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Seite an Seite in zwei Welten<br />

Sozialpsychologische Aspekte der Sozialisation von jugendlichen<br />

Spätaussiedlern aus Russland


Seite an Seite in zwei Welten<br />

Sozialpsychologische Aspekte der Sozialisation von jugendlichen<br />

Spätaussiedlern aus Russland<br />

<strong>Magisterarbeit</strong> zur Erlangung des akademischen Grades<br />

Magister Artium im Hauptfach „Sozialpsychologie“<br />

an der<br />

Universität Hannover<br />

Institut für Soziologie und Sozialpsychologie<br />

vorgelegt von<br />

Nelly Simonov<br />

Erstprüferin: Dipl. Sozwiss. Silvia Augustin. Note: 1,3<br />

Zweitprüfer: Dipl. Sozwiss. Edgar Zakaria. Note: 1,0<br />

Ort und Datum der Abgabe:<br />

Hannover, 05.04.05


Für meinen Großvater<br />

David Penner


Inhaltsverzeichnis<br />

Einleitung _______________________________________________ 7<br />

1. Hintergründe und Randbedingungen ____________________ 9<br />

1. 1. Aktuelle Situation____________________________________ 9<br />

2. Definition und Begriffsklärung_________________________ 10<br />

2. 1. Sozialisation – Begriffsklärung ________________________ 11<br />

2. 2. Jugend – Begriffsklärung ____________________________ 12<br />

3. Sozialisation in der Familie ___________________________ 13<br />

3.1. Familie - Begriffsklärung______________________________ 13<br />

3.2. Geschichtlicher Wandel der Institution Familie ____________ 16<br />

3.3. Zeitalter der Individualisierung _________________________ 18<br />

4. Geschlechtsspezifische Sozialisation___________________ 20<br />

4.1. Zweigeschlechtlichkeit aus der biologischen Sicht _________ 22<br />

4.2. Zweigeschlechtlichkeit aus der psychoanalytischen Sicht____ 23<br />

4.2.1. Definition und Grundannahme der Psychoanalyse______ 24<br />

4.2.1.1. Der psychische Apparat und das Triebmodell ________ 24<br />

4.2.1.2. Psychosexuelle Phasen _________________________ 25<br />

4.2.2. Chancen/Gefahren ________________________________ 26<br />

5. Sozialisation in der Schule ____________________________ 28<br />

5.1. Aufgaben und Funktionen schulischer Sozialisation ________ 28<br />

6. Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern ___________ 31<br />

6.1. Familienspezifik in Russland __________________________ 31<br />

6.2. Ausreisemotive und Ausreisebedingungen _______________ 33<br />

6.2.1. Einwanderungsbedingungen im Wandel______________ 44<br />

6.3. Wohnsituation der Spätaussiedler in Deutschland _________ 45<br />

6.4. Besonderheiten der Familiensozialisation der Aussiedler ____ 47<br />

6.5. Integrationsmodell __________________________________ 54<br />

6.5.1. „Integrationsfalle“ Ghetto? _________________________ 54<br />

6.5.2. Integration – Begriffsklärung _______________________ 56<br />

6.5.3. Typen des Wandels kultureller Identität ______________ 58<br />

6.6. Zusammenfassung des 6. Kapitels _____________________ 63<br />

7. Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern ________ 64<br />

7.1. Schulspezifik in Russland ____________________________ 65<br />

7.1.1. Bildungsstruktur der Schule in der ehemaligen UdSSR und<br />

Russland ___________________________________________ 68<br />

7.2. Aufnahme der Spätaussiedler in der deutschen Schule _____ 73<br />

7.3. Besonderheiten und Probleme in der schulischen Sozialisation<br />

bei den Spätaussiedlern _________________________________ 74<br />

7.3.1. Integration und Konsum __________________________ 79<br />

4


8. Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration ____ 80<br />

8.1. Identitätskrise ______________________________________ 80<br />

8.2. Trauma ___________________________________________ 85<br />

8.2.3. Trauma im Kindes- und Jugendalter _________________ 90<br />

8.2.3.1. Namensänderung ______________________________ 91<br />

8.2.4. Notwendigkeit der Trauer _________________________ 93<br />

8.2.5. Diathese – Stress – Modell ________________________ 94<br />

8.3. Psychosomatik _____________________________________ 95<br />

9. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sozialisation der<br />

Spätaussiedler__________________________________________ 97<br />

10. Betrachtung nach unterschiedlichen Aspekten ___________ 99<br />

10.1. Geschlechter-Aspekt____________________________ 100<br />

10.2. Zeitpunktaspekt________________________________ 100<br />

10.3. Freiwilligkeitsaspekt ____________________________ 100<br />

10.4. Bildungsaspekt ________________________________ 101<br />

10.5. Herkunftsaspekt _______________________________ 101<br />

10.6. Abschiedsaspekt_______________________________ 102<br />

11. Integrationshilfen___________________________________ 103<br />

11.1. Sichtwechsel ____________________________________ 103<br />

12. Fazit ______________________________________________ 108<br />

13. Literaturverzeichnis _________________________________ 110<br />

5


Abbildungsverzeichnis<br />

ABB. 1 JUGENDPHASEN___________________________________________13<br />

ABB. 2 CHRONOLOGIE DER AUSWANDERUNG__________________________35<br />

ABB. 3 TEUFELSKREIS DER EXKLUSION ______________________________53<br />

ABB. 4 VERÄNDERUNGSTYPEN KULTURELLER IDENTITÄT ________________59<br />

ABB. 5 FORMEN DER INTEGRATION IN DIE AUFNAHMEGESELLSCHAFT_______60<br />

ABB. 6 GEGENÜBERSTELLUNG DER INTEGRATIONSMODELLE BERRY/STROBL<br />

UND KÜHNEL ______________________________________________61<br />

ABB. 7 FAMILIENSOZIALISATION BEI DEN SPÄTAUSSIEDLERN _____________64<br />

ABB. 8 DAS BILDUNGSSYSTEM IN RUSSLAND__________________________66<br />

ABB. 9 BILDUNGSINHALTE, UNTERRICHTSFORM, ERZIEHUNGSIDEALE_______73<br />

ABB. 10 VERTEILUNG AUF DIE SCHULFORMEN _________________________77<br />

ABB. 11 DER EINFLUSS DES GESCHLECHTS AUF DAS AUSMAß<br />

PSYCHOSOMATISCHER BESCHWERDEN ___________________________98<br />

6


Einleitung<br />

7<br />

_________________________________________________________<br />

Einleitung<br />

Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wird die deutsche Ge-<br />

sellschaft mit dem Begriff „Aussiedler“ 1 intensiv konfrontiert.<br />

Es wird viel über die Integration und Integrationsprobleme der Aussied-<br />

ler publiziert, es wird viel über die Maßnahmen zu Integrationshilfe ge-<br />

sprochen. Und doch scheint das Thema „Aussiedler“ an Aktualität nicht<br />

verloren zu haben.<br />

Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem sensibelsten Glied der Gesell-<br />

schaft, mit den Problemen der Kinder und Jugendlichen, im konkreten<br />

Fall mit den Schwierigkeiten und Problemen, mit den Strategien zur<br />

Überwindung der Barrieren und Stolpersteine im Laufe der Sozialisati-<br />

onsprozesse der jungen Spätaussiedler aus Russland.<br />

Ziel dieser Arbeit ist in erster Linie, die Bedeutung der Sozialisations-<br />

prozesse für die Entwicklung der Persönlichkeit herauszustellen und mit<br />

diesem Hintergrund die Sozialisationsprozesse der Spätaussiedler ge-<br />

nauer unter die Lupe zu nehmen. Das Verstehen der besonderen Um-<br />

stände, in der die Sozialisation der Spätaussiedler stattfindet, kann Be-<br />

ratern und Therapeuten helfen in die Problematik tiefer einzudringen<br />

und effektive Problemlösungsansätze anzubieten.<br />

Im ersten Teil der Arbeit wird die theoretische Grundlage der Sozialisa-<br />

tion vorgestellt und die wichtigsten Begriffe der Sozialisation erläutert.<br />

Ein <strong>vollständige</strong>r Überblick zu Sozialisationstheorien und Sozialisations-<br />

forschungen ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich.<br />

Der zweite Teil beschäftigt sich mit den sozialpsychologischen Aspek-<br />

ten der Sozialisation der jugendlichen Spätaussiedler aus Russland.<br />

1 An Stelle der Begriffe Aussiedler/Spätaussiedler könnten hier und im folgenden genauso gut<br />

die Ausdrücke Aussiedlerinnen/Spätaussiedlerinnen stehen. Ich folge weniger der sprachlichen<br />

Konvention aus Gründen der Einfachheit der Formulierung und bitte dies nachzusehen.


Einleitung<br />

8<br />

_________________________________________________________<br />

Instrumente<br />

Da diese Arbeit auf den bereits bestehenden Forschungen und Analy-<br />

sen fußt und sich auf keine eigenständige quantitative Untersuchung<br />

stützt, wird auf eine konkrete Einschränkung des Alters der jungen<br />

Spätaussiedler verzichtet. Angesprochen wird die Gruppe, die sich - im<br />

sozialwissenschaftlichen und sozialpsychologischen Sinne - zwischen<br />

der späten Kindheit 8-12 Jahren und der frühen Adoleszenz 14-17 Jah-<br />

ren befindet. Gemeint ist ein Zeitraum in dem ein Kind bzw. Jugendli-<br />

cher im Regelfall eine allgemeinbildende Schule besucht.<br />

Um dieser Arbeit einen zeitlichen Rahmen zu verleihen und der Aktuali-<br />

tät gerecht zu werden, begrenze ich die ethnische Gruppe der Aussied-<br />

ler aus Russland auf die Aussiedler mit dem Rechtsstatus „Spätaus-<br />

siedler“. Den Rechtsstatus eines Spätaussiedlers erhalten jene, die vor<br />

dem 1.1.1993 geboren wurden, nach dem 31.12.1992 einen Aufnah-<br />

mebescheid gemäß § 26 BVFG erhalten haben und sich seit dem<br />

1.1.1993 in der BRD aufhalten (Strobl, 2000).<br />

In dieser Arbeit wird der Begriff Aussiedler stellvertretend für Aussiedler<br />

und Spätaussiedler verwendet, da beide Gruppen ähnliche Migration-<br />

serfahrungen machen. Wird der Begriff Spätaussiedler verwendet, so<br />

richtet sich das Augenmerk auf die Gruppe der Aussiedler mit dem<br />

Rechtsstatus Spätaussiedler.<br />

Eine weitere Präzisierung der zu untersuchenden Gruppe erfolgt durch<br />

die Bestimmung ihrer Herkunft. Es handelt sich um die jungen Spätaus-<br />

siedler aus Russland. Die ethnische Minderheit der Deutschen ist ge-<br />

schichtlich und politisch bedingt verstreut über das ganze Gebiet der<br />

ehemaligen Sowjetunion. Durch den Zerfall der Sowjetunion, haben die<br />

unabhängigen Staaten eine eigene politische Dynamik entwickelt und<br />

machen eine enorme kulturelle Wandlung durch. Aus diesem Aspekt<br />

der Multikulturalität möchte ich die zu untersuchende Gruppe homogen<br />

halten und mich nur auf die deutsche Minderheit aus Russland bezie-<br />

hen, wobei ich in dem Kapitel „Ausreisemotive und Ausreisebedingun-<br />

gen“ den Aspekt der Herkunft im Hinblick auf die Ausreisehintergründe<br />

einmal aufgreifen muss.


Einleitung<br />

9<br />

_________________________________________________________<br />

Als Instrumente dieser Arbeit dienen die einschlägige Literatur, Recher-<br />

che in den Fachdatenbanken, sozialwissenschaftliche, psychologische,<br />

sozialpsychologische, politologische, pädagogische Zeitschriften, russi-<br />

sche Periodika und Recherche in dem weltweitem Web, mit dem<br />

Hauptaugenmerk auf den Seiten aus Deutschland und Russland.<br />

Nicht zu vergessen ist die eigene Erfahrung mit dieser ethnischen Min-<br />

derheit, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass diese Arbeit entste-<br />

hen konnte. Die Erfahrung bewirkte nicht nur das Entstehen, sie beglei-<br />

tet und beeinflusst die Diskussion und formt einen festen Rahmen in<br />

dem sich meine Dialektik bewegt.<br />

1. Hintergründe und Randbedingungen<br />

Laut Grundgesetz - Art. 116, Abs. 1: „Deutscher im Sinne dieses Grundge-<br />

setzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche<br />

Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher<br />

Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebie-<br />

te des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Auf-<br />

nahme gefunden hat.“ (Grundgesetz, 2003) – steht den Aussiedlern und<br />

den Spätaussiedlern die deutsche Staatsbürgerschaft zu.<br />

Das unterscheidet sie von Gastarbeitern oder Flüchtlingen anderer<br />

Herkunft, denen die deutsche Staatsbürgerschaft erst nach langen Jah-<br />

ren des Aufenthaltes auf Antrag zugestanden wird.<br />

1. 1. Aktuelle Situation<br />

Seit Mitte der 90er Jahre ist die Zahl der Ausreiseanträge rückläufig.<br />

1990 kamen 147.950 Aussiedler nach Deutschland, im Jahre 1999 wa-<br />

ren es 103.599 Personen. Die Einführung eines Sprachtests im Her-<br />

kunftsland im Rahmen eines Aufnahmeverfahrens beeinflusste erheb-<br />

lich die Anzahl der Einreisenden. Mittels bestimmter geregelter Auf-<br />

nahmeverfahren wurde seit 1990 der Aussiedlerzuzug gesteuert. Die


Hintergründe und Randbedingungen<br />

10<br />

_________________________________________________________<br />

Zuwanderung wurde auf 225.000 Personen jährlich beschränkt (Infor-<br />

mationen zur politischen Bildung, 2000).<br />

Von 1989 bis 1998 wurden (ohne natürlichen Zuwachs in Deutschland<br />

und Weiterwanderungen aus Deutschland) 2.301.315 neu zugewander-<br />

te Aussiedler registriert (Bade, 1999 S. 9).<br />

Jugendliche Aussiedler bilden bei einem Anteil von 14% an der gesam-<br />

ten Aussiedlerzuwanderung im Zeitraum 1990 bis 1998 eine Gruppe im<br />

Umfang von etwa 275.000 Menschen (ebd. S.45).<br />

Die demografischen Daten aus dem Jahr 2002 ergeben, dass 29.425<br />

der eingereisten Spätaussiedler unter 20 Jahre sind (Mies-van Engels-<br />

hoven, 2002).<br />

Die Bundesregierung hat sich als Ziel gesetzt, die Lebensbedingungen<br />

der Russlanddeutschen in Russland zu verbessern und damit den<br />

Verbleib der deutschen Minderheiten in Russland zu fördern (Informati-<br />

onen zur politischen Bildung, 2000).<br />

Aussiedler heute sind in der Mehrzahl keine Flüchtlinge, die wegen un-<br />

mittelbarer Repressionen ihr Land verlassen müssten. Bei den Aussied-<br />

lern geht es um Veränderungen in den Zukunftsperspektiven wirt-<br />

schaftlicher Art oder auch um Familienzusammenführung mit jenen<br />

Verwandten, die schon vor Jahren ausgesiedelt waren. Bei der Aus-<br />

siedlung geht es um eine selbst gewählte Veränderung der persönli-<br />

chen Entwicklungschancen (Silbereisen, 1999 S. 17). Die Ausreisemo-<br />

tive sind vielfältig und sollen im Kapitel „Ausreisemotive und Ausreise-<br />

bedingungen“ näher erläutert werden.<br />

2. Definition und Begriffsklärung<br />

Zunächst soll die theoretische Grundlage geschaffen werden und die<br />

Begrifflichkeit definitorisch ausdiskutiert werden. Dieses ist notwendig,<br />

um den Transfer von den allgemeinen Theorien der Sozialisation auf<br />

die Sozialisation der spezifischen Gruppe der jungen Aussiedler leisten<br />

zu können.


Definition und Begriffsklärung<br />

11<br />

_________________________________________________________<br />

2. 1. Sozialisation – Begriffsklärung<br />

Die Literaturlage zum Thema Sozialisation ist zum Teil unübersichtlich,<br />

da es sehr viele unterschiedliche Sozialisationstheorien gibt und es im-<br />

mer wieder neue Theorien dazu kommen.<br />

Es gibt zahlreiche unterschiedliche Definitionen zum Begriff Sozialisati-<br />

on. Zimmermann stellt in seinem Buch (Zimmermann, 2003) mehrere<br />

Definitionen zusammen und schlägt eine Definition vor, die die wichtigs-<br />

ten Aspekte in Kürze zusammenfasst.<br />

Diese Definition stammt von Geulen und Hurrelmann und lautet:<br />

„(...) Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechseln-<br />

der Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen<br />

Umwelt. Die Akzentuierung bei sozialisationstheoretischen Fragestellungen<br />

liegt im Mitglied-Werden in einer Gesellschaft.“ (Zitat ebd. S. 16)<br />

Mit der wechselnden Abhängigkeit ist das aktive Subjekt gemeint, das<br />

auf vielfältige Weise mitwirkt. Das Subjekt steht durch die Art seiner<br />

inneren Verarbeitung von Erfahrungen und durch sein Handeln in einer<br />

komplexen Wechselwirkung mit der Umwelt. Der Hinweis auf den Pro-<br />

zesscharakter bedeutet, dass die Sozialisation nicht ein einmaliges Er-<br />

eignis ist, sondern über die ganze Lebensspanne stattfindet. Die Sozia-<br />

lisation eines jeden Subjektes findet in der jeweils spezifischen Umwelt<br />

statt, in einem bestimmten familialen, schulischen usw. Umfeld. Somit<br />

verläuft die Sozialisation bei verschiedenen Menschen sehr unter-<br />

schiedlich und führt zu unterschiedlichen Ausprägungen.<br />

Die Sozialisation unterliegt einem gesellschaftlichen, kulturellen und<br />

auch einem historischen Wandel. Das Verhältnis von Anlage und Um-<br />

welt ist als komplexes Interaktionsgeschehen zu begreifen, wobei die<br />

Einflüsse der Umwelt, nach Aussagen der Biologen und auch der So-<br />

zialisationsforscher, in jedem Fall von enormer Relevanz sind.<br />

Die Sozialisation ist jedoch nicht mit „Hilfe“, „Erziehung“ und „Therapie“<br />

gleichzusetzen, denn dieses ist geplantes Handeln und setzt in der Re-<br />

gel Professionalität voraus. Die Sozialisation geht über die initiierten<br />

Lernprozesse hinaus. (Zimmermann, 2003 S. 16)


Definition und Begriffsklärung<br />

12<br />

_________________________________________________________<br />

2. 2. Jugend – Begriffsklärung<br />

Die Jugend - als Teilnehmer der Sozialisation - lässt sich als Lebens-<br />

phase nicht einfach auf ein Lebensalterintervall festmachen. Dafür sind<br />

die einzelnen Biografien viel zu unterschiedlich und die Bestimmungs-<br />

kriterien für „Jugend“ je nach Argumentation abweichend.<br />

Als traditionelle Kriterien hierzu nannten die Soziologen, wie zum Bei-<br />

spiel Neidhardt (Neidhardt, 1975 S. 14), in den 70er Jahren vor allem<br />

die volle Berufstätigkeit und die Heirat. Die gesellschaftlichen Entwick-<br />

lungen der letzten 30 Jahren lassen jedoch diese Kriterien unbrauchbar<br />

erscheinen. Die Ausbildungszeiten wurden immer länger, so dass der<br />

Berufseintritt oft erst nach dem 30. Lebensjahr erfolgen kann. Neben<br />

der Ehe existieren auch andere Lebensformen (nichteheliche Partner-<br />

schaften, Wohngemeinschaften, Singleleben), die gesellschaftlich weit-<br />

gehend anerkannt sind. Somit kann heute neben dem Berufseintritt<br />

auch die Ehe keinen klaren Rahmen für die Bestimmung der Jugend-<br />

phase bieten. Heute finden sich immer unterschiedlichere Lebenswege<br />

durch die Jugendphase. Dieses Phänomen wird als „Pluralisierung“ des<br />

Jugendalters bezeichnet (Tillmann, 2000 S. 197).<br />

Es ist nicht eindeutig festlegbar, wann die Jugendphase anfängt und<br />

vor allem wann diese endet. Das Ende der Jugend ist besonders prob-<br />

lematisch in der Definition, denn aufgrund der verlängerten Schul- und<br />

Ausbildungszeit verlängert sich auch die ökonomische Abhängigkeit. So<br />

lassen sich zum Beispiel die Studierenden von ihrem Lebensalter, ihren<br />

Erfahrungen und ihrer intellektuellen Entwicklung her nicht mehr als<br />

Jugendliche charakterisieren, jedoch aufgrund der daraus häufig resul-<br />

tierenden ökonomischen Abhängigkeit von den Eltern (ebd. 194f).<br />

In der wissenschaftlichen Literatur findet man unterschiedliche Definiti-<br />

onen über die Jugend. Am häufigsten wird Jugend als eine Übergangs-<br />

phase zwischen Kindheit und Erwachsenheit bezeichnet. Es ist eine<br />

Altersphase in einer Spanne zwischen 13 und ca. 25 Jahren. Die Rän-<br />

der dieser Zeitspanne sind jedoch sehr unscharf und individuell unter-<br />

schiedlich.


