesell-<br />
schaftsspezifisch, sie stellen den Begriff Familie in unserem gesell-<br />
schaftlichen Rahmen dar, der für andere Kulturen womöglich so nicht<br />
existiert.<br />
3.2. Geschichtlicher Wandel der Institution Familie<br />
Die Haushalts- und Familienstrukturen haben sich in vieler Hinsicht ge-<br />
wandelt. Weg von dem Dreigenerationshaushalt, der noch vor zwei-<br />
hundert Jahren eine typische Lebensweise darstellte, hin zu der soge-<br />
nannten „Kernfamilie“ (Zimmermann, 2003 S. 87).<br />
Nur noch eine kleine Minderheit von Kindern - weniger als 4% - wach-<br />
sen heute in einem Dreigenerationenhaushalt auf. Familie ist jedoch<br />
mehr als nur Haushalt. Die heutige Familie geht über die Hauswände<br />
hinaus.<br />
Wenn es nur wenige Dreigenerationenhaushalte existieren, dann be-<br />
deutet es nicht, dass die Kinder keinen Kontakt zu ihren Großeltern ha-<br />
ben. Über 80% der Kinder haben regelmäßige Beziehung zu ihren<br />
Großeltern, die in unmittelbarer Nachbarschaft, am gleichen Ort oder in<br />
einem nahegelegenen Ort wohnen. Angesichts der stark angestiegenen<br />
Lebenserwartung ist die Großeltern - Enkelkind - Beziehung sogar län-<br />
ger als in früheren Generationen. Die Großeltern sind auch heute nach<br />
den Müttern die wichtigsten Betreuungspersonen der Kinder insbeson-<br />
dere in den Jahren bis zum Schuleintritt (Otto, 2001 S. 504).<br />
Neben der Zahl der Generationen hat sich auch die Zahl der Kinder<br />
verringert, die in Familien leben. Deutschland ist das EU-Land, in dem<br />
der geringste Anteil der Bevölkerung unter allen EU-Ländern mit Kin-<br />
dern im Haushalt lebt. 45% der Bundesdeutschen Bevölkerung leben in
Sozialisation in der Familie<br />
17<br />
_________________________________________________________<br />
Haushalten mit Kindern. Zum Vergleich: In Irland beträgt der Anteil der<br />
mit Kindern lebenden Bevölkerung 65% (Engstler, 2003).<br />
Die im Durchschnitt geringere Kinderzahl hat mit der Abnahme von<br />
Familien mit drei und mehr Kindern und mit der Verbreitung der Kinder-<br />
losigkeit zu tun. Die sinkende Geburtenrate geht aus der verstärkten<br />
Berufs- und Bildungsorientierung der Frauen und der unterentwickelten<br />
Infrastruktur der öffentlichen Kinderbetreuung hervor (Herlyn, 2003).<br />
Die Entscheidung ein Kind zu bekommen wird heute nicht mehr aus<br />
Gründen der Altersversorgung getroffen. Die Familiengründung ist heu-<br />
te mit der Sinnerfüllung (Begriff aus Zimmermann, 2003) des eigenen<br />
Lebens verbunden. Das Kind ist nicht mehr Arbeitskraft und bringt nicht<br />
mehr ökonomischen Nutzen, es ist zu einem bedeutsamen Bezie-<br />
hungspartner geworden und trägt dazu bei, seinen Eltern einen Sinn<br />
ihres Lebens zu vermitteln.<br />
Diese Sinngebung beeinflusst die ganze Erziehung. Die Kinder und Ju-<br />
gendliche werden als eigenständige Individuen mit eigenen Interessen<br />
und Bedürfnissen angesehen. Die Individualisierung steht immer mehr<br />
im Vordergrund der Erziehung.<br />
Die Erziehung heute ist kindzentriert. Die Eltern informieren sich immer<br />
mehr über Erziehung in Zeitschriften, pseudowissenschaftlichen Litera-<br />
tur oder besuchen Informationsabende, die helfen sollen, die alltägli-<br />
chen Probleme mit dem Kind in den Griff zu bekommen. Viele Kinder<br />
werden von den Eltern gefördert und schon früh in einem fremdspra-<br />
chenorientierten Kindergarten oder einer Musikschule angemeldet. Das<br />
Kind wird mit der Hoffnung auf Sinnerfüllung des eigenen Lebens ver-<br />
knüpft.<br />
Die Sinnerfüllung und die darausfolgende Kindzentrierung machen je-<br />
doch den Ablösungsprozess in dieser stark emotionalen Beziehung<br />
schwieriger. Für das Kind birgt der Ablösungsprozess somit neue Be-<br />
lastung- und Konflikterfahrungen. Die von den Eltern gewünschte Indi-<br />
vidualisierung des Kindes wird gerade von den Eltern in dem Ablö-<br />
sungsprozess gestört.
Sozialisation in der Familie<br />
18<br />
_________________________________________________________<br />
3.3. Zeitalter der Individualisierung<br />
Zimmermann stellt in seinem Buch einen populären Ansatz nach Ulrich<br />
Beck vor, der als Individualisierungstheorem bezeichnet wird. Nach die-<br />
sem Theorem werden Sozialisationsvorgänge erklärt. Es ist die These<br />
von der Individualisierung und Modernisierung gesellschaftlichen Le-<br />
bens (Zimmermann, 2003 S. 60f).<br />
Diese Theorie geht davon aus, dass die sozialen Biografien der Men-<br />
schen sich stark verändert haben. Heute gibt es keine sozial vorgege-<br />
benen Biografien mehr, die Menschen werden nicht mehr in die Vorga-<br />
ben der traditionellen Gesellschaft hineingeboren. Nach Beck steht es<br />
jedem Menschen frei seinen Lebenslauf in Abhängigkeit eigener Fähig-<br />
keiten und Orientierungen zu planen und die Entscheidungen mit allen<br />
Konsequenzen für sein Leben selbst zu treffen (ebd. S. 61). Die Aufga-<br />
be der Sozialisation ist dem zu Folge, die Heranwachsenden mit einem<br />
großen Abstimmungs- Koordinations- und Integrationsvermögen aus-<br />
zustatten.<br />
Die frei gewählten Biografien, für die der Mensch nur sich selbst ver-<br />
antwortlich machen kann, laufen nicht immer glatt ab. Im Laufe des Le-<br />
bens werden immer wieder Enttäuschungen und Brüche erlebt, die man<br />
bewältigen muss und aufgrund dessen die Biografie immer wieder neu<br />
gestaltet werden muss.<br />
Die Individualisierung der Biografie war zunächst auf das männliche<br />
Geschlecht beschränkt. Mit der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit<br />
und der Verlängerung der Ausbildungszeit bei Frauen bestimmt der In-<br />
dividualisierungsprozess auch den weiblichen Lebenslauf. Die Schwan-<br />
gerschaftsplanung ist ein Element der Individualisierung, der einen<br />
Wandel der Familienform verursacht hat (ebd. S. 62).<br />
Dadurch, dass immer mehr Frauen versuchen den Beruf und die Fami-<br />
lie miteinander zu vereinbaren, wird den Kindern immer mehr Verant-<br />
wortung und Selbstregulation übertragen. Kinder müssen heute ihre<br />
Freizeit zunehmend selbst planen. Sie halten sich zu festen Terminen<br />
in unterschiedlichen Institutionen auf. Man bezeichnet dieses Phäno-<br />
men als „Verinselung“ (Begriff aus Nissen, 1998). Das heißt, dass der
Sozialisation in der Familie<br />
19<br />
_________________________________________________________<br />
Alltag der Kinder heute nicht nur in der eigenen Familie sondern in un-<br />
terschiedlichen Institutionen stattfindet. So geht das Kind zum Beispiel<br />
vormittags zur Schule, dann setzt es nach der Schule seine Freizeit in<br />
einem Hort fort und anschließend abends findet in einem Verein noch<br />
ein Fußballtraining statt. Diese einzelnen Institutionen, in denen das<br />
Kind seine Freizeit verbringt, arbeiten meistens unabhängig und auch<br />
isoliert voneinander, deshalb wurde für dieses Phänomen der Begriff<br />
der „Verinselung“ gewählt. In diesen unterschiedlichen Institutionen trifft<br />
das Kind auf jeweils unterschiedliche Bezugspersonen und auch meist<br />
auf ganz andere Freunde.<br />
Probleme der Individualisierung<br />
Die Freundschaften sind nicht mehr so selbstverständlich auf die Nach-<br />
barschaft beschränkt. Die Mobilität der Eltern und die ortungebundenen<br />
Freizeitaktivitäten der Kinder machen es möglich, die Freundschaften<br />
auch außerhalb der Nachbarschaft zu gründen. Einen Nachteil sehe ich<br />
allerdings darin, dass diese Freundschaften immer termingebunden<br />
sind und somit die Spontaneität der gemeinsamen Aktivitäten auf der<br />
Strecke bleibt, da auch die Eltern bereit sein müssten die Kinder zu den<br />
Freunden hinzubringen und sie auch eventuell wieder abzuholen.<br />
Einerseits ist ein spontaner Treff mit einem Freund oder einer Freundin<br />
nicht immer möglich und andererseits wird die Entscheidungsfreiheit<br />
eines Kindes eingeschränkt, weil die Entscheidung des Kindes einen<br />
Freund oder Freundin zu treffen von der den Eltern zur Verfügung ste-<br />
henden Zeit abhängig ist.<br />
Die Kinder lernen schon früh sich mit der Uhrzeit auszukennen und<br />
Termine einzuhalten. Die individualisierte Sozialisation bedeutet also<br />
eine frühzeitige Selbständigkeit. Manchmal müssen die Kinder schon<br />
viel zu früh über ihre Lebensgestaltung selbst entscheiden, sie werden<br />
für die Entscheidungen verantwortlich gemacht und somit total überfor-<br />
dert. Die Kinder werden viel zu oft von ihren Eltern als kleine Erwach-<br />
sene behandelt.
Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />
20<br />
_________________________________________________________<br />
4. Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />
Die Geschlechtszugehörigkeit hat grundsätzliche Auswirkungen auf die<br />
Sozialisation. Das Geschlecht eines Menschen bestimmt sein Denken,<br />
Erleben und auch das Verhalten, es hat Auswirkungen auf gesellschaft-<br />
liche Chancen und soziale Erwartungen.<br />
Die Geschlechtszugehörigkeit ist von fundamentaler Bedeutung, weil<br />
sie ähnlich wie die Hautfarbe lebenslang festgelegt ist (Zimmermann,<br />
2003 S. 187).<br />
Wie laufen die Prozesse der Sozialisation im Hinblick auf das Ge-<br />
schlecht?<br />
Betrachtet man die geschichtliche Entwicklung der Geschlechterrollen,<br />
so fällt es auf, dass die Geschlechtsrollen früher sehr starr waren und<br />
es für die beiden Geschlechter keine Alternativen gab.<br />
Durch den rasanten gesellschaftlichen Wandel entwickelten sich auch<br />
neue Ausrichtungen und Möglichkeiten der geschlechtlichen Identität.<br />
Die gesellschaftlichen Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse,<br />
die die heutigen westlichen Industriegesellschaften auszeichnen, bewir-<br />
ken eine Erschütterung in den traditionellen Geschlechterrollenverhält-<br />
nissen.<br />
In einer individualisierten Lebenslage werden den Heranwachsenden<br />
Variationsmöglichkeiten geboten. Die Geschlechterrollen sind offener<br />
und breiter gefächert (ebd.). Die Individualisierung lockert die Verhal-<br />
tensgrenzen eines Geschlechts und ein geschlechtstypisches Verhalten<br />
kann sogar unerwünscht sein. Die Auflösung klarer Geschlechterbilder<br />
gibt kein klares Bild mehr von Frau/Weiblichkeit und Mann/Männlichkeit<br />
vor.<br />
Neuere Jugendforschungen beobachten eine Angleichung der Unter-<br />
schiede zwischen Jungen- und Mädchenverhalten (Deutsche Shell<br />
2000, S. 374).<br />
Die geschlechtsspezifischen Sozialisationstheorien beschäftigen sich<br />
mit der Frage – wie kommen jene Modelle zustande nach denen Mäd-<br />
chen zu Mädchen und Jungen zu Jungen werden. Es gibt dazu unter-<br />
schiedliche Ansätze. In manchen wird nach einer biologischen Begrün-
Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />
21<br />
_________________________________________________________<br />
dung gesucht, manche sind psychologisch und andere eher soziolo-<br />
gisch orientiert.<br />
So wie die Sozialisation im allgemeinen als ein interaktiver Prozess zu<br />
verstehen ist, so ist auch die geschlechtsspezifische Sozialisation, ein<br />
Prozess, in dem die Persönlichkeitsentwicklung in der Beziehung zwi-<br />
schen Mensch und Umwelt stattfindet. Geschlechtsspezifische Soziali-<br />
sation baut sich über geschlechtsbezogene Interaktion innerhalb einer<br />
Gesellschaft auf, in der bestimmte Bilder und Vorstellungen von dem<br />
Geschlecht vorherrschen. Diese Bilder und Vorstellungen, die von der<br />
Gesellschaft und der jeweiligen Kultur geliefert werden, werden von<br />
den Kindern angeeignet und subjektiv verortet und zwar als Kultur der<br />
Zweigeschlechtlichkeit. Das sozial-kognitive Modelllernen und die Theo-<br />
rie des Konstruktivismus erklären diese Aneignungsprozesse (Zimmer-<br />
mann, 2003 S. 189).<br />
Das Geschlecht bildet ein symbolisches System, das das ganze Leben<br />
lang in unserer Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Die Kinder be-<br />
nutzen dieses System schon früh durch ihr Spiel und Umgang mit der<br />
Umwelt, um sich ihrer Identität gewiss zu sein. Auch den Kindern reicht<br />
es nicht ein Junge oder ein Mädchen zu sein, sondern sie wollen auch<br />
als solcher oder solches von den anderen erkannt werden (ebd. S.<br />
189).<br />
Geschlechtsspezifische Sozialisation beginnt schon vor der Geburt<br />
(Zimmermann, 2003 S. 189). Sobald das Geschlecht des ungeborenen<br />
Kindes auf dem Ultraschallbild erahnt wird, bilden sich bei den werden-<br />
den Eltern ganz bestimmte Vorstellungen von dem Baby, das nun als<br />
„der kleine Racker“ oder „die kleine Prinzessin“ auch direkt angespro-<br />
chen wird. Die Farbe des Kinderzimmers kann nun bestimmt werden<br />
und das Aussuchen der ersten Strampler wird sowohl bewusst als auch<br />
unbewusst von der Vorstellung von dem Geschlecht des Babys beglei-<br />
tet.<br />
Über die Sprache und über den Körper wird der „heimliche Code dieses<br />
Regelsystems“ der Zweigeschlechtlichkeit Kindern spätestens nach<br />
dem ersten Erblicken des Tageslichts vermittelt (Bilden, 1991 S. 295).
Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />
22<br />
_________________________________________________________<br />
4.1. Zweigeschlechtlichkeit aus der biologischen Sicht<br />
Tillmann zeigt in seinen Auseinandersetzungen mit der biologischen<br />
Komponente des Geschlechtsunterschiedes, dass es wichtige biologi-<br />
sche Rahmenbedingungen gibt, die sich nicht nur auf die körperliche<br />
Entwicklung, sondern auch auf die Psyche und daraus folgernd eben<br />
auch auf Sozialisation des Geschlechts auswirken können (Tillmann,<br />
2000 S. 49). Somit besitzen viele Geschlechtsunterschiede in Persön-<br />
lichkeit und Verhalten eine biologische Verankerung. Tillmann betont<br />
die enorme Wirkung des Hormons Testosteron für die Differenzierung<br />
des Gehirns nach männlichen Mustern. Wobei mit „männlich“ das ge-<br />
meint wird, was in unserer Gesellschaft dem Mittelwert der männlichen<br />
Verhaltensweisen entspricht.<br />
Der Testosteronspiegel bei Männern ist sechs- bis siebenmal höher als<br />
bei den Frauen (Zimmermann, 2003 S. 48). Inwieweit solche biologi-<br />
schen Unterschiede einen Einfluss auf die psychischen Geschlechtsun-<br />
terschiede haben, ist eine immer wieder heftig und kontrovers diskutier-<br />
te Frage. Einige Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass eine Reihe<br />
von Persönlichkeitsunterschieden der Geschlechter gut belegt seien:<br />
Aggression, Aktivitätsniveau, Impulsivität, Angstbereitschaft, Leistung<br />
und Selbstkonzept. Andere Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass<br />
diese Persönlichkeitsunterschiede nur zu einem geringen Teil auf das<br />
Geschlecht zurückzuführen sind (Bilden in: Hurrelmann/Ulich S. 281).<br />
Die Gehirnforscher beurteilen die biologischen Unterschiede der Ge-<br />
schlechter einseitig, denn sie gehen davon aus, dass die Ursachen der<br />
Unterschiede im Geschlecht in der Neurobiologie und Neurophysiologie<br />
zu suchen sind. Zimmermann (Zimmermann, 2003 S.196) stellt die<br />
Theorie einer amerikanischen Gehirnforscherin und Genetikerin Anne<br />
Moir und ihrem Mitarbeiter David Jessel vor. Ihre Forschungen deuten<br />
darauf hin, dass beispielsweise im weiblichen Gehirn die Verbindung<br />
zwischen rechter und linker Gehirnhälfte sehr viel intensiver ausgeprägt<br />
sein soll als im männlichen. Dabei steht die rechte Gehirnhälfte für<br />
emotionales, kreatives Denken und die linke Gehirnhälfte für rationale,<br />
logische Denkleistungen. Somit erklären die Gehirnforscher die spärli-
Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />
23<br />
_________________________________________________________<br />
che Fähigkeit eines Mannes seine Gefühle verbal äußern zu können.<br />
Bei einer Frau ist der Informationsfluss zwischen den beiden Hemisphä-<br />
ren flüssiger, deshalb können die emotionalen Gedanken auch unbe-<br />
hindert in die rechte Hemisphäre gelangen und werden dort mit der<br />
verbalen Seite verknüpft.<br />
Der Ansatz von Moir und Jessel ist auf den ersten Blick einleuchtend<br />
und auch überzeugend. Dennoch deutet Zimmermann auf eine<br />
Schwachstelle dieses biologischen Ansatzes. Es stellt sich die Frage:<br />
Sind die Männer nicht fähig ihre Gefühle zu verbalisieren, weil ihnen die<br />
dazu notwendigen Verbindungen zwischen den beiden Gehirnhälften<br />
fehlen, oder werden die Jungen in der Kindheit nicht genug emotional<br />
gefördert, so dass es zur schwächeren Vernetzung im Gehirn kommt?<br />
Der Mensch kommt nicht mit einem fertigen Gehirn auf die Welt, die<br />
meisten Synapsen bilden sich erst nach der Geburt unter dem Einfluss<br />
des Faktors „Umwelt“.<br />
Sind die Männer von Natur aus aggressiv, weil sie einen höheren Tes-<br />
tosteronspiegel haben? Wie stark sich das aggressive Verhalten (des-<br />
sen Ursache von einigen Forschern in dem Hormon Testosteron gese-<br />
hen wird) zeigt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie Aggression von der<br />
Gesellschaft bewertet und tabuiert wird.<br />
An dieser Stelle soll noch mal verdeutlicht werden, dass die Sozialisati-<br />
on und im spezifischen die geschlechtsspezifische Sozialisation nicht<br />
allein durch die biologisch-genetische Position zu erklären ist.<br />
4.2. Zweigeschlechtlichkeit aus der psychoanalytischen Sicht<br />
Die Psychoanalyse, von Sigmund Freud (1856-1939) um die Jahrhun-<br />
dertwende begründet, beschäftigte sich ursprünglich mit der psychi-<br />
schen Entwicklung in den ersten sechs Lebensjahren, dabei wurde vor<br />
allem die Frage in den Vordergrund gestellt, ob sich die neurotische<br />
Symptome der erwachsenen Patienten auf traumatische Ereignisse in<br />
der frühen Kindheit zurückführen lassen. Aus diesem Hintergrund her-<br />
aus wurden die Interaktionsprozesse zwischen Kind, Eltern und Umwelt
Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />
24<br />
_________________________________________________________<br />
und die dabei entstehenden psychischen Strukturen durchleuchtet. Die-<br />
se subjekttheoretischen Konzepte von Freud dienten in erster Linie ei-<br />
ner therapeutischen Arbeit. Da aber die Erkenntnis über die psychische<br />
Strukturen eines Subjekts auch auf die Entwicklung von gesunden Kin-<br />
dern übertragbar ist, ist diese subjekttheoretische Basis auch für eine<br />
allgemeine Sozialisationstheorie bedeutsam (Tillmann, 2000 S. 59).<br />
4.2.1. Definition und Grundannahme der Psychoanalyse<br />
Nach Freud ist die Psychoanalyse eine Methode, das Unbewusste be-<br />
wusst zu machen und eine Theorie über die Entstehung und die Aus-<br />
wirkung unbewusster psychischer Prozesse (ebd. S. 60).<br />
4.2.1.1. Der psychische Apparat und das Triebmodell<br />
Freud (Freud, 1994) entwirft das Modell des psychischen Apparats, das<br />
aus drei Instanzen, die sich im Laufe der ersten sechs Lebensjahre<br />
herausbilden, besteht.<br />
Laut diesem Modell kommt der Mensch mit einer einzigen Instanz aus-<br />
gestattet auf die Welt, es handelt sich dabei um die Instanz Es. Der In-<br />
halt des Es ist „alles, was ererbt, bei der Geburt mitgebracht, konstituti-<br />
onell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation<br />
stammenden Triebe“. Triebe sind Kräfte, die den Menschen zum Han-<br />
deln bewegen und das Verhalten beeinflussen. Es sind subjektiv emp-<br />
fundene Bedürfnisse, die Spannungen oder Erregungen erzeugen und<br />
somit den Menschen veranlassen tätig zu werden um den Erregungs-<br />
zustand zu beenden.<br />
Das Es besteht aus körperlichen Bedürfnissen und sexuellen und ag-<br />
gressiven Impulsen. Das Es drängt auf Bedürfnisbefriedigung und auf<br />
dadurch erzeugten Lustgewinn. Das Es funktioniert nach dem soge-<br />
nannten Lustprinzip. Dieses Verhalten ist unbewusst, irrational und be-<br />
sitzt keine Moral.
Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />
25<br />
_________________________________________________________<br />
Aus dem Es heraus wird die nächste Instanz, das Ich gebildet. Das Ich<br />
beinhaltet Wahrnehmung und Willensbildung. Das Ich stellt eine Bezie-<br />
hung zu der Umwelt her. Sie ermöglicht uns die Triebansprüche zu ver-<br />
schieben, Abwehrmechanismen einzusetzen oder Anpassungen zu re-<br />
geln. Das Ich handelt nach dem Realitätsprinzip und vermittelt zwischen<br />
Triebansprüchen und den Ansprüchen der Außenwelt. Das Ich agiert<br />
aus einer bewussten Ebene.<br />
Die elterliche Werte, Normen und Verhaltensregeln haben ihren Sitz in<br />
der dritten Instanz, die als Über-Ich bezeichnet wird. Diese Instanz um-<br />
fasst die moralische Funktion der Persönlichkeit, es fungiert als Morali-<br />
tätsprinzip. Das Über-Ich bildet sich etwa im 6. Lebensjahr. Das Ich<br />
vermittelt nun zwischen den Triebansprüchen (Es), dem Realitätsprinzip<br />
(Ich) und zwischen den Triebansprüchen und den Geboten des Über-<br />
Ichs. Das Über-Ich befindet sich in der vorbewussten, aber Reflexionen<br />
zugänglichen Bewusstseinsebene. Die Ausbildung des Über-Ichs ist<br />
entscheidend für den Erwerb der Geschlechtsidentität. Das Über-Ich<br />
beinhaltet die kulturelle Tradition von Jungen- und Mädchenverhaltens-<br />
weisen.<br />
Nur, wenn der psychische Apparat in der einzelnen Instanz (Es, Ich,<br />
Über-Ich) „richtig arbeitet“, funktioniert das Zusammenleben in der Ge-<br />
sellschaft.<br />
4.2.1.2. Psychosexuelle Phasen<br />
Die Persönlichkeitsentwicklung nach der Psychoanalyse wird dadurch<br />
beeinflusst, dass die Kinder ihre Sexualenergie, auch Libido genannt,<br />
von einem Lebensabschnitt auf den nächsten ausdehnen.<br />
Freud (Freud, 1996) unterteilt die psychosexuelle Entwicklung in fünf<br />
Entwicklungsabschnitte: Orale Phase (erstes Lebensjahr), Anale Phase<br />
(zweites bis drittes Lebensjahr), Infantil-genitale Phase (drittes bis<br />
sechstes Lebensjahr), Latenzphase (fünftes bis dreizehntes Lebens-<br />
jahr), Genitale Phase (vierzehntes bis einundzwanzigstes Lebensjahr).
Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />
26<br />
_________________________________________________________<br />
In der Oralen Phase wird die Lust durch den Mund, durch Beißen, Sau-<br />
gen, im Mund festhalten, befriedigt. Die orale Zone dient dabei im We-<br />
sentlichen der Nahrungsaufnahme, aber auch der Erkundung der Um-<br />
welt.<br />
In der Analen Phase verlagert sich das Lustobjekt auf den Analbereich.<br />
In dieser Phase geht es um das Festhalten und Loslassen, also um die<br />
Kontrolle der Darmentleerung.<br />
Die Infantil-genitale Phase wurde von Freud zuerst aus der Sicht der<br />
Jungen beschrieben, die moderne Psychoanalyse analysiert bei Mäd-<br />
chen jedoch vergleichbare Prozesse. Die Schlüsselobjekte in dieser<br />
Phase sind die Geschlechtsorgane. Dafür charakteristisch sind die<br />
Phantasien das gegengeschlechtliche Elternteil als Sexualpartner zu<br />
gewinnen. In dieser Phase bilden sich die inneren Widerstände, wie<br />
Scham und Ekel, heraus.<br />
In der Latenzphase werden die sexuelle Bedürfnisse verdrängt und die<br />
Triebenergie in Freundschaftsbeziehungen und andere Aktivitäten um-<br />
geleitet.<br />
In der Genitalen Phase werden die erogenen Zonen wieder von bedeu-<br />
tender Interesse und es geht um Küssen, Beschauen, Betasten. Der<br />
Sexualtrieb steht jetzt im Dienst der Fortpflanzungsfunktion (Zimmer-<br />
mann, 2003 S.24f).<br />
4.2.2. Chancen/Gefahren<br />
Die psychosexuellen Phasen folgen einander und können nicht über-<br />
sprungen werden. Jede Phase bringt die notwendigen Voraussetzun-<br />
gen für die nächstfolgende Phase mit. Traumatische Erlebnisse oder<br />
das Unterdrücken bestimmter Triebregungen können zur Stagnation in<br />
der jeweiligen Phase und damit zur Entwicklungsverzögerung führen.<br />
Jede Phase stellt das Kind vor bestimmten geschlechtsspezifischen<br />
Aufgaben, die erfolgreich erledigt werden müssen, bevor eine neue<br />
Phase eintreten kann.
Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />
27<br />
_________________________________________________________<br />
Freud beschreibt in Anlehnung an seine Sexualtheorien die Schlüsselsi-<br />
tuationen im Verlauf der Psychosexuellen Phasen, die die Geschlechts-<br />
identität entscheidend beeinflussen (Freud, 1996).<br />
Der Einstieg in die ödipale Situation ist für Jungen und Mädchen weit-<br />
gehend gleich. Die Mutter ist für beide Geschlechter das erste Liebes-<br />
objekt. Beide Geschlechter befinden sich nun in der genitalen Phase<br />
und ziehen ihren Lustgewinn aus der Beschäftigung mit den Ge-<br />
schlechtsorganen. Der Junge bleibt bei der mütterlichen Objektbeset-<br />
zung, empfindet jedoch Rivalitätsgefühle gegenüber dem Vater. Das<br />
Mädchen hingegen muss die libidinöse Beziehung auf den Vater über-<br />
tragen, um in die ödipale Phase zu übergehen. Beim Mädchen muss<br />
also ein Wechsel im Geschlecht des Objekts erfolgen.<br />
Die Eifersucht des Knaben und der Wunsch auf genitale Sexualität mit<br />
seiner Mutter (es handelt sich dabei um unbewusste Prozesse) geht an<br />
der Kastrationsangst zugrunde. Die libidinöse Objektbeziehung zur Mut-<br />
ter wird aufgegeben und das Inzesttabu internalisiert. Nach einer erfolg-<br />
reichen Überwindung des ödipalen Konflikts tritt eine Identifikation mit<br />
dem Vater, seine Autorität wird in das Ich aufgenommen und bildet dort<br />
den Kern des Über-Ichs. Der Knabe tritt in die Latenzphase ein, die nun<br />
die Sexualentwicklung unterbricht.<br />
Steht bei dem Jungen im Vordergrund die Bewältigung der ödipalen<br />
Situation, so befindet sich auch das Mädchen in einer bedrohlichen La-<br />
ge. Das Mädchen erkennt den anatomischen Geschlechtsunterschied<br />
und nimmt das männliche Geschlechtsorgan wahr und wird einerseits<br />
von dem Penisneid und andererseits von dem Kastrationskomplex ü-<br />
berwältigt. Es empfindet sich als ein verstümmeltes, minderwertiges<br />
Wesen und es macht die Mutter für den Penismangel verantwortlich.<br />
Dies bewirkt, das das Mädchen sich von der libidinösen Objektbezie-<br />
hung zur Mutter löst und sich dem Vater zuwendet. Das Mädchen iden-<br />
tifiziert sich mit der Mutter, um so sein wie sie, um vom Vater geliebt zu<br />
werden (Freud, 1996 S. 282).<br />
Während der Ödipuskomplex des Knaben (der Wunsch, die Mutter zu<br />
lieben) an der Kastrationsdrohung zugrunde geht, wird der Ödipuskom-<br />
plex des Mädchen (der Wunsch den Vater zu lieben) durch den Kastra-
Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />
28<br />
_________________________________________________________<br />
tionskomplex eingeleitet. Das ist ein fundamentaler Unterschied im Ab-<br />
lauf der ödipalen Phase bei den Jungen und Mädchen.<br />
Aus dem Penisneid leitet Freud bei Frauen eine geringere Wertschät-<br />
zung des eigenen Geschlechts ab (ebd. S. 261).<br />
Die geschlechtsspezifische Sozialisation kann von unterschiedlichen<br />
wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich betrachtet werden. Die-<br />
ses war eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten theoretischen<br />
Sichtweisen. Innerhalb und zwischen den einzelnen Disziplinen entste-<br />
hen immer wieder neue Diskurse, auf die ich im Rahmen dieser Arbeit<br />
verzichten muss.<br />
5. Sozialisation in der Schule<br />
In unserer Gesellschaft ist die Schule die größte, differenzierteste und<br />
einflussreichste Bildungsinstitution. Bildungs- und Erziehungsinstitutio-<br />
nen sind pädagogische Einrichtungen, die Sozialisation als Hauptauf-<br />
gabe geplant betreiben. In der heutigen Industriegesellschaft ist Schule<br />
zwischen dem 6. und dem 18. Lebensjahr eine Pflichtveranstaltung, die<br />
aufgrund gesetzlicher Bestimmungen von jedem besucht werden muss.<br />
In diesem Kapitel soll die Bedeutung der Schule für die Sozialisation im<br />
Kindes- und Jugendalter herausgestellt und die Probleme, die die Sozi-<br />
alisation gefährden können, erarbeitet werden.<br />
5.1. Aufgaben und Funktionen schulischer Sozialisation<br />
Die Schulen haben die Aufgabe die Kinder und Jugendliche sowohl<br />
leistungsmäßig zu trainieren und zu qualifizieren als auch nach Stufen<br />
und Niveaus auszulesen und einem bestimmten Abschluss zuzuord-<br />
nen. Mit der Art des Schulabschlusses ist eine wesentliche Vorent-<br />
scheidung für die soziale Platzierung in der Gesellschaft und im Be-<br />
schäftigungssystem verbunden. Somit nimmt die Schule einen enormen<br />
Einfluss auf die berufliche Laufbahn und sogar möglicherweise auf den
Sozialisation in der Schule<br />
29<br />
_________________________________________________________<br />
späteren Lebenslauf. Zwischen dem 6. und 18. Lebensjahr findet die<br />
Persönlichkeitsentwicklung unter institutionellen Entwicklungen statt.<br />
Natürlich verbringen die Kinder/Jugendliche nicht vierundzwanzig Stun-<br />
den in der Schule, sondern leben im Normalfall in der Familie unter dem<br />
Einfluss der Eltern. Aber „nach der Schule ist vor der Schule“. Nach der<br />
Schule müssen die Hausaufgaben gemacht werden, nach der Schule<br />
finden auch oft außerschulische Aktivitäten statt, die von der Schule<br />
organisiert werden, wo die Schulfreunde zusammenkommen und wo<br />
somit eine schulähnliche Atmosphäre erzeugt wird.<br />
Jeder Schüler wird den Handlungs- und Leistungsanforderungen der<br />
Schule ausgesetzt. Die gleichen Anforderungen beziehen sich auf die<br />
gleiche Altersstufe. Dadurch, dass die regulären Schulen konzeptuell<br />
dafür nicht ausgelegt sind persönlichkeitsspezifische Aufgabestellungen<br />
zu erteilen, kommt es in der Schule zu Problemen wie Lern- und Leis-<br />
tungsstörungen, Schuleschwänzen und Schulversagen.<br />
Ein zentrales Thema der schulischen Sozialisationsforschung ist die<br />
Untersuchung der Entstehung von Schulerfolg und Schulversagen. In<br />
der neueren Forschung wird auf der Basis einer interaktionistischen<br />
Position auf Wechselwirkungsprozesse zwischen personalen, familialen<br />
und schulischen Bedingungsfaktoren für Beeinträchtigungen und Stö-<br />
rungen der Lern- und Leistungsfähigkeit verwiesen. Man geht davon<br />
aus, dass es von der Situation und ihrer Wechselwirkung mit der Per-<br />
son abhängt, ob und in welchem Ausmaß Lern- und Leistungsstörun-<br />
gen entstehen (Hurrelmann, 1986 S. 140).<br />
Eine weitere wichtige Forschungsaufgabe besteht nach Hurrelmann<br />
darin, die Schule im Kontext des sozialen Netzwerkes zu erforschen,<br />
um Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen<br />
eines Schülers auf die Spur zu kommen.<br />
Der Sozialisationsforscher Hurrelmann vertritt die These:<br />
„Denn so wie die außerschulische Realität schulisches Handeln bestimmt,<br />
muss auch umgekehrt davon ausgegangen werden, dass schulisches Han-<br />
deln auf die außerschulische Realität zurückwirkt, also auf Lebensbereiche,<br />
an denen die in der Schule Handelnden aktiv (direkt) und passiv (indirekt) be-
Sozialisation in der Schule<br />
30<br />
_________________________________________________________<br />
teiligt sind. Die Erfahrungen aus den außerschulischen Lebensbereichen ei-<br />
nes Schülers oder einer Schülerin wiederum beeinflussen zweifellos das schu-<br />
lische Handeln.“ (Hurrelmann, 1986 Zitat S. 142-143)<br />
Nach Hurrelmann ist der Sozialstatus maßgeblich dafür verantwortlich,<br />
in wieweit die Kinder den schulischen Anforderungen gerecht werden.<br />
Vom ersten Schultag an würden die Kinder aus den wohlsituierten Fa-<br />
milien leistungsmäßig besser abschneiden als die übrigen. Ein Grund<br />
dafür ist die Spannung zwischen der Familienstruktur und der Schulkul-<br />
tur. Die Eltern bieten ungesicherte und oft distanzierte Unterstützung,<br />
was die schulische Leistungsfähigkeit oft negativ beeinflusst.<br />
Einer der ersten, der versucht hat, die Schule unter sozialisationstheo-<br />
retischen Aspekten zu betrachten ist Talcott Parsons. Nach seinem<br />
Verständnis hat die Schule die Aufgabe den Heranwachsenden ein<br />
kompetentes Rollenhandeln zu vermitteln. Wird ein Gleichgewicht zwi-<br />
schen dem Rollenhandeln und den persönlichen Bedürfnissen gefun-<br />
den, dann hat auch eine erfolgreiche Sozialisation stattgefunden. Auf<br />
die Gesamtgesellschaft übertragen heißt dies: verläuft das Rollenhan-<br />
deln im Subsystem Schule störungsfrei, dann herrscht auch im gesell-<br />
schaftlichen System Ausgeglichenheit und Stabilität (Tillmann, 2000 S.<br />
117).<br />
Es handelt sich jedoch hier um eine Theorie, die nur einseitige Betrach-<br />
tung zulässt. So geht die Theorie von Parsons davon aus, dass das<br />
Rollenverhalten von der Gesellschaft vorgegeben wird und die Heran-<br />
wachsenden die Aufgabe bekommen ihre persönliche Bedürfnisse an<br />
diese Rollen anzupassen. Die persönlichen Bedürfnisse scheinen somit<br />
aus dem gesellschaftlichen Interesse ausgeklammert zu sein. Diese<br />
Theorie lässt es nicht zu, dass das Rollenhandeln an die Persönlichkeit<br />
angepasst wird oder doch zumindest dass das Rollenhandeln mit der<br />
Persönlichkeit abgestimmt wird. Denn auch so kann ein Gleichgewicht<br />
hergestellt werden, ohne dass die Sozialisation scheitert.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
31<br />
_________________________________________________________<br />
6. Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
Nachdem der Begriff der Sozialisation präzisiert und die wichtigsten<br />
Orte der Sozialisation, als da wären die Familie und die Schule, durch<br />
die bedeutsamsten Theorien durchleuchtet wurden, ist die Aufgabe im<br />
nächsten Teil dieser Arbeit die allgemein gehaltenen Theorien über die<br />
Sozialisation im Kindes- und Jugendalter auf eine spezifische Gruppe<br />
von Kindern und Jugendlichen aus Russland zu übertragen. Das theo-<br />
retische Wissen über die Prozesse der Sozialisation ist eine notwendige<br />
Bedingung für das Erklären der Störungen in dem Integrationsprozess<br />
dieser sensiblen Randgruppe.<br />
Das nächste Kapitel erarbeitet systematisch die Besonderheiten der<br />
Sozialisation der jungen Aussiedler in dem „Ort“ Familie. Wobei der<br />
Schwerpunkt auf die Besonderheiten der Sozialisation in den Migrati-<br />
onsfamilien und auf die Störungen der Sozialisation gerichtet wird.<br />
6.1. Familienspezifik in Russland<br />
Für viele Aussiedler hat die Familie als wirtschaftliche und soziale Inte-<br />
ressengemeinschaft im Herkunftsland eine größere Bedeutung, als es<br />
heute in Deutschland üblich ist. Meistens verlassen die Aussiedler ihre<br />
Heimat im geschlossenen Familienverband und auch nach der Ankunft<br />
in Deutschland bleibt ein enger familiärer Zusammenhalt bestehen. In<br />
den Familien herrschen heute noch nicht selten patriarchalische Struk-<br />
turen und die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen ist traditi-<br />
onell geprägt (Dietz, 1996 S. 71).<br />
Im sozialistischen Regime standen die Werte wie Heimat und Vater-<br />
land, das Wohl der Gemeinschaft, staatliche Autorität und die Orientie-<br />
rung am Kollektiv ganz stark im Vordergrund. In der postsowjetischen<br />
Gesellschaft, nach dem Zerfall des sozialistischen Regimes, haben<br />
viele die Glaubwürdigkeit in diese Werte verloren. Die ökonomische<br />
Perspektivlosigkeit führt zum Werteverlust und somit zur Verunsiche-<br />
rung der Jugendlichen (ebd.).
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
32<br />
_________________________________________________________<br />
Die junge Generation in den Nachfolgestaaten der UdSSR ist, laut Un-<br />
tersuchungen von Slepzow und Rewenko (Slepzow/Rewenko, 1993 S.<br />
33f), wenig an Politik oder gesellschaftlichen Verpflichtungen interes-<br />
siert. Große Bedeutung wird dagegen dem Privatbereich – der Familie<br />
und den Freunden – beigemessen. Bei einer Umfrage von Slepzow und<br />
Rewenko, die sich mit den Lebenszielen von Jugendlichen beschäftigte,<br />
war die Mehrheit der jungen befragten Jugendlichen an erster Stelle<br />
weder an Geld noch an Karriere interessiert. Bei 79% der Jugendlichen<br />
in Russland stellen gute familiäre und freundschaftliche Verhältnisse die<br />
wichtigsten Lebensziele dar. Viele Jugendliche wünschen sich eine ei-<br />
gene Familie zu gründen. Obwohl im Vergleich zum Ende der achtziger<br />
Jahre weniger Ehen in Russland geschlossen werden, ist das Heiratsal-<br />
ter gesunken, was auf einen Rückzug in die Privatsphäre hindeutet<br />
(Dietz, 1996).<br />
Das bestimmte Familienbild – nämlich: erwerbstätige, dazuverdienende<br />
Frau als Behüterin der Häuslichkeit und der Mann als Haupternährer<br />
und der Oberhaupt der Familie – bleibt über die Jahrzehnte stabil. Es<br />
wird eher an dem tradierten Rollenmuster angeknüpft, als diese in Fra-<br />
ge gestellt. Die „urweiblichen“ Aufgaben in der häuslichen Reprodukti-<br />
onssphäre werden immer wieder an das Frauenbild angeknüpft (Egge-<br />
ling, 1999 S. 156). Etwa 93% aller Frauen in Russland sind berufstätig.<br />
Dieses ist ein ganz entscheidendes Merkmal des sowjetischen Famili-<br />
enbildes. Ein dichtes Netz von ganztägigen Kinderbetreuungseinrich-<br />
tungen, Krippen und Kindergärten steht im Wohnviertel oder im Betrieb,<br />
zur Verfügung. Dieses bedeutet, dass die Sozialisation zu einem gro-<br />
ßen Anteil in außerfamiliären Institutionen stattfindet.<br />
Die Berufstätigkeit der Frauen und die gewährleistete institutionelle<br />
Versorgung der Kinder sind vermutlich für relativ frühe Eheschließung<br />
und auch frühe Elternschaft verantwortlich. Zudem sichert eine frühe<br />
Eheschließung den Anspruch auf eine eigene Wohnung, auf deren Zu-<br />
teilung jedoch noch mehrere Jahre gewartet werden muss. Solange lebt<br />
ein junges Paar zusammen mit den Eltern oder den Großeltern, oft<br />
auch in Wohnheimen oder angemieteten Zimmern (ebd. S. 157).
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
33<br />
_________________________________________________________<br />
6.2. Ausreisemotive und Ausreisebedingungen<br />
Die Migrationstheorie unterscheidet die vom Herkunftsland treibende<br />
Push-Faktoren und vom Zuwanderungsland anziehenden Pull-<br />
Faktoren, die für die Motivation zu einer Auswanderung verantwortlich<br />
sind. Push-Faktoren beinhalten alle Formen existentieller Bedrohung im<br />
Herkunftsland, zum Beispiel ökologische Katastrophen, wirtschaftliche<br />
Verelendung, Kriege oder Diskriminierung religiöser oder ethnischer<br />
Art. Pull-Faktoren funktionieren über das Abwägen von Nutzen und<br />
Kosten, das heißt im Konkretfall, dass im Zuwanderungsland bessere<br />
Lebensbedingungen herrschen (Dietz, 1996 S. 29f).<br />
Es wird also vor der Entscheidung zur Ausreise überlegt: was drängt<br />
mich aus diesem Land (Push-Faktor) und andererseits was zieht mich<br />
in das Zuwanderungsland (Pull-Faktor). In den meisten Fällen werden<br />
beide Faktoren abgewogen und beide Faktoren tragen dann zur Migra-<br />
tion bei.<br />
Die Aussiedler verlassen ihr Land aufgrund ethnischer Diskriminierung,<br />
politischen Drucks oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten, während die<br />
Aufnahmegarantie und die Lebensbedingungen im Zuwanderungsland<br />
Deutschland eine starke Anziehungskraft darstellen.<br />
In den siebziger und achtziger Jahren gaben die Aussiedler an in erster<br />
Linie als “Deutscher unter Deutschen“ leben zu wollen, oder sie reisten<br />
nach Deutschland aus zwecks Familienzusammenführung. Durch die<br />
Abwanderung der Deutschstämmigen aus Russland ist ein Sogeffekt<br />
entsanden, der die zurückgelassenen Familienangehörigen nachziehen<br />
lässt (Dietz, 1996 S. 30).<br />
Im Allgemeinen mussten die Aussiedler in Deutschland Statusverluste<br />
hinnehmen und sich mit handwerklichen Tätigkeiten begnügen, ihnen<br />
stand die Arbeitswelt im handwerklichen, landwirtschaftlichen und im<br />
industriellen Bereich zur Verfügung. Gleichzeitig hofften die Aussiedler<br />
eine Entschädigung für die Entbehrungen in der Teilhabe am<br />
Wohlstand in der Bundesrepublik und in der besseren Zukunft für ihre<br />
Kinder, frei von Repressionen und ethnischen Konflikten zu finden.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
34<br />
_________________________________________________________<br />
Ende der neunziger Jahre änderten sich die Eintrittsbedingungen<br />
grundlegend. Die politische Öffnung der Gesellschaft in Russland er-<br />
leichterte die Migration für viele Aussiedler.<br />
Mit dem Zerfall der UdSSR brachen ethnische Konflikte auf, von denen<br />
auch die ethnischen Gemeinschaften der Deutschen nicht verschont<br />
blieben. Besonders in Kasachstan und Usbekistan erfuhren die Aus-<br />
siedler ethnische Diskriminierungen. Das hat in vielen Fällen die Aus-<br />
reisemotivation verstärkt (Dietz, 1997 S. 31f).<br />
Auch in der Bundesrepublik steht die Eingliederung der Aussiedler seit<br />
Anfang der neunziger unter dem Einfluss der veränderten gesell-<br />
schaftspolitischen Rahmenbedingungen. Die bis dahin mehr oder weni-<br />
ger problemlos geltende Integration russlanddeutscher Aussiedler wan-<br />
delte sich in Abhängigkeit der veränderten Konfliktwahrnehmung der<br />
Bürger der Mehrheitsgesellschaft (Strobl, 2000).<br />
Die Wanderungsbewegung unterlag immer dem Spannungsfeld politi-<br />
scher Krisen in ehemaliger UdSSR und später in Russland.<br />
Viele Autoren beschäftigen sich mit der Geschichte der Auswanderung<br />
der Russlanddeutschen in die Bundesrepublik. So finden sich zum Bei-<br />
spiel ausführliche Beschreibungen der Auswanderung in den Werken<br />
von Regina Löneke (Löneke, 2000), Barbara Malchow u.a. (Malchow,<br />
1993) und Klaus J. Bade u.a. (Bade, 1999). Auch Strobl und Kühnel<br />
beschreiben zusammenfassend die geschichtspolitische Situation in<br />
Russland, die Wanderungsbewegungen der Aussiedler beeinflusste<br />
und versuchen damit die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Aus-<br />
wanderung zu erklären. Die Ausreisemotive haben im Fall der Aussied-<br />
ler vielfach auch einen historischen Hintergrund.<br />
Das Wissen über den geschichtlichen Background ist von enormer Be-<br />
deutung nicht nur für die Aussiedler selbst, sondern ebenso für die Mul-<br />
tiplikatoren, Lehrer und all die Menschen, die sich mit den Migranten<br />
beschäftigen und die sich als Vermittler zwischen der Gesellschaft und<br />
der ethnischen Minderheit sehen. Dabei ist das gleich, um welche Min-<br />
derheit es sich handelt.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
35<br />
_________________________________________________________<br />
Die Bedeutung des geschichtlichen Hintergrundes wird im Kapitel „Psy-<br />
chosomatik“ noch einmal aufgegriffen.<br />
Da eine geschichtliche Auseinandersetzung mit diesem Thema den<br />
Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, füge ich eine Zeittafel ein, die<br />
die wichtigsten Meilensteine in dem Leben der ausgewanderten Deut-<br />
schen, die nun als Aussiedler oder Spätaussiedler bezeichnet werden,<br />
markieren soll. Die Zeittafel ist zusammengesetzt aus den Informatio-<br />
nen aus den Büchern von Malchow u.a. (Malchow, 1993) und Löneke<br />
(Löneke, 2000). Diese Chronologie beinhaltet 3 Jahrhunderte und ist<br />
nur auf die wichtigsten Ereignisse der Geschichte der deutschen Aus-<br />
wanderer aus der ehemaligen UdSSR begrenzt.<br />
Abb. 2 Chronologie der Auswanderung<br />
1763 22 Juli – Manifest der Zarin Katharina II. (1762 – 1796)<br />
Aufruf an Ausländer zur Einwanderung.<br />
1764 Erste deutsche Kolonie an der Wolga. Festlegung der<br />
Agrarordnung für die Kolonien.<br />
1764-1768 104 deutsche Dörfer an der Wolga.<br />
1789 Chortiza, erste mennonitische Kolonie am Dnjepr gegrün-<br />
det („Altkolonie“).<br />
1800 Gnadenprivileg Pauls I. zugunsten der Mennoniten.<br />
1804 Manifest Alexanders I. Einladung an Deutsche zur An-<br />
siedlung im Schwarzmeergebiet.<br />
1838 Nikolaus I. bestätigt die Privilegien und Pflichten der Ko-<br />
lonisten.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
36<br />
_________________________________________________________<br />
1842 Kodifizierung aller Freiheiten, Rechte und Pflichten der<br />
Kolonisten und Verleihung der Bürgerrechte an die Kolo-<br />
nisten im ganzen Zarenreich.<br />
1871 Aufhebung der Selbstverwaltung der Kolonien im ganzen<br />
Zarenreich. Erste Auswanderungswelle.<br />
1874 Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht. Für Mennoniten<br />
Ersatzdienst. Auswanderung nach Nord- und Südameri-<br />
ka.<br />
1879 Deutsch-Österreichisches Bündnis gegen Russland. Eine<br />
Folge: Verschlechterung der Lage der Deutschen in<br />
Russland.<br />
1880 Ermordung Alexanders II., Thronbesteigung Alexanders<br />
III. Beginn der Russifizierungsversuche.<br />
1887/92 Fremdengesetz führt zum Verbot der deutschen Sprache<br />
in der Öffentlichkeit, Versammlungsverbot für Deutsche in<br />
Russland. Enteignungen, Repressionen.<br />
1917 Bürgerrevolution. Erster Kongress der Deutschen aus<br />
allen Siedlungsgebieten in Russland. Gründung des Zent-<br />
ralkomitees der Russlanddeutschen.<br />
1924 Gründung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik<br />
der Wolgadeutschen. Hauptstadt Engels (Pokrowsk).<br />
1928/29 Beginn der Kollektivierung. Ausreisewelle. Nur ein Teil<br />
der Reisewilligen erhält eine Ausreiseerlaubnis nach<br />
Deutschland. Von dort werden die meisten nach Nord-<br />
und Südamerika weitergeleitet.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
37<br />
_________________________________________________________<br />
1938 In den deutschen Schulen außerhalb der Wolgadeut-<br />
schen Republik wird Russisch/Ukrainisch als Unterrichts-<br />
sprache eingeführt.<br />
1938/39 Auflösung aller deutschen Rayons außerhalb der Auto-<br />
nomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeut-<br />
schen (ASSRdWD).<br />
1941 Deportation der Deutschen aus den westlichen Teilen der<br />
Sowjetunion. Beginn der Deportation der Wolgadeut-<br />
schen nach Sibirien und Mittelasien aufgrund eines Dek-<br />
rets.<br />
1944 Etwa 350 000 Russlanddeutsche werden im Warthegau<br />
angesiedelt und erhalten die deutsche Staatsangehörig-<br />
keit.<br />
1945 Deportation der Russlanddeutschen aus den Besat-<br />
zungsgebieten der Alliierten nach Sibirien und Mittelasien.<br />
1948 Dekret des Obersten Sowjets: Verbannung der Russ-<br />
landdeutschen auf „ewige Zeiten“ (Verbleib in den derzei-<br />
tigen Ansiedlungsorten).<br />
1955 Beschluss des Deutschen Bundestages: Anerkennung<br />
der im Krieg erfolgten Einbürgerungen von Russland-<br />
deutschen. Adenauer in Moskau. Oberster Sowjet: Auf-<br />
hebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der<br />
Deutschen. Aber: keine Rückgabe des vor der Deportati-<br />
on beschlagnahmten Eigentums und keine Rückkehr in<br />
die ehemaligen Siedlungsgebiete.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
38<br />
_________________________________________________________<br />
1964 Teilweise Rehabilitierung der Wolgadeutschen. Aufhe-<br />
bung des Deportationsdekrets von 1941 für alle Deutsche<br />
in UdSSR.<br />
1965 Internationale Vereinbarung über bürgerliche und politi-<br />
sche Rechte: Recht auf freie Ausreise und Minderheiten-<br />
schutz. Von der UdSSR 1973 ratifiziert.<br />
1970 Moskauer Vertrag zwischen BRD und UdSSR über ge-<br />
genseitigen Gewaltverzicht. Aussiedlerzahlen steigen.<br />
1972 Dekret über freie Wahl des Wohnsitzes für Deutsche.<br />
1979 Scheinversuch zur Gründung einer Autonomie in Ka-<br />
sachstan.<br />
1986 Neues Gesetz über Ein- und Ausreise erleichtert Famili-<br />
enzusammenführung. Aussiedlerzahlen steigen.<br />
1989 Gründung der Gesellschaft „Wiedergeburt“. Ziel: Wieder-<br />
herstellung der Wolgarepublik.<br />
1990 Einwanderungs-Anpassungs-Gesetz in Deutschland:<br />
Leistungskürzungen für die Aussiedler und Zuweisung<br />
eines vorläufigen Wohnsitzes für zwei Jahre. Aussiedler-<br />
Aufnahme-Gesetz: Aufnahmeverfahren nur vom Her-<br />
kunftsgebiet aus möglich.<br />
1991 Wiederherstellung des deutschen Rayons Halbstadt (Al-<br />
tai) (1938 aufgelöst).<br />
1992 Beschluss des obersten Sowjets über Gründung des<br />
deutschen Rayons Asowo / Omsk. Dekret über die Bil-<br />
dung eines deutschen Bezirks in den Gebieten Saratow<br />
und Wolgograd. Protokoll zwischen Deutschland und
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
39<br />
_________________________________________________________<br />
Russland zur stufenweisen (4-5 Jahren) Wiederherstel-<br />
lung der Wolgarepublik. Umfrage im Gebiet Saratow er-<br />
gibt Mehrheit gegen Autonomie der Deutschen.<br />
1993 Kriegsfolgenbereinigungsgesetz: Leistungseinschränkun-<br />
gen für Spätaussiedler; Festlegung einer Aufnahmequote<br />
ca. 200.000 pro Jahr. Bildung eines Zwischenstaatlichen<br />
Rates der Deutschen der ehemaligen UdSSR.<br />
Der geschichtliche Einblick zeigt, dass die Russlanddeutschen in den<br />
letzten drei Jahrhunderten mehrfach den Unterdrückungen, Repressio-<br />
nen, Deportationen, ethnischen Diskriminierungen und Verfolgungen<br />
ausgesetzt waren. Die Deutschen gerieten immer dann in Entschei-<br />
dungssituationen, wenn es zu außenpolitischen Kräfteverschiebungen<br />
und Krisen zwischen Deutschland und Russland bzw. der Sowjetunion<br />
kam. In solchen Situationen wurde den Deutschen ihr Anspruch auf<br />