Definition und Begriffsklärung<br />

13<br />

_________________________________________________________<br />

In der Alltagssprache wird die Jugend häufig mit der Pubertät gleichge-<br />

setzt.<br />

Der Begriff „Adoleszenz“ stammt aus der Psychologie und beschreibt<br />

die Phase, die über die Pubertät hinausgeht. Mit der Postadoleszenz<br />

bezeichnet man in der Psychologie den Zeitraum vor der Erwachsen-<br />

heit.<br />

Zimmermann stellt in seinem Buch folgende anschauliche Darstellung<br />

der Jugendphasen vor, die ich an dieser Stelle übernehmen möchte.<br />

(Zimmermann, 2003 S. 167)<br />

Abb. 1 Jugendphasen<br />

Mädchen Jungen Phase<br />

8-10 Jahre 10-12 Jahre Späte Kindheit<br />

10-12 J. 12-14 J. Vorpubertät<br />

12-14 J. 14-16 J. Pubertät<br />

14-15 J. 16-17 J. Frühe Adoleszenz<br />

15-17 J. 17-19 J. Mittlere Adoleszenz<br />

17-19 J. 19-21 J. Späte Adoleszenz<br />

19-25 J. 21-25 J. Post-Adoleszenz<br />

Diese Zeiträume dürfen nicht verallgemeinert werden und können bei<br />

jedem Individuum unterschiedlich lang dauern.<br />

Bis zum 14. Lebensjahr ist die Pubertät in den meisten Fällen abge-<br />

schlossen und es beginnt die jugendliche Lebensphase. Mit 21 Jahren<br />

hat der nun Heranwachsende meist eine konkrete Berufsvorstellung, ist<br />

selbständig und strafrechtlich als ein Erwachsener zu betrachten.<br />

3. Sozialisation in der Familie<br />

3.1. Familie - Begriffsklärung<br />

Der Ort der primären Sozialisation ist die Familie. Die Familie ist der<br />

zentrale Ort für die Herausbildung grundlegender Gefühle, Verhaltens-<br />

muster, Welt- und Wertvorstellungen und Orientierungen.


Sozialisation in der Familie<br />

14<br />

_________________________________________________________<br />

Die Familie, als eine Instanz, ist sehr komplex und kann abhängig von<br />

der untersuchenden Wissenschaftsdisziplin unterschiedlich definiert<br />

werden.<br />

Was eine Familie darstellt, definiert zum Beispiel das Statistische Bun-<br />

desamt folgendermaßen:<br />

„Als Familie im Sinne der amtlichen Statistik zählen – in Anlehnung an Emp-<br />

fehlung der vereinten Nationen – Ehepaare ohne und mit Kind(ern) sowie al-<br />

leinerziehende ledige, verheiratet getrenntlebende, geschiedene und verwit-<br />

wete Väter und Mütter, die mit ihren ledigen Kindern im gleichen Haushalt<br />

zusammenleben“. (Statistisches Bundesamt, 1999)<br />

Bei dieser Definition ist es nicht explizit klar, ob es sich dabei nur um<br />

miteinander verwandte Mitglieder handelt. An dieser Stelle möchte ich<br />

die subjektive Sichtweise der Familienmitglieder hinzufügen. Zimmer-<br />

mann (Zimmermann 2003, S. 86) spricht hier von einer „wahrgenom-<br />

menen Familie“. Dazu gehören zum Beispiel Pflegekinder oder auch<br />

Stiefeltern. Diese erweiterte Definition stellt der Familiensoziologe Bert-<br />

ram vor:<br />

„Familienmitglieder sind meist Verwandte, müssen es aber nicht sein. Aus der<br />

Sicht der Befragten sind jedoch nicht alle, die zur Familie gehören könnten,<br />

auch tatsächlich Mitglieder ihrer Familie. Andererseits werden Personen zur<br />

eigenen Familie gerechnet, die nach dem allgemeinen Verständnis nicht dazu<br />

gehören.“ (Bertram in Zimmermann, 2003 Zitat S. 86)<br />

Die Psychologen Schneewind und Schmidt (Lexikon der Psychologie,<br />

2000, Suchbegriff: Familie) stellen eine umfassende Definition vor, die<br />

neben der subjektiven Wahrnehmung der Familie auch die Dynamik<br />

und die Entwicklung der Familie berücksichtigt.<br />

Die Familie wird "(...) unabhängig von räumlicher und zeitlicher Zusammen-<br />

gehörigkeit als Folge von Generationen, die biologisch, sozial und/oder recht-<br />

lich miteinander verbunden sind" definiert.


Sozialisation in der Familie<br />

15<br />

_________________________________________________________<br />

„(...) Aus psychologischer Sicht lassen sich Familien als Personensysteme<br />

besonderer Art begreifen, deren Mitglieder im Spannungsfeld von Autonomie<br />

und Verbundenheit zur Entstehung enger persönlicher Beziehungen beitragen<br />

und sich in diesem Beziehungskontext entwickeln.“(ebd.)<br />

Schneewind und Schmidt charakterisieren das Familiensystem durch<br />

folgende Kennzeichen:<br />

• ein mehr oder minder großes Ausmaß an Abgrenzung, Privatheit,<br />

Dauerhaftigkeit und Nähe<br />

• Geben und Nehmen im Sinne von Symmetrie und Komplementarität<br />

• Ausmaß an Ähnlichkeit beziehungsrelevanter Merkmale wie Persön-<br />

lichkeit, Interessenlagen, Werthaltungen, Lebensstile der Beziehungs-<br />

partner<br />

• Formen der Machtausübung und Konfliktregulierung<br />

• Grad der Offenheit der Kommunikation<br />

• Besonderheiten der Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung im<br />

interpersonalen Geschehen<br />

• Ausmaß des wechselseitigen Vertrauens<br />

• Verpflichtungscharakter bezüglich der Aufrechterhaltung der Bezie-<br />

hung<br />

Die Dynamik und die Entwicklung des Familiensystems kann in einem<br />

Phasenmodell betrachtet werden. Kreppner (in: Hurrelmann/Ulich 2002,<br />

S. 324f) hebt aus der gesamten Lebensspanne drei Phasen hervor, in<br />

denen die Familien spezifische Aufgaben zu erfüllen haben:<br />

a) Übergang zur Elternschaft und Familie mit Kleinkindern<br />

b) Jugendlicher in der Familie<br />

c) Alte Eltern in der Familie<br />

Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf die zweite Phase der Familien-<br />

entwicklung, also auf die Phase „Jugendlicher in der Familie“.<br />

Die Themen in dieser Phase sind: die Rolle der Mütter bei der Lösung<br />

der Kinder aus der Familie, die Umstrukturierung der bestehenden Be-<br />

ziehungen und die Veränderung von geschlechtsspezifischen Eltern-


Sozialisation in der Familie<br />

16<br />

_________________________________________________________<br />

Kind-Interaktionen in der verschiedenen Altersstufen Präadoleszenz,<br />

Adoleszenz und Adoleszenz.<br />

Die unterschiedlichen Nuancen des Begriffes Familie sind gesell-<br />

schaftsspezifisch, sie stellen den Begriff Familie in unserem gesell-<br />

schaftlichen Rahmen dar, der für andere Kulturen womöglich so nicht<br />

existiert.<br />

3.2. Geschichtlicher Wandel der Institution Familie<br />

Die Haushalts- und Familienstrukturen haben sich in vieler Hinsicht ge-<br />

wandelt. Weg von dem Dreigenerationshaushalt, der noch vor zwei-<br />

hundert Jahren eine typische Lebensweise darstellte, hin zu der soge-<br />

nannten „Kernfamilie“ (Zimmermann, 2003 S. 87).<br />

Nur noch eine kleine Minderheit von Kindern - weniger als 4% - wach-<br />

sen heute in einem Dreigenerationenhaushalt auf. Familie ist jedoch<br />

mehr als nur Haushalt. Die heutige Familie geht über die Hauswände<br />

hinaus.<br />

Wenn es nur wenige Dreigenerationenhaushalte existieren, dann be-<br />

deutet es nicht, dass die Kinder keinen Kontakt zu ihren Großeltern ha-<br />

ben. Über 80% der Kinder haben regelmäßige Beziehung zu ihren<br />

Großeltern, die in unmittelbarer Nachbarschaft, am gleichen Ort oder in<br />

einem nahegelegenen Ort wohnen. Angesichts der stark angestiegenen<br />

Lebenserwartung ist die Großeltern - Enkelkind - Beziehung sogar län-<br />

ger als in früheren Generationen. Die Großeltern sind auch heute nach<br />

den Müttern die wichtigsten Betreuungspersonen der Kinder insbeson-<br />

dere in den Jahren bis zum Schuleintritt (Otto, 2001 S. 504).<br />

Neben der Zahl der Generationen hat sich auch die Zahl der Kinder<br />

verringert, die in Familien leben. Deutschland ist das EU-Land, in dem<br />

der geringste Anteil der Bevölkerung unter allen EU-Ländern mit Kin-<br />

dern im Haushalt lebt. 45% der Bundesdeutschen Bevölkerung leben in


Sozialisation in der Familie<br />

17<br />

_________________________________________________________<br />

Haushalten mit Kindern. Zum Vergleich: In Irland beträgt der Anteil der<br />

mit Kindern lebenden Bevölkerung 65% (Engstler, 2003).<br />

Die im Durchschnitt geringere Kinderzahl hat mit der Abnahme von<br />

Familien mit drei und mehr Kindern und mit der Verbreitung der Kinder-<br />

losigkeit zu tun. Die sinkende Geburtenrate geht aus der verstärkten<br />

Berufs- und Bildungsorientierung der Frauen und der unterentwickelten<br />

Infrastruktur der öffentlichen Kinderbetreuung hervor (Herlyn, 2003).<br />

Die Entscheidung ein Kind zu bekommen wird heute nicht mehr aus<br />

Gründen der Altersversorgung getroffen. Die Familiengründung ist heu-<br />

te mit der Sinnerfüllung (Begriff aus Zimmermann, 2003) des eigenen<br />

Lebens verbunden. Das Kind ist nicht mehr Arbeitskraft und bringt nicht<br />

mehr ökonomischen Nutzen, es ist zu einem bedeutsamen Bezie-<br />

hungspartner geworden und trägt dazu bei, seinen Eltern einen Sinn<br />

ihres Lebens zu vermitteln.<br />

Diese Sinngebung beeinflusst die ganze Erziehung. Die Kinder und Ju-<br />

gendliche werden als eigenständige Individuen mit eigenen Interessen<br />

und Bedürfnissen angesehen. Die Individualisierung steht immer mehr<br />

im Vordergrund der Erziehung.<br />

Die Erziehung heute ist kindzentriert. Die Eltern informieren sich immer<br />

mehr über Erziehung in Zeitschriften, pseudowissenschaftlichen Litera-<br />

tur oder besuchen Informationsabende, die helfen sollen, die alltägli-<br />

chen Probleme mit dem Kind in den Griff zu bekommen. Viele Kinder<br />

werden von den Eltern gefördert und schon früh in einem fremdspra-<br />

chenorientierten Kindergarten oder einer Musikschule angemeldet. Das<br />

Kind wird mit der Hoffnung auf Sinnerfüllung des eigenen Lebens ver-<br />

knüpft.<br />

Die Sinnerfüllung und die darausfolgende Kindzentrierung machen je-<br />

doch den Ablösungsprozess in dieser stark emotionalen Beziehung<br />

schwieriger. Für das Kind birgt der Ablösungsprozess somit neue Be-<br />

lastung- und Konflikterfahrungen. Die von den Eltern gewünschte Indi-<br />

vidualisierung des Kindes wird gerade von den Eltern in dem Ablö-<br />

sungsprozess gestört.


Sozialisation in der Familie<br />

18<br />

_________________________________________________________<br />

3.3. Zeitalter der Individualisierung<br />

Zimmermann stellt in seinem Buch einen populären Ansatz nach Ulrich<br />

Beck vor, der als Individualisierungstheorem bezeichnet wird. Nach die-<br />

sem Theorem werden Sozialisationsvorgänge erklärt. Es ist die These<br />

von der Individualisierung und Modernisierung gesellschaftlichen Le-<br />

bens (Zimmermann, 2003 S. 60f).<br />

Diese Theorie geht davon aus, dass die sozialen Biografien der Men-<br />

schen sich stark verändert haben. Heute gibt es keine sozial vorgege-<br />

benen Biografien mehr, die Menschen werden nicht mehr in die Vorga-<br />

ben der traditionellen Gesellschaft hineingeboren. Nach Beck steht es<br />

jedem Menschen frei seinen Lebenslauf in Abhängigkeit eigener Fähig-<br />

keiten und Orientierungen zu planen und die Entscheidungen mit allen<br />

Konsequenzen für sein Leben selbst zu treffen (ebd. S. 61). Die Aufga-<br />

be der Sozialisation ist dem zu Folge, die Heranwachsenden mit einem<br />

großen Abstimmungs- Koordinations- und Integrationsvermögen aus-<br />

zustatten.<br />

Die frei gewählten Biografien, für die der Mensch nur sich selbst ver-<br />

antwortlich machen kann, laufen nicht immer glatt ab. Im Laufe des Le-<br />

bens werden immer wieder Enttäuschungen und Brüche erlebt, die man<br />

bewältigen muss und aufgrund dessen die Biografie immer wieder neu<br />

gestaltet werden muss.<br />

Die Individualisierung der Biografie war zunächst auf das männliche<br />

Geschlecht beschränkt. Mit der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit<br />

und der Verlängerung der Ausbildungszeit bei Frauen bestimmt der In-<br />

dividualisierungsprozess auch den weiblichen Lebenslauf. Die Schwan-<br />

gerschaftsplanung ist ein Element der Individualisierung, der einen<br />

Wandel der Familienform verursacht hat (ebd. S. 62).<br />

Dadurch, dass immer mehr Frauen versuchen den Beruf und die Fami-<br />

lie miteinander zu vereinbaren, wird den Kindern immer mehr Verant-<br />

wortung und Selbstregulation übertragen. Kinder müssen heute ihre<br />

Freizeit zunehmend selbst planen. Sie halten sich zu festen Terminen<br />

in unterschiedlichen Institutionen auf. Man bezeichnet dieses Phäno-<br />

men als „Verinselung“ (Begriff aus Nissen, 1998). Das heißt, dass der


Sozialisation in der Familie<br />

19<br />

_________________________________________________________<br />

Alltag der Kinder heute nicht nur in der eigenen Familie sondern in un-<br />

terschiedlichen Institutionen stattfindet. So geht das Kind zum Beispiel<br />

vormittags zur Schule, dann setzt es nach der Schule seine Freizeit in<br />

einem Hort fort und anschließend abends findet in einem Verein noch<br />

ein Fußballtraining statt. Diese einzelnen Institutionen, in denen das<br />

Kind seine Freizeit verbringt, arbeiten meistens unabhängig und auch<br />

isoliert voneinander, deshalb wurde für dieses Phänomen der Begriff<br />

der „Verinselung“ gewählt. In diesen unterschiedlichen Institutionen trifft<br />

das Kind auf jeweils unterschiedliche Bezugspersonen und auch meist<br />

auf ganz andere Freunde.<br />

Probleme der Individualisierung<br />

Die Freundschaften sind nicht mehr so selbstverständlich auf die Nach-<br />

barschaft beschränkt. Die Mobilität der Eltern und die ortungebundenen<br />

Freizeitaktivitäten der Kinder machen es möglich, die Freundschaften<br />

auch außerhalb der Nachbarschaft zu gründen. Einen Nachteil sehe ich<br />

allerdings darin, dass diese Freundschaften immer termingebunden<br />

sind und somit die Spontaneität der gemeinsamen Aktivitäten auf der<br />

Strecke bleibt, da auch die Eltern bereit sein müssten die Kinder zu den<br />

Freunden hinzubringen und sie auch eventuell wieder abzuholen.<br />

Einerseits ist ein spontaner Treff mit einem Freund oder einer Freundin<br />

nicht immer möglich und andererseits wird die Entscheidungsfreiheit<br />

eines Kindes eingeschränkt, weil die Entscheidung des Kindes einen<br />

Freund oder Freundin zu treffen von der den Eltern zur Verfügung ste-<br />

henden Zeit abhängig ist.<br />

Die Kinder lernen schon früh sich mit der Uhrzeit auszukennen und<br />

Termine einzuhalten. Die individualisierte Sozialisation bedeutet also<br />

eine frühzeitige Selbständigkeit. Manchmal müssen die Kinder schon<br />

viel zu früh über ihre Lebensgestaltung selbst entscheiden, sie werden<br />

für die Entscheidungen verantwortlich gemacht und somit total überfor-<br />

dert. Die Kinder werden viel zu oft von ihren Eltern als kleine Erwach-<br />

sene behandelt.


Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />

20<br />

_________________________________________________________<br />

4. Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />

Die Geschlechtszugehörigkeit hat grundsätzliche Auswirkungen auf die<br />

Sozialisation. Das Geschlecht eines Menschen bestimmt sein Denken,<br />

Erleben und auch das Verhalten, es hat Auswirkungen auf gesellschaft-<br />

liche Chancen und soziale Erwartungen.<br />

Die Geschlechtszugehörigkeit ist von fundamentaler Bedeutung, weil<br />

sie ähnlich wie die Hautfarbe lebenslang festgelegt ist (Zimmermann,<br />

2003 S. 187).<br />

Wie laufen die Prozesse der Sozialisation im Hinblick auf das Ge-<br />

schlecht?<br />

Betrachtet man die geschichtliche Entwicklung der Geschlechterrollen,<br />

so fällt es auf, dass die Geschlechtsrollen früher sehr starr waren und<br />

es für die beiden Geschlechter keine Alternativen gab.<br />

Durch den rasanten gesellschaftlichen Wandel entwickelten sich auch<br />

neue Ausrichtungen und Möglichkeiten der geschlechtlichen Identität.<br />

Die gesellschaftlichen Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse,<br />

die die heutigen westlichen Industriegesellschaften auszeichnen, bewir-<br />

ken eine Erschütterung in den traditionellen Geschlechterrollenverhält-<br />

nissen.<br />

In einer individualisierten Lebenslage werden den Heranwachsenden<br />

Variationsmöglichkeiten geboten. Die Geschlechterrollen sind offener<br />

und breiter gefächert (ebd.). Die Individualisierung lockert die Verhal-<br />

tensgrenzen eines Geschlechts und ein geschlechtstypisches Verhalten<br />

kann sogar unerwünscht sein. Die Auflösung klarer Geschlechterbilder<br />

gibt kein klares Bild mehr von Frau/Weiblichkeit und Mann/Männlichkeit<br />

vor.<br />

Neuere Jugendforschungen beobachten eine Angleichung der Unter-<br />

schiede zwischen Jungen- und Mädchenverhalten (Deutsche Shell<br />

2000, S. 374).<br />

Die geschlechtsspezifischen Sozialisationstheorien beschäftigen sich<br />

mit der Frage – wie kommen jene Modelle zustande nach denen Mäd-<br />

chen zu Mädchen und Jungen zu Jungen werden. Es gibt dazu unter-<br />

schiedliche Ansätze. In manchen wird nach einer biologischen Begrün-


Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />

21<br />

_________________________________________________________<br />

dung gesucht, manche sind psychologisch und andere eher soziolo-<br />

gisch orientiert.<br />

So wie die Sozialisation im allgemeinen als ein interaktiver Prozess zu<br />

verstehen ist, so ist auch die geschlechtsspezifische Sozialisation, ein<br />

Prozess, in dem die Persönlichkeitsentwicklung in der Beziehung zwi-<br />

schen Mensch und Umwelt stattfindet. Geschlechtsspezifische Soziali-<br />

sation baut sich über geschlechtsbezogene Interaktion innerhalb einer<br />

Gesellschaft auf, in der bestimmte Bilder und Vorstellungen von dem<br />

Geschlecht vorherrschen. Diese Bilder und Vorstellungen, die von der<br />

Gesellschaft und der jeweiligen Kultur geliefert werden, werden von<br />

den Kindern angeeignet und subjektiv verortet und zwar als Kultur der<br />

Zweigeschlechtlichkeit. Das sozial-kognitive Modelllernen und die Theo-<br />

rie des Konstruktivismus erklären diese Aneignungsprozesse (Zimmer-<br />

mann, 2003 S. 189).<br />

Das Geschlecht bildet ein symbolisches System, das das ganze Leben<br />

lang in unserer Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Die Kinder be-<br />

nutzen dieses System schon früh durch ihr Spiel und Umgang mit der<br />

Umwelt, um sich ihrer Identität gewiss zu sein. Auch den Kindern reicht<br />

es nicht ein Junge oder ein Mädchen zu sein, sondern sie wollen auch<br />

als solcher oder solches von den anderen erkannt werden (ebd. S.<br />

189).<br />

Geschlechtsspezifische Sozialisation beginnt schon vor der Geburt<br />

(Zimmermann, 2003 S. 189). Sobald das Geschlecht des ungeborenen<br />

Kindes auf dem Ultraschallbild erahnt wird, bilden sich bei den werden-<br />

den Eltern ganz bestimmte Vorstellungen von dem Baby, das nun als<br />

„der kleine Racker“ oder „die kleine Prinzessin“ auch direkt angespro-<br />

chen wird. Die Farbe des Kinderzimmers kann nun bestimmt werden<br />

und das Aussuchen der ersten Strampler wird sowohl bewusst als auch<br />

unbewusst von der Vorstellung von dem Geschlecht des Babys beglei-<br />

tet.<br />

Über die Sprache und über den Körper wird der „heimliche Code dieses<br />

Regelsystems“ der Zweigeschlechtlichkeit Kindern spätestens nach<br />

dem ersten Erblicken des Tageslichts vermittelt (Bilden, 1991 S. 295).


Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />

22<br />

_________________________________________________________<br />

4.1. Zweigeschlechtlichkeit aus der biologischen Sicht<br />

Tillmann zeigt in seinen Auseinandersetzungen mit der biologischen<br />

Komponente des Geschlechtsunterschiedes, dass es wichtige biologi-<br />

sche Rahmenbedingungen gibt, die sich nicht nur auf die körperliche<br />

Entwicklung, sondern auch auf die Psyche und daraus folgernd eben<br />

auch auf Sozialisation des Geschlechts auswirken können (Tillmann,<br />

2000 S. 49). Somit besitzen viele Geschlechtsunterschiede in Persön-<br />

lichkeit und Verhalten eine biologische Verankerung. Tillmann betont<br />

die enorme Wirkung des Hormons Testosteron für die Differenzierung<br />

des Gehirns nach männlichen Mustern. Wobei mit „männlich“ das ge-<br />

meint wird, was in unserer Gesellschaft dem Mittelwert der männlichen<br />

Verhaltensweisen entspricht.<br />

Der Testosteronspiegel bei Männern ist sechs- bis siebenmal höher als<br />

bei den Frauen (Zimmermann, 2003 S. 48). Inwieweit solche biologi-<br />

schen Unterschiede einen Einfluss auf die psychischen Geschlechtsun-<br />

terschiede haben, ist eine immer wieder heftig und kontrovers diskutier-<br />

te Frage. Einige Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass eine Reihe<br />

von Persönlichkeitsunterschieden der Geschlechter gut belegt seien:<br />

Aggression, Aktivitätsniveau, Impulsivität, Angstbereitschaft, Leistung<br />

und Selbstkonzept. Andere Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass<br />

diese Persönlichkeitsunterschiede nur zu einem geringen Teil auf das<br />

Geschlecht zurückzuführen sind (Bilden in: Hurrelmann/Ulich S. 281).<br />

Die Gehirnforscher beurteilen die biologischen Unterschiede der Ge-<br />

schlechter einseitig, denn sie gehen davon aus, dass die Ursachen der<br />

Unterschiede im Geschlecht in der Neurobiologie und Neurophysiologie<br />

zu suchen sind. Zimmermann (Zimmermann, 2003 S.196) stellt die<br />

Theorie einer amerikanischen Gehirnforscherin und Genetikerin Anne<br />

Moir und ihrem Mitarbeiter David Jessel vor. Ihre Forschungen deuten<br />

darauf hin, dass beispielsweise im weiblichen Gehirn die Verbindung<br />

zwischen rechter und linker Gehirnhälfte sehr viel intensiver ausgeprägt<br />

sein soll als im männlichen. Dabei steht die rechte Gehirnhälfte für<br />

emotionales, kreatives Denken und die linke Gehirnhälfte für rationale,<br />

logische Denkleistungen. Somit erklären die Gehirnforscher die spärli-


Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />

23<br />

_________________________________________________________<br />

che Fähigkeit eines Mannes seine Gefühle verbal äußern zu können.<br />

Bei einer Frau ist der Informationsfluss zwischen den beiden Hemisphä-<br />

ren flüssiger, deshalb können die emotionalen Gedanken auch unbe-<br />

hindert in die rechte Hemisphäre gelangen und werden dort mit der<br />

verbalen Seite verknüpft.<br />

Der Ansatz von Moir und Jessel ist auf den ersten Blick einleuchtend<br />

und auch überzeugend. Dennoch deutet Zimmermann auf eine<br />

Schwachstelle dieses biologischen Ansatzes. Es stellt sich die Frage:<br />

Sind die Männer nicht fähig ihre Gefühle zu verbalisieren, weil ihnen die<br />

dazu notwendigen Verbindungen zwischen den beiden Gehirnhälften<br />

fehlen, oder werden die Jungen in der Kindheit nicht genug emotional<br />

gefördert, so dass es zur schwächeren Vernetzung im Gehirn kommt?<br />

Der Mensch kommt nicht mit einem fertigen Gehirn auf die Welt, die<br />

meisten Synapsen bilden sich erst nach der Geburt unter dem Einfluss<br />

des Faktors „Umwelt“.<br />

Sind die Männer von Natur aus aggressiv, weil sie einen höheren Tes-<br />

tosteronspiegel haben? Wie stark sich das aggressive Verhalten (des-<br />

sen Ursache von einigen Forschern in dem Hormon Testosteron gese-<br />

hen wird) zeigt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie Aggression von der<br />

Gesellschaft bewertet und tabuiert wird.<br />

An dieser Stelle soll noch mal verdeutlicht werden, dass die Sozialisati-<br />

on und im spezifischen die geschlechtsspezifische Sozialisation nicht<br />

allein durch die biologisch-genetische Position zu erklären ist.<br />

4.2. Zweigeschlechtlichkeit aus der psychoanalytischen Sicht<br />

Die Psychoanalyse, von Sigmund Freud (1856-1939) um die Jahrhun-<br />

dertwende begründet, beschäftigte sich ursprünglich mit der psychi-<br />

schen Entwicklung in den ersten sechs Lebensjahren, dabei wurde vor<br />

allem die Frage in den Vordergrund gestellt, ob sich die neurotische<br />

Symptome der erwachsenen Patienten auf traumatische Ereignisse in<br />

der frühen Kindheit zurückführen lassen. Aus diesem Hintergrund her-<br />

aus wurden die Interaktionsprozesse zwischen Kind, Eltern und Umwelt


Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />

24<br />

_________________________________________________________<br />

und die dabei entstehenden psychischen Strukturen durchleuchtet. Die-<br />

se subjekttheoretischen Konzepte von Freud dienten in erster Linie ei-<br />

ner therapeutischen Arbeit. Da aber die Erkenntnis über die psychische<br />

Strukturen eines Subjekts auch auf die Entwicklung von gesunden Kin-<br />

dern übertragbar ist, ist diese subjekttheoretische Basis auch für eine<br />

allgemeine Sozialisationstheorie bedeutsam (Tillmann, 2000 S. 59).<br />

4.2.1. Definition und Grundannahme der Psychoanalyse<br />

Nach Freud ist die Psychoanalyse eine Methode, das Unbewusste be-<br />

wusst zu machen und eine Theorie über die Entstehung und die Aus-<br />

wirkung unbewusster psychischer Prozesse (ebd. S. 60).<br />

4.2.1.1. Der psychische Apparat und das Triebmodell<br />

Freud (Freud, 1994) entwirft das Modell des psychischen Apparats, das<br />

aus drei Instanzen, die sich im Laufe der ersten sechs Lebensjahre<br />

herausbilden, besteht.<br />

Laut diesem Modell kommt der Mensch mit einer einzigen Instanz aus-<br />

gestattet auf die Welt, es handelt sich dabei um die Instanz Es. Der In-<br />

halt des Es ist „alles, was ererbt, bei der Geburt mitgebracht, konstituti-<br />

onell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation<br />

stammenden Triebe“. Triebe sind Kräfte, die den Menschen zum Han-<br />

deln bewegen und das Verhalten beeinflussen. Es sind subjektiv emp-<br />

fundene Bedürfnisse, die Spannungen oder Erregungen erzeugen und<br />

somit den Menschen veranlassen tätig zu werden um den Erregungs-<br />

zustand zu beenden.<br />

Das Es besteht aus körperlichen Bedürfnissen und sexuellen und ag-<br />

gressiven Impulsen. Das Es drängt auf Bedürfnisbefriedigung und auf<br />

dadurch erzeugten Lustgewinn. Das Es funktioniert nach dem soge-<br />

nannten Lustprinzip. Dieses Verhalten ist unbewusst, irrational und be-<br />

sitzt keine Moral.


Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />

25<br />

_________________________________________________________<br />

Aus dem Es heraus wird die nächste Instanz, das Ich gebildet. Das Ich<br />

beinhaltet Wahrnehmung und Willensbildung. Das Ich stellt eine Bezie-<br />

hung zu der Umwelt her. Sie ermöglicht uns die Triebansprüche zu ver-<br />

schieben, Abwehrmechanismen einzusetzen oder Anpassungen zu re-<br />

geln. Das Ich handelt nach dem Realitätsprinzip und vermittelt zwischen<br />

Triebansprüchen und den Ansprüchen der Außenwelt. Das Ich agiert<br />

aus einer bewussten Ebene.<br />

Die elterliche Werte, Normen und Verhaltensregeln haben ihren Sitz in<br />

der dritten Instanz, die als Über-Ich bezeichnet wird. Diese Instanz um-<br />

fasst die moralische Funktion der Persönlichkeit, es fungiert als Morali-<br />

tätsprinzip. Das Über-Ich bildet sich etwa im 6. Lebensjahr. Das Ich<br />

vermittelt nun zwischen den Triebansprüchen (Es), dem Realitätsprinzip<br />

(Ich) und zwischen den Triebansprüchen und den Geboten des Über-<br />

Ichs. Das Über-Ich befindet sich in der vorbewussten, aber Reflexionen<br />

zugänglichen Bewusstseinsebene. Die Ausbildung des Über-Ichs ist<br />

entscheidend für den Erwerb der Geschlechtsidentität. Das Über-Ich<br />

beinhaltet die kulturelle Tradition von Jungen- und Mädchenverhaltens-<br />

weisen.<br />

Nur, wenn der psychische Apparat in der einzelnen Instanz (Es, Ich,<br />

Über-Ich) „richtig arbeitet“, funktioniert das Zusammenleben in der Ge-<br />

sellschaft.<br />

4.2.1.2. Psychosexuelle Phasen<br />

Die Persönlichkeitsentwicklung nach der Psychoanalyse wird dadurch<br />

beeinflusst, dass die Kinder ihre Sexualenergie, auch Libido genannt,<br />

von einem Lebensabschnitt auf den nächsten ausdehnen.<br />

Freud (Freud, 1996) unterteilt die psychosexuelle Entwicklung in fünf<br />

Entwicklungsabschnitte: Orale Phase (erstes Lebensjahr), Anale Phase<br />

(zweites bis drittes Lebensjahr), Infantil-genitale Phase (drittes bis<br />

sechstes Lebensjahr), Latenzphase (fünftes bis dreizehntes Lebens-<br />

jahr), Genitale Phase (vierzehntes bis einundzwanzigstes Lebensjahr).


Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />

26<br />

_________________________________________________________<br />

In der Oralen Phase wird die Lust durch den Mund, durch Beißen, Sau-<br />

gen, im Mund festhalten, befriedigt. Die orale Zone dient dabei im We-<br />

sentlichen der Nahrungsaufnahme, aber auch der Erkundung der Um-<br />

welt.<br />

In der Analen Phase verlagert sich das Lustobjekt auf den Analbereich.<br />

In dieser Phase geht es um das Festhalten und Loslassen, also um die<br />

Kontrolle der Darmentleerung.<br />

Die Infantil-genitale Phase wurde von Freud zuerst aus der Sicht der<br />

Jungen beschrieben, die moderne Psychoanalyse analysiert bei Mäd-<br />

chen jedoch vergleichbare Prozesse. Die Schlüsselobjekte in dieser<br />

Phase sind die Geschlechtsorgane. Dafür charakteristisch sind die<br />

Phantasien das gegengeschlechtliche Elternteil als Sexualpartner zu<br />

gewinnen. In dieser Phase bilden sich die inneren Widerstände, wie<br />

Scham und Ekel, heraus.<br />

In der Latenzphase werden die sexuelle Bedürfnisse verdrängt und die<br />

Triebenergie in Freundschaftsbeziehungen und andere Aktivitäten um-<br />

geleitet.<br />

In der Genitalen Phase werden die erogenen Zonen wieder von bedeu-<br />

tender Interesse und es geht um Küssen, Beschauen, Betasten. Der<br />

Sexualtrieb steht jetzt im Dienst der Fortpflanzungsfunktion (Zimmer-<br />

mann, 2003 S.24f).<br />

4.2.2. Chancen/Gefahren<br />

Die psychosexuellen Phasen folgen einander und können nicht über-<br />

sprungen werden. Jede Phase bringt die notwendigen Voraussetzun-<br />

gen für die nächstfolgende Phase mit. Traumatische Erlebnisse oder<br />

das Unterdrücken bestimmter Triebregungen können zur Stagnation in<br />

der jeweiligen Phase und damit zur Entwicklungsverzögerung führen.<br />

Jede Phase stellt das Kind vor bestimmten geschlechtsspezifischen<br />

Aufgaben, die erfolgreich erledigt werden müssen, bevor eine neue<br />

Phase eintreten kann.


Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />

27<br />

_________________________________________________________<br />

Freud beschreibt in Anlehnung an seine Sexualtheorien die Schlüsselsi-<br />

tuationen im Verlauf der Psychosexuellen Phasen, die die Geschlechts-<br />

identität entscheidend beeinflussen (Freud, 1996).<br />

Der Einstieg in die ödipale Situation ist für Jungen und Mädchen weit-<br />

gehend gleich. Die Mutter ist für beide Geschlechter das erste Liebes-<br />

objekt. Beide Geschlechter befinden sich nun in der genitalen Phase<br />

und ziehen ihren Lustgewinn aus der Beschäftigung mit den Ge-<br />

schlechtsorganen. Der Junge bleibt bei der mütterlichen Objektbeset-<br />

zung, empfindet jedoch Rivalitätsgefühle gegenüber dem Vater. Das<br />

Mädchen hingegen muss die libidinöse Beziehung auf den Vater über-<br />

tragen, um in die ödipale Phase zu übergehen. Beim Mädchen muss<br />

also ein Wechsel im Geschlecht des Objekts erfolgen.<br />

Die Eifersucht des Knaben und der Wunsch auf genitale Sexualität mit<br />

seiner Mutter (es handelt sich dabei um unbewusste Prozesse) geht an<br />

der Kastrationsangst zugrunde. Die libidinöse Objektbeziehung zur Mut-<br />

ter wird aufgegeben und das Inzesttabu internalisiert. Nach einer erfolg-<br />

reichen Überwindung des ödipalen Konflikts tritt eine Identifikation mit<br />

dem Vater, seine Autorität wird in das Ich aufgenommen und bildet dort<br />

den Kern des Über-Ichs. Der Knabe tritt in die Latenzphase ein, die nun<br />

die Sexualentwicklung unterbricht.<br />

Steht bei dem Jungen im Vordergrund die Bewältigung der ödipalen<br />

Situation, so befindet sich auch das Mädchen in einer bedrohlichen La-<br />

ge. Das Mädchen erkennt den anatomischen Geschlechtsunterschied<br />

und nimmt das männliche Geschlechtsorgan wahr und wird einerseits<br />

von dem Penisneid und andererseits von dem Kastrationskomplex ü-<br />

berwältigt. Es empfindet sich als ein verstümmeltes, minderwertiges<br />

Wesen und es macht die Mutter für den Penismangel verantwortlich.<br />

Dies bewirkt, das das Mädchen sich von der libidinösen Objektbezie-<br />

hung zur Mutter löst und sich dem Vater zuwendet. Das Mädchen iden-<br />

tifiziert sich mit der Mutter, um so sein wie sie, um vom Vater geliebt zu<br />

werden (Freud, 1996 S. 282).<br />

Während der Ödipuskomplex des Knaben (der Wunsch, die Mutter zu<br />

lieben) an der Kastrationsdrohung zugrunde geht, wird der Ödipuskom-<br />

plex des Mädchen (der Wunsch den Vater zu lieben) durch den Kastra-


Geschlechtsspezifische Sozialisation<br />

28<br />

_________________________________________________________<br />

tionskomplex eingeleitet. Das ist ein fundamentaler Unterschied im Ab-<br />

lauf der ödipalen Phase bei den Jungen und Mädchen.<br />

Aus dem Penisneid leitet Freud bei Frauen eine geringere Wertschät-<br />

zung des eigenen Geschlechts ab (ebd. S. 261).<br />

Die geschlechtsspezifische Sozialisation kann von unterschiedlichen<br />

wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich betrachtet werden. Die-<br />

ses war eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten theoretischen<br />