kulturelle und soziale Selbständigkeit zur Gefahr.<br />
2,8% der Aussiedler kamen nach Deutschland aus Angst vor einem<br />
Krieg im Herkunftsland (Strobl, 2000 S. 85).<br />
Die Angst vor erneuten schicksalsverändernden politischen Umgestal-<br />
tungen hat sich in diese Minderheit eingebrannt.<br />
Löneke fand in ihren Interviews mit den Aussiedlern aus Russland her-<br />
aus, dass besonders die älteren Menschen auf die Ausreise nach<br />
Deutschland drängten, weil sie selbst negative Erfahrungen in der<br />
Nachkriegszeit gemacht haben. (Löneke, 2000 S. 217) Diese geschicht-<br />
lich begründete Angst dient ebenfalls als Motivation Russland zu ver-<br />
lassen und in das Land ihrer Ahnen zurückzukehren, um eigenen Kin-<br />
der eine bessere Zukunft zu bieten. Laut Strobl und Kühnel haben<br />
13,0% der Russlanddeutschen das Land aus eben diesem Grund ver-<br />
lassen (Strobl, 2000 S. 85).<br />
Aufgrund des langjährigen „Kalten Krieges“ gab es in Russland Infor-<br />
mationsmangel über die westlichen Länder. Das Thema „Deutschland“
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
40<br />
_________________________________________________________<br />
wurde seit dem zweiten Weltkrieg tabuisiert und die Gespräche und<br />
Erzählungen über Deutschland durch die sowjetische Regierung unter-<br />
bunden. (Löneke, 2000 S. 218) Die Vorstellungen über Deutschland<br />
wurden gebildet aus den Geschichten, die über mehrere Generationen<br />
überliefert wurden und aus den Informationen, die sie aus dem Brief-<br />
wechsel mit den Verwandten und Freunden aus Deutschland rauslasen<br />
(ebd. S. 213).<br />
Aber auch der Briefwechsel war nicht einfach, denn viele Briefe kamen<br />
nicht an, weil die ausländischen Briefe meist vom Zoll abgefangen wur-<br />
den oder sie kamen erst Monate später bei dem Empfänger an.<br />
Das Osteuropa-Institut befragte die Aussiedler aus der UdSSR nach<br />
ihren Informationsquellen zu den Verhältnissen in Deutschland und<br />
stellte fest, dass die Informationen über Deutschland nur sehr spärlich<br />
und oft ideologisch gefärbt waren, daher bestand ein großes Informati-<br />
onsdefizit über die reale und aktuelle Situation in Deutschland (ebd. S.<br />
220).<br />
Wer es sich finanziell erlauben konnte, kam nach Deutschland zuerst<br />
mit einem Gastvisum, um das Land zu erkunden und sich über die Le-<br />
bensverhältnisse zu informieren (Kornischka, 1992 S. 73f). Die anderen<br />
reisten ins Ungewisse mit viel Hoffnung im Gepäck.<br />
Es liegt nahe, dass viele von der deutschen Tradition geprägten Eltern<br />
die Gelegenheit beim Schopf nehmen und den Antrag auf Ausreise stel-<br />
len, weil ihr Kind oder ihre Kinder langsam in die Pubertät kommen und<br />
dann die „Gefahr“ bestünde, dass der oder die Jugendliche eine Bezie-<br />
hung mit einem Nichtdeutschen eingehen würde. Eine „Mischehe“<br />
spricht nicht nur gegen die altdeutsche Tradition, sondern gefährdet<br />
auch enorm die Ausreise nach Deutschland zu einem beliebigen Zeit-<br />
punkt. Die Eltern haben dann Angst ihre Familie zu spalten und ihre<br />
Kinder zu verlieren, wenn sie nicht zusammen nach Deutschland aus-<br />
reisen können.<br />
Ich vermute, dass die „Mischehen“, (also Ehen zwischen einer/einem<br />
Deutschstämmigen und einer/einem Russin/Russen oder einer anderen
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
41<br />
_________________________________________________________<br />
Nationalität) deshalb unter den traditionsgebundenen Deutschen unter-<br />
sagt oder verurteilt werden, weil sie ihre ursprüngliche Kultur schützen<br />
und eine mögliche Russifizierung 2 vermeiden wollen, aber nicht zuletzt<br />
auch, weil sie sich gegen die Probleme der möglichen Ausreise nach<br />
Deutschland versichern wollen. Denn die Gefahr der Familientrennung<br />
bestand schon immer und ist nicht erst seit der letzten Ausreisewelle<br />
aktuell.<br />
Eine Studie aus dem Jahr 1989 stellt dieses Phänomen in Zahlen vor.<br />
In 8 % der Familien war der Ehepartner einer fremdethnischen Ab-<br />
stammung. Des weiteren hatten 14 % der Spätaussiedler Kinder, die<br />
im Herkunftsland mit fremdethnischen Partnern verheiratet waren und<br />
deshalb nicht mitausreisen konnten und es zu Familientrennung kam.<br />
80 % der Spätaussiedler aus Russland hatten nichtdeutsche Verwandte<br />
im Herkunftsland (Kornischka, 1992 S. 72 f.).<br />
Ein weiterer, nicht minder gewichtiger Grund, der eine Ausreise auslöst,<br />
jedoch in der von mir eingesehenen Literatur nur nebenbei erwähnt<br />
wird, ist die Wehrpflicht in Russland. Strobl und Kühnel fanden in ihrer<br />
Studie im Jahr 2000 heraus, dass 5,2% der Aussiedler die Vermeidung<br />
des Armeedienstes als einen Grund für die Ausreise angaben (Strobl,<br />
2000 S. 85). Auf den ersten Blick scheint der Grund wirklich nicht rele-<br />
vant zu sein, ich möchte jedoch trotzdem behaupten, dass es vor allem<br />
heute ein nicht zu übersehender Ausreisefaktor ist. Dieser Prozentsatz<br />
von 5,2% ergibt sich aus den 100% der befragten Aussiedler. Aber<br />
nicht jeder Befragte war männlich und war in dem Alter zwischen 18<br />
und 27 Jahren und damit reif für die Wehrpflicht in Russland. Es ist zu<br />
erwarten, dass für diese Zielgruppe die Vermeidung des Armeedienstes<br />
absolute Priorität unter den Ausreisegründen hat.<br />
2 russisch u. facere (lat.) = russisch machen . Aus dem Duden 1996. Russifizierung bedeutet ein<br />
Prozess der 1887 in Russland gewaltsam stattfand, um die deutsche Kultur auszurotten. Es<br />
wurde ein „Fremdengesetz“ erteilt und die deutsche Sprache wurde in der Öffentlichkeit verboten.<br />
Des weiteren wurde das Versammlungsverbot erteilt und es herrschten Enteignungen und<br />
Repressionen. Die deutschfeindliche Stimmung hielt noch länger an und sie führte zur Russifizierung<br />
des deutschen Schulwesens.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
42<br />
_________________________________________________________<br />
Der Wehrdienst in Russland dauert zwei Jahre. Alle jungen Männer im<br />
Alter von 18 bis 27 Jahren fallen unter die allgemeine Wehrpflicht. Die<br />
Zustände in der russischen Armee gelten seit Jahren als katastrophal.<br />
In den vergangenen Jahren wurden tausende Soldaten von ihren Offi-<br />
zieren zu Tode gequält oder in den Selbstmord getrieben. (Verband der<br />
Komitees der Soldatenmütter Russlands. 3 )<br />
Vermutlich würde bei einer aktuellen Messung der Ausreisemotive die-<br />
ser Grund deutlicher ins Gewicht fallen, denn seit dem Oktober 1999<br />
intervenieren Militärtruppen unter Präsident Putin erneut in Tsche-<br />
tschenien.<br />
Vor allem nach Beginn des zweiten Krieges in Tschetschenien, versu-<br />
chen viele Eltern von Jungen, noch vor dem siebzehnten Lebensjahr<br />
ihres Kindes nach Deutschland auszureisen, um einem furchtbaren<br />
Schicksal zu entkommen. Die Soldaten in den Kriegen gegen Tsche-<br />
tschenien haben oft nur ein halbes Jahr militärische Ausbildung absol-<br />
viert (ebd.). Eine Ausreise aus Russland ist für die Aussiedler eine der<br />
wenigen legalen Möglichkeiten dem Wehrdienst zu entkommen.<br />
Die Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse von Strobl und<br />
Kühnel ist aus dem Jahr 2000, die Datenerhebung fand jedoch zwi-<br />
schen November 1998 und Februar 1999 statt (Strobl, 2000 S. 70). Die<br />
Ausreisegründe können noch weiter zurückliegen, denn in manchen<br />
Fällen dauert es Jahre um eine Ausreisegenehmigung zu erhalten. Es<br />
wäre interessant zu untersuchen, ob die Ausreisemotivation mit der<br />
neuen Terrorwelle und seit dem Beginn des zweiten Tschetschenien-<br />
krieges zugenommen hat.<br />
An den Forschungsergebnissen von Strobl und Kühnel ist zu kritisieren,<br />
dass bei den Erhebungen nicht nach der Aufenthaltsdauer der Befrag-<br />
ten in Deutschland differenziert wurde (ebd. S. 73f). Die Aufenthalts-<br />
dauer könnte genaueren Aufschluss geben, wie sich politische Impulse<br />
im Herkunftsland und Deutschland auf bestimmte Ausreisemotive aus-<br />
wirken.<br />
3 http://www.frauennews.de/themen/weltweit/frieden/russmuetter.htm.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
43<br />
_________________________________________________________<br />
Überlegungen zum Motiv „als Deutscher unter Deutschen zu sein“<br />
Einige Autoren, die sich mit den Ausreisemotiven der Aussiedler be-<br />
schäftigt haben, berichten, dass die Aussiedler, die das Ziel hatten in<br />
die „Heimat“ auszureisen und unter den Deutschen zu sein, ein anderes<br />
Deutschland vorgefunden haben, als sie es erwartet hatten (Silberei-<br />
sen, 1999 S.165), (Löneke, 2000 S.224).<br />
Erwarten die Aussiedler eine Kultur in Deutschland vorzufinden, die sie<br />
kennen, die sie pflegen und mit welcher sie aufgewachsen sind? Stellen<br />
sie sich vor nach Hause zurückzukehren, wie es von vielen Autoren<br />
berichtet wird?<br />
Trotz der mangelhaften Informationspolitik, vermute ich, dass es zu-<br />
mindest den meisten Aussiedlern klar ist, dass sich in Deutschland die<br />
Kultur aufgrund der geschichtspolitischen Veränderungen anders ent-<br />
wickelt hat, als die mehr oder weniger isolierte und auch zum Teil kon-<br />
servierte deutsche Kultur in Russland. Vor der Ausreise pflegten die<br />
Aussiedler Briefkontakte mit den bereits ausgereisten Familienangehö-<br />
rigen oder Freunden, die über die Situation in Deutschland berichteten.<br />
Ein sehr großer Anteil an Aussiedlern (48,5%) (Strobl, 2000 S. 73) die<br />
mit der großen Ausreisewelle in den Achtzigern und Anfang der Neun-<br />
zigern nach Deutschland kamen, kamen aus deutschen Dörfern in<br />
Russland und betrieben Landwirtschaft zur Eigenversorgung und für die<br />
Abgabe an den Staat. Das Leben war hart und glich einem Selbstver-<br />
sorger-Dasein, denn neben einem Job, wie Mechaniker oder Lehrer<br />
oder Arzt waren sie in diesen landwirtschaftlich geprägten Dörfern auch<br />
Vollzeitlandwirte. Auch alte Leute waren von der eigenen Landwirt-<br />
schaft abhängig.<br />
Man hatte den Stall mit Kühen, Hühnern, Schweinen usw. zu versor-<br />
gen, den Garten mit Kartoffeln, Kohl, Möhren, Mais usw. zu pflegen und<br />
sich um Winterreserven zu kümmern (Löneke, 2000 S. 94).<br />
Es ist wohl unwahrscheinlich, dass die aus den Dörfern und Kolchosen<br />
kommenden Russlanddeutschen erwartet haben gleiche Bedingungen<br />
in Deutschland vorzufinden. Im Gegenteil sind die alten Russlanddeut-
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
44<br />
_________________________________________________________<br />
schen froh dieses Kapitel ihres Lebens, das als Landwirtschaft zum<br />
großen Teil ihre Tradition ausmachte, in Russland gelassen zu haben.<br />
Viele alte Menschen aus Russland, mit denen ich mich unterhalten ha-<br />
be, berichteten, dass sie erleichtert und froh sind sich das Leben in ei-<br />
ner Wohnung zu leisten und die letzten Jahre ihres Leben nicht schuf-<br />
ten und sich körperlich verausgaben zu müssen. Statt dessen haben<br />
sie hier Zeit ihre Religion zu leben, Bücher und Bibel zu lesen und<br />
Freundschaften zu pflegen. Sie wollten in eine neue Welt auswandern<br />
und ihre Kultur mitnehmen.<br />
Die Autoren erläutern nicht, worin konkret die Vorstellung der Aussied-<br />
ler über die deutsche Gesellschaft bestand.<br />
Es ist jedoch klar umschrieben, womit die Aussiedler in Konfrontation<br />
geraten sind, nämlich mit dem neuen Wertehorizont, den die aufneh-<br />
mende Gesellschaft vertritt.<br />
6.2.1. Einwanderungsbedingungen im Wandel<br />
In der Bundesrepublik haben sich die Einwanderungsbedingungen für<br />
Aussiedler seit Beginn der neunziger Jahre dramatisch verändert. Die<br />
Aussiedler werden mit wachsender Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Re-<br />
zession und chronischen Finanzproblemen der Kommunen konfrontiert.<br />
Die veränderten Einwanderungsbedingungen kommen auch in Anpas-<br />
sungen des Rechtsstatus der Aussiedler und in der Begrenzung der<br />
Anzahl der Aufnahmebescheide zum Ausdruck. Den Rechtstatus eines<br />
Spätaussiedlers erhalten jene, die vor dem 1.1.1993 geboren wurden,<br />
nach dem 31.12.1992 einen Aufnahmebescheid gemäß § 26 BVFG<br />
erhalten haben und sich seit dem 1.1.1993 in der BRD aufhalten<br />
(Strobl, 2000 S. 29).<br />
Um als Spätaussiedler anerkannt zu werden, müssen die Zuwanderer<br />
seit Juli 1990 mit einem Aufnahmebescheid der Bundesrepublik nach<br />
Deutschland kommen. Ein wesentlicher Punkt des Aufnahmeverfahrens
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
45<br />
_________________________________________________________<br />
ist der Nachweis der deutschen Volkszugehörigkeit. Nach dem neuen<br />
Bundesvertriebenengesetz (§6 Abs.1) ist deutscher Volkszugehöriger,<br />
wer sich in seiner Heimat zum Volkstum bekannt hat (subjektives Erfor-<br />
dernis), sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale (Ab-<br />
stammung, Sprache, Erziehung, Kultur) bestätigt wird (objektives Erfor-<br />
dernis) (Dietz, 1996 S. 41).<br />
Seit 1990 haben Aussiedler erhebliche Kürzungen der Entschädigungs-<br />
und Sozialleistungen hinnehmen müssen. Mit den Einschränkungen in<br />
den Leistungsbezügen verschlechterten sich die sozialen Einstiegs-<br />
bedingungen der Aussiedler in der Bundesrepublik. Waren sie früher<br />
den Empfängern von Arbeitslosengeld mehr oder weniger gleichge-<br />
stellt, so haben die meisten inzwischen nur noch einen Anspruch auf<br />
die Sozialhilfe (Strobl, 2000 S. 30). Inzwischen besteht kein Anspruch<br />
mehr auf Eingliederungsgeld. Der Sprachkurs wurde von 10 auf 6 Mo-<br />
nate begrenzt (Informationen zur politischen Bildung, 2000 S. 40). Für<br />
Jugendliche beträgt die Sprachförderung 10 Monate (ebd. S. 42).<br />
Die Eingliederungsleistungen werden an den Wohnort gebunden, um<br />
hohe Sozialaufwendungen und Engpässe auf dem Arbeitsmarkt in den<br />
aufnehmenden Gemeinden zu vermeiden. Nach dem Wohnortzuwei-<br />
sungsgesetz haben die Spätaussiedler nur am zugewiesenen Wohnort<br />
Anspruch auf Eingliederungsleistungen. Eine weitere Änderung im Ge-<br />
setzt soll die Wohnortbindung der Spätaussiedler auf drei Jahre nach<br />
der Einreise festsetzen. Eine Abwesenheit von dem Wohnort darf ledig-<br />
lich drei Monate dauern und zum Zweck der Arbeitssuche dienen (ebd.<br />
S. 39).<br />
6.3. Wohnsituation der Spätaussiedler in Deutschland<br />
Nach jahrelangem Warten und oft langwierigen Ausreiseverhandlungen<br />
haben alle Spätaussiedler den Erstkontakt mit der Bundesrepublik in<br />
einem der vier Grenzdurchgangslager. Die beiden Lager Friedland (seit<br />
1945) und Unna-Massen (seit 1988) sind für die Aussiedler aus der e-<br />
hemaligen UdSSR zuständig. Nach etwa einer Woche im Grenzdurch-
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
46<br />
_________________________________________________________<br />
gangslager gelangen die Spätaussiedler dann in die Durchgangswohn-<br />
heime oder Landesaufnahmestellen der entsprechenden Bundesländer<br />
(Kornischka, 1992 S. 42). Etwa zwei Wochen später ziehen die „neuen<br />
Mitbürger“ dann schließlich in die Übergangswohnheime, auch Not-<br />
wohnung genannt, des von ihnen gewählten Ortes ein. Meist sind diese<br />
Übergangswohnheime sehr klein, bestehend aus einem Zimmer (18-<br />
20qm² für eine Familie (Dietz, 1997 S. 73)), mit Schränken unterteilt in<br />
einen Wohn- und einen Schlafraum, mit Gemeinschaftsküchen und<br />
gemeinsamen sanitären Anlagen. Bedingt durch den Massenzustrom<br />
Ende der Achtziger Jahre kam es zu sehr großen Engpässen und<br />
Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt. Oft fanden die Spätaussied-<br />
ler ein neues vorübergehendes Zuhause in einer Turnhalle, oder in ei-<br />
ner alten Schule, wo die Wände nur aus einer Bundeswehrdecke be-<br />
standen. Weitere Ausweichquartiere waren zum Beispiel Schiffe, Gast-<br />
höfe, Hotels, Kasernen, Campingplätze, Bordelle, Messehallen (Kor-<br />
nischka, 1992 S. 50). Die Aufenthaltsdauer in diesen beengten Wohn-<br />
verhältnissen lag in den Siebziger Jahren zwischen mehreren Monaten<br />
und mehreren Jahren. Marek Fuchs (in: Silbereisen, 1999 S. 96) führte<br />
eine Studie zu der Wohnsituation der Spätaussiedler durch. Laut seiner<br />
Untersuchung leben ein halbes Jahr nach der Einreise 77% der befrag-<br />
ten Familien in einem Übergangswohnheim; nach einem Jahr sind es<br />
65,1% und vier Jahre nach der Ankunft 4,3% der Familien. Die Unter-<br />
suchung bezog sich auf die Spätaussiedler aus Polen, Rumänien und<br />
auf die Spätaussiedler aus der ehemaligen UdSSR. Die durchschnittli-<br />
che Aufenthaltsdauer im Wohnheim, bezogen im speziellen auf die<br />
Aussiedler aus der Sowjetunion, beträgt laut Fuchs` Berechnungen<br />
28,6 Monate.<br />
Kornischka weist auf die besonderen gesundheitlichen Probleme der<br />
Aussiedler in den Massenunterkünften hin, wie beispielsweise verän-<br />
derte klimatische Bedingungen, schlechte sanitäre und hygienische<br />
Verhältnisse, fremde Ernährungsweisen, Allergien durch neue chemi-<br />
sche Produkte, übermäßige Leuchtstoffröhrenbeleuchtung in den<br />
Wohnheimen und psychosomatischer Stress, ausgelöst auch durch die<br />
Wohnraumenge (Kornischka, 1992 S. 51).
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
47<br />
_________________________________________________________<br />
6.4. Besonderheiten der Familiensozialisation der Aussiedler<br />
Bedingt durch die beengten Wohnverhältnisse ist die persönliche Sphä-<br />
re stark eingeschränkt und es gibt kaum einen Raum für die Bedürfnis-<br />
se des Einzelnen. Nicht nur Erwachsene sondern auch Jugendliche<br />
werden mit allen familiären und außerfamiliären Konflikten konfrontiert,<br />
wie zum Beispiel: Eheprobleme der Eltern, Alkoholmissbrauch, Lärmbe-<br />
lästigung, Aggressionen zwischen den Bewohnern. Die Familie verliert<br />
dadurch ihre stabilisierende, ihre protektive Funktion (Dietz, 1996 S.<br />
73).<br />
Die traditionellen Wertorientierungen der Eltern stimmen häufig mit den<br />
Werten der neuen Heimat nicht mehr überein. Im Herkunftsland<br />
herrschten eher autoritäre Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern. In<br />
Deutschland lernen sie die egalitären Erziehungsmuster kennen. Den<br />
Erwachsenen fällt es schwerer als den Kindern sich in ihren Wertvor-<br />
stellungen und ihrer Lebensführung zu ändern, deshalb kommt es<br />
schell zu Konflikten mit Kindern und Jugendlichen, wenn diese sich<br />
leichter als ihre Eltern die neuen Werte und Normen verinnerlichen.<br />
Die familiäre Sozialisation kann sich förderlich, aber auch hemmend auf<br />
den Lernerfolg und die Sozialisation in der Schule auswirken, wenn<br />
zum Beispiel in Schule und Elternhaus inkompatible Werte vermittelt<br />
werden. Auch kulturelle Defizite in der Familie wirken sich negativ auf<br />
die schulische Sozialisation aus (Thomas, 1993 S. 120).<br />
Eine besondere Schwierigkeit für die Kinder und Jugendlichen ist eben-<br />
so, dass die Eltern, die normalerweise die wichtigsten Gesprächspart-<br />
ner für sie sind, wenn es um die schulische, berufliche oder private Zu-<br />
kunft geht, Schulsystem und Ausbildungsmöglichkeiten nicht kennen.<br />
Die Eltern sind selbst in der neuen Umgebung hilflos, unsicher und<br />
können für ihre Kinder nicht orientierend wirken.<br />
Für die schnellere Assimilation der Kinder und Jugendlichen ist zum<br />
einen die Fähigkeit zum schnelleren Sprachenerwerb verantwortlich -<br />
die wiederum bedingt ist durch die größere Bereitschaft zu Nachah-<br />
mung und Identifikation - und zum anderen die schnellere Kontaktauf-<br />
nahme mit den Einheimischen und die Übernahme der neuen Wertori-<br />
entierungen und der Lebensweisen.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
48<br />
_________________________________________________________<br />
Die junge Generation übernimmt die Aufgaben der Eltern, wie z. B. Be-<br />
hördengänge (Schmitt-Rodermund/ Silbereisen in: Thomas, 1996 S.<br />
436) Im Familienalltag findet immer wieder Rollentausch statt. Die<br />
Sprachbarriere hindert die Eltern die notwendige Informationen zu be-<br />
schaffen, um ihren Kindern das Zurechtfinden in der neuen Umgebung<br />
zu erleichtern und somit eine Hilfestellung auf dem Weg zum Erwach-<br />
senwerden zu geben. Die schnellere Assimilation führt in der Folge oft<br />
zu Konflikten zwischen den Kindern und den Eltern, da sich einerseits<br />
die Eltern von den eigenen Kindern übertroffen und kritisiert fühlen, an-<br />
dererseits schämen sich die Kinder ihrer Eltern, weil sie die Sprache<br />
mangelhaft beherrschen (Grinberg/Grinberg, 1990 S. 125).<br />
Der Einstieg in die sozialen Gruppen gelingt den älteren schwerer als<br />
den Kindern.<br />
Eine Befragung im niedersächsischen Raum fand heraus, dass etwa<br />
50% der befragten Aussiedler höchstens einmal im Monat oder seltener<br />
Kontakt zu Einheimischen oder den anderen Aussiedlern hatte. Jedoch<br />
71% der Aussiedler wünschen sich mehr Kontakt zu den Einheimischen<br />
(Bahlmann, 2000 S. 33).<br />
Bedingt durch die Wohnsituation sind die Kontaktkreise klein und ver-<br />
größern sich mit zunehmender Aufenthaltsdauer nur sehr langsam (Hel-<br />
ler, 1992 S. 29f).<br />
Finanzielle Einschränkungen<br />
Die Bildungs- und Berufsabschlüsse, die die Aussiedler mitbringen, sind<br />
meistens mit den Abschlüssen in der Bundesrepublik nicht kompatibel.<br />
Die Folge davon ist eine grundsätzliche Entwertung der erworbenen<br />
Abschlüsse. Ohne einer Umschulung wird der Zugang zum Arbeits-<br />
markt enorm erschwert. Die berufliche Perspektive wird eingeschränkt<br />
und die damit im Zusammenhang stehenden geringen finanziellen Mit-<br />
tel der Aussiedlerfamilien schlagen sich in den Sozialisationsbedingun-<br />
gen ihrer Kinder nieder (Strobl, 2000 S. 37).<br />
Die Entwertung der in der Heimat erworbenen Bildungsabschlüsse und<br />
darausfolgende Unterqualifizierung oder sogar Erwerbslosigkeit hat vie-
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
49<br />
_________________________________________________________<br />
le Folgen. Es kommt zu Frustrationen, zu psychischen Belastungen der<br />
Eltern und indirekt zu psychischen Belastungen bei den Kindern.<br />
In Russland ist es nicht üblich den Kindern Taschengeld zu geben, es<br />
gibt sogar im russischen Sprachgebrauch kein Wort, das „Taschen-<br />
geld“ bedeutet. Das Geld bekamen sie bei Bedarf oder es wurde ge-<br />
spart von Gelegenheit zu Gelegenheit. Oftmals können sie in den Fe-<br />
rien durch kleine Jobs, z.B. in der Landwirtschaft, ihr eigenes Geld ver-<br />
dienen, und zwar schon relativ früh mit 11 oder 12 Jahren.<br />
In ihrem Herkunftsland verbrachten die Kinder und Jugendliche ihre<br />
Freizeit auf öffentlichen Plätzen, auf der Straße, auf den Höfen. Wenn<br />
sie aus einem Dorf oder aus den ländlichen Gebieten Russlands kom-<br />
men, dann besaßen sie größere Wohnungen oder ein Haus mit einem<br />
Garten. Städtische Familien hatten üblicherweise einen Grundstück auf<br />
dem Land. Es gab in dem Herkunftsland generell mehr Freiräume für<br />
die Kinder. Es gab mehr Spielmöglichkeiten in der Natur. Viele Kinder<br />
und Jugendliche besaßen Haustiere, mit denen sie viel Zeit verbrachten<br />
(Dietz, 1999 S. 38f). Das Geld wurde dafür nicht benötigt.<br />
Da die meisten Aussiedler die erste Zeit nach der Einreise in Über-<br />
gangswohnheimen verbringen, haben die Kinder und Jugendliche nur<br />
sehr wenig Raum zum Spielen und Toben. Die Migration beschränkt<br />
sich nicht auf einen Umzug. Durch die vielen Umzüge in relativ kurzer<br />
Zeit, müssen sich die Kinder und Jugendlichen immer wieder neu in<br />
den sozialen Strukturen positionieren. Deshalb halten sich die Kinder<br />
fest an der einzig vertraut gebliebenen Gruppe, an der eigenen Familie.<br />
Die Kommunikation und die Beziehungen beschränken sich auf die ei-<br />
gene Gruppe. Grund dafür sind neben den schlechten Sprachkenntnis-<br />
sen auch die Enge der Wohnverhältnisse und die mangelnden finanziel-<br />
le Ressourcen. In Deutschland gehört die „Straßensozialisation“ eher<br />
der Vergangenheit an oder betrifft weitgehend die Kinder und Jugendli-<br />
che aus unteren sozialen Schichten.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
50<br />
_________________________________________________________<br />
Familie als Schutzschild<br />
Neben den engen Wohnverhältnissen und eingeschränkten finanziellen<br />
Ressourcen wird die gesellschaftliche Position oft als belastend emp-<br />
funden. Kornischka schildert eine Umfrage vom Institut für Demoskopie<br />
in Allensbach aus dem Jahr 1988. Diese Umfrage ergab, dass 38% der<br />
Bundesbürger Spätaussiedler für Ausländer halten und meinten, dass<br />
diese Gruppe zu viele Leistungen vom Staat beziehen darf. 61% hatten<br />
in Bezug auf die Einreise von Spätaussiedlern eine negative Einstel-<br />
lung. Seit 1990 ist die Fremdenfeindlichkeit kontinuierlich gestiegen.<br />
Weitere Untersuchungen zeigen, dass 60% der befragten Aussiedler im<br />
mitmenschlich gesellschaftlichen Bereich überwiegend negative Erfah-<br />
rungen machten (Kornischka, 1992 S. 45).<br />
In dem Selbstfindungsprozess, den alle Aussiedler nach der Ankunft in<br />
Deutschland durchleben, führen diese negativen Erfahrungen mit den<br />
Bundesbürgern zu Frustrationen, noch mehr Unsicherheit und noch<br />
stärkerem Rückzug auf die eigene ethnische Gruppe, wodurch sich die<br />
Aussiedler von den Einheimischen abkapseln und auch die sogenann-<br />
ten „Ghettos“ bilden. Missverständnisse und unverstandene und<br />
zugleich unausweichliche Anforderungen lösen häufig Überlastungsre-<br />
aktionen aus, die mit quälenden internalen Verantwortungszuschrei-<br />
bungen verbunden sind. Die Einwanderung nach Deutschland ist ein<br />
kritisches Lebensereignis, dessen Verlauf zu erheblichen psychischen<br />
und sozialen Problemen führen kann (Hänze und Lantermann in: Sil-<br />
bereisen, 1999 S. 143f).<br />
Die eigene Familie bietet emotionalen Rückhalt. Die Aussiedler kom-<br />
men meist im Familienverbund mit mindestens einem Kind und nicht<br />
selten mit noch weiteren im Haushalt lebenden Verwandten nach<br />
Deutschland (ebd.)<br />
Die Familie und im Allgemeinen die eigene ethnische Gruppe ist homo-<br />
gen, da die Gruppenmitglieder die gleichen Erfahrungen machen. Sie<br />
bieten Halt und Entspannung, da sie die gleiche Sprache sprechen, die<br />
gleiche Mentalität haben und den gleichen Hindernissen ausgesetzt<br />
sind. Die Mentalität ist sehr wichtig für die Entspannung, denn sie bein-
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
51<br />
_________________________________________________________<br />
haltet die gleichen bzw. ähnliche Vorerfahrungen, eine ähnliche Ver-<br />
gangenheit die in dem gleichen Land gemacht wurden. Es bedeutet,<br />
dass sie dem gleichen gesellschaftlichen System angehörten mit glei-<br />
chen Riten und Traditionen, Feiern und Humor.<br />
Hänze und Lantermann (in: Silbereisen, 1999) heben hervor, dass ein<br />
emotional stabiler Familienzusammenhalt wichtig ist für die Vermeidung<br />
und Bewältigung psychischer Probleme. Sie weisen auf Mattejat (1993)<br />
hin, der betont – ich zitiere Hänze und Lantermann:<br />
„ (...),dass Familien mit einem engem Familienzusammenhalt ein hohes Be-<br />
wältigungspotential und eine hohe Stressresistenz besitzen. Umgekehrt kann<br />
ein negatives Familienklima, ein geringes Maß an emotionaler Verbundenheit,<br />
verbunden mit einem geringen Maß an gegenseitig zugestandener individuel-<br />
ler Autonomie, zu Labilität und Vulnerabilität bei äußeren Belastungen führen.“<br />
(ebd. Zitat S. 145)<br />
Bindung und Autonomie in der Familie wirken sich positiv und auch pro-<br />
tektiv auf das Familienklima aus. Ein enger Familienzusammenhalt bie-<br />
tet ein hohes Bewältigungspotential und eine hohe Stressresistenz (Sil-<br />
bereisen, 1999 S. 145).<br />
Ich würde den Begriff Familie ausweiten und die Familienumgebung,<br />
zum Beispiel gute Nachbarn und Freunde, dazunehmen und diesen<br />
eine ebenfalls wichtige Bedeutung beimessen. Somit vermute ich, das<br />
eine verständnisvolle, warme Familienumgebung beschützend und auf-<br />
bauend für jeden einzelnen sein kann. Die Nachbarn und Freunde sind<br />
die erste Zeit nach der Übersiedlung üblicherweise ebenso Aussiedler,<br />
da die Aussiedler die ersten Monate in einem Übergangswohnheim<br />
untergebracht werden.<br />
Die Aussiedler 4 , die sich auch nicht kennen, kommen schnell ins Ge-<br />
spräch und fühlen sich wohl untereinander, da im Umgang miteinander<br />
und in den Gesprächen vieles als selbstverständlich vorausgesetzt wird<br />
4 Nicht nur Aussiedler fühlen sich unter einander wohl, dieses kann auf jede beliebige Minorität<br />
übertragen werden. Die gemeinsame Basis schafft Vertrauen.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
52<br />
_________________________________________________________<br />
und keiner Rechtfertigung oder genaueren Erklärung bedarf. Manchmal<br />
genügt ein Wort und sie wissen worum es geht.<br />
Die Anwendung der russischen Sprache hat nicht nur einen praktischen<br />
Sinn für die Aussiedler, da sie die deutsche Sprache am Anfang noch<br />
nicht fließend beherrschen. Kossolapow vermutet, dass die Aussiedler<br />
deswegen an der russischen Sprache festhalten, weil das Russische im<br />
Unterschied zum Deutschen eine viel breitere Palette an Ausdrucks-<br />
möglichkeiten für Gefühle und Gefühlsschattierungen bietet.<br />
„So kann z.B. fast jedem Wort durch unterschiedliche Prä- und Suffigierung<br />
eine bestimmte neue (verächtliche, liebevolle etc.) Bedeutungsnuance gege-<br />
ben werden; oder unseren beschränkten Möglichkeiten, Verkleinerungsformen<br />
zu bilden, stehen Dutzende von Diminutivformen im Russischen gegenüber.“<br />
(Kossolapow, 1987 Zitat S. 144)<br />
Daher greifen die Jugendlichen und auch ihre Eltern gerade im emotio-<br />
nalen Bereich auch bei guter Beherrschung der deutschen Sprache<br />
immer wieder auf das Russische zurück (ebd.). Sie ziehen sich emotio-<br />
nal auf diese Sprache zurück und fühlen sich in diesem Schutzraum,<br />
den die russische Sprache bietet, geborgen.<br />
Das Wohlfühlen in einer Gesellschaft geht weit über die Sprache hin-<br />
aus. Viele Aussiedler berichten, dass sie das Wesen oder den Humor<br />
der Einheimischen die erste Zeit nicht verstanden. Die Witze fanden sie<br />
überhaupt nicht komisch, das Verhalten in bestimmten Situationen un-<br />
erklärlich (Dietz, 1998).<br />
Humor ist, wie ich finde, ein sehr wichtiger Bestandteil einer Gesell-<br />
schaft, er spiegelt das Gesicht einer Gesellschaft wieder. Die westliche<br />
Gesellschaft ist individualistisch, marktwirtschaftlich orientiert, multikul-<br />
turell und in gewisser weise emanzipiert. So ist es auch kein Wunder,<br />
dass die Aussiedler, die ja aus einer kollektivistischen, patriarchalischen<br />
sozialistisch geprägten Gesellschaft stammen, den Humor der Einhei-<br />
mischen nicht verstehen. Es kommt zu Missverständnissen und zu<br />
neuen Vorurteilen. Es braucht Zeit bis man die „Basis“, die Grundein-<br />
stellungen und Grundprinzipien einer Gesellschaft verinnerlicht hat. Da-<br />
bei hilft zum Beispiel der Umgang mit den Einheimischen im Beruf und
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
53<br />
_________________________________________________________<br />
in der Freizeit, einheimische Filme, Bücher, Zeitschriften oder andere<br />
Medien. Eine gewisse Hemmschwelle muss dabei überschritten werden<br />
und das bereitet vielen Stress. Diesen Stress will und kann jedoch nicht<br />
jeder in Kauf nehmen. Viele Aussiedler ziehen sich also in ihre Gruppe<br />
zurück, wo sie vertraute Atmosphäre schaffen. Dieser Rückzug führt<br />
sogar zur „Ghettobildung“ und somit zur sozialen Isolation. Es entsteht<br />
ein Teufelskreis: Viele Aussiedler haben Probleme sich in der neuen<br />
Gesellschaft zurechtzufinden, sie suchen Hilfe und Halt in der eigenen<br />
ethnischen Gruppe, dabei kapseln sie sich ab, lernen die deutsche<br />
Sprache in diesem isoliertem Zustand nur sehr mühsam, das führt wie-<br />
derum zu Problemen im Umgang mit den Einheimischen... und der Teu-<br />
felskreis ist geschlossen.<br />
Abb. 3 Teufelskreis der Exklusion<br />
Identitätsprobleme<br />
Hilfe und Halt im eigenethnischen Milieu<br />
Sprachschwierigkeiten<br />
Exklusion / Isolierung<br />
Die ausgesiedelten Jugendlichen haben widersprüchliche Gefühle: Auf<br />
der einen Seite wünschen sie sich mehr Einheimischenkontakte (71%<br />
der befragten Jugendlichen wünschen sich mehr Kontakte mit den Ein-<br />
heimischen, (Bahlmann, 2000 S.33), tun sich aber schwer, ihre bun-<br />
desdeutschen Altersgenossen gefühlsmäßig zu verstehen. Die Aus-<br />
siedler äußern ihre Verwunderung über die individuelle Abkapselung,<br />
das mangelnde Gruppenbewusstsein, die fehlende Freigiebigkeit im<br />
Austausch materieller und geistiger Güter, das rigorose Konkurrenz-<br />
denken für einen Aufstieg „ohne Rücksicht auf Verluste“ bei einheimi-
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
54<br />
_________________________________________________________<br />
schen Jugendlichen (Dietz, 1996). Die subjektiv empfundene Wertedis-<br />
krepanzen führen zu Verunsicherungen und zum Rückzug auf eigene<br />
ethnische Gruppe.<br />
Die oben beschriebenen Wohn- und Familienverhältnisse sind nicht auf<br />
alle Aussiedler übertragbar. Nicht jedes Kind oder jeder Jugendlicher<br />
wächst in einem beengten Ghetto auf, hat arbeitssuchende, sozialiso-<br />
lierte Eltern, die ihren Frust im Alkohol ertränken. Ich würde gern be-<br />
haupten, dass diese unglückliche Mischung nur auf wenige Kinder zu-<br />
trifft. Aber es ist ein grober Einblick auf die Welt die für die Aussiedler<br />
und auch von den Aussiedlern geschaffen wird. In dieser besonderen<br />
Umgebung, nicht immer problematisch, erfahren die Kinder und Ju-<br />
gendliche die Familiensozialisation. Wie schon oben erläutert, ist die<br />
Familie der zentrale Ort für die Herausbildung grundlegender Gefühle,<br />
Verhaltensmuster, Welt-, und Wertvorstellungen. Es ist ersichtlich, dass<br />
es für die Familie in den oft vorzufindenden extremen Wohnverhältnis-<br />
sen schwierig ist den Kindern positives Weltbild, Optimismus und Stär-<br />
ke für die Bewältigung eigener Probleme in der Zukunft zu vermitteln.<br />
Ein Anliegen dieser Arbeit ist die Tatsache zu betonen, dass die Prob-<br />
leme in der Familiensozialisation von den jugendlichen Aussiedlern<br />
sehr spezifisch sind und nicht einfach auf die Wohnverhältnisse zurück-<br />
zuführen. Die Familiensozialisation ist stark von den Integrationserfah-<br />
rungen der Eltern abhängig.<br />
6.5. Integrationsmodelle<br />
6.5.1. „Integrationsfalle“ Ghetto?<br />
Das Wort Ghetto ist negativ behaftet und wird meist abwertend ge-<br />
braucht, als ein Viertel, in dem diskriminierte Minderheiten zusammen-<br />
leben. Dabei wird oft außer Acht gelassen, dass in diesen „Ghettos“<br />
etwas wertvolles bewahrt wird, nämlich die Kultur der jeweiligen ethni-<br />
schen Gruppe, sei es eine russlanddeutsche Kultur, eine russische,
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
55<br />
_________________________________________________________<br />
türkische oder eine andere wertvolle Mitnahme aus dem Ursprungs-<br />
land. Mit dem Wort Ghetto werden alle Vorurteile wach und keiner fragt<br />
mehr was oder wer sich hinter diesem Wort verbirgt.<br />
Wie entstehen solche „Ghettos“?<br />
Durch Kettenwanderung oder missverstandene Stadtplanung sind viel-<br />
fach geschlossene Siedlungsdistrikte von Aussiedlern entstanden. Aber<br />
auch Immobilienspekulanten, die ganze Straßenzüge aufkauften und<br />
sie als Eigentumswohnungen anboten, verdanken viele Aussiedlerkolo-<br />
nien ihre Entstehung. Durch die Einweisung in frei gewordene, früher<br />
von alliierten Streitkräften genutzte Wohnkomplexe entstanden eben-<br />
falls künstlich angelegte Aussiedlerkolonien (Bade, 1999 S. 37f).<br />
Was wird getan, um Vorurteile „Vorteile“ zu verwandeln?<br />
Man fängt an die Ghettos abzuschaffen, indem man versucht die<br />
Wohnsiedlungen auch für die Einheimischen attraktiv zu machen, nied-<br />
rige Miete und Einkaufszentrum in der Nähe. Die Wohnsiedlung wird<br />
auch tatsächlich für die Einheimischen attraktiv, aber eher für die sozi-<br />
albenachteiligten. Es kommt zu einer explosiven Mischung: eine fremde<br />
Ethnizität plus niedrige soziale Schicht, die die Aussiedler oder Auslän-<br />
der für die Misere in Deutschland verantwortlich macht. Eine Integration<br />
der Aussiedler schlägt fehl, neue Vorurteile - willkommen.<br />
Wie solche geschlossene Siedlungsdistrikte, also Ghettos, entstehen ist<br />
bekannt. Wie man aber die Brisanz der Ghettos entschärfen kann, dar-<br />
über finden zurzeit intensive Diskussionen in der Wissenschaft und Po-<br />
litik statt.<br />
Meiner Meinung nach ist für viele Bundesbürger der Begriff der „Integ-<br />
ration“ nicht ganz klar. Es wird oft mit „Germanisierung“ oder „Verdeut-<br />
schung“ verwechselt und erinnert mich an die gewaltsame Prozesse,<br />
die in Russland um 1887 stattfanden, um die deutsche Kultur in Russ-<br />
land auszulöschen.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
56<br />
_________________________________________________________<br />
6.5.2. Integration – Begriffsklärung<br />
Integration ist einer der wichtigsten Begriffe, der im Zusammenhang mit<br />
der Migration verwendet wird. Im folgenden soll der Begriff Integration<br />
definiert und einige theoretische Ansätze unter die Lupe genommen<br />
werden.<br />
In ihrem Exkurs zum Integrationsbegriff stellen Strobl und Kühnel eini-<br />
ge wichtige Definitionen vor. Der Integrationsbegriff der Allgemeinen<br />
Soziologie bezieht sich auf abgrenzbare soziale Einheiten und bezeich-<br />
net die Wiederherstellung eines einheitlichen Ganzen. Strobl und Küh-<br />
nel zitieren den Soziologen Münch, der die Integration als einen:<br />
„Zustand der Gesellschaft [sieht] in dem alle ihre Teile fest miteinander ver-<br />
bunden sind und eine nach außen abgegrenzte Einheit bilden.“ (Strobl, 2000<br />
Zitat S. 41)<br />
Luhmann definiert Systemintegration als:<br />
„(...)die Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsystemen.“ (Strobl, 2000 Zitat S.<br />
41)<br />
Diese letzte Definition finde ich plausibel in der Verwendung im techni-<br />
schen Bereich, aber sie eignet sich meiner Meinung nach nicht um die<br />
Integration in einer Gesellschaft zu beschreiben, wo die Integration<br />
nicht im Allgemeinen reduzierend wirken sollte. Deutlich differenzierter<br />
sieht Heitmeyer den Prozess der Integration.<br />
„Die einfache Gegenüberstellung von positiver Integration und negativer Des-<br />
integration führt also nicht weiter, weil sich die gesellschaftliche Entwicklung in<br />
einer wechselseitigen Integrations-Desintegrationsdynamik befindet. So kann<br />
ein hoher Integrationsgrad einer Gesellschaft auch (negative) Starrheit signa-<br />
lisieren, während (selbstgewählte) Desintegration von Individuen und Grup-<br />
pen eher (positiven) Wandel initiieren kann“. (Heitmeyer, 1997 Zitat S. 26)<br />
Strobl und Kühnel schlagen vor:
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
57<br />
_________________________________________________________<br />
„...die Sozialintegration als die mehr oder minder umfassende Einbindung von<br />
Personen in relativ dauerhafte Kommunikations- bzw. Handlungszusammen-<br />
hänge über die Orientierung an deren zentralen Werten und Normen zu defi-<br />
nieren.“ (Strobl, 2000 Zitat S. 42)<br />
Strobl und Kühnel bemerken, dass in politischen Erklärungen und in<br />
den Medien die Verwendung des Begriffes Integration eindeutig norma-<br />
tiv ist. Eine möglichst umfassende Anpassung oder sogar Angleichung<br />
der Eingewanderten an die Kultur der Aufnahmegesellschaft wird als<br />
wünschenswertes Ziel unterstellt.<br />
„Wenn von Integration gesprochen wird, ist in der Regel Assimilation gemeint“.<br />
(ebd. Zitat S. 43)<br />
Es ist undenkbar, dass deutsche Politiker Integration im Sinne einer<br />
Vermischung von russlanddeutschen und deutschen (oder zum Beispiel<br />
von türkischen und deutschen) Kulturelementen verstehen. Der Integra-<br />
tionsbegriff wird auch in Zusammenhang mit der Verbesserung von<br />
Gleichberechtigung und Partizipationschancen verwendet. Die schuli-<br />
schen und die beruflichen Fördermaßnahmen gelten als integrations-<br />
fördernd. Im Sinne von Gleichberechtigung mit den Einheimischen wird<br />
die Integration seitens der Kirche und Initiativen im Bereich der Aus-<br />
siedlerarbeit verstanden (Strobl, 2000 S. 44f). Somit kann der Begriff<br />
Integration unterschiedlich ausgeleuchtet und dementsprechend unter-<br />
schiedlich verstanden werden.<br />
Das sind die unterschiedlichen Nuancen des Begriffes Integration, die<br />
im Grunde das gleiche meinen - nämlich die Harmonie in der Gesell-<br />
schaft - jedoch mannigfache Instrumente zum Erreichen dieser Harmo-<br />
nie benötigen. Integration bezeichnet eine erfolgreiche Interaktion zwi-<br />
schen dem Individuum und der Gesellschaft.<br />
Der Begriff der Akkulturation wird oft in Verbindung mit der Integration<br />
verwendet. Mit dem Begriff Akkulturation ist ein Veränderungsprozess<br />
gemeint, der in der Auseinandersetzung mit der Kultur eines Gastlan-<br />
des einsetzt (Informationen zur politischen Bildung, 2000).
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
58<br />
_________________________________________________________<br />
6.5.3. Typen des Wandels kultureller Identität<br />
Integrationsprozesse werden nicht nur von der Aufnahmegesellschaft<br />
bestimmt, Integrationserfolge oder -misserfolge sind im hohen Maße<br />
auch von den persönlichen Faktoren der Migranten abhängig. Bochner<br />
(in: Thomas, 1992 S.179f) unterscheidet vier Typen des Wandels kultu-<br />
reller Identität.<br />
Zum einen ist es der Assimilationstyp. Dieser sympathisiert stark mit<br />
den Werten und Normen der Fremdkultur. Bei Vergleichen mit der Hei-<br />
matkultur glorifiziert er die Fremdkultur. Er lehnt die Heimatkultur radikal<br />
ab. Durch den Verlust der eigenen kulturellen Identität wird bei ihm eine<br />
Reintegration in die Heimatkultur besonders problematisch.<br />
Genau das Gegenteil ist bei dem Kontrasttyp der Fall, da er die fremde<br />
Kultur radikal ablehnt. Wegen der Probleme, auf die er im Gastland<br />
stößt, hält er die eigene Kultur für überlegen. Er legt besonders viel<br />
Wert auf die Pflege der eigenen Kultur, wodurch eine Anpassung un-<br />
möglich wird. Bei der Lösung von Aufgaben in Teamarbeit mit Einhei-<br />
mischen wird er deshalb zum Störfaktor.<br />
Der Grenztyp erkennt, dass beide Kulturen Träger bedeutungsvoller<br />
Werte und Normen sind. Er versucht aber herauszufinden, welche Kul-<br />
tur generell die bessere ist. Dadurch verstrickt er sich in Widersprüche,<br />
da es auf diese Frage keine richtige Antwort gibt. Dadurch kann es zu<br />
einem Identifikationskonflikt kommen. Aber auch die Entwicklung zum<br />
Synthesetyp ist möglich.<br />
Im Unterschied zum Grenztyp kann der Synthesetyp die für ihn bedeut-<br />
samen Elemente der Fremdkultur in seine Denk- und Handlungsweisen<br />
integrieren. Somit besteht für ihn die Möglichkeit, in Abhängigkeit von<br />
der Umweltsituation aus verschiedenen Kulturen stammende alternative<br />
Ansätze für die Lösung von Problemen zu verwenden. Dadurch gewinnt<br />
der Synthesetyp einen starken Vorteil gegenüber anderen Angehörigen<br />
seiner Heimatkultur. Auch auf gesellschaftlicher Ebene ergeben sich<br />
Vorteile aus der Chance zur interkulturellen Verständigung.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
59<br />
_________________________________________________________<br />
Wie entstehen diese unterschiedliche Formen der kulturellen Identität?<br />
Folgende Abbildung zeigt die Einflussfaktoren, die auf die Identität ein-<br />
wirken.<br />
Abb. 4 Veränderungstypen kultureller Identität<br />
(Bochner in:Thomas, 1992)<br />
Es ist eine grobe Einteilung, die nicht auf alle Migranten problemlos ü-<br />
bertragbar ist. Sicherlich gibt es Migranten, die nicht ganz klar einem<br />
bestimmten Typ zuzuordnen sind. Es ist auch zu bemerken, dass die<br />
Typen nicht statisch sind. Jede Identität ist den Einflüssen aus der Um-<br />
welt/Gesellschaft ausgesetzt und kann sich aufgrund von gemachten<br />
Erfahrungen und Schlüsselerlebnissen wandeln. So kann ich mir vor-
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
60<br />
_________________________________________________________<br />
stellen, dass der Kontrasttyp positive Erfahrungen mit der Aufnahmekul-<br />
tur macht und seine Überzeugungen überdenkt, der Kontrasttyp entwi-<br />
ckelt sich möglicherweise nach seinen positiven Erlebnissen zu einem<br />
Grenztyp, oder auch zu einem Synthesetyp. Es wäre auch eine Ent-<br />
wicklung in Richtung eines Assimilationstypen denkbar.<br />
Unterschiedliche Individuen nehmen unterschiedliche Integrationswege.<br />
Strobl und Kühnel präsentieren ein Modell, in dem sie 4 spezifische In-<br />
tegrationsformen unterscheiden. In ihrem Modell machen sie die Integ-<br />
ration von zwei Faktoren abhängig: zum einen von der Handlungsorien-<br />
tierung des Migranten (entweder individualistisch oder kollektivistisch)<br />
und zum anderen von den Teilhabechancen (gut oder schlecht).<br />
Abb. 5 Formen der Integration in die Aufnahmegesellschaft<br />
(Strobl, 2000 S.56)<br />
Chancen sozialer Teil-<br />
habe<br />
individualistisch<br />
gut Assimilation<br />
schlecht Exklusion<br />
kollektivistisch<br />
Inklusion<br />
Separation<br />
Von Assimilation spricht man laut diesem Modell bei einer individualisti-<br />
schen Handlungsorientierung und guten Teilhabechancen. Diese würde<br />
auf den Assimilationstypen aus dem Modell von Bochner zutreffen. In-<br />
klusion bedeutet Teilhabe an der Gesellschaft mit kollektivistischer Ori-<br />
entierung, was bedeuten würde, dass eine große kulturelle Differenz<br />
bestehen würde, weil die Werte und Normen der Herkunftsgesellschaft<br />
im Vordergrund stünden. Im Falle einer individualistischen Orientierung<br />
ohne richtigen Zugang zu den zentralen gesellschaftlichen Teilberei-<br />
chen kann es zu der Exklusion kommen. Die fehlende Teilhabe an der<br />
Gesellschaft zieht weitere Ausgrenzungsprozesse nach sich. Die Sepa-<br />
ration entsteht durch die kollektivistische Handlungsorientierung, also<br />
einer starken Orientierung an den Werten der Herkunftsgesellschaft,
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
61<br />
_________________________________________________________<br />
und einer schlechten Teilhabe an den wichtigen gesellschaftlichen Teil-<br />
bereichen.<br />
Ein weiteres populäres Akkulturatonsmodell wurde 1980 von Berry<br />
(Thomas, 1996 S. 445) entworfen. Berry beschreibt die akkulturativen<br />
Prozesse anhand zweier Entscheidungsbereiche: 1. Kontakt zur Her-<br />
kunftskultur und 2. Kontakt zur Aufnahmekultur. Aus deren Kombination<br />
ergeben sich vier Akkulturationsstile: Marginalisierung, Separierung<br />
(Segregation), Integration und Assimilation.<br />
Marginalisierung bedeutet, dass sowohl zu der Herkunfts- als auch zu<br />
der Aufnahmegruppe keinerlei Kontakte bestehen.<br />
Separierung bedeutet, dass nur Kontakte zu der Herkunftsgruppe be-<br />
stehen, jedoch nicht zu den Einheimischen.<br />
Die Integration bedeutet eine Synthese zwischen Elementen der Her-<br />
kunfts- und der Aufnahmekultur.<br />
Die Assimilation beinhaltet eine völlige Hinwendung zur Aufnahmekultur<br />
(Thomas, 1996 S. 445f).<br />
Das Modell von Strobl und Kühnel ist zeitlich gesehen aktueller und<br />
unterscheidet sich in dem gewählten Aspekt der Integration. Sie defi-<br />
nierten zwei Handlungstendenzen (individualistisch und kollektivistisch),<br />
nach denen sie den Integrationsverlauf richteten. Berrys Modell beinhal-<br />
tet ebenfalls vier Dimensionen, die jedoch keine bestimmte Handlungs-<br />
orientierung voraussetzen. Die Akkulturationsergebnisse unterscheiden<br />
sich im Allgemeinen laut Berrys Modell in der Hinwendung oder Ableh-<br />
nung der eigenen Kultur.<br />
Würde man die beiden Modelle übereinander legen, würden sich in der<br />
Begrifflichkeit folgende Zuordnungen ergeben.<br />
Abb. 6 Gegenüberstellung der Integrationsmodelle Berry/Strobl und Kühnel<br />
Berry Strobl/Kühnel<br />
Marginalisierung Exklusion<br />
Separierung Separation<br />
Integration Inklusion<br />
Assimilation Assimilation
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
62<br />
_________________________________________________________<br />
Auch bei diesen Schemata handelt es sich um eine grobe theoretische<br />
Einteilung. Wie bei der kulturellen Identitätstypisierung muss man dar-<br />
auf achten, dass man hier nicht den Fehler der Verallgemeinerung be-<br />
geht.<br />
Des Weiteren finde ich es problematisch die „Akkulturationsstile“ ledig-<br />
lich auf der Seite der Migranten zu suchen. Die „Wahl“ der Bewälti-<br />
gungsstrategien ist nicht nur abhängig von sozialen Faktoren und per-<br />
sönlichen biologischen Prädispositionen der Migranten, sondern auch<br />
von den Dispositionsspielräumen, die die Aufnahmegesellschaft bietet.<br />
Dieses könnte eine dritte Dimension darstellen, die Einwirkungen auf<br />
die Akkulturationsprozesse nimmt.<br />
Der Integrationsbegriff und das Integrationsmodell sollen den Rahmen<br />
aufzeigen in dem die Besonderheit der Lebensweise der Aussiedler<br />
aber auch anderer Migranten erklärbar gemacht werden kann. Es soll<br />
verdeutlicht werden welche möglichen Wege die Integration gehen<br />
kann und wohin sie führen kann. Die Betonung liegt auf kann, denn die<br />
Einflüsse, die auf die Integration einwirken sind so komplex, dass eine<br />
Integrationsform mir in diesem Sinne unvorhersehbar erscheint. Das<br />
„Sich einleben“ in eine neue Gesellschaft und eine neue Kultur kann<br />
durch traumatische Erlebnisse gestört oder durch freudige Erfahrungen<br />
gefördert werden und eine solche Wende im Leben kommt meist un-<br />
vorhersehbar.<br />
Aus der Akkulturationsforschung geht hervor, dass es eine Vielzahl an<br />
äußeren Bedingungen geben kann, die für die Bewertung von interkul-<br />
turellen Situationen entscheidend sein können. Die Freiwilligkeit der<br />
Kontaktaufnahme, Dauer und Intensität des Kontaktes, Status der be-<br />
teiligten Individuen (sozialer Status, Beruf, Bildung etc.) und Einstellung<br />
zum Akkulturationsziel entscheiden darüber, ob sich aus diesem inter-<br />
kulturellen Kontakt eine Problemsituation entwickelt (Krewer in: Tho-<br />
mas, 1996 S. 153).