Sichtweisen. Innerhalb und zwischen den einzelnen Disziplinen entste-<br />

hen immer wieder neue Diskurse, auf die ich im Rahmen dieser Arbeit<br />

verzichten muss.<br />

5. Sozialisation in der Schule<br />

In unserer Gesellschaft ist die Schule die größte, differenzierteste und<br />

einflussreichste Bildungsinstitution. Bildungs- und Erziehungsinstitutio-<br />

nen sind pädagogische Einrichtungen, die Sozialisation als Hauptauf-<br />

gabe geplant betreiben. In der heutigen Industriegesellschaft ist Schule<br />

zwischen dem 6. und dem 18. Lebensjahr eine Pflichtveranstaltung, die<br />

aufgrund gesetzlicher Bestimmungen von jedem besucht werden muss.<br />

In diesem Kapitel soll die Bedeutung der Schule für die Sozialisation im<br />

Kindes- und Jugendalter herausgestellt und die Probleme, die die Sozi-<br />

alisation gefährden können, erarbeitet werden.<br />

5.1. Aufgaben und Funktionen schulischer Sozialisation<br />

Die Schulen haben die Aufgabe die Kinder und Jugendliche sowohl<br />

leistungsmäßig zu trainieren und zu qualifizieren als auch nach Stufen<br />

und Niveaus auszulesen und einem bestimmten Abschluss zuzuord-<br />

nen. Mit der Art des Schulabschlusses ist eine wesentliche Vorent-<br />

scheidung für die soziale Platzierung in der Gesellschaft und im Be-<br />

schäftigungssystem verbunden. Somit nimmt die Schule einen enormen<br />

Einfluss auf die berufliche Laufbahn und sogar möglicherweise auf den


Sozialisation in der Schule<br />

29<br />

_________________________________________________________<br />

späteren Lebenslauf. Zwischen dem 6. und 18. Lebensjahr findet die<br />

Persönlichkeitsentwicklung unter institutionellen Entwicklungen statt.<br />

Natürlich verbringen die Kinder/Jugendliche nicht vierundzwanzig Stun-<br />

den in der Schule, sondern leben im Normalfall in der Familie unter dem<br />

Einfluss der Eltern. Aber „nach der Schule ist vor der Schule“. Nach der<br />

Schule müssen die Hausaufgaben gemacht werden, nach der Schule<br />

finden auch oft außerschulische Aktivitäten statt, die von der Schule<br />

organisiert werden, wo die Schulfreunde zusammenkommen und wo<br />

somit eine schulähnliche Atmosphäre erzeugt wird.<br />

Jeder Schüler wird den Handlungs- und Leistungsanforderungen der<br />

Schule ausgesetzt. Die gleichen Anforderungen beziehen sich auf die<br />

gleiche Altersstufe. Dadurch, dass die regulären Schulen konzeptuell<br />

dafür nicht ausgelegt sind persönlichkeitsspezifische Aufgabestellungen<br />

zu erteilen, kommt es in der Schule zu Problemen wie Lern- und Leis-<br />

tungsstörungen, Schuleschwänzen und Schulversagen.<br />

Ein zentrales Thema der schulischen Sozialisationsforschung ist die<br />

Untersuchung der Entstehung von Schulerfolg und Schulversagen. In<br />

der neueren Forschung wird auf der Basis einer interaktionistischen<br />

Position auf Wechselwirkungsprozesse zwischen personalen, familialen<br />

und schulischen Bedingungsfaktoren für Beeinträchtigungen und Stö-<br />

rungen der Lern- und Leistungsfähigkeit verwiesen. Man geht davon<br />

aus, dass es von der Situation und ihrer Wechselwirkung mit der Per-<br />

son abhängt, ob und in welchem Ausmaß Lern- und Leistungsstörun-<br />

gen entstehen (Hurrelmann, 1986 S. 140).<br />

Eine weitere wichtige Forschungsaufgabe besteht nach Hurrelmann<br />

darin, die Schule im Kontext des sozialen Netzwerkes zu erforschen,<br />

um Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen<br />

eines Schülers auf die Spur zu kommen.<br />

Der Sozialisationsforscher Hurrelmann vertritt die These:<br />

„Denn so wie die außerschulische Realität schulisches Handeln bestimmt,<br />

muss auch umgekehrt davon ausgegangen werden, dass schulisches Han-<br />

deln auf die außerschulische Realität zurückwirkt, also auf Lebensbereiche,<br />

an denen die in der Schule Handelnden aktiv (direkt) und passiv (indirekt) be-


Sozialisation in der Schule<br />

30<br />

_________________________________________________________<br />

teiligt sind. Die Erfahrungen aus den außerschulischen Lebensbereichen ei-<br />

nes Schülers oder einer Schülerin wiederum beeinflussen zweifellos das schu-<br />

lische Handeln.“ (Hurrelmann, 1986 Zitat S. 142-143)<br />

Nach Hurrelmann ist der Sozialstatus maßgeblich dafür verantwortlich,<br />

in wieweit die Kinder den schulischen Anforderungen gerecht werden.<br />

Vom ersten Schultag an würden die Kinder aus den wohlsituierten Fa-<br />

milien leistungsmäßig besser abschneiden als die übrigen. Ein Grund<br />

dafür ist die Spannung zwischen der Familienstruktur und der Schulkul-<br />

tur. Die Eltern bieten ungesicherte und oft distanzierte Unterstützung,<br />

was die schulische Leistungsfähigkeit oft negativ beeinflusst.<br />

Einer der ersten, der versucht hat, die Schule unter sozialisationstheo-<br />

retischen Aspekten zu betrachten ist Talcott Parsons. Nach seinem<br />

Verständnis hat die Schule die Aufgabe den Heranwachsenden ein<br />

kompetentes Rollenhandeln zu vermitteln. Wird ein Gleichgewicht zwi-<br />

schen dem Rollenhandeln und den persönlichen Bedürfnissen gefun-<br />

den, dann hat auch eine erfolgreiche Sozialisation stattgefunden. Auf<br />

die Gesamtgesellschaft übertragen heißt dies: verläuft das Rollenhan-<br />

deln im Subsystem Schule störungsfrei, dann herrscht auch im gesell-<br />

schaftlichen System Ausgeglichenheit und Stabilität (Tillmann, 2000 S.<br />

117).<br />

Es handelt sich jedoch hier um eine Theorie, die nur einseitige Betrach-<br />

tung zulässt. So geht die Theorie von Parsons davon aus, dass das<br />

Rollenverhalten von der Gesellschaft vorgegeben wird und die Heran-<br />

wachsenden die Aufgabe bekommen ihre persönliche Bedürfnisse an<br />

diese Rollen anzupassen. Die persönlichen Bedürfnisse scheinen somit<br />

aus dem gesellschaftlichen Interesse ausgeklammert zu sein. Diese<br />

Theorie lässt es nicht zu, dass das Rollenhandeln an die Persönlichkeit<br />

angepasst wird oder doch zumindest dass das Rollenhandeln mit der<br />

Persönlichkeit abgestimmt wird. Denn auch so kann ein Gleichgewicht<br />

hergestellt werden, ohne dass die Sozialisation scheitert.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

31<br />

_________________________________________________________<br />

6. Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

Nachdem der Begriff der Sozialisation präzisiert und die wichtigsten<br />

Orte der Sozialisation, als da wären die Familie und die Schule, durch<br />

die bedeutsamsten Theorien durchleuchtet wurden, ist die Aufgabe im<br />

nächsten Teil dieser Arbeit die allgemein gehaltenen Theorien über die<br />

Sozialisation im Kindes- und Jugendalter auf eine spezifische Gruppe<br />

von Kindern und Jugendlichen aus Russland zu übertragen. Das theo-<br />

retische Wissen über die Prozesse der Sozialisation ist eine notwendige<br />

Bedingung für das Erklären der Störungen in dem Integrationsprozess<br />

dieser sensiblen Randgruppe.<br />

Das nächste Kapitel erarbeitet systematisch die Besonderheiten der<br />

Sozialisation der jungen Aussiedler in dem „Ort“ Familie. Wobei der<br />

Schwerpunkt auf die Besonderheiten der Sozialisation in den Migrati-<br />

onsfamilien und auf die Störungen der Sozialisation gerichtet wird.<br />

6.1. Familienspezifik in Russland<br />

Für viele Aussiedler hat die Familie als wirtschaftliche und soziale Inte-<br />

ressengemeinschaft im Herkunftsland eine größere Bedeutung, als es<br />

heute in Deutschland üblich ist. Meistens verlassen die Aussiedler ihre<br />

Heimat im geschlossenen Familienverband und auch nach der Ankunft<br />

in Deutschland bleibt ein enger familiärer Zusammenhalt bestehen. In<br />

den Familien herrschen heute noch nicht selten patriarchalische Struk-<br />

turen und die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen ist traditi-<br />

onell geprägt (Dietz, 1996 S. 71).<br />

Im sozialistischen Regime standen die Werte wie Heimat und Vater-<br />

land, das Wohl der Gemeinschaft, staatliche Autorität und die Orientie-<br />

rung am Kollektiv ganz stark im Vordergrund. In der postsowjetischen<br />

Gesellschaft, nach dem Zerfall des sozialistischen Regimes, haben<br />

viele die Glaubwürdigkeit in diese Werte verloren. Die ökonomische<br />

Perspektivlosigkeit führt zum Werteverlust und somit zur Verunsiche-<br />

rung der Jugendlichen (ebd.).


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

32<br />

_________________________________________________________<br />

Die junge Generation in den Nachfolgestaaten der UdSSR ist, laut Un-<br />

tersuchungen von Slepzow und Rewenko (Slepzow/Rewenko, 1993 S.<br />

33f), wenig an Politik oder gesellschaftlichen Verpflichtungen interes-<br />

siert. Große Bedeutung wird dagegen dem Privatbereich – der Familie<br />

und den Freunden – beigemessen. Bei einer Umfrage von Slepzow und<br />

Rewenko, die sich mit den Lebenszielen von Jugendlichen beschäftigte,<br />

war die Mehrheit der jungen befragten Jugendlichen an erster Stelle<br />

weder an Geld noch an Karriere interessiert. Bei 79% der Jugendlichen<br />

in Russland stellen gute familiäre und freundschaftliche Verhältnisse die<br />

wichtigsten Lebensziele dar. Viele Jugendliche wünschen sich eine ei-<br />

gene Familie zu gründen. Obwohl im Vergleich zum Ende der achtziger<br />

Jahre weniger Ehen in Russland geschlossen werden, ist das Heiratsal-<br />

ter gesunken, was auf einen Rückzug in die Privatsphäre hindeutet<br />

(Dietz, 1996).<br />

Das bestimmte Familienbild – nämlich: erwerbstätige, dazuverdienende<br />

Frau als Behüterin der Häuslichkeit und der Mann als Haupternährer<br />

und der Oberhaupt der Familie – bleibt über die Jahrzehnte stabil. Es<br />

wird eher an dem tradierten Rollenmuster angeknüpft, als diese in Fra-<br />

ge gestellt. Die „urweiblichen“ Aufgaben in der häuslichen Reprodukti-<br />

onssphäre werden immer wieder an das Frauenbild angeknüpft (Egge-<br />

ling, 1999 S. 156). Etwa 93% aller Frauen in Russland sind berufstätig.<br />

Dieses ist ein ganz entscheidendes Merkmal des sowjetischen Famili-<br />

enbildes. Ein dichtes Netz von ganztägigen Kinderbetreuungseinrich-<br />

tungen, Krippen und Kindergärten steht im Wohnviertel oder im Betrieb,<br />

zur Verfügung. Dieses bedeutet, dass die Sozialisation zu einem gro-<br />

ßen Anteil in außerfamiliären Institutionen stattfindet.<br />

Die Berufstätigkeit der Frauen und die gewährleistete institutionelle<br />

Versorgung der Kinder sind vermutlich für relativ frühe Eheschließung<br />

und auch frühe Elternschaft verantwortlich. Zudem sichert eine frühe<br />

Eheschließung den Anspruch auf eine eigene Wohnung, auf deren Zu-<br />

teilung jedoch noch mehrere Jahre gewartet werden muss. Solange lebt<br />

ein junges Paar zusammen mit den Eltern oder den Großeltern, oft<br />

auch in Wohnheimen oder angemieteten Zimmern (ebd. S. 157).


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

33<br />

_________________________________________________________<br />

6.2. Ausreisemotive und Ausreisebedingungen<br />

Die Migrationstheorie unterscheidet die vom Herkunftsland treibende<br />

Push-Faktoren und vom Zuwanderungsland anziehenden Pull-<br />

Faktoren, die für die Motivation zu einer Auswanderung verantwortlich<br />

sind. Push-Faktoren beinhalten alle Formen existentieller Bedrohung im<br />

Herkunftsland, zum Beispiel ökologische Katastrophen, wirtschaftliche<br />

Verelendung, Kriege oder Diskriminierung religiöser oder ethnischer<br />

Art. Pull-Faktoren funktionieren über das Abwägen von Nutzen und<br />

Kosten, das heißt im Konkretfall, dass im Zuwanderungsland bessere<br />

Lebensbedingungen herrschen (Dietz, 1996 S. 29f).<br />

Es wird also vor der Entscheidung zur Ausreise überlegt: was drängt<br />

mich aus diesem Land (Push-Faktor) und andererseits was zieht mich<br />

in das Zuwanderungsland (Pull-Faktor). In den meisten Fällen werden<br />

beide Faktoren abgewogen und beide Faktoren tragen dann zur Migra-<br />

tion bei.<br />

Die Aussiedler verlassen ihr Land aufgrund ethnischer Diskriminierung,<br />

politischen Drucks oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten, während die<br />

Aufnahmegarantie und die Lebensbedingungen im Zuwanderungsland<br />

Deutschland eine starke Anziehungskraft darstellen.<br />

In den siebziger und achtziger Jahren gaben die Aussiedler an in erster<br />

Linie als “Deutscher unter Deutschen“ leben zu wollen, oder sie reisten<br />

nach Deutschland aus zwecks Familienzusammenführung. Durch die<br />

Abwanderung der Deutschstämmigen aus Russland ist ein Sogeffekt<br />

entsanden, der die zurückgelassenen Familienangehörigen nachziehen<br />

lässt (Dietz, 1996 S. 30).<br />

Im Allgemeinen mussten die Aussiedler in Deutschland Statusverluste<br />

hinnehmen und sich mit handwerklichen Tätigkeiten begnügen, ihnen<br />

stand die Arbeitswelt im handwerklichen, landwirtschaftlichen und im<br />

industriellen Bereich zur Verfügung. Gleichzeitig hofften die Aussiedler<br />

eine Entschädigung für die Entbehrungen in der Teilhabe am<br />

Wohlstand in der Bundesrepublik und in der besseren Zukunft für ihre<br />

Kinder, frei von Repressionen und ethnischen Konflikten zu finden.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

34<br />

_________________________________________________________<br />

Ende der neunziger Jahre änderten sich die Eintrittsbedingungen<br />

grundlegend. Die politische Öffnung der Gesellschaft in Russland er-<br />

leichterte die Migration für viele Aussiedler.<br />

Mit dem Zerfall der UdSSR brachen ethnische Konflikte auf, von denen<br />

auch die ethnischen Gemeinschaften der Deutschen nicht verschont<br />

blieben. Besonders in Kasachstan und Usbekistan erfuhren die Aus-<br />

siedler ethnische Diskriminierungen. Das hat in vielen Fällen die Aus-<br />

reisemotivation verstärkt (Dietz, 1997 S. 31f).<br />

Auch in der Bundesrepublik steht die Eingliederung der Aussiedler seit<br />

Anfang der neunziger unter dem Einfluss der veränderten gesell-<br />

schaftspolitischen Rahmenbedingungen. Die bis dahin mehr oder weni-<br />

ger problemlos geltende Integration russlanddeutscher Aussiedler wan-<br />

delte sich in Abhängigkeit der veränderten Konfliktwahrnehmung der<br />

Bürger der Mehrheitsgesellschaft (Strobl, 2000).<br />

Die Wanderungsbewegung unterlag immer dem Spannungsfeld politi-<br />

scher Krisen in ehemaliger UdSSR und später in Russland.<br />

Viele Autoren beschäftigen sich mit der Geschichte der Auswanderung<br />

der Russlanddeutschen in die Bundesrepublik. So finden sich zum Bei-<br />

spiel ausführliche Beschreibungen der Auswanderung in den Werken<br />

von Regina Löneke (Löneke, 2000), Barbara Malchow u.a. (Malchow,<br />

1993) und Klaus J. Bade u.a. (Bade, 1999). Auch Strobl und Kühnel<br />

beschreiben zusammenfassend die geschichtspolitische Situation in<br />

Russland, die Wanderungsbewegungen der Aussiedler beeinflusste<br />

und versuchen damit die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Aus-<br />

wanderung zu erklären. Die Ausreisemotive haben im Fall der Aussied-<br />

ler vielfach auch einen historischen Hintergrund.<br />

Das Wissen über den geschichtlichen Background ist von enormer Be-<br />

deutung nicht nur für die Aussiedler selbst, sondern ebenso für die Mul-<br />

tiplikatoren, Lehrer und all die Menschen, die sich mit den Migranten<br />

beschäftigen und die sich als Vermittler zwischen der Gesellschaft und<br />

der ethnischen Minderheit sehen. Dabei ist das gleich, um welche Min-<br />

derheit es sich handelt.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

35<br />

_________________________________________________________<br />

Die Bedeutung des geschichtlichen Hintergrundes wird im Kapitel „Psy-<br />

chosomatik“ noch einmal aufgegriffen.<br />

Da eine geschichtliche Auseinandersetzung mit diesem Thema den<br />

Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, füge ich eine Zeittafel ein, die<br />

die wichtigsten Meilensteine in dem Leben der ausgewanderten Deut-<br />

schen, die nun als Aussiedler oder Spätaussiedler bezeichnet werden,<br />

markieren soll. Die Zeittafel ist zusammengesetzt aus den Informatio-<br />

nen aus den Büchern von Malchow u.a. (Malchow, 1993) und Löneke<br />

(Löneke, 2000). Diese Chronologie beinhaltet 3 Jahrhunderte und ist<br />

nur auf die wichtigsten Ereignisse der Geschichte der deutschen Aus-<br />

wanderer aus der ehemaligen UdSSR begrenzt.<br />

Abb. 2 Chronologie der Auswanderung<br />

1763 22 Juli – Manifest der Zarin Katharina II. (1762 – 1796)<br />

Aufruf an Ausländer zur Einwanderung.<br />

1764 Erste deutsche Kolonie an der Wolga. Festlegung der<br />

Agrarordnung für die Kolonien.<br />

1764-1768 104 deutsche Dörfer an der Wolga.<br />

1789 Chortiza, erste mennonitische Kolonie am Dnjepr gegrün-<br />

det („Altkolonie“).<br />

1800 Gnadenprivileg Pauls I. zugunsten der Mennoniten.<br />

1804 Manifest Alexanders I. Einladung an Deutsche zur An-<br />

siedlung im Schwarzmeergebiet.<br />

1838 Nikolaus I. bestätigt die Privilegien und Pflichten der Ko-<br />

lonisten.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

36<br />

_________________________________________________________<br />

1842 Kodifizierung aller Freiheiten, Rechte und Pflichten der<br />

Kolonisten und Verleihung der Bürgerrechte an die Kolo-<br />

nisten im ganzen Zarenreich.<br />

1871 Aufhebung der Selbstverwaltung der Kolonien im ganzen<br />

Zarenreich. Erste Auswanderungswelle.<br />

1874 Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht. Für Mennoniten<br />

Ersatzdienst. Auswanderung nach Nord- und Südameri-<br />

ka.<br />

1879 Deutsch-Österreichisches Bündnis gegen Russland. Eine<br />

Folge: Verschlechterung der Lage der Deutschen in<br />

Russland.<br />

1880 Ermordung Alexanders II., Thronbesteigung Alexanders<br />

III. Beginn der Russifizierungsversuche.<br />

1887/92 Fremdengesetz führt zum Verbot der deutschen Sprache<br />

in der Öffentlichkeit, Versammlungsverbot für Deutsche in<br />

Russland. Enteignungen, Repressionen.<br />

1917 Bürgerrevolution. Erster Kongress der Deutschen aus<br />

allen Siedlungsgebieten in Russland. Gründung des Zent-<br />

ralkomitees der Russlanddeutschen.<br />

1924 Gründung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik<br />

der Wolgadeutschen. Hauptstadt Engels (Pokrowsk).<br />

1928/29 Beginn der Kollektivierung. Ausreisewelle. Nur ein Teil<br />

der Reisewilligen erhält eine Ausreiseerlaubnis nach<br />

Deutschland. Von dort werden die meisten nach Nord-<br />

und Südamerika weitergeleitet.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

37<br />

_________________________________________________________<br />

1938 In den deutschen Schulen außerhalb der Wolgadeut-<br />

schen Republik wird Russisch/Ukrainisch als Unterrichts-<br />

sprache eingeführt.<br />

1938/39 Auflösung aller deutschen Rayons außerhalb der Auto-<br />

nomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeut-<br />

schen (ASSRdWD).<br />

1941 Deportation der Deutschen aus den westlichen Teilen der<br />

Sowjetunion. Beginn der Deportation der Wolgadeut-<br />

schen nach Sibirien und Mittelasien aufgrund eines Dek-<br />

rets.<br />

1944 Etwa 350 000 Russlanddeutsche werden im Warthegau<br />

angesiedelt und erhalten die deutsche Staatsangehörig-<br />

keit.<br />

1945 Deportation der Russlanddeutschen aus den Besat-<br />

zungsgebieten der Alliierten nach Sibirien und Mittelasien.<br />

1948 Dekret des Obersten Sowjets: Verbannung der Russ-<br />

landdeutschen auf „ewige Zeiten“ (Verbleib in den derzei-<br />

tigen Ansiedlungsorten).<br />

1955 Beschluss des Deutschen Bundestages: Anerkennung<br />

der im Krieg erfolgten Einbürgerungen von Russland-<br />

deutschen. Adenauer in Moskau. Oberster Sowjet: Auf-<br />

hebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der<br />

Deutschen. Aber: keine Rückgabe des vor der Deportati-<br />

on beschlagnahmten Eigentums und keine Rückkehr in<br />

die ehemaligen Siedlungsgebiete.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

38<br />

_________________________________________________________<br />

1964 Teilweise Rehabilitierung der Wolgadeutschen. Aufhe-<br />

bung des Deportationsdekrets von 1941 für alle Deutsche<br />

in UdSSR.<br />

1965 Internationale Vereinbarung über bürgerliche und politi-<br />

sche Rechte: Recht auf freie Ausreise und Minderheiten-<br />

schutz. Von der UdSSR 1973 ratifiziert.<br />

1970 Moskauer Vertrag zwischen BRD und UdSSR über ge-<br />

genseitigen Gewaltverzicht. Aussiedlerzahlen steigen.<br />

1972 Dekret über freie Wahl des Wohnsitzes für Deutsche.<br />

1979 Scheinversuch zur Gründung einer Autonomie in Ka-<br />

sachstan.<br />

1986 Neues Gesetz über Ein- und Ausreise erleichtert Famili-<br />

enzusammenführung. Aussiedlerzahlen steigen.<br />

1989 Gründung der Gesellschaft „Wiedergeburt“. Ziel: Wieder-<br />

herstellung der Wolgarepublik.<br />

1990 Einwanderungs-Anpassungs-Gesetz in Deutschland:<br />

Leistungskürzungen für die Aussiedler und Zuweisung<br />

eines vorläufigen Wohnsitzes für zwei Jahre. Aussiedler-<br />

Aufnahme-Gesetz: Aufnahmeverfahren nur vom Her-<br />

kunftsgebiet aus möglich.<br />

1991 Wiederherstellung des deutschen Rayons Halbstadt (Al-<br />

tai) (1938 aufgelöst).<br />

1992 Beschluss des obersten Sowjets über Gründung des<br />

deutschen Rayons Asowo / Omsk. Dekret über die Bil-<br />

dung eines deutschen Bezirks in den Gebieten Saratow<br />

und Wolgograd. Protokoll zwischen Deutschland und


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

39<br />

_________________________________________________________<br />

Russland zur stufenweisen (4-5 Jahren) Wiederherstel-<br />

lung der Wolgarepublik. Umfrage im Gebiet Saratow er-<br />

gibt Mehrheit gegen Autonomie der Deutschen.<br />

1993 Kriegsfolgenbereinigungsgesetz: Leistungseinschränkun-<br />

gen für Spätaussiedler; Festlegung einer Aufnahmequote<br />

ca. 200.000 pro Jahr. Bildung eines Zwischenstaatlichen<br />

Rates der Deutschen der ehemaligen UdSSR.<br />

Der geschichtliche Einblick zeigt, dass die Russlanddeutschen in den<br />

letzten drei Jahrhunderten mehrfach den Unterdrückungen, Repressio-<br />

nen, Deportationen, ethnischen Diskriminierungen und Verfolgungen<br />

ausgesetzt waren. Die Deutschen gerieten immer dann in Entschei-<br />

dungssituationen, wenn es zu außenpolitischen Kräfteverschiebungen<br />

und Krisen zwischen Deutschland und Russland bzw. der Sowjetunion<br />

kam. In solchen Situationen wurde den Deutschen ihr Anspruch auf<br />

kulturelle und soziale Selbständigkeit zur Gefahr.<br />

2,8% der Aussiedler kamen nach Deutschland aus Angst vor einem<br />

Krieg im Herkunftsland (Strobl, 2000 S. 85).<br />

Die Angst vor erneuten schicksalsverändernden politischen Umgestal-<br />

tungen hat sich in diese Minderheit eingebrannt.<br />

Löneke fand in ihren Interviews mit den Aussiedlern aus Russland her-<br />

aus, dass besonders die älteren Menschen auf die Ausreise nach<br />

Deutschland drängten, weil sie selbst negative Erfahrungen in der<br />

Nachkriegszeit gemacht haben. (Löneke, 2000 S. 217) Diese geschicht-<br />

lich begründete Angst dient ebenfalls als Motivation Russland zu ver-<br />

lassen und in das Land ihrer Ahnen zurückzukehren, um eigenen Kin-<br />

der eine bessere Zukunft zu bieten. Laut Strobl und Kühnel haben<br />

13,0% der Russlanddeutschen das Land aus eben diesem Grund ver-<br />

lassen (Strobl, 2000 S. 85).<br />

Aufgrund des langjährigen „Kalten Krieges“ gab es in Russland Infor-<br />

mationsmangel über die westlichen Länder. Das Thema „Deutschland“


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

40<br />

_________________________________________________________<br />

wurde seit dem zweiten Weltkrieg tabuisiert und die Gespräche und<br />

Erzählungen über Deutschland durch die sowjetische Regierung unter-<br />

bunden. (Löneke, 2000 S. 218) Die Vorstellungen über Deutschland<br />

wurden gebildet aus den Geschichten, die über mehrere Generationen<br />

überliefert wurden und aus den Informationen, die sie aus dem Brief-<br />

wechsel mit den Verwandten und Freunden aus Deutschland rauslasen<br />

(ebd. S. 213).<br />

Aber auch der Briefwechsel war nicht einfach, denn viele Briefe kamen<br />

nicht an, weil die ausländischen Briefe meist vom Zoll abgefangen wur-<br />

den oder sie kamen erst Monate später bei dem Empfänger an.<br />

Das Osteuropa-Institut befragte die Aussiedler aus der UdSSR nach<br />

ihren Informationsquellen zu den Verhältnissen in Deutschland und<br />

stellte fest, dass die Informationen über Deutschland nur sehr spärlich<br />

und oft ideologisch gefärbt waren, daher bestand ein großes Informati-<br />

onsdefizit über die reale und aktuelle Situation in Deutschland (ebd. S.<br />

220).<br />

Wer es sich finanziell erlauben konnte, kam nach Deutschland zuerst<br />

mit einem Gastvisum, um das Land zu erkunden und sich über die Le-<br />

bensverhältnisse zu informieren (Kornischka, 1992 S. 73f). Die anderen<br />

reisten ins Ungewisse mit viel Hoffnung im Gepäck.<br />

Es liegt nahe, dass viele von der deutschen Tradition geprägten Eltern<br />

die Gelegenheit beim Schopf nehmen und den Antrag auf Ausreise stel-<br />

len, weil ihr Kind oder ihre Kinder langsam in die Pubertät kommen und<br />

dann die „Gefahr“ bestünde, dass der oder die Jugendliche eine Bezie-<br />

hung mit einem Nichtdeutschen eingehen würde. Eine „Mischehe“<br />

spricht nicht nur gegen die altdeutsche Tradition, sondern gefährdet<br />

auch enorm die Ausreise nach Deutschland zu einem beliebigen Zeit-<br />

punkt. Die Eltern haben dann Angst ihre Familie zu spalten und ihre<br />

Kinder zu verlieren, wenn sie nicht zusammen nach Deutschland aus-<br />

reisen können.<br />

Ich vermute, dass die „Mischehen“, (also Ehen zwischen einer/einem<br />

Deutschstämmigen und einer/einem Russin/Russen oder einer anderen


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

41<br />

_________________________________________________________<br />

Nationalität) deshalb unter den traditionsgebundenen Deutschen unter-<br />

sagt oder verurteilt werden, weil sie ihre ursprüngliche Kultur schützen<br />

und eine mögliche Russifizierung 2 vermeiden wollen, aber nicht zuletzt<br />

auch, weil sie sich gegen die Probleme der möglichen Ausreise nach<br />

Deutschland versichern wollen. Denn die Gefahr der Familientrennung<br />

bestand schon immer und ist nicht erst seit der letzten Ausreisewelle<br />

aktuell.<br />

Eine Studie aus dem Jahr 1989 stellt dieses Phänomen in Zahlen vor.<br />

In 8 % der Familien war der Ehepartner einer fremdethnischen Ab-<br />

stammung. Des weiteren hatten 14 % der Spätaussiedler Kinder, die<br />

im Herkunftsland mit fremdethnischen Partnern verheiratet waren und<br />

deshalb nicht mitausreisen konnten und es zu Familientrennung kam.<br />

80 % der Spätaussiedler aus Russland hatten nichtdeutsche Verwandte<br />

im Herkunftsland (Kornischka, 1992 S. 72 f.).<br />

Ein weiterer, nicht minder gewichtiger Grund, der eine Ausreise auslöst,<br />

jedoch in der von mir eingesehenen Literatur nur nebenbei erwähnt<br />

wird, ist die Wehrpflicht in Russland. Strobl und Kühnel fanden in ihrer<br />

Studie im Jahr 2000 heraus, dass 5,2% der Aussiedler die Vermeidung<br />

des Armeedienstes als einen Grund für die Ausreise angaben (Strobl,<br />

2000 S. 85). Auf den ersten Blick scheint der Grund wirklich nicht rele-<br />

vant zu sein, ich möchte jedoch trotzdem behaupten, dass es vor allem<br />

heute ein nicht zu übersehender Ausreisefaktor ist. Dieser Prozentsatz<br />

von 5,2% ergibt sich aus den 100% der befragten Aussiedler. Aber<br />

nicht jeder Befragte war männlich und war in dem Alter zwischen 18<br />

und 27 Jahren und damit reif für die Wehrpflicht in Russland. Es ist zu<br />

erwarten, dass für diese Zielgruppe die Vermeidung des Armeedienstes<br />

absolute Priorität unter den Ausreisegründen hat.<br />

2 russisch u. facere (lat.) = russisch machen . Aus dem Duden 1996. Russifizierung bedeutet ein<br />

Prozess der 1887 in Russland gewaltsam stattfand, um die deutsche Kultur auszurotten. Es<br />

wurde ein „Fremdengesetz“ erteilt und die deutsche Sprache wurde in der Öffentlichkeit verboten.<br />

Des weiteren wurde das Versammlungsverbot erteilt und es herrschten Enteignungen und<br />

Repressionen. Die deutschfeindliche Stimmung hielt noch länger an und sie führte zur Russifizierung<br />

des deutschen Schulwesens.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

42<br />

_________________________________________________________<br />

Der Wehrdienst in Russland dauert zwei Jahre. Alle jungen Männer im<br />

Alter von 18 bis 27 Jahren fallen unter die allgemeine Wehrpflicht. Die<br />

Zustände in der russischen Armee gelten seit Jahren als katastrophal.<br />

In den vergangenen Jahren wurden tausende Soldaten von ihren Offi-<br />

zieren zu Tode gequält oder in den Selbstmord getrieben. (Verband der<br />

Komitees der Soldatenmütter Russlands. 3 )<br />

Vermutlich würde bei einer aktuellen Messung der Ausreisemotive die-<br />

ser Grund deutlicher ins Gewicht fallen, denn seit dem Oktober 1999<br />

intervenieren Militärtruppen unter Präsident Putin erneut in Tsche-<br />

tschenien.<br />

Vor allem nach Beginn des zweiten Krieges in Tschetschenien, versu-<br />

chen viele Eltern von Jungen, noch vor dem siebzehnten Lebensjahr<br />

ihres Kindes nach Deutschland auszureisen, um einem furchtbaren<br />

Schicksal zu entkommen. Die Soldaten in den Kriegen gegen Tsche-<br />

tschenien haben oft nur ein halbes Jahr militärische Ausbildung absol-<br />

viert (ebd.). Eine Ausreise aus Russland ist für die Aussiedler eine der<br />

wenigen legalen Möglichkeiten dem Wehrdienst zu entkommen.<br />

Die Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse von Strobl und<br />

Kühnel ist aus dem Jahr 2000, die Datenerhebung fand jedoch zwi-<br />

schen November 1998 und Februar 1999 statt (Strobl, 2000 S. 70). Die<br />

Ausreisegründe können noch weiter zurückliegen, denn in manchen<br />

Fällen dauert es Jahre um eine Ausreisegenehmigung zu erhalten. Es<br />

wäre interessant zu untersuchen, ob die Ausreisemotivation mit der<br />

neuen Terrorwelle und seit dem Beginn des zweiten Tschetschenien-<br />

krieges zugenommen hat.<br />

An den Forschungsergebnissen von Strobl und Kühnel ist zu kritisieren,<br />

dass bei den Erhebungen nicht nach der Aufenthaltsdauer der Befrag-<br />

ten in Deutschland differenziert wurde (ebd. S. 73f). Die Aufenthalts-<br />

dauer könnte genaueren Aufschluss geben, wie sich politische Impulse<br />

im Herkunftsland und Deutschland auf bestimmte Ausreisemotive aus-<br />

wirken.<br />

3 http://www.frauennews.de/themen/weltweit/frieden/russmuetter.htm.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

43<br />

_________________________________________________________<br />

Überlegungen zum Motiv „als Deutscher unter Deutschen zu sein“<br />

Einige Autoren, die sich mit den Ausreisemotiven der Aussiedler be-<br />

schäftigt haben, berichten, dass die Aussiedler, die das Ziel hatten in<br />

die „Heimat“ auszureisen und unter den Deutschen zu sein, ein anderes<br />

Deutschland vorgefunden haben, als sie es erwartet hatten (Silberei-<br />

sen, 1999 S.165), (Löneke, 2000 S.224).<br />

Erwarten die Aussiedler eine Kultur in Deutschland vorzufinden, die sie<br />

kennen, die sie pflegen und mit welcher sie aufgewachsen sind? Stellen<br />

sie sich vor nach Hause zurückzukehren, wie es von vielen Autoren<br />

berichtet wird?<br />

Trotz der mangelhaften Informationspolitik, vermute ich, dass es zu-<br />

mindest den meisten Aussiedlern klar ist, dass sich in Deutschland die<br />

Kultur aufgrund der geschichtspolitischen Veränderungen anders ent-<br />

wickelt hat, als die mehr oder weniger isolierte und auch zum Teil kon-<br />

servierte deutsche Kultur in Russland. Vor der Ausreise pflegten die<br />

Aussiedler Briefkontakte mit den bereits ausgereisten Familienangehö-<br />

rigen oder Freunden, die über die Situation in Deutschland berichteten.<br />

Ein sehr großer Anteil an Aussiedlern (48,5%) (Strobl, 2000 S. 73) die<br />

mit der großen Ausreisewelle in den Achtzigern und Anfang der Neun-<br />

zigern nach Deutschland kamen, kamen aus deutschen Dörfern in<br />

Russland und betrieben Landwirtschaft zur Eigenversorgung und für die<br />

Abgabe an den Staat. Das Leben war hart und glich einem Selbstver-<br />

sorger-Dasein, denn neben einem Job, wie Mechaniker oder Lehrer<br />

oder Arzt waren sie in diesen landwirtschaftlich geprägten Dörfern auch<br />

Vollzeitlandwirte. Auch alte Leute waren von der eigenen Landwirt-<br />

schaft abhängig.<br />

Man hatte den Stall mit Kühen, Hühnern, Schweinen usw. zu versor-<br />

gen, den Garten mit Kartoffeln, Kohl, Möhren, Mais usw. zu pflegen und<br />

sich um Winterreserven zu kümmern (Löneke, 2000 S. 94).<br />

Es ist wohl unwahrscheinlich, dass die aus den Dörfern und Kolchosen<br />

kommenden Russlanddeutschen erwartet haben gleiche Bedingungen<br />

in Deutschland vorzufinden. Im Gegenteil sind die alten Russlanddeut-


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

44<br />

_________________________________________________________<br />

schen froh dieses Kapitel ihres Lebens, das als Landwirtschaft zum<br />

großen Teil ihre Tradition ausmachte, in Russland gelassen zu haben.<br />

Viele alte Menschen aus Russland, mit denen ich mich unterhalten ha-<br />

be, berichteten, dass sie erleichtert und froh sind sich das Leben in ei-<br />

ner Wohnung zu leisten und die letzten Jahre ihres Leben nicht schuf-<br />

ten und sich körperlich verausgaben zu müssen. Statt dessen haben<br />

sie hier Zeit ihre Religion zu leben, Bücher und Bibel zu lesen und<br />

Freundschaften zu pflegen. Sie wollten in eine neue Welt auswandern<br />

und ihre Kultur mitnehmen.<br />

Die Autoren erläutern nicht, worin konkret die Vorstellung der Aussied-<br />

ler über die deutsche Gesellschaft bestand.<br />

Es ist jedoch klar umschrieben, womit die Aussiedler in Konfrontation<br />

geraten sind, nämlich mit dem neuen Wertehorizont, den die aufneh-<br />

mende Gesellschaft vertritt.<br />

6.2.1. Einwanderungsbedingungen im Wandel<br />

In der Bundesrepublik haben sich die Einwanderungsbedingungen für<br />

Aussiedler seit Beginn der neunziger Jahre dramatisch verändert. Die<br />

Aussiedler werden mit wachsender Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Re-<br />