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
63<br />
_________________________________________________________<br />
6.6. Zusammenfassung des 6. Kapitels<br />
Die vielfältigen Faktoren, die auf die Sozialisation in der Familie der<br />
Spätaussiedler Einfluss nehmen, sind sehr komplex und für einen Au-<br />
ßenstehenden, der in dieser Thematik ein Neuling ist, schwer zu über-<br />
schauen. Ich habe mich deshalb für das Erstellen eines Schaubildes<br />
entschieden, welches die wichtigen Eckpunkte der spezifischen Pro-<br />
zesse, die nach der Aussiedlung aus Russland in einer Familie statt<br />
finden, visualisieren soll. Das Schaubild fasst das Kapitel über die Fa-<br />
miliensozialisation der Spätaussiedler zusammen und kann als eine<br />
Gedächtnisstütze für die folgenden Ausführungen dienen.
Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
64<br />
_________________________________________________________<br />
Abb. 7 Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
7. Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
Sowohl die Familie als auch die Schule sind die wichtigsten Träger der<br />
Sozialisationsprozesse in der infantilen Phase und der nachfolgenden<br />
Adoleszenzphase. Welchen Rahmen zur Sozialisierung die Familie<br />
nach der Aussiedlung nach Deutschland erhält, wurde in dem vorigen<br />
Kapitel dargestellt.
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
65<br />
_________________________________________________________<br />
Nun soll das neue Schulleben der jungen Spätaussiedler genau be-<br />
trachtet werden. Das Schulleben und das Leben in der Familie sind un-<br />
zertrennlich miteinander verbunden und so ist es zu erwarten, dass<br />
auch im Schulleben ein Einbruch stattfindet und dieser vielen mehr oder<br />
weniger unüberwindbare Hindernisse bereitet.<br />
7.1. Schulspezifik in Russland<br />
Bevor man die Sozialisationsbesonderheiten der Spätaussiedler in den<br />
deutschen Schulen beleuchtet, ist der Einblick in das russische Schul-<br />
system von großer Bedeutung.<br />
Das Schulsystem in Russland ist nicht eins zu eins auf das deutsche<br />
übertragbar.<br />
Das Bildungssystem baut auf der vierstufigen Grundschule und der sich<br />
daran anschließenden allgemeinen Mittelschule (oder speziale Mittel-<br />
schule mit erweitertem Unterricht in bestimmten Fächern, zum Beispiel<br />
naturwissenschaftliche Mittelschule), die nach der elften Klasse ab-<br />
schließt. Nach neun Jahren ist ein Abschluss möglich, der den Besuch<br />
von beruflichen Schulen und Technika erlaubt. Dieser Abschluss wird in<br />
Deutschland als der „un<strong>vollständige</strong> Abschluss“ bezeichnet. Mit der<br />
„un<strong>vollständige</strong>n Mittelschulbildung“ ist ein Besuch von beruflich – tech-<br />
nischen Schulen und Technika möglich, nach deren Abschluss die Be-<br />
triebe für die praktische Einarbeitung sorgen. Keine dieser beruflichen<br />
Ausbildungsgänge sind jedoch mit dem deutschen dualen Ausbildungs-<br />
system vergleichbar.<br />
Der „<strong>vollständige</strong>“ Mittelschulabschluss erlaubt den Besuch von Hoch-<br />
schulen und Universitäten, jedoch nach einer bestandenen Hochschul-<br />
eingangsprüfung. (Dietz, 1998)
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
66<br />
_________________________________________________________<br />
Abb. 8 Das Bildungssystem in Russland<br />
Grundlegende (un<strong>vollständige</strong>)<br />
Allgemeinbildung<br />
Pflichtschulbildung<br />
5. bis 9. Schuljahr<br />
ab dem 5. Schuljahr: 1 Fremd-<br />
sprache<br />
Abschluss erlaubt Besuch von<br />
beruflich-technischen Schulen<br />
und Technika, nach deren Ab-<br />
schluss die Betriebe für die prak-<br />
tische Einarbeitung sorgen<br />
Kein duales Ausbildungssystem<br />
Vollständige Mittelschulbildung<br />
keine Pflicht<br />
umfasst 9. bis 11. Schuljahr<br />
allgemeine und fachgebundene<br />
Hochschulreife (Abitur) nach<br />
dem 11. Schuljahr<br />
Hochschulstudium möglich<br />
(nach Hochschuleingangsprüfung)<br />
In der postsowjetischen Zeit sind viele private Lyzeen und Gymnasien<br />
entstanden, die auch nach elf Jahren abgeschlossen werden (Dietz,<br />
1996 S. 20). In dieser Arbeit lasse ich jedoch die Privatschulen außen<br />
vor, denn ein durchschnittlicher Aussiedler besuchte in Russland eine<br />
Mittelschule, die teueren Privatschulen sind für die reiche Minderheit in<br />
Russland reserviert (Sutherland, 1999 S. 112).<br />
Es ist üblich in Russland, dass die Grundschule und die Mittelschule<br />
zusammen in einem Gebäude untergebracht sind. Die Kinder bleiben<br />
von der ersten bis zur elften Klasse in einem Klassenverband, wenn sie<br />
mit den Eltern nicht umziehen oder einen Klassenwechsel wünschen<br />
oder eine Klasse wiederholen müssen.<br />
Zu den Lehrmethoden gehören autoritärer Frontalunterricht und weitge-<br />
hend reproduktive Lernformen (Strobl, 2000 S. 32). In Russland domi-<br />
niert nach wie vor das an strickte Vorgaben orientiertes Lernen. Die<br />
Wahrung von Disziplin und Lehrerautorität im Schulunterricht ist selbst-<br />
verständlich, dagegen ist die Eigeninitiative weniger gefragt (Dietz,<br />
1996 S. 67). Die Schulform entspricht der kollektivistisch geprägten Ge-<br />
sellschaftsform.<br />
Barbara Dietz fasst die wesentliche Unterschiede des Vorschul- und<br />
Schulsystems wie folgt zusammen:
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
67<br />
_________________________________________________________<br />
Die Betreuung der Kinder im Vorschulalter ist üblicherweise ganztägig.<br />
Eine institutionelle Betreuung kann von 8 Uhr bis 20 Uhr gewährleistet<br />
werden. Der Tagesablauf ist streng strukturiert und lässt wenig Frei-<br />
raum für Eigeninitiative. Im Vorschulalter werden die Kinder bereits un-<br />
terrichtet. Es werden elementare Fähigkeiten in mathematischen Be-<br />
nennungen, in der Sprachentwicklung, im Lesen/Schreiben, im Malen,<br />
Musik und im Sport erworben. Der Übertritt in die Grundschule erfolgt<br />
mit 6 bzw. 7 Jahren. Hier stehen als Hauptfächer russische Sprache,<br />
Mathematik, Lesen und Naturkunde auf dem Lehrplan.<br />
Trotz der finanziellen Schwierigkeiten (und im Westen kritisch gesehe-<br />
nen „veralteten“ Unterrichtsmethoden) ist die Ausbildung in Russland<br />
und den Nachfolgestaaten Sowjetunions, vor allem im mathematisch-<br />
naturwissenschaftlichen Bereich, im internationalen Maßstab noch im-<br />
mer beachtlich (Dietz, 1999).<br />
Vergleicht man die Lehrbücher der beiden Länder, so fällt der Unter-<br />
schied im mathematischen Bereich deutlich auf. Zum Beispiel: die<br />
Schüler der Mittelschule in Russland behandeln die Themen „Lineare<br />
Funktionen“ oder „Quadratwurzeln“ in der 7. Klasse (Lehrbuch für Al-<br />
gebra 7 Klasse. Alimow, 1996). In Deutschland werden diese Themen<br />
auf dem Gymnasium erst in der 8. Klasse (Lehrbuch für Mathematik 8.<br />
Klasse. Schmid, 2004) behandelt. Ein Unterschied in dem Fach Ma-<br />
thematik zwischen der Mittelschule in Russland und der Hauptschule in<br />
Deutschland dürfte noch größer ausfallen. Ein Grund für diesen Vor-<br />
sprung ist die Unterteilung des Mathematikunterrichts in Russland in<br />
zwei getrennte Fächer in Algebra und Geometrie. In Deutschland sind<br />
die beiden Bereiche zu einem Fach, das als Mathematik bezeichnet<br />
wird, zusammengefasst.<br />
Das Erziehungssystem in der ehemaligen UdSSR konzentrierte sich auf<br />
das Erziehen von Massen, auf Bewusstseinsformung der Jugend, Auto-<br />
rität, Hierarchie, Leistung, Disziplin und auf das systematische Lernen.<br />
Die Schüler aus der ehemaligen UdSSR haben Vorerfahrungen mit der<br />
Internalisierung gesellschaftlicher Werte, die hohe Arbeitsmoral, körper-<br />
liche und geistige Ertüchtigung prämienorientierter Art und systemstabi-
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
68<br />
_________________________________________________________<br />
lisierende Staatsbürgerkunde enthalten. Dieses russische Schulsystem<br />
schafft es in vielen Fällen, dass bei den Schülern nicht die intrinsische<br />
Motivation, sondern politisch-ökonomische Gründe die Leistungen<br />
bestimmen (Kossolapow, 1987 S. 145f).<br />
Die von mir eingesehene Literatur, die sich mit der Integration und So-<br />
zialisation von Aussiedlern beschäftigt, erwähnt nur oberflächlich und<br />
nur in wenigen Sätzen das russische Schulwesen. Sogar die Sozialisa-<br />
tionsforschrin Line Kossolapow, die 758 Seiten der Integration der jun-<br />
gen Aussiedler widmet, hat in ihrem Standardwerk nur etwa eine halbe<br />
Seite Platz, um das russische Schulsystem auf das Allgemeinste ver-<br />
kürzt darzustellen. Die Autoren sind sich einig, dass das erworbene<br />
Wissen und die Abschlüsse nicht genau auf das deutsche Schulsystem<br />
übertragbar sind und darin sehen sie ein Problem. Ich zitiere Strobl und<br />
Kühnel:<br />
„Mit ihren mitgebrachten Qualifikationen entsprechen die Aussiedler weder<br />
den Eingangsvoraussetzungen von Altersgleichen für den Schulbesuch noch<br />
den Abschlüssen und Qualifikationnen, die hierzulande nachgefragt werden.“<br />
(Strobl, 2000 Zitat S. 32)<br />
Nun warum die Übertragung auf das deutsche System nicht unproble-<br />
matisch ist, worin denn die Unterschiede im erworbenen Wissen beste-<br />
hen und was die Schüler in Russland lernen, ist aus „Integrationslitera-<br />
tur“ nicht unbedingt ersichtlich. Dazu soll die Literatur, besonders aus<br />
dem englischsprachigen Raum, die sich spezifisch mit dem Bildungs-<br />
system in Russland beschäftigt mehr Aufschluss bringen.<br />
7.1.1. Bildungsstruktur der Schule in der ehemaligen UdSSR und<br />
Russland<br />
Das russische und das sowjetische Bildungssystem wurde in Abhän-<br />
gigkeit von der politischen Situation, in Abhängigkeit von der regieren-
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
69<br />
_________________________________________________________<br />
den Macht an die herrschenden Ideale angepasst und immer wieder<br />
reformiert.<br />
Nach Brezhnevs Tod (1982) waren die Probleme in dem sowjetischen<br />
Bildungssystem enorm: überladene Lehrpläne, überladene Lehrbücher,<br />
Kürzungen von qualifiziertem Personal in der Vorschule, herunterge-<br />
kommene Schulgebäude und mangelhaftes oder mangelndes schuli-<br />
sches Equipment. Eine offizielle Studie aus dem Jahr 1988 berichtete,<br />
dass 21% der Schüler in der Sowjetunion eine Schule besuchten, die<br />
keine Zentralheizung hatte, 30% der Schüler waren auf einer Schule,<br />
wo die sanitären Anlangen mangelhaft waren oder gar fehlten, 40%<br />
lernten in einer Schule, die kein Kanalisationssystem hatte. Mehr als ein<br />
viertel aller Schüler besuchten die Schule in zwei oder sogar drei<br />
Schichten (erste Schicht von etwa 8:00 Uhr bis 12:00 -14:00 Uhr, die<br />
zweite Schicht von etwa 12:00 Uhr bis 16:00 -18:00 Uhr, die dritte<br />
Schicht etwa von 15:00 oder 16:00 Uhr), da die Räumlichkeiten enorm<br />
überfüllt waren. Die schlechte Bildung der Schüler wurde unterstützt<br />
durch den Missbrauch der Bewertung (für die gute Quote), wobei nahe-<br />
zu alle Schüler die nächste Klasse erreichten, unabhängig davon, ob<br />
die Lernziele erreicht wurden oder nicht (Eklof, 1993 S. 4f).<br />
Die ausgebrannten Lehrer waren gezwungen nach dem überfüllten Cur-<br />
riculum zu unterrichten. Sie unterrichteten zunehmend unmotivierte<br />
Schüler nach den antiquierten Methoden des Frontalunterrichts in über-<br />
füllten Klassenräumen mit mangelhafter Ausstattung. Eine Reform des<br />
kranken Bildungssystems war unumgänglich. In der Regierungszeit von<br />
Konstantin Tschernenko 1984 wurde Mikhail Gorbatschow als Vorsit-<br />
zender der Schulreform – Kommission gewählt (Sutherland, 1999 S.<br />
173).<br />
1985 wurde Gorbatschow zum Regierungschef (General Sekretär der<br />
KPdSU) gewählt und im gleichen Jahr wurde die neue Bildungsreform<br />
verabschiedet (Sutherland, 1999 S. 173).<br />
Gorbatschow brach die alten Strukturen der Wirtschaft und auch der<br />
Bildung. Der Frontalunterricht sollte durch die neue „alte Methode“, die<br />
noch vor der russischen Revolution praktiziert wurde, abgelöst werden.<br />
Die neue Methode soll die Schüler lehren wie man lernt.
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
70<br />
_________________________________________________________<br />
(...) prerevolutionary dream of helping students „learn how to learn“ (…).(Eklof,<br />
1993 Zitat S. 7)<br />
Es sollte der Versuch unternommen werden den Kreis der Misere, in<br />
der sich das sowjetische Bildungssystem befand, zu unterbrechen und<br />
Lösungen für die immer gewaltiger werdenden Probleme zu finden.<br />
Das Schuleintrittsalter sollte von sieben auf sechs Jahre herabgesetzt<br />
werden, um den Kindern ein Extraschuljahr zu geben und damit die<br />
Überlastung und die Überforderung zu verringern. Auf diese Weise soll-<br />
ten die Kinder schon früher aus den Händen der „inkompetenten Kin-<br />
dergarten-Lehrer“, die sich immer mehr zu betreuenden Aufsichtsper-<br />
sonen für die Kinder gewandelt haben, entnommen werden (ebd.).<br />
Die Designer der neuen Reform haben sich überlegt das zusätzliche<br />
Schuljahr am Anfang der Schullaufbahn einzuführen, damit die jungen<br />
Leute schon mit 17 Jahren ihre berufliche Laufbahn starten können und<br />
möglichst früh, für die für den Staat nützlichen Bereiche, arbeiten. Das<br />
Einfügen eines zusätzlichen Schuljahres am Ende der Schullaufbahn<br />
würde das akademische Lernen intensivieren, der Staat brauchte je-<br />
doch verstärkt Handwerker und Arbeiter für die Industrie ohne akade-<br />
mischer Ausbildung. Shturman stellt eine Studie vor, die 1984 in der<br />
„Literaturnaia gazeta“ in Russland publiziert wurde. Die Studie von dem<br />
Wirtschaftswissenschaftler Shokhin fand heraus, dass die manuelle<br />
Arbeit in der Industrie durch die Mechanisierung und Automatisierung<br />
deutlich abgenommen hat (von 54% auf 37% in der Industrie und von<br />
78% auf 58% in der Baubranche). Eine gewaltige Entwicklung. Die Zah-<br />
len irritieren aber, denn die Studie belegt des weiteren, dass die Ge-<br />
samtanzahl an manuellen Arbeitskräften in der Industrie in den letzten<br />
25 Jahren um 25% gestiegen ist. Es sind sogar neue Berufe entstan-<br />
den, die manuelle Arbeit erfordern (Shturman, 1988 S. 227).<br />
Dieser Trend wurde in der neuen Bildungsreform berücksichtigt. Die<br />
Bildungsreform sollte die Berufsschulen und Technika weiter ausbauen,<br />
aber auch schon in der Schule das praktische, handwerkliche Lernen<br />
unterstützen, um folglich den „un<strong>vollständige</strong>n Mittelschulabschluss“<br />
(basic secondary school (Eklof, 1993 S. 151) ) nach der neunten Klasse<br />
attraktiv zu machen (Shturman, 1988 S. 233).
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
71<br />
_________________________________________________________<br />
Weitere Ziele der Reform waren die komplette Überarbeitung des Curri-<br />
culums, die Verbesserung der Lehrerweiterbildungsmaßnahmen und<br />
Neuschreibung der Schulbücher, aber auch Einführung von Computern<br />
im Unterricht und die Neuregelung der Lehrer-Schüler Beziehung<br />
(Eklof, 1993 S. 7). In den nächsten Jahren haben sich die politischen<br />
Ereignisse in dem Staat überschlagen (Perestrojka, Tschernobyl-<br />
Katastrophe, Erdbeben in Armenien) und die Reform fand nur sehr<br />
schleppend ihre praktische Umsetzung. Dennoch fand die Umsetzung<br />
statt und die Reform spiegelte sich in dem neuen Schülerbild wider. Die<br />
Ziele der russischen Schule der neunziger Jahre waren: die Freiheit der<br />
Persönlichkeit, der Individualität und die Mannigfaltigkeit des Indivi-<br />
duums (Sutherland, 1999 S. 112).<br />
Was auch die neue Reform nicht geschafft hat, ist die Schüler zu ent-<br />
lasten. Eine neue Studie belegt, dass die russischen Schüler etwa 25%-<br />
30% mehr in der Schule belastet sind als die Schüler in Europa. („Kom-<br />
somolskaja Prawda“ (russische Tageszeitung), 17.01.2005.)<br />
Viele deutschsprachige Autoren, wie zum Beispiel Barbara Dietz oder<br />
Line Kossolapow beschreiben in ihren Anmerkungen zu der russischen<br />
Schule eher das klassische sowjetische Schulsystem mit der kollektivis-<br />
tischen Haltung im Sinne von Frontalunterricht und Disziplinärmaßnah-<br />
men. Nach der genauen Betrachtung der Literatur aus dem englisch-<br />
sprachigen Raum müsste diese Haltung überholt und veraltet sein. Die<br />
Reform der Bildungsstruktur ist keine neue Entwicklung, sie fand schon<br />
in den achtziger Jahren ihren Anfang. Daher müssten nicht nur die<br />
Spätaussiedler (zur Erinnerung: Aussiedler, die nach dem 31.12.1992<br />
einen Aufnahmebescheid gemäß § 26 BVFG erhalten haben und sich<br />
seit dem 1.1.1993 in der BRD aufhalten, bekommen einen Spätaussied-<br />
lerstatus) sondern sogar die Aussiedler aus Russland (bzw. aus der<br />
ehemaligen UdSSR) ihre Auswirkungen mitbekommen haben.<br />
Strobl und Kühnel weisen auf eine bestimmte Entwicklung in dem russi-<br />
schen Bildungssystem hin:
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
72<br />
_________________________________________________________<br />
„Seit Anfang der neunziger Jahre steigt der Anteil der Schüler unter den ein-<br />
gewanderten Aussiedlern. Gleichzeitig vergrößerte sich die Gruppe derjeni-<br />
gen, die verglichen mit dem Schulsystem in der Bundesrepublik lediglich über<br />
einen Grund- oder Hauptschulabschluss verfügen. Der Anteil der Aussiedler,<br />
die im Herkunftsland eine weiterführende Schule oder eine Hoch- Fachschule<br />
besuchten, ist zurückgegangen und seit Anfang der neunzige Jahre anhaltend<br />
gering.“ (Strobl, 2000 Zitat S. 32)<br />
Die Autoren vermuten, dass hier die Erfahrung mit dem Bildungssystem<br />
im Herkunftsland eine Rolle spielt, denn dort soll die Mittelschulausbil-<br />
dung mit anschließender beruflicher Spezialisierung die Regel sein<br />
(ebd. S. 185).<br />
Neben der wachsenden Marktwirtschaft entstehen vielseitige legale<br />
oder weniger legale Aktivitäten in unterschiedlichen Wirtschaftszwei-<br />
gen. Diese locken mit schnellen Verdienstmöglichkeiten, ohne eine<br />
langjährige und nun auch teuere akademische Ausbildung vorauszu-<br />
setzen. Eine höhere Ausbildung verspricht nicht mehr notwendig besse-<br />
re Entlohnung oder bessere Karrierechancen (Dietz, 1996 S. 22f). Mög-<br />
licherweise kommt noch dazu, dass die jungen Aussiedler in Deutsch-<br />
land eher nach einer beruflichen Ausbildung als nach einem Studium<br />
streben und schon früh ihr eigenes Geld verdienen wollen, da die neue<br />
Bildungsreform in Russland, die die deutschstämmigen Jugendlichen<br />
erlebt haben, gerade dieses forciert hat. Nämlich:<br />
- die Jugendlichen sollen die schulische Ausbildung mit 17 Jahren<br />
abgeschlossen haben,<br />
- die Jugendlichen haben die Möglichkeit nach der 9. Klasse, also<br />
im Alter von 15 Jahren, einen „un<strong>vollständige</strong>n“ Schulabschluss<br />
zu erlangen und eine berufliche Laufbahn zu starten,<br />
- die Schule soll das praktische, handwerkliche Lernen unterstütz-<br />
ten und auf das Berufsleben vorbereiten.<br />
Im folgenden soll eine tabellarische Darstellung die wichtigsten Punkte<br />
des russischen Bildungssystem zusammenfassen.