zession und chronischen Finanzproblemen der Kommunen konfrontiert.<br />

Die veränderten Einwanderungsbedingungen kommen auch in Anpas-<br />

sungen des Rechtsstatus der Aussiedler und in der Begrenzung der<br />

Anzahl der Aufnahmebescheide zum Ausdruck. Den Rechtstatus eines<br />

Spätaussiedlers erhalten jene, die vor dem 1.1.1993 geboren wurden,<br />

nach dem 31.12.1992 einen Aufnahmebescheid gemäß § 26 BVFG<br />

erhalten haben und sich seit dem 1.1.1993 in der BRD aufhalten<br />

(Strobl, 2000 S. 29).<br />

Um als Spätaussiedler anerkannt zu werden, müssen die Zuwanderer<br />

seit Juli 1990 mit einem Aufnahmebescheid der Bundesrepublik nach<br />

Deutschland kommen. Ein wesentlicher Punkt des Aufnahmeverfahrens


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

45<br />

_________________________________________________________<br />

ist der Nachweis der deutschen Volkszugehörigkeit. Nach dem neuen<br />

Bundesvertriebenengesetz (§6 Abs.1) ist deutscher Volkszugehöriger,<br />

wer sich in seiner Heimat zum Volkstum bekannt hat (subjektives Erfor-<br />

dernis), sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale (Ab-<br />

stammung, Sprache, Erziehung, Kultur) bestätigt wird (objektives Erfor-<br />

dernis) (Dietz, 1996 S. 41).<br />

Seit 1990 haben Aussiedler erhebliche Kürzungen der Entschädigungs-<br />

und Sozialleistungen hinnehmen müssen. Mit den Einschränkungen in<br />

den Leistungsbezügen verschlechterten sich die sozialen Einstiegs-<br />

bedingungen der Aussiedler in der Bundesrepublik. Waren sie früher<br />

den Empfängern von Arbeitslosengeld mehr oder weniger gleichge-<br />

stellt, so haben die meisten inzwischen nur noch einen Anspruch auf<br />

die Sozialhilfe (Strobl, 2000 S. 30). Inzwischen besteht kein Anspruch<br />

mehr auf Eingliederungsgeld. Der Sprachkurs wurde von 10 auf 6 Mo-<br />

nate begrenzt (Informationen zur politischen Bildung, 2000 S. 40). Für<br />

Jugendliche beträgt die Sprachförderung 10 Monate (ebd. S. 42).<br />

Die Eingliederungsleistungen werden an den Wohnort gebunden, um<br />

hohe Sozialaufwendungen und Engpässe auf dem Arbeitsmarkt in den<br />

aufnehmenden Gemeinden zu vermeiden. Nach dem Wohnortzuwei-<br />

sungsgesetz haben die Spätaussiedler nur am zugewiesenen Wohnort<br />

Anspruch auf Eingliederungsleistungen. Eine weitere Änderung im Ge-<br />

setzt soll die Wohnortbindung der Spätaussiedler auf drei Jahre nach<br />

der Einreise festsetzen. Eine Abwesenheit von dem Wohnort darf ledig-<br />

lich drei Monate dauern und zum Zweck der Arbeitssuche dienen (ebd.<br />

S. 39).<br />

6.3. Wohnsituation der Spätaussiedler in Deutschland<br />

Nach jahrelangem Warten und oft langwierigen Ausreiseverhandlungen<br />

haben alle Spätaussiedler den Erstkontakt mit der Bundesrepublik in<br />

einem der vier Grenzdurchgangslager. Die beiden Lager Friedland (seit<br />

1945) und Unna-Massen (seit 1988) sind für die Aussiedler aus der e-<br />

hemaligen UdSSR zuständig. Nach etwa einer Woche im Grenzdurch-


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

46<br />

_________________________________________________________<br />

gangslager gelangen die Spätaussiedler dann in die Durchgangswohn-<br />

heime oder Landesaufnahmestellen der entsprechenden Bundesländer<br />

(Kornischka, 1992 S. 42). Etwa zwei Wochen später ziehen die „neuen<br />

Mitbürger“ dann schließlich in die Übergangswohnheime, auch Not-<br />

wohnung genannt, des von ihnen gewählten Ortes ein. Meist sind diese<br />

Übergangswohnheime sehr klein, bestehend aus einem Zimmer (18-<br />

20qm² für eine Familie (Dietz, 1997 S. 73)), mit Schränken unterteilt in<br />

einen Wohn- und einen Schlafraum, mit Gemeinschaftsküchen und<br />

gemeinsamen sanitären Anlagen. Bedingt durch den Massenzustrom<br />

Ende der Achtziger Jahre kam es zu sehr großen Engpässen und<br />

Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt. Oft fanden die Spätaussied-<br />

ler ein neues vorübergehendes Zuhause in einer Turnhalle, oder in ei-<br />

ner alten Schule, wo die Wände nur aus einer Bundeswehrdecke be-<br />

standen. Weitere Ausweichquartiere waren zum Beispiel Schiffe, Gast-<br />

höfe, Hotels, Kasernen, Campingplätze, Bordelle, Messehallen (Kor-<br />

nischka, 1992 S. 50). Die Aufenthaltsdauer in diesen beengten Wohn-<br />

verhältnissen lag in den Siebziger Jahren zwischen mehreren Monaten<br />

und mehreren Jahren. Marek Fuchs (in: Silbereisen, 1999 S. 96) führte<br />

eine Studie zu der Wohnsituation der Spätaussiedler durch. Laut seiner<br />

Untersuchung leben ein halbes Jahr nach der Einreise 77% der befrag-<br />

ten Familien in einem Übergangswohnheim; nach einem Jahr sind es<br />

65,1% und vier Jahre nach der Ankunft 4,3% der Familien. Die Unter-<br />

suchung bezog sich auf die Spätaussiedler aus Polen, Rumänien und<br />

auf die Spätaussiedler aus der ehemaligen UdSSR. Die durchschnittli-<br />

che Aufenthaltsdauer im Wohnheim, bezogen im speziellen auf die<br />

Aussiedler aus der Sowjetunion, beträgt laut Fuchs` Berechnungen<br />

28,6 Monate.<br />

Kornischka weist auf die besonderen gesundheitlichen Probleme der<br />

Aussiedler in den Massenunterkünften hin, wie beispielsweise verän-<br />

derte klimatische Bedingungen, schlechte sanitäre und hygienische<br />

Verhältnisse, fremde Ernährungsweisen, Allergien durch neue chemi-<br />

sche Produkte, übermäßige Leuchtstoffröhrenbeleuchtung in den<br />

Wohnheimen und psychosomatischer Stress, ausgelöst auch durch die<br />

Wohnraumenge (Kornischka, 1992 S. 51).


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

47<br />

_________________________________________________________<br />

6.4. Besonderheiten der Familiensozialisation der Aussiedler<br />

Bedingt durch die beengten Wohnverhältnisse ist die persönliche Sphä-<br />

re stark eingeschränkt und es gibt kaum einen Raum für die Bedürfnis-<br />

se des Einzelnen. Nicht nur Erwachsene sondern auch Jugendliche<br />

werden mit allen familiären und außerfamiliären Konflikten konfrontiert,<br />

wie zum Beispiel: Eheprobleme der Eltern, Alkoholmissbrauch, Lärmbe-<br />

lästigung, Aggressionen zwischen den Bewohnern. Die Familie verliert<br />

dadurch ihre stabilisierende, ihre protektive Funktion (Dietz, 1996 S.<br />

73).<br />

Die traditionellen Wertorientierungen der Eltern stimmen häufig mit den<br />

Werten der neuen Heimat nicht mehr überein. Im Herkunftsland<br />

herrschten eher autoritäre Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern. In<br />

Deutschland lernen sie die egalitären Erziehungsmuster kennen. Den<br />

Erwachsenen fällt es schwerer als den Kindern sich in ihren Wertvor-<br />

stellungen und ihrer Lebensführung zu ändern, deshalb kommt es<br />

schell zu Konflikten mit Kindern und Jugendlichen, wenn diese sich<br />

leichter als ihre Eltern die neuen Werte und Normen verinnerlichen.<br />

Die familiäre Sozialisation kann sich förderlich, aber auch hemmend auf<br />

den Lernerfolg und die Sozialisation in der Schule auswirken, wenn<br />

zum Beispiel in Schule und Elternhaus inkompatible Werte vermittelt<br />

werden. Auch kulturelle Defizite in der Familie wirken sich negativ auf<br />

die schulische Sozialisation aus (Thomas, 1993 S. 120).<br />

Eine besondere Schwierigkeit für die Kinder und Jugendlichen ist eben-<br />

so, dass die Eltern, die normalerweise die wichtigsten Gesprächspart-<br />

ner für sie sind, wenn es um die schulische, berufliche oder private Zu-<br />

kunft geht, Schulsystem und Ausbildungsmöglichkeiten nicht kennen.<br />

Die Eltern sind selbst in der neuen Umgebung hilflos, unsicher und<br />

können für ihre Kinder nicht orientierend wirken.<br />

Für die schnellere Assimilation der Kinder und Jugendlichen ist zum<br />

einen die Fähigkeit zum schnelleren Sprachenerwerb verantwortlich -<br />

die wiederum bedingt ist durch die größere Bereitschaft zu Nachah-<br />

mung und Identifikation - und zum anderen die schnellere Kontaktauf-<br />

nahme mit den Einheimischen und die Übernahme der neuen Wertori-<br />

entierungen und der Lebensweisen.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

48<br />

_________________________________________________________<br />

Die junge Generation übernimmt die Aufgaben der Eltern, wie z. B. Be-<br />

hördengänge (Schmitt-Rodermund/ Silbereisen in: Thomas, 1996 S.<br />

436) Im Familienalltag findet immer wieder Rollentausch statt. Die<br />

Sprachbarriere hindert die Eltern die notwendige Informationen zu be-<br />

schaffen, um ihren Kindern das Zurechtfinden in der neuen Umgebung<br />

zu erleichtern und somit eine Hilfestellung auf dem Weg zum Erwach-<br />

senwerden zu geben. Die schnellere Assimilation führt in der Folge oft<br />

zu Konflikten zwischen den Kindern und den Eltern, da sich einerseits<br />

die Eltern von den eigenen Kindern übertroffen und kritisiert fühlen, an-<br />

dererseits schämen sich die Kinder ihrer Eltern, weil sie die Sprache<br />

mangelhaft beherrschen (Grinberg/Grinberg, 1990 S. 125).<br />

Der Einstieg in die sozialen Gruppen gelingt den älteren schwerer als<br />

den Kindern.<br />

Eine Befragung im niedersächsischen Raum fand heraus, dass etwa<br />

50% der befragten Aussiedler höchstens einmal im Monat oder seltener<br />

Kontakt zu Einheimischen oder den anderen Aussiedlern hatte. Jedoch<br />

71% der Aussiedler wünschen sich mehr Kontakt zu den Einheimischen<br />

(Bahlmann, 2000 S. 33).<br />

Bedingt durch die Wohnsituation sind die Kontaktkreise klein und ver-<br />

größern sich mit zunehmender Aufenthaltsdauer nur sehr langsam (Hel-<br />

ler, 1992 S. 29f).<br />

Finanzielle Einschränkungen<br />

Die Bildungs- und Berufsabschlüsse, die die Aussiedler mitbringen, sind<br />

meistens mit den Abschlüssen in der Bundesrepublik nicht kompatibel.<br />

Die Folge davon ist eine grundsätzliche Entwertung der erworbenen<br />

Abschlüsse. Ohne einer Umschulung wird der Zugang zum Arbeits-<br />

markt enorm erschwert. Die berufliche Perspektive wird eingeschränkt<br />

und die damit im Zusammenhang stehenden geringen finanziellen Mit-<br />

tel der Aussiedlerfamilien schlagen sich in den Sozialisationsbedingun-<br />

gen ihrer Kinder nieder (Strobl, 2000 S. 37).<br />

Die Entwertung der in der Heimat erworbenen Bildungsabschlüsse und<br />

darausfolgende Unterqualifizierung oder sogar Erwerbslosigkeit hat vie-


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

49<br />

_________________________________________________________<br />

le Folgen. Es kommt zu Frustrationen, zu psychischen Belastungen der<br />

Eltern und indirekt zu psychischen Belastungen bei den Kindern.<br />

In Russland ist es nicht üblich den Kindern Taschengeld zu geben, es<br />

gibt sogar im russischen Sprachgebrauch kein Wort, das „Taschen-<br />

geld“ bedeutet. Das Geld bekamen sie bei Bedarf oder es wurde ge-<br />

spart von Gelegenheit zu Gelegenheit. Oftmals können sie in den Fe-<br />

rien durch kleine Jobs, z.B. in der Landwirtschaft, ihr eigenes Geld ver-<br />

dienen, und zwar schon relativ früh mit 11 oder 12 Jahren.<br />

In ihrem Herkunftsland verbrachten die Kinder und Jugendliche ihre<br />

Freizeit auf öffentlichen Plätzen, auf der Straße, auf den Höfen. Wenn<br />

sie aus einem Dorf oder aus den ländlichen Gebieten Russlands kom-<br />

men, dann besaßen sie größere Wohnungen oder ein Haus mit einem<br />

Garten. Städtische Familien hatten üblicherweise einen Grundstück auf<br />

dem Land. Es gab in dem Herkunftsland generell mehr Freiräume für<br />

die Kinder. Es gab mehr Spielmöglichkeiten in der Natur. Viele Kinder<br />

und Jugendliche besaßen Haustiere, mit denen sie viel Zeit verbrachten<br />

(Dietz, 1999 S. 38f). Das Geld wurde dafür nicht benötigt.<br />

Da die meisten Aussiedler die erste Zeit nach der Einreise in Über-<br />

gangswohnheimen verbringen, haben die Kinder und Jugendliche nur<br />

sehr wenig Raum zum Spielen und Toben. Die Migration beschränkt<br />

sich nicht auf einen Umzug. Durch die vielen Umzüge in relativ kurzer<br />

Zeit, müssen sich die Kinder und Jugendlichen immer wieder neu in<br />

den sozialen Strukturen positionieren. Deshalb halten sich die Kinder<br />

fest an der einzig vertraut gebliebenen Gruppe, an der eigenen Familie.<br />

Die Kommunikation und die Beziehungen beschränken sich auf die ei-<br />

gene Gruppe. Grund dafür sind neben den schlechten Sprachkenntnis-<br />

sen auch die Enge der Wohnverhältnisse und die mangelnden finanziel-<br />

le Ressourcen. In Deutschland gehört die „Straßensozialisation“ eher<br />

der Vergangenheit an oder betrifft weitgehend die Kinder und Jugendli-<br />

che aus unteren sozialen Schichten.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

50<br />

_________________________________________________________<br />

Familie als Schutzschild<br />

Neben den engen Wohnverhältnissen und eingeschränkten finanziellen<br />

Ressourcen wird die gesellschaftliche Position oft als belastend emp-<br />

funden. Kornischka schildert eine Umfrage vom Institut für Demoskopie<br />

in Allensbach aus dem Jahr 1988. Diese Umfrage ergab, dass 38% der<br />

Bundesbürger Spätaussiedler für Ausländer halten und meinten, dass<br />

diese Gruppe zu viele Leistungen vom Staat beziehen darf. 61% hatten<br />

in Bezug auf die Einreise von Spätaussiedlern eine negative Einstel-<br />

lung. Seit 1990 ist die Fremdenfeindlichkeit kontinuierlich gestiegen.<br />

Weitere Untersuchungen zeigen, dass 60% der befragten Aussiedler im<br />

mitmenschlich gesellschaftlichen Bereich überwiegend negative Erfah-<br />

rungen machten (Kornischka, 1992 S. 45).<br />

In dem Selbstfindungsprozess, den alle Aussiedler nach der Ankunft in<br />

Deutschland durchleben, führen diese negativen Erfahrungen mit den<br />

Bundesbürgern zu Frustrationen, noch mehr Unsicherheit und noch<br />

stärkerem Rückzug auf die eigene ethnische Gruppe, wodurch sich die<br />

Aussiedler von den Einheimischen abkapseln und auch die sogenann-<br />

ten „Ghettos“ bilden. Missverständnisse und unverstandene und<br />

zugleich unausweichliche Anforderungen lösen häufig Überlastungsre-<br />

aktionen aus, die mit quälenden internalen Verantwortungszuschrei-<br />

bungen verbunden sind. Die Einwanderung nach Deutschland ist ein<br />

kritisches Lebensereignis, dessen Verlauf zu erheblichen psychischen<br />

und sozialen Problemen führen kann (Hänze und Lantermann in: Sil-<br />

bereisen, 1999 S. 143f).<br />

Die eigene Familie bietet emotionalen Rückhalt. Die Aussiedler kom-<br />

men meist im Familienverbund mit mindestens einem Kind und nicht<br />

selten mit noch weiteren im Haushalt lebenden Verwandten nach<br />

Deutschland (ebd.)<br />

Die Familie und im Allgemeinen die eigene ethnische Gruppe ist homo-<br />

gen, da die Gruppenmitglieder die gleichen Erfahrungen machen. Sie<br />

bieten Halt und Entspannung, da sie die gleiche Sprache sprechen, die<br />

gleiche Mentalität haben und den gleichen Hindernissen ausgesetzt<br />

sind. Die Mentalität ist sehr wichtig für die Entspannung, denn sie bein-


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

51<br />

_________________________________________________________<br />

haltet die gleichen bzw. ähnliche Vorerfahrungen, eine ähnliche Ver-<br />

gangenheit die in dem gleichen Land gemacht wurden. Es bedeutet,<br />

dass sie dem gleichen gesellschaftlichen System angehörten mit glei-<br />

chen Riten und Traditionen, Feiern und Humor.<br />

Hänze und Lantermann (in: Silbereisen, 1999) heben hervor, dass ein<br />

emotional stabiler Familienzusammenhalt wichtig ist für die Vermeidung<br />

und Bewältigung psychischer Probleme. Sie weisen auf Mattejat (1993)<br />

hin, der betont – ich zitiere Hänze und Lantermann:<br />

„ (...),dass Familien mit einem engem Familienzusammenhalt ein hohes Be-<br />

wältigungspotential und eine hohe Stressresistenz besitzen. Umgekehrt kann<br />

ein negatives Familienklima, ein geringes Maß an emotionaler Verbundenheit,<br />

verbunden mit einem geringen Maß an gegenseitig zugestandener individuel-<br />

ler Autonomie, zu Labilität und Vulnerabilität bei äußeren Belastungen führen.“<br />

(ebd. Zitat S. 145)<br />

Bindung und Autonomie in der Familie wirken sich positiv und auch pro-<br />

tektiv auf das Familienklima aus. Ein enger Familienzusammenhalt bie-<br />

tet ein hohes Bewältigungspotential und eine hohe Stressresistenz (Sil-<br />

bereisen, 1999 S. 145).<br />

Ich würde den Begriff Familie ausweiten und die Familienumgebung,<br />

zum Beispiel gute Nachbarn und Freunde, dazunehmen und diesen<br />

eine ebenfalls wichtige Bedeutung beimessen. Somit vermute ich, das<br />

eine verständnisvolle, warme Familienumgebung beschützend und auf-<br />

bauend für jeden einzelnen sein kann. Die Nachbarn und Freunde sind<br />

die erste Zeit nach der Übersiedlung üblicherweise ebenso Aussiedler,<br />

da die Aussiedler die ersten Monate in einem Übergangswohnheim<br />

untergebracht werden.<br />

Die Aussiedler 4 , die sich auch nicht kennen, kommen schnell ins Ge-<br />

spräch und fühlen sich wohl untereinander, da im Umgang miteinander<br />

und in den Gesprächen vieles als selbstverständlich vorausgesetzt wird<br />

4 Nicht nur Aussiedler fühlen sich unter einander wohl, dieses kann auf jede beliebige Minorität<br />

übertragen werden. Die gemeinsame Basis schafft Vertrauen.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

52<br />

_________________________________________________________<br />

und keiner Rechtfertigung oder genaueren Erklärung bedarf. Manchmal<br />

genügt ein Wort und sie wissen worum es geht.<br />

Die Anwendung der russischen Sprache hat nicht nur einen praktischen<br />

Sinn für die Aussiedler, da sie die deutsche Sprache am Anfang noch<br />

nicht fließend beherrschen. Kossolapow vermutet, dass die Aussiedler<br />

deswegen an der russischen Sprache festhalten, weil das Russische im<br />

Unterschied zum Deutschen eine viel breitere Palette an Ausdrucks-<br />

möglichkeiten für Gefühle und Gefühlsschattierungen bietet.<br />

„So kann z.B. fast jedem Wort durch unterschiedliche Prä- und Suffigierung<br />

eine bestimmte neue (verächtliche, liebevolle etc.) Bedeutungsnuance gege-<br />

ben werden; oder unseren beschränkten Möglichkeiten, Verkleinerungsformen<br />

zu bilden, stehen Dutzende von Diminutivformen im Russischen gegenüber.“<br />

(Kossolapow, 1987 Zitat S. 144)<br />

Daher greifen die Jugendlichen und auch ihre Eltern gerade im emotio-<br />

nalen Bereich auch bei guter Beherrschung der deutschen Sprache<br />

immer wieder auf das Russische zurück (ebd.). Sie ziehen sich emotio-<br />

nal auf diese Sprache zurück und fühlen sich in diesem Schutzraum,<br />

den die russische Sprache bietet, geborgen.<br />

Das Wohlfühlen in einer Gesellschaft geht weit über die Sprache hin-<br />

aus. Viele Aussiedler berichten, dass sie das Wesen oder den Humor<br />

der Einheimischen die erste Zeit nicht verstanden. Die Witze fanden sie<br />

überhaupt nicht komisch, das Verhalten in bestimmten Situationen un-<br />

erklärlich (Dietz, 1998).<br />

Humor ist, wie ich finde, ein sehr wichtiger Bestandteil einer Gesell-<br />

schaft, er spiegelt das Gesicht einer Gesellschaft wieder. Die westliche<br />

Gesellschaft ist individualistisch, marktwirtschaftlich orientiert, multikul-<br />

turell und in gewisser weise emanzipiert. So ist es auch kein Wunder,<br />

dass die Aussiedler, die ja aus einer kollektivistischen, patriarchalischen<br />

sozialistisch geprägten Gesellschaft stammen, den Humor der Einhei-<br />

mischen nicht verstehen. Es kommt zu Missverständnissen und zu<br />

neuen Vorurteilen. Es braucht Zeit bis man die „Basis“, die Grundein-<br />

stellungen und Grundprinzipien einer Gesellschaft verinnerlicht hat. Da-<br />

bei hilft zum Beispiel der Umgang mit den Einheimischen im Beruf und


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

53<br />

_________________________________________________________<br />

in der Freizeit, einheimische Filme, Bücher, Zeitschriften oder andere<br />

Medien. Eine gewisse Hemmschwelle muss dabei überschritten werden<br />

und das bereitet vielen Stress. Diesen Stress will und kann jedoch nicht<br />

jeder in Kauf nehmen. Viele Aussiedler ziehen sich also in ihre Gruppe<br />

zurück, wo sie vertraute Atmosphäre schaffen. Dieser Rückzug führt<br />

sogar zur „Ghettobildung“ und somit zur sozialen Isolation. Es entsteht<br />

ein Teufelskreis: Viele Aussiedler haben Probleme sich in der neuen<br />

Gesellschaft zurechtzufinden, sie suchen Hilfe und Halt in der eigenen<br />

ethnischen Gruppe, dabei kapseln sie sich ab, lernen die deutsche<br />

Sprache in diesem isoliertem Zustand nur sehr mühsam, das führt wie-<br />

derum zu Problemen im Umgang mit den Einheimischen... und der Teu-<br />

felskreis ist geschlossen.<br />

Abb. 3 Teufelskreis der Exklusion<br />

Identitätsprobleme<br />

Hilfe und Halt im eigenethnischen Milieu<br />

Sprachschwierigkeiten<br />

Exklusion / Isolierung<br />

Die ausgesiedelten Jugendlichen haben widersprüchliche Gefühle: Auf<br />

der einen Seite wünschen sie sich mehr Einheimischenkontakte (71%<br />

der befragten Jugendlichen wünschen sich mehr Kontakte mit den Ein-<br />

heimischen, (Bahlmann, 2000 S.33), tun sich aber schwer, ihre bun-<br />

desdeutschen Altersgenossen gefühlsmäßig zu verstehen. Die Aus-<br />

siedler äußern ihre Verwunderung über die individuelle Abkapselung,<br />

das mangelnde Gruppenbewusstsein, die fehlende Freigiebigkeit im<br />

Austausch materieller und geistiger Güter, das rigorose Konkurrenz-<br />

denken für einen Aufstieg „ohne Rücksicht auf Verluste“ bei einheimi-


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

54<br />

_________________________________________________________<br />

schen Jugendlichen (Dietz, 1996). Die subjektiv empfundene Wertedis-<br />

krepanzen führen zu Verunsicherungen und zum Rückzug auf eigene<br />

ethnische Gruppe.<br />

Die oben beschriebenen Wohn- und Familienverhältnisse sind nicht auf<br />

alle Aussiedler übertragbar. Nicht jedes Kind oder jeder Jugendlicher<br />

wächst in einem beengten Ghetto auf, hat arbeitssuchende, sozialiso-<br />

lierte Eltern, die ihren Frust im Alkohol ertränken. Ich würde gern be-<br />

haupten, dass diese unglückliche Mischung nur auf wenige Kinder zu-<br />

trifft. Aber es ist ein grober Einblick auf die Welt die für die Aussiedler<br />

und auch von den Aussiedlern geschaffen wird. In dieser besonderen<br />

Umgebung, nicht immer problematisch, erfahren die Kinder und Ju-<br />

gendliche die Familiensozialisation. Wie schon oben erläutert, ist die<br />

Familie der zentrale Ort für die Herausbildung grundlegender Gefühle,<br />

Verhaltensmuster, Welt-, und Wertvorstellungen. Es ist ersichtlich, dass<br />

es für die Familie in den oft vorzufindenden extremen Wohnverhältnis-<br />

sen schwierig ist den Kindern positives Weltbild, Optimismus und Stär-<br />

ke für die Bewältigung eigener Probleme in der Zukunft zu vermitteln.<br />

Ein Anliegen dieser Arbeit ist die Tatsache zu betonen, dass die Prob-<br />

leme in der Familiensozialisation von den jugendlichen Aussiedlern<br />

sehr spezifisch sind und nicht einfach auf die Wohnverhältnisse zurück-<br />

zuführen. Die Familiensozialisation ist stark von den Integrationserfah-<br />

rungen der Eltern abhängig.<br />

6.5. Integrationsmodelle<br />

6.5.1. „Integrationsfalle“ Ghetto?<br />

Das Wort Ghetto ist negativ behaftet und wird meist abwertend ge-<br />

braucht, als ein Viertel, in dem diskriminierte Minderheiten zusammen-<br />

leben. Dabei wird oft außer Acht gelassen, dass in diesen „Ghettos“<br />

etwas wertvolles bewahrt wird, nämlich die Kultur der jeweiligen ethni-<br />

schen Gruppe, sei es eine russlanddeutsche Kultur, eine russische,


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

55<br />

_________________________________________________________<br />

türkische oder eine andere wertvolle Mitnahme aus dem Ursprungs-<br />

land. Mit dem Wort Ghetto werden alle Vorurteile wach und keiner fragt<br />

mehr was oder wer sich hinter diesem Wort verbirgt.<br />

Wie entstehen solche „Ghettos“?<br />

Durch Kettenwanderung oder missverstandene Stadtplanung sind viel-<br />

fach geschlossene Siedlungsdistrikte von Aussiedlern entstanden. Aber<br />

auch Immobilienspekulanten, die ganze Straßenzüge aufkauften und<br />

sie als Eigentumswohnungen anboten, verdanken viele Aussiedlerkolo-<br />

nien ihre Entstehung. Durch die Einweisung in frei gewordene, früher<br />

von alliierten Streitkräften genutzte Wohnkomplexe entstanden eben-<br />

falls künstlich angelegte Aussiedlerkolonien (Bade, 1999 S. 37f).<br />

Was wird getan, um Vorurteile „Vorteile“ zu verwandeln?<br />

Man fängt an die Ghettos abzuschaffen, indem man versucht die<br />

Wohnsiedlungen auch für die Einheimischen attraktiv zu machen, nied-<br />

rige Miete und Einkaufszentrum in der Nähe. Die Wohnsiedlung wird<br />

auch tatsächlich für die Einheimischen attraktiv, aber eher für die sozi-<br />

albenachteiligten. Es kommt zu einer explosiven Mischung: eine fremde<br />

Ethnizität plus niedrige soziale Schicht, die die Aussiedler oder Auslän-<br />

der für die Misere in Deutschland verantwortlich macht. Eine Integration<br />

der Aussiedler schlägt fehl, neue Vorurteile - willkommen.<br />

Wie solche geschlossene Siedlungsdistrikte, also Ghettos, entstehen ist<br />

bekannt. Wie man aber die Brisanz der Ghettos entschärfen kann, dar-<br />

über finden zurzeit intensive Diskussionen in der Wissenschaft und Po-<br />

litik statt.<br />

Meiner Meinung nach ist für viele Bundesbürger der Begriff der „Integ-<br />

ration“ nicht ganz klar. Es wird oft mit „Germanisierung“ oder „Verdeut-<br />

schung“ verwechselt und erinnert mich an die gewaltsame Prozesse,<br />

die in Russland um 1887 stattfanden, um die deutsche Kultur in Russ-<br />

land auszulöschen.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

56<br />

_________________________________________________________<br />

6.5.2. Integration – Begriffsklärung<br />

Integration ist einer der wichtigsten Begriffe, der im Zusammenhang mit<br />

der Migration verwendet wird. Im folgenden soll der Begriff Integration<br />

definiert und einige theoretische Ansätze unter die Lupe genommen<br />

werden.<br />

In ihrem Exkurs zum Integrationsbegriff stellen Strobl und Kühnel eini-<br />

ge wichtige Definitionen vor. Der Integrationsbegriff der Allgemeinen<br />

Soziologie bezieht sich auf abgrenzbare soziale Einheiten und bezeich-<br />

net die Wiederherstellung eines einheitlichen Ganzen. Strobl und Küh-<br />

nel zitieren den Soziologen Münch, der die Integration als einen:<br />

„Zustand der Gesellschaft [sieht] in dem alle ihre Teile fest miteinander ver-<br />

bunden sind und eine nach außen abgegrenzte Einheit bilden.“ (Strobl, 2000<br />

Zitat S. 41)<br />

Luhmann definiert Systemintegration als:<br />

„(...)die Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsystemen.“ (Strobl, 2000 Zitat S.<br />

41)<br />

Diese letzte Definition finde ich plausibel in der Verwendung im techni-<br />

schen Bereich, aber sie eignet sich meiner Meinung nach nicht um die<br />

Integration in einer Gesellschaft zu beschreiben, wo die Integration<br />

nicht im Allgemeinen reduzierend wirken sollte. Deutlich differenzierter<br />

sieht Heitmeyer den Prozess der Integration.<br />

„Die einfache Gegenüberstellung von positiver Integration und negativer Des-<br />

integration führt also nicht weiter, weil sich die gesellschaftliche Entwicklung in<br />

einer wechselseitigen Integrations-Desintegrationsdynamik befindet. So kann<br />

ein hoher Integrationsgrad einer Gesellschaft auch (negative) Starrheit signa-<br />

lisieren, während (selbstgewählte) Desintegration von Individuen und Grup-<br />

pen eher (positiven) Wandel initiieren kann“. (Heitmeyer, 1997 Zitat S. 26)<br />

Strobl und Kühnel schlagen vor:


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

57<br />

_________________________________________________________<br />

„...die Sozialintegration als die mehr oder minder umfassende Einbindung von<br />

Personen in relativ dauerhafte Kommunikations- bzw. Handlungszusammen-<br />

hänge über die Orientierung an deren zentralen Werten und Normen zu defi-<br />

nieren.“ (Strobl, 2000 Zitat S. 42)<br />

Strobl und Kühnel bemerken, dass in politischen Erklärungen und in<br />

den Medien die Verwendung des Begriffes Integration eindeutig norma-<br />

tiv ist. Eine möglichst umfassende Anpassung oder sogar Angleichung<br />

der Eingewanderten an die Kultur der Aufnahmegesellschaft wird als<br />

wünschenswertes Ziel unterstellt.<br />

„Wenn von Integration gesprochen wird, ist in der Regel Assimilation gemeint“.<br />

(ebd. Zitat S. 43)<br />

Es ist undenkbar, dass deutsche Politiker Integration im Sinne einer<br />

Vermischung von russlanddeutschen und deutschen (oder zum Beispiel<br />

von türkischen und deutschen) Kulturelementen verstehen. Der Integra-<br />

tionsbegriff wird auch in Zusammenhang mit der Verbesserung von<br />

Gleichberechtigung und Partizipationschancen verwendet. Die schuli-<br />

schen und die beruflichen Fördermaßnahmen gelten als integrations-<br />

fördernd. Im Sinne von Gleichberechtigung mit den Einheimischen wird<br />

die Integration seitens der Kirche und Initiativen im Bereich der Aus-<br />

siedlerarbeit verstanden (Strobl, 2000 S. 44f). Somit kann der Begriff<br />

Integration unterschiedlich ausgeleuchtet und dementsprechend unter-<br />

schiedlich verstanden werden.<br />

Das sind die unterschiedlichen Nuancen des Begriffes Integration, die<br />

im Grunde das gleiche meinen - nämlich die Harmonie in der Gesell-<br />

schaft - jedoch mannigfache Instrumente zum Erreichen dieser Harmo-<br />

nie benötigen. Integration bezeichnet eine erfolgreiche Interaktion zwi-<br />

schen dem Individuum und der Gesellschaft.<br />

Der Begriff der Akkulturation wird oft in Verbindung mit der Integration<br />

verwendet. Mit dem Begriff Akkulturation ist ein Veränderungsprozess<br />

gemeint, der in der Auseinandersetzung mit der Kultur eines Gastlan-<br />

des einsetzt (Informationen zur politischen Bildung, 2000).


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

58<br />

_________________________________________________________<br />

6.5.3. Typen des Wandels kultureller Identität<br />

Integrationsprozesse werden nicht nur von der Aufnahmegesellschaft<br />

bestimmt, Integrationserfolge oder -misserfolge sind im hohen Maße<br />

auch von den persönlichen Faktoren der Migranten abhängig. Bochner<br />

(in: Thomas, 1992 S.179f) unterscheidet vier Typen des Wandels kultu-<br />

reller Identität.<br />

Zum einen ist es der Assimilationstyp. Dieser sympathisiert stark mit<br />

den Werten und Normen der Fremdkultur. Bei Vergleichen mit der Hei-<br />

matkultur glorifiziert er die Fremdkultur. Er lehnt die Heimatkultur radikal<br />

ab. Durch den Verlust der eigenen kulturellen Identität wird bei ihm eine<br />

Reintegration in die Heimatkultur besonders problematisch.<br />

Genau das Gegenteil ist bei dem Kontrasttyp der Fall, da er die fremde<br />

Kultur radikal ablehnt. Wegen der Probleme, auf die er im Gastland<br />

stößt, hält er die eigene Kultur für überlegen. Er legt besonders viel<br />

Wert auf die Pflege der eigenen Kultur, wodurch eine Anpassung un-<br />

möglich wird. Bei der Lösung von Aufgaben in Teamarbeit mit Einhei-<br />

mischen wird er deshalb zum Störfaktor.<br />

Der Grenztyp erkennt, dass beide Kulturen Träger bedeutungsvoller<br />

Werte und Normen sind. Er versucht aber herauszufinden, welche Kul-<br />

tur generell die bessere ist. Dadurch verstrickt er sich in Widersprüche,<br />

da es auf diese Frage keine richtige Antwort gibt. Dadurch kann es zu<br />

einem Identifikationskonflikt kommen. Aber auch die Entwicklung zum<br />

Synthesetyp ist möglich.<br />

Im Unterschied zum Grenztyp kann der Synthesetyp die für ihn bedeut-<br />

samen Elemente der Fremdkultur in seine Denk- und Handlungsweisen<br />

integrieren. Somit besteht für ihn die Möglichkeit, in Abhängigkeit von<br />

der Umweltsituation aus verschiedenen Kulturen stammende alternative<br />

Ansätze für die Lösung von Problemen zu verwenden. Dadurch gewinnt<br />

der Synthesetyp einen starken Vorteil gegenüber anderen Angehörigen<br />

seiner Heimatkultur. Auch auf gesellschaftlicher Ebene ergeben sich<br />

Vorteile aus der Chance zur interkulturellen Verständigung.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