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
73<br />
_________________________________________________________<br />
Abb. 9 Bildungsinhalte, Unterrichtsform, Erziehungsideale<br />
Bildungsinhalte<br />
Unterrichtsform<br />
Erziehungsideale<br />
Das russische Bildungssystem<br />
Schule als Bildungs- und Erziehungsinstanz<br />
Einheitliche Lehrpläne<br />
Hoher Stellenwert von naturwissenschaftlichen Fä-<br />
chern<br />
Erlernen von mindestens 1 Fremdsprache<br />
orientiertes Lernen an strikten Vorgaben<br />
Lernen an Fakten, Zusammenhängen und deren Re-<br />
produktion<br />
selbstständiges Arbeiten eher zweitrangig<br />
Meist Frontalunterricht: Soziale Lernformen erst in<br />
Ansätzen<br />
Lehrer als Vermittler und Erzieher (Autorität)<br />
Bedeutung der Ordnung<br />
Förderung der Gemeinschaft<br />
7.2. Aufnahme der Spätaussiedler in der deutschen Schule<br />
Die Form der Eingliederung in die Regelschule unterscheidet sich von<br />
Bundesland zu Bundesland. Nordrhein-Westfalen, zum Beispiel, hat<br />
Schwerpunktschulen eingerichtet, an denen in erster Linie Aussiedler-<br />
Kinder unterrichtet werden. Des Weiteren stehen in Deutschland Ta-<br />
gesinternate, Förderklassen, Förderschulinternate und außerschulische<br />
Förderunterrichte den jungen Aussiedlern in Abhängigkeit von dem<br />
Wohnort zur Verfügung. Durch die Kürzungen der Fördermaßnahmen<br />
hat sich allerdings das Angebot zur schulischen Integration beträchtlich<br />
verringert. Viele Förderschulinternate oder Tagesinternate mussten<br />
schließen, weil die hohen Kosten nicht mehr getragen werden konnten.<br />
Förderschulinternate bieten eine ganztägige Betreuung mit einer hohen<br />
Stundenzahl an Deutschunterricht, vielseitige sozial integrative Aktivitä-
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
74<br />
_________________________________________________________<br />
ten. Tagesinternate betreuen die Kinder und Jugendlichen in den<br />
Nachmittagsstunden und beinhalten Sprach- und Nachhilfeunterricht<br />
sowie sozialpädagogische Hilfen (Dietz, 1996 S. 60f).<br />
Um die Eingliederung in der Regelschule zu erleichtern, werden die<br />
Aussiedlerjugendlichen in der Regel zurückgestuft. Dieses bedeutet in<br />
vielen Fällen eine enorme psychische Belastung für die jugendlichen<br />
Aussiedler. Ein Jugendlicher, zum Beispiel, der in Russland die 10<br />
Klasse besuchte kommt nach Deutschland und wird aufgrund von<br />
Sprachschwierigkeiten und fehlender oder mangelnder Kenntnisse in<br />
der ersten Fremdsprache, wie Englisch oder Französisch, in die neunte<br />
oder gar in die achte Klasse zurückgestuft (ebd. S. 60).<br />
Dass die Kenntnisse der ersten Fremdsprache fehlen, liegt vermutlich<br />
daran, dass die deutschstämmigen Jugendlichen Deutsch als ihre erste<br />
Fremdsprache wählen, weil sie die Sprache als Dialekt von ihren Groß-<br />
eltern kennen oder weil sie sich als Deutsche ihrer Kultur angehörig<br />
fühlen und diese Sprache erlernen möchten. Wenn die Jugendlichen<br />
Deutsch als Fremdsprache gewählt haben, muss es nicht heißen, dass<br />
sie gute Kenntnisse in der deutschen Sprache besitzen, wenn sie nach<br />
Deutschland kommen. Durch die Einschränkungen der Reisemöglich-<br />
keiten unter dem sowjetischen Regime blieb das Erlernen der Fremd-<br />
sprachen in der Schule auch für die Lehrer ohne praktischen Bezug.<br />
Die Fremdsprachen- Lehr- und Lernmittel in Russland sind oft veraltet<br />
und viele kompetente Deutschlehrer sind nach Deutschland ausgereist<br />
oder haben den Beruf aus finanziellen Gründen (z.B. als ÜbersetzerIn)<br />
gewechselt (Dietz, 1999 S.18f).<br />
7.3. Besonderheiten und Probleme in der schulischen Sozialisation<br />
bei den Spätaussiedlern<br />
Für die Jugendlichen in dieser Lebensphase sind ein bis drei Jahre Al-<br />
tersunterschied viel zu groß, um sich in der Klasse wohl zu fühlen oder<br />
gleichwertige Freundschaften unter den Klassenkameraden zu bilden<br />
(Dietz, 1996 S. 60). Laut diesem Beispiel ist dieser Jugendliche 16 Jah-
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
75<br />
_________________________________________________________<br />
re alt und kommt in die neunte oder gar achte Klasse, wo Schüler ge-<br />
wöhnlich 15 oder 14 Jahre alt sind. Es ist anzunehmen, dass die ju-<br />
gendlichen Aussiedler keinerlei Interesse haben mit den jüngeren Klas-<br />
senkameraden ihre Freizeit zu gestalten. In diesem Alter der Pubertät<br />
streben die Jugendlichen nach Vorbildern, nach Beziehungen mit den<br />
Älteren. Ein Mädchen, das 16 Jahre alt ist, ist von der Entwicklung her<br />
einem Jungen, der erst 14 Jahre alt ist, weit voraus. Es ist zu erwarten,<br />
dass die Aussiedler, die zurückgestuft wurden, mit Minderwertigkeitsge-<br />
fühlen zu kämpfen haben („man ist im Kindergarten gelandet“), vor al-<br />
lem, wenn sie die deutsche Sprache noch nicht beherrschen und keine<br />
Gleichgesinnten - ebenfalls gleichaltrigen Aussiedler aus dem gleichen<br />
Land - in ihrer Klasse haben.<br />
Gerade ausgereist aus einem kollektivistisch geprägten Land, sind die<br />
meisten Aussiedler nicht in der Lage die Entscheidungen der Behörden<br />
oder im Allgemeinen der Einheimischen zu kritisieren oder diesen zu<br />
widersprechen. Die Divise der Ostblockstaaten vor den großen politi-<br />
schen Veränderungen hieß: „die da oben“ sind für das Denken zustän-<br />
dig, „die da unten“ haben es stillschweigend auszuführen“. Proteste<br />
gegen die Staatsmacht wurden hart bestraft, das hat sich bei den meis-<br />
ten Sowjetbürgern tief in die Erziehung eingebrannt.<br />
„Mitschwimmen, alles aushalten, sich nicht aufbäumen, eher resignieren, nach<br />
dem Motto „Da kann man sowieso nichts machen“(..), vor sich hin leben, sich<br />
arrangieren und dem Leben ein wenig Freude erkämpfen, damit der Alltag<br />
erträglicher wurde – das war die Wirklichkeit der meisten Bürger.“ (Treder,<br />
1997 Zitat S.1)<br />
In Deutschland angekommen ist die kollektivistische Tracht nicht so<br />
einfach und auch nicht so schnell abzulegen. Die Menschen ducken<br />
sich und schwimmen weiter mit. Weil sie es nicht anders gelernt haben<br />
und weil sie sich erst einen „Raum“ für individuelle Entfaltung erschaf-<br />
fen müssen. Einen „Raum“ im bildlichen Sinne, womit gemeint ist, dass<br />
die Aussiedler einfach zu sehr mit Behördengängen, mit bürokratischen<br />
Pflichten und - nicht zu vergessen – mit den enormen Sprachschwierig-<br />
keiten beschäftigt sind, dass die Gedanken nur darum kreisen, “wie
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
76<br />
_________________________________________________________<br />
werde ich den nächsten Tag bewältigen.“ Mit dem „Raum“ für die indivi-<br />
duelle Entfaltung ist auch der Raum im wörtlichen Sinne gemeint, denn<br />
auch in diesem Sinn erfahren die neuen Bürger, zumindest in den ers-<br />
ten Monaten nach ihrer Ankunft in Deutschland, enge Grenzen, die an<br />
das Existenzielle zu denken zwingen.<br />
Da die Eltern vor allem in den ersten Jahren nach der Migration damit<br />
beschäftigt sind ihre eigene Identität und Stellung in der neuen Gesell-<br />
schaft zu finden, stellen sie die Entscheidungen der Behörden und öf-<br />
fentlichen Institutionen nicht in Frage. Unabhängig von den Schulleis-<br />
tungen im Heimatland, werden die meisten Aussiedlerjugendlichen zu-<br />
erst in einer Hauptschule aufgenommen und eine oder zwei Klassen<br />
zurückgestuft.<br />
Der Grund dafür, dass die meisten Aussiedlerkinder oder -jugendlichen<br />
eine Grund- oder Hauptschule besuchen, ist zum einen das Alter und<br />
sind zum anderen Sprachfördermaßnahmen, die nur an den Haupt-<br />
schulen mehr oder weniger intensiv ausgebaut sind. An den Realschu-<br />
len und Gymnasien fehlen diese Maßnahmen fast völlig (Bahlmann,<br />
2000 S. 90).<br />
Die Kinder und Jugendlichen aus Russland bekommen Deutsch-<br />
Förderunterricht und besuchen den regulären Unterricht mit den ein-<br />
heimischen Schülern. Die Kinder sind untergebracht, versorgt und be-<br />
schäftigt. Das Problem ist allerdings, dass sich die Eltern nicht in dem<br />
deutschen Bildungssystem auskennen.<br />
Sie haben zwar eine hohe Bildungsaspiration, ihnen fehlen jedoch In-<br />
formationen und Strategien für den Zugang zu den bestimmten Instituti-<br />
onen, um die Partizipationsmöglichkeiten voll ausschöpfen zu können<br />
(Mies-van Engelshoven, 2002 S. 19).<br />
Die Aussiedler werden entweder nicht aufgeklärt oder wegen der<br />
schlicht und einfachen Überladung an neuen Informationen und Rege-<br />
lungen verstehen sie das deutsche Schulsystem nicht. Denn in Russ-<br />
land ist die populärste Schulform immer noch die allgemeinbildende<br />
Mittelschule, von der ersten bis zur elften Klasse. Die Aussiedler über-<br />
geben ihre Kinder mit gutem Gewissen in die Hände der schulischen<br />
Institution, ohne Imstande zu sein für die eigenen Kinder eine Zukunft
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
77<br />
_________________________________________________________<br />
zu planen. Demnach ist das nicht verwunderlich, dass 24% (ebd. S.18)<br />
(bei den Einheimischen sind es 9% (ebd.)) der Aussiedler eine Haupt-<br />
schule besuchen, weil sie dort zuerst aufgenommen werden und dort<br />
auch stecken bleiben. Weitere Aufteilung ist wie folgt:<br />
Abb. 10 Verteilung auf die Schulformen<br />
(Mies-van Engelshoven, 2002)<br />
Wenn die Lehrer es versäumen, die fleißigen Schüler zu ermutigen die<br />
Schulform möglichst schnell zu wechseln und die Schüler auf diesen<br />
Wechsel auch vorzubereiten, wird es den Eltern im Alleingang mögli-<br />
cherweise sehr schwer fallen den Überblick über die möglichen Per-<br />
spektiven für ihre Kinder zu behalten.<br />
Die Jugendlichen haben nicht nur einen Ortswechsel hinter sich, sie<br />
haben ihre Heimat verlassen, die ihre Freunde, ihre Vergangenheit, ihre<br />
Vorstellungen für die Zukunft behalten hat. Nach diesem enormen psy-<br />
chischen Stress ist es kaum möglich für einen Jugendlichen sich aus<br />
eigenen Kräften sich für einen erneuten Schulwechsel zu entscheiden.<br />
Der Schulwechsel ist nach einer kurzen Zeit in Deutschland schwierig,
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
78<br />
_________________________________________________________<br />
da Aufklärung über die Schulformen und die Energie dafür oft fehlen.<br />
Der Schulwechsel zu einem späteren Zeitpunkt ist ebenfalls nicht un-<br />
problematisch, da die ersten Kontakte und Freundschaften bereits be-<br />
stehen und man sich möglicherweise eine Umgebung geschaffen hat,<br />
in der man sich wohl fühlt, was sehr wertvoll sein kann, um die Migrati-<br />
onstrapazen zu überwinden.<br />
Es ist davon auszugehen, dass viele Aussiedlerschüler, die mit ausge-<br />
zeichneten Zeugnissen nach Deutschland gekommen waren, letztend-<br />
lich in Deutschland „nur“ einen Hauptschulabschluss erworben konnten.<br />
Wie kann es dazu kommen?<br />
Das Lernen fällt diesen Schülern in der Hauptschule einfacher, (als in<br />
Russland, da der Lehrplan in Russland sehr viel kompakter ist und in<br />
den Fächern wie z. B. Mathematik und Physik die Schüler in Russland<br />
den Gleichaltrigen hierzulande um Jahren voraus sind) sie bekommen<br />
gute Noten und besuchen die Deutschförderkurse.<br />
Aussiedlerkinder und –jugendliche sehen es in dem deutschen Schulall-<br />
tag als positiv an, nicht so viel lernen zu müssen, weniger Hausaufga-<br />
ben zu haben und eine lockere Stimmung in der Schule zu erfahren<br />
(Dietz, 1999 S. 38). Das ist für viele eine Motivation auf der Hauptschu-<br />
le zu bleiben, denn unwissentlich herrscht oftmals die Einstellung: lieber<br />
gute Noten auf der Hauptschule, als schlechte Noten auf der Realschu-<br />
le oder auf dem Gymnasium.<br />
Aussiedlerjugendliche schrecken auch vor der längeren Ausbildungszeit<br />
zurück (Dietz, 1996 S. 63), die sich ja dazu noch um ein oder zwei Jah-<br />
re verlängert, weil sie in der Regel aufgrund der fehlenden Kenntnisse<br />
in Deutsch und der ersten Fremdsprache zurückgestuft werden muss-<br />
ten. Wenn sie in Russland mit 17 Jahren schon die Hochschulreife er-<br />
werben konnten, so müssen die Aussiedler hier in Deutschland damit<br />
rechnen, dass sie erst mit 20-21 Jahren die Hochschulreife in der Ta-<br />
sche haben. Das ist ein großer Unterschied und kostet enorme Über-<br />
windung bei den Jugendlichen, deren gleichaltrige Freunde in Russland<br />
mit 21 Jahren schon ein Medizinstudium absolviert haben.
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
79<br />
_________________________________________________________<br />
Des weiteren wollen viele Aussiedlerjugendliche schnell eigenes Geld<br />
verdienen, um das Familienbudget zu entlasten (Dietz, 1996 S. 63).<br />
Viele Jugendliche (unabhängig von der Herkunft) sind in dem Alter, in<br />
dem sie ihren Schulabschluss machen, also mit 16-18 Jahren, nicht in<br />
der Lage eigene Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Oftmals ist es den<br />
Jugendlichen wichtiger, Freunde in der Schule zu treffen und nicht zu<br />
viele Hausaufgaben zu haben. In diesem Alter ist es immer noch sehr<br />
wichtig, dass die Eltern hilfestellend und beratend beiseite stehen. Die<br />
Eltern der Migranten brauchen jedoch in sehr vielen Fällen selbst Helfer<br />
und Berater an ihrer Seite.<br />
Aus allen diesen Gründen scheint die Schullaufbahn der Aussiedlerju-<br />
gendlichen vorbestimmt: im Allgemeinen erwerben sie den Hauptschul-<br />
abschluss.<br />
Durch die Unterschiede im mitgebrachten Erziehungsstil und Unter-<br />
richtserfahrungen werden die Aussiedlerschüler in ihrem Verhalten von<br />
den Schülern und den Lehrern als irritierend erlebt (Giest-Warsewa,<br />
1999). Die Missverständnisse zwischen Alter und Klassenstufen sowie<br />
mangelnde Deutschkenntnisse lösen gravierende Integrationsprobleme<br />
aus, die von Verweigerungshaltungen, Motivationsverlusten, Isolations-<br />
erscheinungen, Aggressivität und Verhaltensstörungen begleitet wer-<br />
den. Die Schulabschlüsse werden dann entweder gar nicht oder unter-<br />
halb der möglichen Leistungsfähigkeit erreicht (Dietz, 1996 S. 64).<br />
Nach Berichten von Aussiedlerjugendlichen werden sie im Klassenver-<br />
band häufig ignoriert, ein Interesse an ihrem Schicksal und ihrer Heimat<br />
besteht nicht, obwohl weder die Schüler noch die Lehrer Informationen<br />
über die Aussiedlergruppe und über ihre Erfahrungs- und Hintergrund-<br />
geschichte haben (ebd. S. 67).<br />
7.3.1. Integration und Konsum<br />
Durch die eingeschränkten finanziellen Ressourcen während der Ar-<br />
beitslosigkeit ist die Versorgung der Kinder auf das Nötigste begrenzt.<br />
Für Kinderkleidung und die Schulsachen fallen jedoch kontinuierlich
Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />
80<br />
_________________________________________________________<br />
hohe Kosten an. Gleichzeitig stehen die Kinder und Jugendlichen unter<br />
dem Anpassungs- und Konsumdruck, der seitens einheimischer Bevöl-<br />
kerung erzeugt wird. Durch ihre äußerliche Erscheinung wollen die jun-<br />
gen Aussiedler sich der einheimischen Bevölkerung anpassen und den<br />
üblichen Stigmatisierungen entfliehen. Sie stehen demnach unter Druck<br />
überteuerte Markenartikel zu konsumieren und das stellt die Eltern vor<br />
enorme finanzielle Herausforderungen. Die Aussiedler, die die deutsche<br />
Sprache noch nicht ausreichend beherrschen sind nicht in der Lage<br />
sich kommunikativ gegen die materiell begründete Übergriffe zu weh-<br />
ren.<br />
Die Eltern leiden ebenfalls unter dem Konsumdruck, der bei ihnen das<br />
Gefühl erzeugt, den Eingliederungsprozess der Kinder nicht optimal<br />
unterstützen zu können (Schafer, 1995 S. 82).<br />
Die Teilhabe an der Gesellschaft begünstigt den Verlauf der Integration.<br />
Dadurch werden Kontakte zu den Einheimischen hergestellt und die<br />
neue Kultur erfahren. Nur sind oft zwischenmenschliche Kontakte mit<br />
finanziellen Ausgaben verbunden (ebd. S.83). Die Jugendlichen gehen<br />
oft ins Kino oder nehmen an organisierten Ausflügen und Fahrten teil.<br />
Kostenlos kann man nur spazieren gehen. Mehr oder weniger unfreiwil-<br />
lig müssen sich die jungen Aussiedler isolieren oder sie schlittern ab in<br />
die Kriminalität, in der sie noch eine Chance in der Gesellschaft sehen,<br />
bevor ihnen die Gesellschaft die Freiheit nimmt.<br />
8. Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
8.1. Identitätskrise<br />
Von Aussiedlern oder Spätaussiedlern wird gar nicht gesprochen, es<br />
sind „die Russen“ oder allgemein „die Ausländer“, die Scharenweise<br />
nach Deutschland kommen und die Arbeitsplätze wegnehmen oder<br />
„den ehrlichen Deutschen“ auf der Tasche liegen, weil sie von der Sozi-<br />
alhilfe leben. Nicht mal übertrieben, sondern so oder so ähnlich ist lei-<br />
der die Meinung der Allgemeinheit der in Deutschland geborenen Bun-<br />
desbürger über die spezifische Gruppe der Aussiedler oder der Spät-
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
81<br />
_________________________________________________________<br />
aussiedler. Ich unterstelle diesen Leuten keine Dummheit, sondern der<br />
Gesellschaft, die Unfähigkeit sich selbst zu informieren, oder Wege zu<br />
finden die anderen nicht im Unwissen zu lassen. Denn diese Unwis-<br />
senheit erzeugt einen Teufelskreis aus Feindschaften und Ängsten ge-<br />
genüber den „Fremden Verwandten“.<br />
Die Einstellungen, wer auf der Strasse Russisch spricht, ist ein Russe,<br />
oder wer in Russland geboren ist, muss ein Russe sein, oder wer einen<br />
russischen Vor- oder Nachnahmen trägt und dann noch mit Akzent<br />
Deutsch spricht, ist ein Russe, sind weit verbreitet. An dieser Stelle<br />
möchte ich an den Leser appellieren, die eigenen Stigmata zu überprü-<br />
fen.<br />
Diese Ausgrenzung und Vorverurteilung machen es den Aussiedlern<br />
unmöglich sich der neuen Kultur zu öffnen und sich motiviert zu integ-<br />
rieren, mehr noch: sie machen die Aussiedler krank.<br />
Wohl die meisten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die mit ei-<br />
nem Aussiedler- oder Spätaussiedlerstatus nach Deutschland gekom-<br />
men sind, haben es erlebt als „Russe“ bezeichnet zu werden. Es ist im<br />
üblichen Sinne kein Schimpfwort, als „Russe“ bezeichnet zu werden, es<br />
ist eine Volkszugehörigkeit, eine Nationalität, wie tausend andere. Was<br />
jedoch vielen in Deutschland geborenen Bundesbürgern schwer fällt zu<br />
verstehen ist, dass sich die Aussiedler ihr ganzes Leben lang auf ihre<br />
deutsche Identität beziehen und ihr Deutschtum gegenüber anderen<br />
Ethnien (ob in Russland, Ukraine, Kasachstan, Usbekistan o.a.) ihr Le-<br />
ben lang verteidigt haben. Das Motiv „als Deutsche unter Deutschen<br />
sein“ steht bei der Ausreiseentscheidung auch ganz oben auf der<br />
Wunschliste. Auch die Kinder tragen in sich mit der Sozialisation durch<br />
ihre Eltern, Großeltern und Verwandten das Kollektivschicksal aus<br />
Flucht und Vertreibung (Bahlmann, 2000 S. 19).<br />
„Vieles hatten die Sowjets den Deutschen weggenommen, außer eins: ihre<br />
Sehnsucht nach der Heimat. Das Unrecht, das ihnen angetan wurde, schreit<br />
heute noch zum Himmel. Sie haben ihr Willkommensein in unserem Land<br />
längst und hart „verdient“. (...) Sie haben ihr Ziel erreicht: sie sind in Deutsch-<br />
land und unter den Deutschen. Doch endlich im Land der elterlichen Träume<br />
angelangt, erleben sich fremd in einer völlig anderer Welt. Sie werden mit
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
82<br />
_________________________________________________________<br />
Problemen konfrontiert, die eine Migration mit sich bringt, auf die sie gar nicht<br />
vorbereitet sind. Das Schlimmste, womit sie gar nicht gerechnet hatten ist,<br />
dass sie hier „Russen“ genannt werden.“ (Treder, 1997 Zitat S. 4-5)<br />
Dieses Phänomen erschüttert den ohnehin schon wackeligen Boden<br />
der Identität vieler Aussiedler. Ihnen wird der Positivismus und Opti-<br />
mismus, mit dem sie nach Deutschland kommen, geraubt. Die jüngeren<br />
und die erwachsenen Aussiedler erleben daraufhin einen Identitäts-<br />
bruch (Bahlmann, 2000 S. 31). 5<br />
Dies sind Zitate junger Aussiedlerinnen:<br />
„Aber dort war ich stolz, dass ich eine Deutsche bin. Hier weiß ich selbst nicht,<br />
bin ich Deutsche oder Russin, ich weiß es nicht, denn keiner glaubt, dass ich<br />
deutsch bin. In Russland war ich richtig stolz, deutsch zu sein. Hier bin ich<br />
ängstlich und schüchtern.“<br />
„Ob ich Russin bin oder Deutsche? Ich bin nichts. Ich bin ein leeres Blatt.“<br />
(ebd. Zitate S. 31)<br />
Was die Eltern den Kindern und Jugendlichen vorgelebt haben wird in<br />
der neuen Heimat plötzlich in Frage gestellt. Es kommt zu einer Diskre-<br />
panz zwischen der Selbst- und der Fremddefinition (ebd.). Die Identität,<br />
also die Kontinuität des Selbsterlebens (ebd.), wird gespaltet. In eine<br />
„innere“ und eine „äußere“ Identität. Mit der inneren Identität bezeichne<br />
ich die Identität, die im eigenen Rahmen und im Rahmen der Familie<br />
bekannt und selbstverständlich war, bevor man den Konflikt der Natio-<br />
nalitätszugehörigkeit erfahren hat. Mit der „äußeren“ Identität bezeichne<br />
ich das Selbsterleben eines Individuums, das unabhängig von seinen<br />
Erfahrungen und seiner Vergangenheit durch Fremde und ihre Zu-<br />
schreibungen neu gebildet wird.<br />
Die „äußere“ Identität besteht aus Zuschreibungen, Vorurteilen und Ste-<br />
reotypisierungen. Die „innere“ und die „äußere“ Identitäten stehen kont-<br />
rär zu einander und rufen eine Identitätskrise hervor. Die Persönlichkeit,<br />
5 Zu diesem brisanten Thema empfehle ich den Zeitungsartikel in DIE ZEIT, Kaiser, 2000 / 14<br />
„Deutsch, aber nicht ganz“.
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
83<br />
_________________________________________________________<br />
oder das Ich wird gespalten. Die Aussiedler verlieren an Halt, an Orien-<br />
tierung. Sie wissen nicht wer sie sind.<br />
Eine Möglichkeit ist, gegen die Behauptungen ein/eine Russe/Russin zu<br />
sein zu wiedersprechen, ja zu kämpfen, die zweite Möglichkeit bedeutet<br />
Rückzug. Für die meisten kommt eher die zweite Möglichkeit in Frage,<br />
den die Unsicherheiten in der deutschen Sprache rufen Minderwertig-<br />
keitsgefühle hervor, die die betroffenen Aussiedler in ihrem Selbstwert-<br />
gefühl stark bremsen. Verbale Konfrontation in Konfliktsituationen geht<br />
für die Aussiedler oft unvorteilhaft aus. Vor allem die männlichen Ju-<br />
gendlichen greifen nicht selten zu der primitiven Art Konflikte zu lösen.<br />
Sie nutzen Gewalt, um ihre Wut und Verzweiflung auszudrücken.<br />
Wird die Gewalt nicht als Persönlichkeitseigenschaft verstanden, son-<br />
dern als Resultat sozialer Interaktionsprozesse, so müssen die Ursa-<br />
chen für die Gewaltbereitschaft der Aussiedlerjugendlichen in den sozi-<br />
alen Bedingungen, die das Herkunftsland und auch das Aufnahmeland<br />
bieten, und auch in der Qualität der familiären Sozialisation gesucht<br />
werden. Je geringer die emotionale Unterstützung durch die Familie<br />
aber auch durch andere Sozialisationsinstanzen wie Schule, desto we-<br />
niger können die Verunsicherungen aufgefangen werden (Dietz, 1997<br />
S.87f).<br />
Es ist nicht mein Anliegen die „Aussiedlergewalt“ oder Aussiedlerkrimi-<br />
nalität mit Zahlen zu belegen und so ein Wahrnehmungsmuster der<br />
deutschen Gesellschaft widerzuspiegeln.<br />
„Statistiken über soziale Entgleisungen, Hilfsbedürftigkeit und Straffälligkeit<br />
dürfen kein Tabu sein, bergen aber auch die Gefahr in sich, Opfer als Täter<br />
erscheinen zu lassen, allgemeine Vorurteile weiter zu bestätigen und aus dem<br />
Blickfeld geraten zu lassen, dass die Eingliederung der Aussiedler bislang<br />
ohne größere gesellschaftliche Brisanz verlaufen ist, trotz Massenerwerbslo-<br />
sigkeit und reduzierten Eingliederungshilfen.“ (Bade, 1999 Zitat S. 39)<br />
Die Kriminalstatistiken liefern keine eindeutige Belege dafür, dass die<br />
Kriminalität unter den Aussiedlern gestiegen ist, da in den vorhandenen<br />
Statistiken die jungen Aussiedler in der Regel als deutsche Staatsbür-
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
84<br />
_________________________________________________________<br />
ger geführt werden. Des weiteren kann eine höhere Anzeigeneigung<br />
gegenüber Aussiedlern und eine selektive Sanktionspraxis speziell ge-<br />
genüber dieser Gruppe nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden<br />
(Pfeiffer/Wetzels, 2000 S. 27).<br />
Das Augenmerk soll auf den Bezugsrahmen und den Hintergrund von<br />
devianten Jugendlichen fallen, um dem Verständnis der Folgen einer<br />
Migration etwas näher zu kommen.<br />
Die soziale Identität bildet sich aus den Rollenzuschreibungen von au-<br />
ßen und auch aus den Eigenschaften der eigenen Gruppe. Die Aus-<br />
siedler sind auf der Suche nach der eigenen Identitätsdefinition. Falls<br />
sich das Selbst- und das Fremdbild zu stark unterscheiden, findet die<br />
Selbstdefinition über die eigene Gruppe statt (Bahlmann, 2000 S. 31).<br />
Das bedeutet für viele Spätaussiedler Rückzug auf die eigene ethni-<br />
sche Gruppe, Isolation, Stagnation und sogar Regression im Bezug auf<br />
die Integration (Mendel in: Graudenz, 1996 S. 6f). Eine psychosoziale<br />
Eingliederung in einer fremden Kultur erfordert das Überwinden aller<br />
psychischen Barrieren und zu den größten psychischen Barrieren gehö-<br />
ren eben die Vorurteile der einheimischen Bevölkerung (Schafer, 1995<br />
S. 47f).<br />
Die Vorurteile beinhalten eine Abwertung gegenüber den zugewander-<br />
ten Deutschen, die eine Gleichstellung mit der einheimischen Bevölke-<br />
rung unmöglich macht. Die eigenen Fähigkeiten werden als minder ein-<br />
gestuft und ein Vergleich erst gar nicht gewagt (Bahlmann, 2000 S. 33).<br />
Die so erzeugten Minderwertigkeitskomplexe und Ängste, nehmen auf<br />
das Lernen und auf die soziale Teilhabe in der Schule einen negativen<br />
Einfluss. Die Spätaussiedler bleiben unter sich, bilden eigene Cliquen<br />
und sind im Unterricht eher zurückgezogen, unscheinbar (Schafer,<br />
1995 S. 47f).<br />
Die Vorurteile entstehen sicherlich auch aus den anfänglichen Sprach-<br />
schwierigkeiten der Aussiedler.<br />
Die Sprache ist der wichtigste Inhalt und auch das wichtigste Instrument<br />
der Sozialisation. Aber auch die Körpersprache in unterschiedlichen
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
85<br />
_________________________________________________________<br />
Kulturen bedient sich unterschiedlicher Ausdrucksformen. Fehlen diese<br />
wichtigen Instrumente einer Kultur, kommt es schnell zu Abweichungen,<br />
die zu großen Missverständnissen führen können (Dietz, 1999 S. 111f).<br />
Die Adoleszenz ist die Zeit, in der ein junger Mensch aus der Familie<br />
hinaus in die erwachsene Welt geht und familienunabhängige Bezie-<br />
hungen knüpft. Die Ablösung von der Familie ist jedoch in der Migrati-<br />
onsphase mit der damit verbundenen Identitätskrise nicht möglich.<br />
Aus dieser Identitätskrise rauszukommen ist dementsprechend sehr<br />
schwer, denn die Sprachschwierigkeiten, Ängste und die Orientierungs-<br />
losigkeit erschweren den Spätaussiedlern den Weg zu der professionel-<br />
len Hilfe. Die familieninterne Lösung aller „privaten“ Probleme zeichnet<br />
die Familie als „Konfliktlöseinstanz“ aus (ebd. S. 30f).<br />
Vorurteile, Missverständnisse in der Konfrontation mit der unbekannten<br />
Gesellschaft, eingeschränkte Möglichkeiten seiner Identität Ausdruck zu<br />
geben, stellen für die Sozialisationsprozesse enorme Hindernisse dar.<br />
8.2. Trauma<br />
Ein Identitätsbruch findet nicht nur aufgrund der Vorurteile aus der Rich-<br />
tung der einheimischen Bevölkerung statt. Der Identitätsbruch findet<br />
seinen Anfang in der Entscheidung zur Ausreise.<br />
Die Migrationsforscher und Autoren, die sich mit der Migration beschäf-<br />
tigen, sind sich einig: jede Migration, aus welchen Motiven sie auch un-<br />
ternommen wird, ist ein Trauma (Grinberg, 1990 S. 13f), (Mendel, 1996<br />
S. 4f), (Treder, 1997 S. 5f), (Kronsteiner, 2003 S. 77f), (Müller-Wille,<br />
2002 S. 55f).<br />
In der Psychotraumatologie wird der Begriff Trauma folgendermaßen<br />
definiert:<br />
„Psychische Traumatisierung lässt sich definieren als vitales Diskrepanzerleb-<br />
nis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewälti-<br />
gungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preis-
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
86<br />
_________________________________________________________<br />
gabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Welt-<br />
verständnis bewirkt.“ (Fischer, 1999 Zitat S. 351)<br />
Das Erscheinungsbild des Traumas ist charakterisiert durch Alpträume,<br />
Depressionen mit den einhergehenden Aggressionen und Reizbarkeit,<br />
psychosomatischen Erkrankungen und Isolation (ebd. S. 40f). Das<br />
Trauma löst bei den Migranten Passivität, Gefühl der Verlassenheit,<br />
Hilflosigkeit und Ohnmacht aus (Kronsteiner, 2003 S. 85). Die Folge<br />
davon ist die innere Leere, die die Migranten empfinden. Die innere<br />
Leere und die massive Selbstentwertung werden durch die Abwer-<br />
tungshaltung der einheimischen Bevölkerung noch verstärkt.<br />
Wie kommt dieses Trauma zustande?<br />
Die Migranten leben nicht auf eine Aussiedlung hin. Sie werden zu ei-<br />
nem mehr oder weniger überraschenden Zeitpunkt vor die Wahl ge-<br />
stellt. Sie haben insofern keine Freiwilligkeit, wie bei einer Urlaubspla-<br />
nung. Es gibt keine Migration auf Probe, das bedeutet, dass der bishe-<br />
riger Lebensweg abgebrochen wird und eine Trennung von beinahe<br />
allem, was das bisherige Leben bestimmt hat, erfolgen muss.<br />
Wovon muss sich der Migrant trennen?<br />
Mendel vertieft die Bedeutung der Heimat und der Kultur. Sie bringt<br />
Beispiele, die eine Trennung von der Heimat konkretisieren. Diese Bei-<br />
spiele sind banal aber sehr anschaulich und von größter Bedeutung,<br />
um die Trennungssituation und den Trennungsschmerz der Migranten<br />
nachzuvollziehen.<br />
Laut Mendel wird unser Leben geprägt durch:<br />
- Schriftformen und Sprachen,<br />
- Wasserhähne und Schlüsselformen,<br />
- Gerüche, Töne, Rhythmen,<br />
- Pflanzen, Farben,<br />
- Gesellschaftliche Regularien, Sitten, Gebräuche<br />
- Denkmuster, die Zwischentöne im Privaten und Gesellschaftli-<br />
chen,<br />
- Lehrpläne, Prüfungsrituale,
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
87<br />
_________________________________________________________<br />
- Wissen um Öffnungszeiten von Kindergärten, Bibliotheken, Be-<br />
trieben,<br />
- Wissen um Rituale wie Geburten, Schulabschlüsse, Hochzeiten,<br />
Altwerden,<br />
- Strickmuster auf Tischtüchern und Gewändern,<br />
- Wissen, wo man wie was wann warum und zu welchem Preis<br />
erwerben kann... (Mendel, 1996 S. 4f)<br />
„All das – und noch unzähliges mehr – macht aus, was wir Kultur nennen. Die<br />
Gesamtheit aller menschlichen Lebensäußerungen, von denen sich der Emig-<br />
rant abzulösen hat, um sein Leben in einer anderen Kultur weiterzuführen.“<br />
(ebd. Zitat S. 5)<br />
Die Hoffnungs- und Ausweglosigkeit kann die Menschen dazu bringen,<br />
seine Heimat zu verlassen und sich von dem gewohnten Leben zu ver-<br />
abschieden.<br />
Die Trennung von dem Heimatland erzeugt bei den Emigranten 6 sowohl<br />
bewusste als auch unbewusste Angst. Diese Angst ist die Trennungs-<br />
angst. Nachdem es zu der Trennung von der Heimat gekommen ist,<br />
erlebt der Migrant die Ausreise als eine Befreiung von der vorherge-<br />
henden Angst. Die Trennungsangst geht jedoch nach der Ausreise aus<br />
der Heimat in einen Verlustschmerz über, gefolgt von der Trauer über<br />
das verlorene Heimatland (Treder, 1997 S. 9f).<br />
Treder zitiert eine türkische Mitbürgerin, die ihre Gefühle über die Emig-<br />
ration wie folgt ausdrückt:<br />
„...die Emigration umfasst das Abschiednehmen vom Gewohnten in allen Le-<br />
bensbereichen. Die Trennung von der Heimat ist die Kumulation der Trennun-<br />
gen von allen Bindungen und Beziehungen, die dem Menschen den Lebens-<br />
inhalt und –sinn vermitteln – Familie, Freundeskreis, Beruf, Zugehörigkeit zu<br />
einer Gemeinschaft, Teilhabe an einer gemeinsamen Kultur. Es bleibt kein<br />
gewohnter Lebensbereich weiter bestehen, an dem man sich festklammern<br />
kann. Ich glaube, keine andere Trennung kommt dem Spruch ´Jede Trennung<br />
ist der Tod´ so nah.“ (Treder, 1997 Zitat S. 11)<br />
6 Begriffsunterschiede: Emigration – Auswanderung ; Migration - Wanderung (Duden 1996)
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
88<br />
_________________________________________________________<br />
Dieser Verlustschmerz ist größer, als man sich eingestehen möchte, so<br />
dass die Abwehrmechanismen in Kraft treten, um das Leben in der<br />
Fremde erträglicher zu gestalten.<br />
Einer der wichtigsten Abwehrmechanismen im Verlauf der Migration ist<br />
die Spaltung. Die Migranten spalten das Land, in das sie emigriert sind<br />
in ein „gutes“ und ein „schlechtes“ Land. Das alte Land wird überideali-<br />
siert und das Neue kritisiert, wenn die Erwartungen an das Aufnahme-<br />
land überspannt waren und die künftigen Schwierigkeiten abgewertet<br />
wurden. Dann heißt es zum Beispiel: „in Russland war alles besser“. Es<br />
kommt zur „Entzauberung des gelobten Landes“ (Grinberg, 1990 S. 7).<br />
In diesem Fall neigen die Spätaussiedler dazu sich zu isolieren und<br />
machen den Eindruck, als ob sie sich nicht integrieren wollen.<br />
In den meisten Fällen kommt es aber zu einer umgekehrten Zuschrei-<br />
bung: das Neue Land wird überidealisiert und das Alte kritisiert. Das<br />
Heimatland wird kritisiert und beiseite geschoben. Damit wird bezweckt,<br />
dass die ganze Energie in das Erlernen der neuen Sprache und der<br />
Kultur geleitet wird.<br />
Die beiden extremen Haltungen dienen der Vermeidung von Trauer,<br />
Schuldgefühlen (eher bei der Erwachsenen) und depressiven Ängsten<br />
(ebd. S. 6).<br />
Diese Spaltungsmechanismen können mit einer Scheidungssituation für<br />
ein Kind verglichen werden. Das Kind spaltet die Eltern in gut und böse,<br />
um nicht mit der Angst leben zu müssen, den einen Elternteil zu verra-<br />
ten, wenn es sich dem anderen zuwendet (Treder, 1997 S. 10).<br />
Die Spaltung schafft klare Fronten und Räume zur Wiederfindung der<br />
eigenen Identität, die im Laufe der Migration erschüttert wurde oder gar<br />
verloren gegangen ist.<br />
Die Art der Spaltung ist von dem Migranten nicht bewusst wählbar, sie<br />
ist abhängig von den persönlichen Erfahrungen und vom Ablauf der<br />
vorangegangenen Migrationsprozesse.<br />
Abhängig von der Art der Spaltung werden die Einheimischen entweder<br />
auf den Sockel gestellt oder abgelehnt, aber in jedem Fall fühlt sich der<br />
Migrant gegenüber den Einheimischen unterlegen und minderwertig<br />
(Treder, 1997 S. 10). Dieser Minderwertigkeit kann man in den kultur-
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
89<br />
_________________________________________________________<br />
und sprachenunabhängigen Bereichen entkommen, wie zum Beispiel<br />
im Sport oder Kunst oder Musik.<br />
Weitere Abwehrmechanismen, die die Trauergefühle, wie Trauer,<br />
Schmerz, Wut und Angst kaschieren sollen sind die Verdrängung, Sub-<br />
limierung 7 , Verleugnung und Projektion (Kronsteiner, 2003 S. 79f).<br />
Die Migranten stürzen sich in das Erlernen der neuen Sprache, in das<br />
Erledigen der Behördengänge und später in das Einarbeiten in dem<br />
neuen Job. So können sie es schaffen mehrere Jahre dem Verlust-<br />
schmerz auszuweichen und die Energie für das Erschaffen eines neuen<br />
Lebens zu verbrennen (Treder, 1997 S. 11f).<br />
Des weiteren beobachten Psychoanalytiker bei den Migranten im Laufe<br />
der Integrationsprozesse ein Phänomen, das sie Regression nennen.<br />
Um sich einen Raum zu schaffen, wo man Sicherheiten findet, geben<br />
die Migranten Teile ihrer „erwachsenen“ Identität auf und begeben sich<br />
auf eine niedrigere Entwicklungsstufe ihrer früheren Lebensphase, die<br />
sie bereits durchlaufen haben. Durch dieses Schutzmechanismus kön-<br />
nen sie ebenfalls Energiereserven sparen, die sie benötigen, um ihre<br />
Identität wiederherzustellen.<br />
„Regression im Dienst des Ichs, im Dienst des Überlebens, im Dienst des Um-<br />
Lernens, des Um-Codierens.“ (Mendel, 1996 Zitat S. 6)<br />
Das persönliche Repertoire an Schutzmechanismen kann sehr unter-<br />
schiedlich sein und ist abhängig von den Erlebnissen im Herkunftsland,<br />
den Vorerfahrungen in der Kindheit, der Erziehung. Mendel spricht da-<br />
bei von dem „unsichtbaren Fluchtgepäck“ (ebd. S. 7), das der Emigrant<br />
mit sich in das neue Land bringt.<br />
Diese Abwehrmechanismen des Ichs gegen die Angst können die In-<br />
tegration jedoch hemmen und das Ich schwächen (Grinberg, 1990 S.<br />
105).<br />
7 Sublimierung: Abwehrmechanismus, der es ermöglicht, dass primitive, sozial nicht akzeptierte<br />
Arten der Befriedigung von Bedürfnissen in sozial akzeptable umgewandelt und somit neutralisiert<br />
werden. Es-Impulse werden von einem – vom Über-Ich nicht akzeptierten – Ziel auf ein<br />
sozial akzeptiertes Ziel (Kunst, Caritas) umgelenkt(...) (Lexikon der Psychologie, 2000).
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
90<br />
_________________________________________________________<br />
8.2.1. Trauma im Kindes- und Jugendalter<br />
Die Psychoanalytiker Grinberg, R. und Grinberg, L. erforschten die<br />
Migrationsprozesse in unterschiedlichen Lebensabschnitten und beto-<br />
nen, dass die Probleme der Migration im Kindes- und Jugendalter viel<br />
komplexer sind als die Probleme der Erwachsenen. Denn zu allen Vari-<br />
ablen, die den migratorischen Prozess steuern, kommen noch das Alter<br />
und der Entwicklungsstand des Kindes hinzu.<br />
Es ist falsch zu behaupten, dass das Kind die Migration weniger trau-<br />
matisch erlebt, als ein Erwachsener, weil seine Umgebung auf wenige<br />
Personen reduziert ist, weil das Kind gemeinsam mit der beschützen-<br />
den Familie ausreist, weil das Kind aufnahmefähiger für die neue Kultur<br />
ist. Das alles sind sicherlich Vorteile, die das Kind mitbringt, jedoch lei-<br />
det das Kind auch unter speziellen Entbehrungen. Abhängig von dem<br />
Alter nimmt das Kind bei der Entscheidung zur Ausreise nicht Teil, die<br />
Beweggründe der Erwachsenen sind womöglich nicht verständlich,<br />
auch wenn diese erklärt worden sind. Auch wenn das Kind mit seiner<br />
Familie ausreist, darf man nicht vergessen, dass diese unmittelbare<br />
Umgebung selbst durch die migratorische Erfahrung erschüttet und ver-<br />
letzt ist. Das Selbstvertrauen und das Selbstsicherheitsgefühl, das die<br />
Eltern ihren Kindern vermitteln sollen, befindet sich bei den Eltern in<br />
einer Krise. In der prämigratorischen Zeit kann das Kind bittere Ausei-<br />
nandersetzungen rund um das Thema der Emigration mitbekommen,<br />
sogar Zeuge der Angst- und Paniksituationen der Eltern werden. Die<br />
unerträglichen Ängste können Aggressionen gegenüber dem Kind aus-<br />
lösen. In ihrer Problematik und ihren Sorgen versunken, können die<br />
Eltern leicht die Sorgen und Nöte des Kindes übersehen und das noch<br />
lange über die eigentliche Migration hinaus. Auch die Kinder vermissen<br />
die gewohnte Umgebung, ihre Freunde, Lehrer, ihre Spielplätze und ihr<br />
Haus und das ist nicht weniger schmerzhaft als für einen Erwachsenen.<br />
Sind die frühen Konflikte nicht allzu schwerwiegend und war die Bezie-<br />
hung zu den inneren und äußern Objekten im psychoanalytischen Sin-<br />
ne gut, dann steht einer erfolgreichen Integration nichts im Wege, ob-<br />
wohl die Migration traumatische Erfahrungen mit sich bringt (Grinberg,<br />
1990 S. 129f).
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
91<br />
_________________________________________________________<br />
Eine kindliche Entwicklung kann unterbrochen werden, wenn die Eltern<br />
die Kinder nicht ausreichend auf das Leben in der Schule vorbereiten<br />
können, wie dieses der Fall in vielen migrierten Familien ist. Die Schule<br />
stellt eine größere und weitreichende soziale Gruppe dar, und das Kind<br />
steht vor einer Herausforderung, seinen Platz und seine Identität inner-<br />
halb dieser Gruppe zu finden. Nur allzu oft bekommen die migrierten<br />
Kinder und Jugendlichen zu spüren, dass ihr, in dem Herkunftsland er-<br />
worbenes Wissen, wertlos sei und dass ihnen die Kenntnisse, die wich-<br />
tig wären fehlen.<br />
Die schulischen Probleme finden wiederum Widerhall in dem familiären<br />
Bereich und äußern sich in Vorwürfen und auch Somatisierungen (ebd.<br />
S. 143).<br />
8.2.1.1. Namensänderung<br />
Ein wesentlicher Einschnitt in der Identität der Kinder und Jugendlichen<br />
aus Russland ereignet sich mit der Namensänderung. In der Regel auf<br />
Wunsch der Eltern werden die russischen Namen mit Hilfe einer Über-<br />
setzungsliste eingedeutscht (Bahlmann, 2000 S. 38). Die Namensände-<br />
rung ist zulässig für deutschstämmige Migranten. So wird aus Wladimir<br />
Waldemar, aus Irina Irene, aus Iwan Johann, aus Jelena Helene, aus<br />
Jewgenij Eugen. Und wenn aus Sergej sogar Stefan wird, dann hat der<br />
neue Name gar keine phonetische Ähnlichkeit mehr mit dem Geburts-<br />
namen.<br />
Durch diese Namensänderung wünschen sich die Eltern eine Erleichte-<br />
rung der Integration für ihre Kinder. Ein russischer Name könne in Zu-<br />
kunft sowohl im Berufsleben, als auch im Privatem im Weg stehen.<br />
Dieser, meiner Meinung nach, enorm wichtiger Eingriff in die Identität<br />
eines Kindes, wird anscheinend von vielen MigrationsforscherInnen –<br />
bis auf wenige Ausnahmen – übersehen.<br />
Müller-Wille richtet ihre Aufmerksamkeit besonders auf die Aussiedler-<br />
kinder, für die die Namensänderung ein Umstand ist, der einen massi-<br />
ven Bruch in der kindlichen Entwicklung darstellt.
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
92<br />
_________________________________________________________<br />
Der Name ist das erste was das Kind über sich erfährt. Der Klang des<br />
eigenen Namen aus dem Mund der Mutter ist einem Kind sehr vertraut.<br />
Mit dem Namen hängen die Identität des Kindes, Gefühls- und Erleb-<br />
niswelt stark zusammen. Der Name dient der Identifikation. Er dient der<br />
Identifikation mit der eigenen Familie, Identifikation mit der eigenen Ge-<br />
schichte und der Erinnerungslandschaft und somit der Identifikation der<br />
eigenen Kultur.<br />
„Gerade beim ersten Schritt ins neue Leben ist die eigene Identität, die sich<br />
unter anderem gerade im Vornamen ausdrückt, eine wichtige Voraussetzung<br />
für die Möglichkeiten der Integration.“ (Müller-Wille, 2002 Zitat S. 53)<br />
Wird der Name geändert geht ein Stück der Selbstidentifikation verlo-<br />
ren. Die Namensänderung läuft die Gefahr der Verleugnung (und der<br />
Verleumdung) der Vergangenheit und der eigenen Identität zu dienen.<br />
In wie weit die Namensänderung integrationsfördernd ist, stelle ich in<br />
Frage. Denn nur sehr gute und nach Möglichkeit akzentfreie Kenntnisse<br />
der deutschen Sprache helfen Chancengleichheit mit den Einheimi-<br />
schen herzustellen.<br />
Bahlmann weist darauf hin, dass vielen Lehrerinnen und Lehrern das<br />
Recht der Kinder auf Identität nicht bewusst ist. Es ist jedoch dringend<br />
notwendig die identitätsstabilisierende Faktoren wie der Name, die<br />
Sprache und die Biografie der Migrantenkinder und Jugendlichen nicht<br />
zu ignorieren. Auch in der Schulpraxis ist es wichtig den ersten Vorna-<br />
men der Kinder zu kennen und diesen in der ersten Zeit der Orientie-<br />
rung ebenso zu nennen, wie den neuen. Das kann der Stabilisierung<br />
der Persönlichkeit entgegen kommen. Denn auch in der Familie erfolgt<br />
die Ablösung von dem ersten Namen fließend (Bahlmann, 2000 S. 38).<br />
Hat ein Kind oder Jugendlicher einen Namen, der in Deutschland fremd<br />
klingt oder schwer auszusprechen ist und wird der Name nicht „einge-<br />
deutscht“, so machen sich viele Einheimische nicht die Mühe diesen<br />
Namen zu verstehen, sich diesen Namen zu merken und diesen Na-<br />
men auch zu gebrauchen.
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
93<br />
_________________________________________________________<br />
„Ihre Namen werden verstümmelt oder verballhornt ausgesprochen, selbst<br />
von solchen Personen, die beruflich mit den Kindern befasst sind und eigent-<br />
lich eine besondere Verantwortung zur Vermittlung und Verständigung ha-<br />
ben.“ (Dietz, 1999 Zitat. S. 137)<br />
Die „Verballhornung“ von Namen erzeugt zusätzliche Distanz und<br />
Fremdheit und erschwert eine Annäherung der Kinder und Jugendli-<br />
chen untereinander.<br />
8.2.2. Notwendigkeit der Trauer<br />
Grinberg und Grinberg beschreiben Tragik einer Migration folgender-<br />
maßen:<br />
„Fortgehen ist ein bisschen sterben.“ (Grinberg, 1990 Zitat S. 75)<br />
Wenn „jede Trennung dem Tod nah“ ist und das „Fortgehen ein biss-<br />
chen sterben“ bedeutet, dann müssen sich diesem „Tod“ unweigerlich<br />
die Trauerprozesse anschließen.<br />
Der meist unwiderrufliche Verlust der Kultur und die damit verbundenen<br />
Identitätskrise zeichnen das Trauma der Migration aus. Diese Trennung<br />
zu verarbeiten kostet Zeit. Diese Zeit soll genommen werden, denn das<br />
Gelingen der Reintegration, der bei der Auswanderung verlorenen<br />
Selbstanteile, liegt in der kleinschrittigen, mühsamen Trauer (Kronstei-<br />
ner, 2003 S. 87). Die Trauerarbeit soll geleistet werden, um alte verlo-<br />
rene Bindungen in neue Perspektiven zu verwandeln. Der bewusst ge-<br />
lebte Trauerprozess bietet die Chance der Kraftquelle für das weitere<br />
Leben.<br />
Der Prozess der Trauer erfasst die gesamte Persönlichkeit des Indivi-<br />
duums, alle bewussten und unbewussten Ich-Funktionen und Verhal-<br />
tensweisen, Abwehrmechanismen und die Beziehungen zu den Mit-
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
94<br />
_________________________________________________________<br />
menschen. Der Verarbeitungsprozess ist das Ergebnis der Bewegung<br />
zwischen der Regression und der Progression (Grinberg, 1990 S.109).<br />
Hat der Migrant über ausreichende Verarbeitungsmöglichkeiten verfügt,<br />
dann wird er nicht nur die Krise der Migration überwinden, sondern sei-<br />
ne Persönlichkeit dadurch bereichern. Grinberg und Grinberg sprechen<br />
hierbei über eine Art „Wiedergeburt“, die mit der Weiterentwicklung des<br />
kreativen Potentials einhergeht (ebd. S. 15).<br />
8.2.3. Diathese – Stress – Modell<br />
Die Art und der Schweregrad der Krise und des Traumas der Migration<br />
und die Art der Trauer um die verlorenen Objekte ist abhängig von vie-<br />
len intrapersonellen Faktoren (Grinberg und Grinberg nennen diese<br />
„Prädisposition“ (ebd.)) und auch von den Umständen, die die Migration<br />
umgeben.<br />
An dieser Stelle finde ich es sinnvoll diese Grundannahme mit dem Dia-<br />
these-Stress-Modell nach Eysenck (Eysenck, 1960) - oder auch Vulne-<br />
rabilitäts-Stress-Modell genannt - zu erklären.<br />
Dieses Paradigma verbindet biologische, psychologische und Umwelt-<br />
faktoren und ist dabei nicht auf eine bestimmte Schule festgelegt. Mit<br />
der Diathese ist die genetische Prädisposition für eine Krankheit oder<br />
Störung gemeint. Sie zeichnet eine Tendenz eines Menschen, auf eine<br />
besondere Weise auf Umweltstress zu reagieren. Die Diathese erhöht<br />
die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person eine solche prädisponierte<br />
Störung entwickelt, garantiert jedoch nicht das tatsächliche Auftreten.<br />
Die Komponente Stress beinhaltet schädliche oder ungünstige Umwelt-<br />
einflüsse, sowohl biologischer als auch physiologischer Art. Das Dia-<br />
these-Stress-Modell nimmt an, dass beide Komponenten zur Entwick-<br />
lung einer Verhaltensauffälligkeit vonnöten sind.
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
95<br />
_________________________________________________________<br />
8.3. Psychosomatik<br />
Aufgrund der erlebten Migrationserfahrungen sind die Spätaussiedler<br />
deutlich schwer von funktionalen und depressiven Symptomen betrof-<br />
fen. Kornischka spricht von 50% der Spätaussiedler, die angaben an<br />
psychischen und psychosomatischen Beschwerden zu leiden, wie zu<br />
Beispiel:<br />
- Depressionen<br />
- Kopfschmerzen<br />
- Stress<br />
- Chronische Anspannungen<br />
- Ekzeme<br />
- Magengeschwüre<br />
- Trauerreaktionen<br />
Sie zeigen eine auffällige Überanpassung und ausgeprägtes Konsum-<br />
verhalten. Kornischka betont, dass es nicht mit einer positiven Integrati-<br />
on verwechselt werden darf. Der Konsum stelle vielmehr eine Kompen-<br />
sation für Aussiedlungsbedingte Entbehrungen und Verluste dar (Kor-<br />
nischka, 1992 S. 88).<br />
Depressive Störungen und Alkoholismus sind laut Kornschka die häu-<br />
figsten Störungen der Spätaussiedler.<br />
In ihren Untersuchungen in dem Landeskrankenhaus Osnabrück über<br />
den Zeitraum von 1990-1996 stellt Riecken (Riecken in: Collatz, 2002)<br />
einen signifikanten Zusammenhang zwischen schlechten Deutsch-<br />
kenntnissen und psychischer Erkrankung sowie der Länge der Kran-<br />
kenhausaufenthalte fest. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass schlechte<br />
Deutschkenntnisse ein „Handicap“ im Integrationsprozess darstellen.<br />
Dieses „Handicap“ nimmt einen ungünstigen Einfluss auf das Stresser-<br />
leben und auf die Stressbewältigung, was maßgeblich zur einer Störung<br />
beitragen kann (ebd. S. 223).<br />
Riecken gibt gemeinsam mit Schwichtenberg auch einen Einblick in ihre<br />
Erfahrungen mit Aussiedlern in Osnabrück bei der suchtmedizinischen<br />
Versorgung. Dabei kommen sie zu dem bedrückenden Schluss, dass<br />
die Suchtkarriere bei den Aussiedlern im Vergleich zu einheimischen
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
96<br />
_________________________________________________________<br />
Drogenabhängigen schneller und gesundheitsschädlicher verläuft (ebd.<br />
S.238).<br />
Die Gruppe der Aussiedler wird oft mit den Begriffen Drogen, Alkohol,<br />
Gewalt assoziiert. Einen überdurchschnittlich hohen Alkohol- und Dro-<br />
genkonsum bei jugendlichen Aussiedlern konnten Strobl und Kühnel<br />
nicht bestätigen. Die bei einer Stichprobe von jugendlichen Spätaus-<br />
siedlern aus verschiedenen Schulformen in Nordrhein-Westfalen ge-<br />
messenen Werte lagen eher unter denjenigen einer einheimischen Ver-<br />
gleichsgruppe (Strobl, 2000 S. 173f).<br />
Die Psychotherapeuten und Psychiater sind sich einig, dass mutter-<br />
sprachliches Therapieangebot entscheidende Bedeutung für die erfolg-<br />
reiche therapeutische Arbeit hat. In Beispiel dafür ist die westfälische<br />
Klinik Warstein, dort besteht eine russischsprachige Therapiemöglich-<br />
keit seit 1998. Novikov vom Klinikum Nord in Hamburg plädiert noch<br />
einmal vehement für eine Förderung der Kenntnisse über die Herkunft<br />
der Aussiedler bei der einheimischen Bevölkerung:<br />
„Ohne das Wissen über die Geschichte der Ursprungsländer der Migranten<br />
gibt es kein gemeinsames Deutschland“ (ebd. S. 260).<br />
Eine Studie von Sabine Loof aus dem Jahr 1993 stellt Messungen über<br />
Körperbeschwerden, Ängstlichkeit, Depression und Selbstbild von Aus-<br />
siedlerkindern und -jugendlichen aus Polen im Vergleich zu Einheimi-<br />
schen vor. Sie kommt zu dem Schluss, dass es signifikante Abwei-<br />
chungen bei den Aussiedlern gibt, die durch „Fremdheitsgefühle“ und<br />
„Enttäuschungen über das Leben in Deutschland“ ausgelöst sind (Col-<br />
latz, 2002 S. 268). Ich nehme an, dass diese Ergebnisse auch auf die<br />
Gruppe der Aussiedler aus Russland übertragbar sind, denn im Grunde<br />
ist die Tatsache einer Migration in eine fremde Kultur entscheidend, um<br />
diese Fremdheits- und Enttäuschungsgefühle wahrzunehmen und diese<br />
in den somatischen Beschwerden wiederzufinden.<br />
Auch aus der psychoanalytischen Sicht kann die Migration (...) den Aus-<br />
bruch einer latenten Pathologie begünstigen, oder die potentielle Ausgangs-
Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />
97<br />
_________________________________________________________<br />
punkt für mehr oder weniger ausgeprägte psychische Störungen sein, beson-<br />
ders bei labilen Persönlichkeiten (Grinberg, 1990 Zitat S. 101).<br />
9. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sozialisation<br />
der Spätaussiedler<br />
Das Geschlecht bestimmt den Verlauf der Sozialisationsprozesse.<br />
Wenn die Sozialisation der Spätaussiedler spezifische Unterschiede zu<br />
der Sozialisation der Einheimischen aufweist, dann stellt sich die Frage:<br />
ob, und inwiefern die Migration geschlechtsspezifisch auf die Sozialisa-<br />
tion der Aussiedler Einwirkung nimmt?<br />
Zwischen Mädchen und Jungen (oder Frauen und Männern) bestehen<br />
deutliche Unterschiede im Hinblick auf die Bewältigung von Desintegra-<br />
tionsprozessen. Mädchen (oder Frauen) reagieren nur selten mit Ge-<br />
walt gegenüber den anderen, sie tendieren eher dazu autoaggressiv zu<br />
reagieren (Dietz, 1997 S. 88).<br />
Das nach „außen“ treten bei den männlichen jungen Aussiedlern ist<br />
nicht nur mit dem Gewaltverhalten zu verbinden, die männlichen Ju-<br />
gendlichen tragen ihre Freizeit eher nach außen als die weiblichen Ju-<br />
gendlichen. In Russland standen wesentlich größere Naturräume, die<br />
die Jugendlichen frei nutzen konnten, zur Verfügung. Sie veranstalten<br />
Grillparties, angelten ohne einen Angelschein zu besitzen, machten<br />
Pferderennen durch die unendlichen Steppen (Bahlmann, 2000 S. 82).<br />
In Deutschland treffen sich die jungen Aussiedler auf der Straße oder<br />
bestimmten öffentlichen Plätzen. Das körperliche Expansionsverhalten<br />
wird vor allem in den Übergangswohnheimen stark eingeschränkt.<br />
Die weiblichen Aussiedlerjugendlichen verbringen ihre Freizeit in<br />
Deutschland öfter zu Hause. Dieses hat zur Folge, dass sich die Aus-<br />
siedlerinnen tendenziell stärker isolieren (Dietz, 1996 S. 86), wobei sie<br />
dadurch weniger auffallen, als die männlichen Aussiedler. Dadurch,<br />
dass sie weniger „aus der Rolle“ fallen, besteht die Gefahr, dass sie mit<br />
ihren Problemen weniger Beachtung finden bzw. als unauffällig gelten.
Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sozialisation<br />
98<br />
der Spätaussiedler___________________________________________<br />
Besonders die jungen Aussiedlerinnen haben auffällig geringes Selbst-<br />
vertrauen und leiden stärker an psychosomatischen Beschwerden, als<br />
die männlichen Aussiedler (Mies-van Engelshoven, 1999 S. 19).<br />
Eine andere psychologische Studie zu sozialen Ängsten und Unsicher-<br />
heiten jugendlicher Spätaussiedler fand bei den Mädchen häufiger<br />
Angstsymptome, Angst vor Misserfolgen, Blamagen und öffentlicher<br />
Beachtung (Bahlmann, 2000 S. 79).<br />
Strobl und Kühnel fanden heraus, dass das Geschlecht den größten<br />
Einfluss auf die Psychosomatik ausübt. Sie stellen fest, dass die Frauen<br />
erheblich stärker unter psychosomatischen Beschwerden leiden als die<br />
Vergleichsgruppe der Männer.<br />
In der folgenden Abbildung (Strobl, 2000 S. 168) wird der Einfluss des<br />
Geschlechts auf die Integrationstypologie dargestellt.<br />
Abb. 11 Der Einfluss des Geschlechts auf das Ausmaß psychosomatischer Beschwerden<br />
Betrachtet man die geschlechtsspezifischen Aspekte im Hinblick auf die<br />
schulische Sozialisation, so fällt es auf, dass die Mädchen zu einem<br />
höheren Anteil die Realschule und das Gymnasium besuchen, als ihre<br />
männlichen Landsgefährten. Dieses Phänomen ist allerdings kein Aus-<br />
siedlerspezifikum und trifft auch auf die Einheimischen zu. Es ist gene-<br />
rell zu beobachten, dass Schülerinnen zu einem höheren Anteil einen
Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sozialisation<br />
99<br />
der Spätaussiedler___________________________________________<br />
höheren Schulabschluss erreichen als die Jungen (Mies-van Engelsho-<br />
ven, 1999 S. 15). Aus der Erfüllung der schulischen Erwartungen ge-<br />
winnen die Mädchen ein höheres Selbstvertrauen; bei den Jungen re-<br />
sultiert das Selbstvertrauen aus den positiven Mitschüler-Beziehungen<br />
(Hurrelmann/Ulich, 2002 S. 395).<br />
Auch im häuslich-familiären Bereich zeigt die Geschlechtszugehörigkeit<br />
ihre Auswirkungen. Viele Eltern sind verunsichert durch die vielen An-<br />
gebote und Freiheiten in Deutschland, weshalb die jungen Mädchen<br />
besonders strengen häuslichen Kontrollen unterliegen. Ihnen wird es<br />
teilweise nicht erlaubt die Diskotheken oder das Kino zu besuchen. Vie-<br />
le Eltern erleben die einheimische Gesellschaft als freizügig und erle-<br />
ben diese Umwelt als Angriff auf die sexuelle Integrität der Töchter. Zu<br />
einem Konflikt zwischen Familie und Schule kann es bei Klassenfahrten<br />
oder Schwimmunterricht kommen. Bahlmann warnt jedoch vor einer<br />
negativen Bewertung dieses beschützenden Verhaltens seitens der<br />
Eltern. Die eigenen Maßstäbe der Aussiedler müssen nicht völlig beisei-<br />
te geschoben, aber relativiert werden (Bahlmann, 2000 S. 79).<br />
Es wird angenommen, dass sowohl Mädchen als auch Jungen hausar-<br />
beitsnäher sozialisiert sind, als einheimische Jugendlichen. Sie orientie-<br />
ren sich jedoch an traditionellen Geschlechterrollen. In dem Herkunfts-<br />
land lernten die Mädchen früh den Haushalt zu organisieren, da die<br />
Mütter in den meisten Fällen berufstätig waren. Die Jungen übernah-<br />
men die männlich-väterliche Rolle und übten Tätigkeitsfelder im Haus-<br />
halt und draußen aus.<br />
10. Betrachtung nach unterschiedlichen Aspekten<br />
Der Verlauf der Migration und die Erfahrung der Integration ist von vie-<br />
len Faktoren abhängig. Diese Faktoren, also die abhängigen Variablen<br />
der Integration sollen im folgendem herausgearbeitet werden.<br />
In Anbetracht der Migrationshintergründe, der spezifischen Sozialisati-<br />
onsbedingungen und der Kenntnisse der kollektivistischen Gesell-
Betrachtung nach unterschiedlichen Aspekten<br />
100<br />
_________________________________________________________<br />
schaftsstrukturen stelle ich sechs - auf die Integration Einfluss nehmen-<br />
den - Aspekte hypothetisch in die Diskussion.<br />
10.1. Geschlechter-Aspekt<br />
Die Integration als ein wichtiger Bestandteil der Sozialisation der ju-<br />
gendlichen Aussiedler ist abhängig von dem Geschlecht. Das Umgehen<br />
mit kritischen Lebensereignissen und die Bewältigungsmechanismen ist<br />
geschlechtsabhängig.<br />
10.2. Zeitpunktaspekt<br />
Zu welchem Zeitpunkt, also in welchem Alter die Migration erfolgt spielt<br />
eine wichtige Rolle im Integrationsverlauf.<br />
Erfolgt die Migration zum Beispiel in der Pubertätsphase, in der<br />
Selbstfindungs- und Selbstbehauptungsprozesse stattfinden, kann die<br />
Identität durch diese kritischen Lebensereignisse schwer erschüttert<br />
werden.<br />
Aber auch kleine Kinder kann eine Migration schwer treffen. Die Tren-<br />
nungserfahrungen werden nur anders wahrgenommen, als von Jugend-<br />
lichen oder Erwachsenen.<br />
10.3. Freiwilligkeitsaspekt<br />
Die Ausreiseentscheidung wird meist von den Eltern oder Großeltern<br />
getroffen und auch durchgesetzt. An den Diskussionen und Entschei-<br />
dungen um die Ausreise sind die Kinder oft nicht beteilig. Das entspricht<br />
der Normalität der überwiegend traditionalen und patriarchalischen Fa-<br />
milienbeziehungen, in denen die Kinder aufgewachsen sind (Silberei-<br />
sen, 1999 S. 263).
Betrachtung nach unterschiedlichen Aspekten<br />
101<br />
_________________________________________________________<br />
Ob sich der Freiwilligkeitsaspekt auf die Eingliederungsprobleme aus-<br />
wirkt, konnten Strobl und Kühnel in ihrer Studie nicht eindeutig belegen.<br />
Einige Fälle zeigten einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer<br />
eher unfreiwilligen Ausreise und einer distanzierten Haltung zur bun-<br />
desdeutschen Gesellschaft. Diese Fälle können jedoch nicht als typisch<br />
gelten (Strobl, 2000 S.127f).<br />
10.4. Bildungsaspekt<br />
Zu betrachten gilt der Bildungshintergrund der Eltern der jungen Aus-<br />
siedler. Die Kinder aus Familien der Akademiker finden sich eher in den<br />
weiterbildenden Schulen, als Kinder deren Eltern eine berufliche Aus-<br />
bildung absolviert haben (Bade, 1999). Dieses gilt im höheren Maße<br />
auch für die einheimischen Kinder (Hurrelmann, 1986).<br />
10.5. Herkunftsaspekt<br />
Mit dem Herkunftsaspekt ist der Herkunftsort gemeint. Die meisten<br />
Aussiedler (45,8%), lebten vor der Migration in Dörfern; 19,5% lebten in<br />
Kleinstädten, 16,4% in mittelgroßen Städten und 17,6% in Großstädten 8<br />
(Strobl, 2000 S.73).<br />
Ein sehr hoher Anteil der Aussiedler war im Herkunftsland in dem land-<br />
wirtschaftlichen Sektor beschäftigt. Die Lebensbedingungen und somit<br />
die familiäre und schulische Situation unterschieden sich beträchtlich<br />
von den Lebensbedingungen in einer Großstadt.<br />
Das Stadt-Land-Gefälle ist in Russland erheblich größer, als in<br />
Deutschland, was den Lebensstandard betrifft. Das Leben in einer<br />
Großstadt bedeutet größere Unabhängigkeit, breitere Ausbildungs- und<br />
Arbeitsplatzchancen, größere Kultur- und Bildungsangebote. Das Le-<br />
ben auf dem Land bedeutet dagegen größere Nähe zur Natur, einfa-<br />
cheres Leben, weniger Abwechslung, geringere Aufstiegsmöglichkeiten<br />
8 Diese Werte beziehen sich auf ehm. Sowjetunion.
Betrachtung nach unterschiedlichen Aspekten<br />
102<br />
_________________________________________________________<br />
in schulischer und beruflicher Hinsicht. Unterstützungsmechanismen in<br />
Verwandtschaft und Nachbarschaft sind sowohl auf dem Land als auch<br />
in einer Großstadt von großer Bedeutung (Kossolapow, 1987 S. 101).<br />
Leider liegen mir keine Untersuchungen zu diesem Aspekt vor. Es wäre<br />
interessant zu erfahren, inwiefern der Herkunftsort einen Einfluss auf<br />
die Integration und die Sozialisation nehmen kann. Gibt es Unterschie-<br />
de in der Schülerverteilung auf unterschiedliche Schulformen in<br />
Deutschland in Abhängigkeit von dem Herkunftsort?<br />
10.6. Abschiedsaspekt<br />
Der Abschiedsaspekt soll das Ausmaß an subjektiv empfundenen Ver-<br />
lusten ausdrücken und in Beziehung zu der Integration und Sozialisati-<br />
on setzen.<br />
Viele Familien emigrieren nach Deutschland, um die Familie wieder<br />
zusammenzuführen mit jenen Verwandten, die schon vor Jahren aus-<br />
gesiedelt waren. Andere Familien emigrieren nach Deutschland und<br />
hinterlassen im Herkunftsland nahe Familienangehörige, da diese keine<br />
Ausreiserlaubnis bekommen können. Die Familien mit gemischten E-<br />
hen werden sehr oft mit Familientrennung konfrontiert. Eine 1995/1996<br />
durchgeführte Befragung von Aussiedlerjugendlichen, die zwischen<br />
1990 und 1994 nach Deutschland gekommen waren zeigte, dass 39%<br />
der interviewten Jugendlichen aus Familien mit einem nichtdeutschen<br />
(zumeist russischen) Elternteil kamen (Dietz, 1999 S. 31).<br />
Auch die Kinder empfinden diese Trennung als sehr schmerzvoll, wo-<br />
möglich müssen sie sich von einer nahen Bezugsperson, wie zum Bei-<br />
spiel der Großmutter, trennen. Die Trennung von Bezugspersonen ist<br />
sicherlich gravierender für die Entwicklung eines Kindes, als die Tren-<br />
nung von den Freunden. Wobei auch der Verlust von Freundschaften<br />
nicht zu unterschätzen wäre.
Betrachtung nach unterschiedlichen Aspekten<br />
103<br />
_________________________________________________________<br />
Eine etwas ältere Studie von Kossolapow stellt fest, dass 94% der be-<br />
fragten Jugendlichen wichtige soziale Bindungen im Herkunftsland zu-<br />
rückgelassen haben. Gegenseitige Besuche und Telefonate fallen aus<br />
Kostengründen eher selten aus (Kossolapow, 1987).<br />
11. Integrationshilfen<br />
11.1. Sichtwechsel<br />
Kommen wir noch einmal zurück zu dem Integrationsbegriff. Bisher<br />
wurden die Integrationsmodelle für die Migranten und auf die Migranten<br />
„maßgeschneidert“, mit einem Nachteil: Die Migranten werden als Ob-<br />
jekte der Integration wahrgenommen, denen die Ziele der bundesdeut-<br />
schen Gesellschaft von dieser auferlegt werden.<br />
Einen Sichtwechsel, der eine besondere Beachtung verdient, wagt die<br />
Soziologin Irene Tröster (Tröster, 2003). Sie untersucht mit sozialwis-<br />
senschaftlichen Methoden, wie sich Russlanddeutsche ihre Integration<br />
in Deutschland vorstellen. Es zeigt sich, dass diese „Objekte der Integ-<br />
rationsbemühungen“ eigene Konzepte für den Integrationsprozess ha-<br />
ben, die nicht unbedingt mit den Zielen der Aufnahmegesellschaft und<br />
ihrer Sozialarbeit übereinstimmen.<br />
In gewissen Sinne wird mit diesem Buch also den deutschen Integrati-<br />
onsbemühungen ein Spiegel vorgehalten, der zeigt, dass im Integrati-<br />
onsprozess verschiedene Vorstellungen über die Ziele dieses Prozes-<br />
ses vorherrschen.<br />
Es erklärt sich auch das Problem, dass manchmal deutsche Sozialar-<br />
beiter/innen und Russlanddeutsche aneinander vorbeireden.<br />
Irene Tröster stellt drei Grundtypen der russlanddeutschen Integrati-<br />
onsziele heraus: „Zurechtkommen“, „Mithalten“, „Gleichen“.<br />
Das Ziel „Zurechtkommen“ orientiert sich an dem Erreichen eines<br />
selbständigen Lebens in Deutschland. Wer von sich sagen kann, er<br />
habe dieses Ziel erreicht, kann ohne fremde Hilfen leben. Dazu gehört
Integrationshilfen<br />
104<br />
_________________________________________________________<br />
bei einer Untergruppe der Befragten auch die Fähigkeit, Alltagskontakte<br />
mit Einheimischen reibungslos zu bewältigen. Dieses Ziel wird häufig in<br />
relativ kurzer Zeit erreicht. Menschen mit dieser Zielvorstellung finden<br />
sich häufig in der älteren Zuwanderungsgruppe, sind also vor 1995 ge-<br />
kommen. Die Vertreter dieses Integrationszieles haben schnell ihr „per-<br />
sonales Gleichgewicht“ wiedergefunden. Sie betrachten ihr Ziel als et-<br />
was, das sie durch eigene Anstrengungen erreichen konnten. Sie leiden<br />
dementsprechend wenig an Frustrationen im Integrationsprozess. Ihr<br />
Integrationsziel unterscheidet sich allerdings deutlich von den Erwar-<br />
tungen der deutschen Gesellschaft (ebd. S. 129f).<br />
Das Ziel „Mithalten“ orientiert sich überwiegend an materiellen Fakto-<br />
ren. Die Vertreter dieses Zieles wollen ihren, in den Herkunftsländern<br />
innegehabten – zumeist hohen – Lebensstandard wieder erreichen und<br />
in Deutschland einen Lebensstandard haben, der vergleichbar ist mit<br />
den materiellen (und zum Teil ausbildungsmäßigen) Standards der Ein-<br />
heimischen. Dieses Ziel wird aber bei weitem nicht so häufig erreicht<br />
wie das Ziel des „Zurechtkommens“. Da die materiellen und sozialen<br />
Bedingungen für das Erreichen dieses Ziels in Deutschland zur Zeit<br />
nicht gut sind, erleiden die Menschen, die mit diesem Ziel gekommen<br />
sind, häufig hohe Frustrationen. Das Erreichen des Zieles „Mithalten“ ist<br />
stark umgebungsabhängig und erweist sich dadurch als besonders kri-<br />
senanfällig. Die Betroffenen sehen für sich selbst kaum Chancen, ihr<br />
Integrationsziel durch eigene Anstrengungen zu erreichen (ebd. S.<br />
144f).<br />
Das Ziel „Gleichen“ kommt dem umgangssprachlichen Begriff „Integ-<br />
ration“ der deutschen Mehrheitsgesellschaft am nächsten. Dabei lassen<br />
sich zwei signifikante Untertypen differenzieren.<br />
a) Menschen, die eine <strong>vollständige</strong> Assimilation anstreben. Sie verhal-<br />
ten sich oft überangepasst und versuchen, die von ihnen als minder-<br />
wertig empfundene russische Kultur aus ihrem Leben zu verbannen.<br />
b) Menschen, die nur eine äußerliche Assimilation anstreben, sich aber<br />
bemühen bestimmte Anteile ihrer russischen kulturellen Prägung beizu-<br />
behalten (ebd. S. 157f).
Integrationshilfen<br />
105<br />
_________________________________________________________<br />
Die Gemeinsamkeit der beiden Gruppen ist, dass sie selbst bemerken,<br />
dass ihr eigenes Ziel unerreichbar bleibt.<br />
Die Gruppe, die eine äußerliche Integration anstrebt, ist in der Lage,<br />
das als einen lebenslangen und generationsübergreifenden Prozess zu<br />
verstehen, während die Gruppe, die <strong>vollständige</strong> Assimilation anstrebt,<br />
unreflektiert darauf vertraut, dass es ihren Kindern und Enkeln durch<br />
die schlichte Tatsache der Teilhabe an der deutschen Normalbiografie<br />
gelingen wird, dieses Ziel zu erreichen.<br />
Bei beiden Gruppen ist die Frustration sehr hoch.<br />
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Integrationsbemü-<br />
hungen für die Betroffenen um so schwieriger sind, je abhängiger ihr<br />
eigenes Integrationsziel von der Umgebung, den materiellen Bedingun-<br />
gen und der „Fremdenfähigkeit“ der aufnehmenden Gesellschaft ist<br />
(ebd. S.179).<br />
Bikulturalität<br />
Die einzige Möglichkeit den Integrationsprozess unbeschadet zu über-<br />
stehen - und noch wichtiger – die Integration für sich als eine Nährquel-<br />
le zu nutzen (und da sind sich die Migrationsforscher einig), ist die ei-<br />
gene Bikulturalität ausleben zu dürfen.<br />
Der fremde Migrant soll sein „Umzugsgepäck“, in dem ganz individuelle<br />
Schätze, wie Farben, Töne, Bilder, Gerüche, Literatur, Strickmuster und<br />
Handwerkstechnicken, verborgen sind, öffnen dürfen. Über sein Mitge-<br />
brachtes würde er gewiss gern im neuen Land berichten und in sein<br />
neues Leben integrieren, wodurch er von seinem Status des Fremd-<br />
lings erlöst werden kann.<br />
Grosjean vertieft die Definition der bikulturellen Person folgenderma-<br />
ßen:<br />
„Sie ist weder die Summe der zwei zur Diskussion stehenden Kulturen, noch<br />
das Sammelbecken zweier unterschiedlicher Kulturen, sondern eine Entität,<br />
welche die Aspekte und die Züge dieser beiden Kulturen auf neuartige und<br />
persönliche Art kombiniert und verschmilzt. Sie hat also ihre eigene kulturelle
Integrationshilfen<br />
106<br />
_________________________________________________________<br />
Kompetenz, ihre eigene Erfahrung und ihre eigene Ökologie.“ (Grosjean, 1996<br />
Zitat S. 183)<br />
In der Interaktion mit der neuen Kultur entsteht etwas neues, etwas<br />
qualitativ anderes als das Nebeneinander zweier unterschiedlicher Kul-<br />
turen.<br />
Stärken stärken<br />
Die individuelle Stärken von Jugendlichen sind oft hinter der Fassade<br />
des „auffälligen Verhaltens“ versteckt. Diese Stärken sind auch den Ju-<br />
gendlichen selbst nicht immer bewusst.<br />
Viele Integrationsmaßnahmen leiden immer noch an „Fürsorgeritis“<br />
(Begriff aus: Kornischka, 1992). Es reicht bei weitem nicht aus den<br />
Migranten die Schwierigkeiten abzunehmen und sie im Glauben zu las-<br />
sen, sie wären nicht fähig ihr Leben selbst zu meistern.<br />
Die Erkenntnis und der Ausbau der eigenen Leistungsfähigkeit führen<br />
zu Stärkung und Stabilisierung des Selbstvertrauens und des Selbst-<br />
wertgefühls. Das Prinzip – an den Stärken der jungen Migranten anzu-<br />
setzen – ist eine deutliche Absage an die integrationsspezifische Maß-<br />
nahmen, die – wenn auch in guter Absicht – allein Defizite zum Aus-<br />
gangspunkt pädagogischer Hilfestellung machen.<br />
Vor allem im schulischen Bereich sollten die Stärken endlich als Stär-<br />
ken gesehen werden. Der Wissensvorsprung in naturwissenschaftli-<br />
chen Fächern, wie Mathematik, Chemie, Physik, soll nicht als beque-<br />
mer Vorteil gesehen werden, der den Schülern aus Russland erlaubt<br />
sich in diesen Fächern zurückzulehnen und sich zu langweilen, bis die<br />
Regelklasse ihr Wissensniveau erreicht hat. Das kann eventuell einige<br />
Jahre dauern, da viele Aussiedlerjugendliche wegen mangelhafter<br />
Deutschkenntnisse ein bis zwei Jahre zurückgestuft werden. Das ein-<br />
richten von „Schwerpunktlerngruppen“, die die Aussiedlerjugendlichen<br />
da abholen würden, wo sie stehen geblieben sind, würde der Lange-<br />
weile und dem auch dadurch bedingtem auffälligem Verhalten entge-<br />
genwirken und sie in ihrem Selbstwertgefühl bestärken.
Integrationshilfen<br />
107<br />
_________________________________________________________<br />
Sichtverzerrung<br />
Der Einfluss, in der Öffentlichkeit agierenden Multiplikatoren, wie zum<br />
Beispiel Medien oder Migrationsforschern, tragen bekanntlich beträcht-<br />
lich zum Entstehen der öffentlichen Meinung über die Minoritätgruppe<br />
Aussiedler bei.<br />
Integrationserfolge kommen bei den Medien bei weitem nicht so gut an,<br />
wie zum Beispiel das Berichten über die Gefährdung der Gesellschaft<br />
durch die russische Mafia.<br />
Zu bemängeln ist die unwissenschaftliche Inkonsequenz einiger Migra-<br />
tionsforscher im Bezug auf die Bezeichnung der Aussiedler. Die Wis-<br />
senschaftler können dazu beitragen, die Vorurteile in der Gesellschaft<br />
zu verfestigen, wenn sie in ihren Publikationen, wie zum Beispiel Mies-<br />
van Engelshoven die einheimische SchülerInnen als „Deutsche Schüle-<br />
rInnen“ und daneben die AussiedlerInnen als „AussiedlerInnen“ be-<br />
zeichnen (Mies-van Engelshoven, 2002 S. 18; Abbildung 7 hier im<br />
Text).<br />
Beide Begriffe getrennt von einander betrachtet sind absolut unbedenk-<br />
lich. Wenn die Autoren jedoch die Gruppen vergleichend gegenüber-<br />
stellen, dann haben wir auf der einen Seite die deutschen Jugendlichen<br />
und auf der anderen die Aussiedlerjugendlichen, somit wird – von den<br />
Autoren bewusst oder unbewusst – den Aussiedlern die Deutschstäm-<br />
migkeit aberkannt.<br />
Die Integrationsforscher Strobl und Kühnel begehen den gleichen defi-<br />
nitorischen Fehler mehrmals in ihrem Buch. Hier einige Textpassagen,<br />
die eine Kritik verdient haben.<br />
„Aussiedler finden sich mehrheitlich mit ihresgleichen zusammen. Nur diejeni-<br />
gen, die keiner Clique angehören, haben etwas häufigere Kontakte zu Deut-<br />
schen.“ (Strobl, 2000 Zitat S. 185) Aussiedler versus Deutsche.<br />
„Wir nehmen an, dass Aussiedler gute Teilhabechancen haben, wenn sie die<br />
deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, sehr gut oder perfekt Deutsch spre-<br />
chen können (...) sich in materieller Hinsicht etwa gleich viel wie deutsche Ju-
Integrationshilfen<br />
108<br />
_________________________________________________________<br />
gendliche oder sogar mehr als deutsche Jugendliche leisten können (...).“ (Zi-<br />
tat ebd.) Aussiedler versus deutsche Jugendliche.<br />
Es wird viel Geld in die Integrationsmaßnamen investiert und viel über<br />
Integrationshilfe gesprochen. Dieses Kapitel soll nicht die einzelnen<br />
integrativen Maßnahmen, die unbestritten für die Migranten von großer<br />
Bedeutung für das Einleben in der neuen Kultur sind, auflisten, sondern<br />
die Wahrnehmung schärfen, die als Substanz der Integrationsmaß-<br />
nahmen den Aussiedlern und der aufnehmenden Gesellschaft förderlich<br />
dienen kann.<br />
12. Fazit<br />
Nicht alle Autoren, die sich mit der Integration der Aussiedler beschäfti-<br />
gen, verwenden die Begriffe „biographischer Bruch“ oder „Identitäts-<br />
bruch“ im Zusammenhang mit der Migration. Bahlmann spricht sich so-<br />
gar gegen diese Bezeichnung aus:<br />
„Ein Stück der alten Identität bleibt in der neuen aufgehoben, deshalb ist es<br />
auch falsch von einem „Bruch“ zu sprechen (...).“ (Bahlmann, 2000 Zitat S. 38)<br />
Und trotzdem finde ich die Bezeichnung „Bruch“ als eine Umschreibung<br />
der Erfahrung der Migration am präzisesten. Das Leben der Migranten<br />
wird wie mit einer Schere in zwei Teile zerschnitten, ein Teil ist das „Le-<br />
ben vor dem Abschied“ und das zweite Teil ist das „Leben nach dem<br />
Ankommen“. Was die beiden Teile verbindet ist das Trauma der Immig-<br />
ration.<br />
Das Leben vor dem Abschied ist die Kindheit, die ganz bestimmten<br />
Baumarten, die kalten verschneiten Winter und die trockenen heißen<br />
Sommer, es sind Kindergedichte und die wilden blauen Wiesen aus<br />
Vergissmeinnicht. Das Leben nach dem Ankommen lässt das Leben<br />
vor dem Abschied auf Dauer mit jenem Winkel im Gedächtnis begnü-<br />
gen, der für das Gestern bereitgehalten wird.
Fazit<br />
109<br />
_________________________________________________________<br />
An dem mitgebrachten Fluchtgepäck können sich die Migranten auf-<br />
wärmen, sich einen Moment erfreuen oder auch Tränen vergießen, a-<br />
ber nutzen können sie es nicht, denn das Leben nach dem Ankommen<br />
stellt ihnen ein neues Gepäck zusammen, das ihnen helfen soll ihr neu-<br />
es Leben zu meistern.<br />
Der biographische Bruch oder der Identitätsbruch, den die ganze Fami-<br />
lie erlebt, macht die Besonderheit der Sozialisation aus und betrifft alle<br />
Bereiche des Lebens der Kinder und Jugendlichen, wie zum Beispiel<br />
das soziale Netzwerk, die sozioökonomische Stellung und die kulturel-<br />
len Werte.<br />
Die unterschiedlichen Integrationsmodelle oder Theorien können die<br />
stattgefundenen Prozesse einordnen oder vielleicht auch erklären, aber<br />
mildern können sie die Umstände der Migration wohl kaum.<br />
Was zu tun bleibt, ist die Aufnahmegesellschaft über die Geschichte der<br />
Migranten über ihre Migrationsursachen und -umstände aufzuklären<br />
(und dabei geht es nicht nur um die Aussiedler), denn Deutschland ist<br />
und bleibt ein multikulturelles Einreiseland und die junge Generation ist<br />
und bleibt Träger der Werte, des Weltbildes und der Zukunftsperspekti-<br />
ven einer Kultur.
Literaturverzeichnis<br />
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Erklärung gemäß §22 Abs. 7 MPO 1997<br />
Ich habe die Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als die an-<br />
gegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt.<br />
Datum, Ort Unterschrift<br />
Hannover, 5.04.05 Nelly Simonov