59<br />

_________________________________________________________<br />

Wie entstehen diese unterschiedliche Formen der kulturellen Identität?<br />

Folgende Abbildung zeigt die Einflussfaktoren, die auf die Identität ein-<br />

wirken.<br />

Abb. 4 Veränderungstypen kultureller Identität<br />

(Bochner in:Thomas, 1992)<br />

Es ist eine grobe Einteilung, die nicht auf alle Migranten problemlos ü-<br />

bertragbar ist. Sicherlich gibt es Migranten, die nicht ganz klar einem<br />

bestimmten Typ zuzuordnen sind. Es ist auch zu bemerken, dass die<br />

Typen nicht statisch sind. Jede Identität ist den Einflüssen aus der Um-<br />

welt/Gesellschaft ausgesetzt und kann sich aufgrund von gemachten<br />

Erfahrungen und Schlüsselerlebnissen wandeln. So kann ich mir vor-


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

60<br />

_________________________________________________________<br />

stellen, dass der Kontrasttyp positive Erfahrungen mit der Aufnahmekul-<br />

tur macht und seine Überzeugungen überdenkt, der Kontrasttyp entwi-<br />

ckelt sich möglicherweise nach seinen positiven Erlebnissen zu einem<br />

Grenztyp, oder auch zu einem Synthesetyp. Es wäre auch eine Ent-<br />

wicklung in Richtung eines Assimilationstypen denkbar.<br />

Unterschiedliche Individuen nehmen unterschiedliche Integrationswege.<br />

Strobl und Kühnel präsentieren ein Modell, in dem sie 4 spezifische In-<br />

tegrationsformen unterscheiden. In ihrem Modell machen sie die Integ-<br />

ration von zwei Faktoren abhängig: zum einen von der Handlungsorien-<br />

tierung des Migranten (entweder individualistisch oder kollektivistisch)<br />

und zum anderen von den Teilhabechancen (gut oder schlecht).<br />

Abb. 5 Formen der Integration in die Aufnahmegesellschaft<br />

(Strobl, 2000 S.56)<br />

Chancen sozialer Teil-<br />

habe<br />

individualistisch<br />

gut Assimilation<br />

schlecht Exklusion<br />

kollektivistisch<br />

Inklusion<br />

Separation<br />

Von Assimilation spricht man laut diesem Modell bei einer individualisti-<br />

schen Handlungsorientierung und guten Teilhabechancen. Diese würde<br />

auf den Assimilationstypen aus dem Modell von Bochner zutreffen. In-<br />

klusion bedeutet Teilhabe an der Gesellschaft mit kollektivistischer Ori-<br />

entierung, was bedeuten würde, dass eine große kulturelle Differenz<br />

bestehen würde, weil die Werte und Normen der Herkunftsgesellschaft<br />

im Vordergrund stünden. Im Falle einer individualistischen Orientierung<br />

ohne richtigen Zugang zu den zentralen gesellschaftlichen Teilberei-<br />

chen kann es zu der Exklusion kommen. Die fehlende Teilhabe an der<br />

Gesellschaft zieht weitere Ausgrenzungsprozesse nach sich. Die Sepa-<br />

ration entsteht durch die kollektivistische Handlungsorientierung, also<br />

einer starken Orientierung an den Werten der Herkunftsgesellschaft,


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

61<br />

_________________________________________________________<br />

und einer schlechten Teilhabe an den wichtigen gesellschaftlichen Teil-<br />

bereichen.<br />

Ein weiteres populäres Akkulturatonsmodell wurde 1980 von Berry<br />

(Thomas, 1996 S. 445) entworfen. Berry beschreibt die akkulturativen<br />

Prozesse anhand zweier Entscheidungsbereiche: 1. Kontakt zur Her-<br />

kunftskultur und 2. Kontakt zur Aufnahmekultur. Aus deren Kombination<br />

ergeben sich vier Akkulturationsstile: Marginalisierung, Separierung<br />

(Segregation), Integration und Assimilation.<br />

Marginalisierung bedeutet, dass sowohl zu der Herkunfts- als auch zu<br />

der Aufnahmegruppe keinerlei Kontakte bestehen.<br />

Separierung bedeutet, dass nur Kontakte zu der Herkunftsgruppe be-<br />

stehen, jedoch nicht zu den Einheimischen.<br />

Die Integration bedeutet eine Synthese zwischen Elementen der Her-<br />

kunfts- und der Aufnahmekultur.<br />

Die Assimilation beinhaltet eine völlige Hinwendung zur Aufnahmekultur<br />

(Thomas, 1996 S. 445f).<br />

Das Modell von Strobl und Kühnel ist zeitlich gesehen aktueller und<br />

unterscheidet sich in dem gewählten Aspekt der Integration. Sie defi-<br />

nierten zwei Handlungstendenzen (individualistisch und kollektivistisch),<br />

nach denen sie den Integrationsverlauf richteten. Berrys Modell beinhal-<br />

tet ebenfalls vier Dimensionen, die jedoch keine bestimmte Handlungs-<br />

orientierung voraussetzen. Die Akkulturationsergebnisse unterscheiden<br />

sich im Allgemeinen laut Berrys Modell in der Hinwendung oder Ableh-<br />

nung der eigenen Kultur.<br />

Würde man die beiden Modelle übereinander legen, würden sich in der<br />

Begrifflichkeit folgende Zuordnungen ergeben.<br />

Abb. 6 Gegenüberstellung der Integrationsmodelle Berry/Strobl und Kühnel<br />

Berry Strobl/Kühnel<br />

Marginalisierung Exklusion<br />

Separierung Separation<br />

Integration Inklusion<br />

Assimilation Assimilation


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

62<br />

_________________________________________________________<br />

Auch bei diesen Schemata handelt es sich um eine grobe theoretische<br />

Einteilung. Wie bei der kulturellen Identitätstypisierung muss man dar-<br />

auf achten, dass man hier nicht den Fehler der Verallgemeinerung be-<br />

geht.<br />

Des Weiteren finde ich es problematisch die „Akkulturationsstile“ ledig-<br />

lich auf der Seite der Migranten zu suchen. Die „Wahl“ der Bewälti-<br />

gungsstrategien ist nicht nur abhängig von sozialen Faktoren und per-<br />

sönlichen biologischen Prädispositionen der Migranten, sondern auch<br />

von den Dispositionsspielräumen, die die Aufnahmegesellschaft bietet.<br />

Dieses könnte eine dritte Dimension darstellen, die Einwirkungen auf<br />

die Akkulturationsprozesse nimmt.<br />

Der Integrationsbegriff und das Integrationsmodell sollen den Rahmen<br />

aufzeigen in dem die Besonderheit der Lebensweise der Aussiedler<br />

aber auch anderer Migranten erklärbar gemacht werden kann. Es soll<br />

verdeutlicht werden welche möglichen Wege die Integration gehen<br />

kann und wohin sie führen kann. Die Betonung liegt auf kann, denn die<br />

Einflüsse, die auf die Integration einwirken sind so komplex, dass eine<br />

Integrationsform mir in diesem Sinne unvorhersehbar erscheint. Das<br />

„Sich einleben“ in eine neue Gesellschaft und eine neue Kultur kann<br />

durch traumatische Erlebnisse gestört oder durch freudige Erfahrungen<br />

gefördert werden und eine solche Wende im Leben kommt meist un-<br />

vorhersehbar.<br />

Aus der Akkulturationsforschung geht hervor, dass es eine Vielzahl an<br />

äußeren Bedingungen geben kann, die für die Bewertung von interkul-<br />

turellen Situationen entscheidend sein können. Die Freiwilligkeit der<br />

Kontaktaufnahme, Dauer und Intensität des Kontaktes, Status der be-<br />

teiligten Individuen (sozialer Status, Beruf, Bildung etc.) und Einstellung<br />

zum Akkulturationsziel entscheiden darüber, ob sich aus diesem inter-<br />

kulturellen Kontakt eine Problemsituation entwickelt (Krewer in: Tho-<br />

mas, 1996 S. 153).


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

63<br />

_________________________________________________________<br />

6.6. Zusammenfassung des 6. Kapitels<br />

Die vielfältigen Faktoren, die auf die Sozialisation in der Familie der<br />

Spätaussiedler Einfluss nehmen, sind sehr komplex und für einen Au-<br />

ßenstehenden, der in dieser Thematik ein Neuling ist, schwer zu über-<br />

schauen. Ich habe mich deshalb für das Erstellen eines Schaubildes<br />

entschieden, welches die wichtigen Eckpunkte der spezifischen Pro-<br />

zesse, die nach der Aussiedlung aus Russland in einer Familie statt<br />

finden, visualisieren soll. Das Schaubild fasst das Kapitel über die Fa-<br />

miliensozialisation der Spätaussiedler zusammen und kann als eine<br />

Gedächtnisstütze für die folgenden Ausführungen dienen.


Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

64<br />

_________________________________________________________<br />

Abb. 7 Familiensozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

7. Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

Sowohl die Familie als auch die Schule sind die wichtigsten Träger der<br />

Sozialisationsprozesse in der infantilen Phase und der nachfolgenden<br />

Adoleszenzphase. Welchen Rahmen zur Sozialisierung die Familie<br />

nach der Aussiedlung nach Deutschland erhält, wurde in dem vorigen<br />

Kapitel dargestellt.


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

65<br />

_________________________________________________________<br />

Nun soll das neue Schulleben der jungen Spätaussiedler genau be-<br />

trachtet werden. Das Schulleben und das Leben in der Familie sind un-<br />

zertrennlich miteinander verbunden und so ist es zu erwarten, dass<br />

auch im Schulleben ein Einbruch stattfindet und dieser vielen mehr oder<br />

weniger unüberwindbare Hindernisse bereitet.<br />

7.1. Schulspezifik in Russland<br />

Bevor man die Sozialisationsbesonderheiten der Spätaussiedler in den<br />

deutschen Schulen beleuchtet, ist der Einblick in das russische Schul-<br />

system von großer Bedeutung.<br />

Das Schulsystem in Russland ist nicht eins zu eins auf das deutsche<br />

übertragbar.<br />

Das Bildungssystem baut auf der vierstufigen Grundschule und der sich<br />

daran anschließenden allgemeinen Mittelschule (oder speziale Mittel-<br />

schule mit erweitertem Unterricht in bestimmten Fächern, zum Beispiel<br />

naturwissenschaftliche Mittelschule), die nach der elften Klasse ab-<br />

schließt. Nach neun Jahren ist ein Abschluss möglich, der den Besuch<br />

von beruflichen Schulen und Technika erlaubt. Dieser Abschluss wird in<br />

Deutschland als der „un<strong>vollständige</strong> Abschluss“ bezeichnet. Mit der<br />

„un<strong>vollständige</strong>n Mittelschulbildung“ ist ein Besuch von beruflich – tech-<br />

nischen Schulen und Technika möglich, nach deren Abschluss die Be-<br />

triebe für die praktische Einarbeitung sorgen. Keine dieser beruflichen<br />

Ausbildungsgänge sind jedoch mit dem deutschen dualen Ausbildungs-<br />

system vergleichbar.<br />

Der „<strong>vollständige</strong>“ Mittelschulabschluss erlaubt den Besuch von Hoch-<br />

schulen und Universitäten, jedoch nach einer bestandenen Hochschul-<br />

eingangsprüfung. (Dietz, 1998)


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

66<br />

_________________________________________________________<br />

Abb. 8 Das Bildungssystem in Russland<br />

Grundlegende (un<strong>vollständige</strong>)<br />

Allgemeinbildung<br />

Pflichtschulbildung<br />

5. bis 9. Schuljahr<br />

ab dem 5. Schuljahr: 1 Fremd-<br />

sprache<br />

Abschluss erlaubt Besuch von<br />

beruflich-technischen Schulen<br />

und Technika, nach deren Ab-<br />

schluss die Betriebe für die prak-<br />

tische Einarbeitung sorgen<br />

Kein duales Ausbildungssystem<br />

Vollständige Mittelschulbildung<br />

keine Pflicht<br />

umfasst 9. bis 11. Schuljahr<br />

allgemeine und fachgebundene<br />

Hochschulreife (Abitur) nach<br />

dem 11. Schuljahr<br />

Hochschulstudium möglich<br />

(nach Hochschuleingangsprüfung)<br />

In der postsowjetischen Zeit sind viele private Lyzeen und Gymnasien<br />

entstanden, die auch nach elf Jahren abgeschlossen werden (Dietz,<br />

1996 S. 20). In dieser Arbeit lasse ich jedoch die Privatschulen außen<br />

vor, denn ein durchschnittlicher Aussiedler besuchte in Russland eine<br />

Mittelschule, die teueren Privatschulen sind für die reiche Minderheit in<br />

Russland reserviert (Sutherland, 1999 S. 112).<br />

Es ist üblich in Russland, dass die Grundschule und die Mittelschule<br />

zusammen in einem Gebäude untergebracht sind. Die Kinder bleiben<br />

von der ersten bis zur elften Klasse in einem Klassenverband, wenn sie<br />

mit den Eltern nicht umziehen oder einen Klassenwechsel wünschen<br />

oder eine Klasse wiederholen müssen.<br />

Zu den Lehrmethoden gehören autoritärer Frontalunterricht und weitge-<br />

hend reproduktive Lernformen (Strobl, 2000 S. 32). In Russland domi-<br />

niert nach wie vor das an strickte Vorgaben orientiertes Lernen. Die<br />

Wahrung von Disziplin und Lehrerautorität im Schulunterricht ist selbst-<br />

verständlich, dagegen ist die Eigeninitiative weniger gefragt (Dietz,<br />

1996 S. 67). Die Schulform entspricht der kollektivistisch geprägten Ge-<br />

sellschaftsform.<br />

Barbara Dietz fasst die wesentliche Unterschiede des Vorschul- und<br />

Schulsystems wie folgt zusammen:


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

67<br />

_________________________________________________________<br />

Die Betreuung der Kinder im Vorschulalter ist üblicherweise ganztägig.<br />

Eine institutionelle Betreuung kann von 8 Uhr bis 20 Uhr gewährleistet<br />

werden. Der Tagesablauf ist streng strukturiert und lässt wenig Frei-<br />

raum für Eigeninitiative. Im Vorschulalter werden die Kinder bereits un-<br />

terrichtet. Es werden elementare Fähigkeiten in mathematischen Be-<br />

nennungen, in der Sprachentwicklung, im Lesen/Schreiben, im Malen,<br />

Musik und im Sport erworben. Der Übertritt in die Grundschule erfolgt<br />

mit 6 bzw. 7 Jahren. Hier stehen als Hauptfächer russische Sprache,<br />

Mathematik, Lesen und Naturkunde auf dem Lehrplan.<br />

Trotz der finanziellen Schwierigkeiten (und im Westen kritisch gesehe-<br />

nen „veralteten“ Unterrichtsmethoden) ist die Ausbildung in Russland<br />

und den Nachfolgestaaten Sowjetunions, vor allem im mathematisch-<br />

naturwissenschaftlichen Bereich, im internationalen Maßstab noch im-<br />

mer beachtlich (Dietz, 1999).<br />

Vergleicht man die Lehrbücher der beiden Länder, so fällt der Unter-<br />

schied im mathematischen Bereich deutlich auf. Zum Beispiel: die<br />

Schüler der Mittelschule in Russland behandeln die Themen „Lineare<br />

Funktionen“ oder „Quadratwurzeln“ in der 7. Klasse (Lehrbuch für Al-<br />

gebra 7 Klasse. Alimow, 1996). In Deutschland werden diese Themen<br />

auf dem Gymnasium erst in der 8. Klasse (Lehrbuch für Mathematik 8.<br />

Klasse. Schmid, 2004) behandelt. Ein Unterschied in dem Fach Ma-<br />

thematik zwischen der Mittelschule in Russland und der Hauptschule in<br />

Deutschland dürfte noch größer ausfallen. Ein Grund für diesen Vor-<br />

sprung ist die Unterteilung des Mathematikunterrichts in Russland in<br />

zwei getrennte Fächer in Algebra und Geometrie. In Deutschland sind<br />

die beiden Bereiche zu einem Fach, das als Mathematik bezeichnet<br />

wird, zusammengefasst.<br />

Das Erziehungssystem in der ehemaligen UdSSR konzentrierte sich auf<br />

das Erziehen von Massen, auf Bewusstseinsformung der Jugend, Auto-<br />

rität, Hierarchie, Leistung, Disziplin und auf das systematische Lernen.<br />

Die Schüler aus der ehemaligen UdSSR haben Vorerfahrungen mit der<br />

Internalisierung gesellschaftlicher Werte, die hohe Arbeitsmoral, körper-<br />

liche und geistige Ertüchtigung prämienorientierter Art und systemstabi-


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

68<br />

_________________________________________________________<br />

lisierende Staatsbürgerkunde enthalten. Dieses russische Schulsystem<br />

schafft es in vielen Fällen, dass bei den Schülern nicht die intrinsische<br />

Motivation, sondern politisch-ökonomische Gründe die Leistungen<br />

bestimmen (Kossolapow, 1987 S. 145f).<br />

Die von mir eingesehene Literatur, die sich mit der Integration und So-<br />

zialisation von Aussiedlern beschäftigt, erwähnt nur oberflächlich und<br />

nur in wenigen Sätzen das russische Schulwesen. Sogar die Sozialisa-<br />

tionsforschrin Line Kossolapow, die 758 Seiten der Integration der jun-<br />

gen Aussiedler widmet, hat in ihrem Standardwerk nur etwa eine halbe<br />

Seite Platz, um das russische Schulsystem auf das Allgemeinste ver-<br />

kürzt darzustellen. Die Autoren sind sich einig, dass das erworbene<br />

Wissen und die Abschlüsse nicht genau auf das deutsche Schulsystem<br />

übertragbar sind und darin sehen sie ein Problem. Ich zitiere Strobl und<br />

Kühnel:<br />

„Mit ihren mitgebrachten Qualifikationen entsprechen die Aussiedler weder<br />

den Eingangsvoraussetzungen von Altersgleichen für den Schulbesuch noch<br />

den Abschlüssen und Qualifikationnen, die hierzulande nachgefragt werden.“<br />

(Strobl, 2000 Zitat S. 32)<br />

Nun warum die Übertragung auf das deutsche System nicht unproble-<br />

matisch ist, worin denn die Unterschiede im erworbenen Wissen beste-<br />

hen und was die Schüler in Russland lernen, ist aus „Integrationslitera-<br />

tur“ nicht unbedingt ersichtlich. Dazu soll die Literatur, besonders aus<br />

dem englischsprachigen Raum, die sich spezifisch mit dem Bildungs-<br />

system in Russland beschäftigt mehr Aufschluss bringen.<br />

7.1.1. Bildungsstruktur der Schule in der ehemaligen UdSSR und<br />

Russland<br />

Das russische und das sowjetische Bildungssystem wurde in Abhän-<br />

gigkeit von der politischen Situation, in Abhängigkeit von der regieren-


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

69<br />

_________________________________________________________<br />

den Macht an die herrschenden Ideale angepasst und immer wieder<br />

reformiert.<br />

Nach Brezhnevs Tod (1982) waren die Probleme in dem sowjetischen<br />

Bildungssystem enorm: überladene Lehrpläne, überladene Lehrbücher,<br />

Kürzungen von qualifiziertem Personal in der Vorschule, herunterge-<br />

kommene Schulgebäude und mangelhaftes oder mangelndes schuli-<br />

sches Equipment. Eine offizielle Studie aus dem Jahr 1988 berichtete,<br />

dass 21% der Schüler in der Sowjetunion eine Schule besuchten, die<br />

keine Zentralheizung hatte, 30% der Schüler waren auf einer Schule,<br />

wo die sanitären Anlangen mangelhaft waren oder gar fehlten, 40%<br />

lernten in einer Schule, die kein Kanalisationssystem hatte. Mehr als ein<br />

viertel aller Schüler besuchten die Schule in zwei oder sogar drei<br />

Schichten (erste Schicht von etwa 8:00 Uhr bis 12:00 -14:00 Uhr, die<br />

zweite Schicht von etwa 12:00 Uhr bis 16:00 -18:00 Uhr, die dritte<br />

Schicht etwa von 15:00 oder 16:00 Uhr), da die Räumlichkeiten enorm<br />

überfüllt waren. Die schlechte Bildung der Schüler wurde unterstützt<br />

durch den Missbrauch der Bewertung (für die gute Quote), wobei nahe-<br />

zu alle Schüler die nächste Klasse erreichten, unabhängig davon, ob<br />

die Lernziele erreicht wurden oder nicht (Eklof, 1993 S. 4f).<br />

Die ausgebrannten Lehrer waren gezwungen nach dem überfüllten Cur-<br />

riculum zu unterrichten. Sie unterrichteten zunehmend unmotivierte<br />

Schüler nach den antiquierten Methoden des Frontalunterrichts in über-<br />

füllten Klassenräumen mit mangelhafter Ausstattung. Eine Reform des<br />

kranken Bildungssystems war unumgänglich. In der Regierungszeit von<br />

Konstantin Tschernenko 1984 wurde Mikhail Gorbatschow als Vorsit-<br />

zender der Schulreform – Kommission gewählt (Sutherland, 1999 S.<br />

173).<br />

1985 wurde Gorbatschow zum Regierungschef (General Sekretär der<br />

KPdSU) gewählt und im gleichen Jahr wurde die neue Bildungsreform<br />

verabschiedet (Sutherland, 1999 S. 173).<br />

Gorbatschow brach die alten Strukturen der Wirtschaft und auch der<br />

Bildung. Der Frontalunterricht sollte durch die neue „alte Methode“, die<br />

noch vor der russischen Revolution praktiziert wurde, abgelöst werden.<br />

Die neue Methode soll die Schüler lehren wie man lernt.


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

70<br />

_________________________________________________________<br />

(...) prerevolutionary dream of helping students „learn how to learn“ (…).(Eklof,<br />

1993 Zitat S. 7)<br />

Es sollte der Versuch unternommen werden den Kreis der Misere, in<br />

der sich das sowjetische Bildungssystem befand, zu unterbrechen und<br />

Lösungen für die immer gewaltiger werdenden Probleme zu finden.<br />

Das Schuleintrittsalter sollte von sieben auf sechs Jahre herabgesetzt<br />

werden, um den Kindern ein Extraschuljahr zu geben und damit die<br />

Überlastung und die Überforderung zu verringern. Auf diese Weise soll-<br />

ten die Kinder schon früher aus den Händen der „inkompetenten Kin-<br />

dergarten-Lehrer“, die sich immer mehr zu betreuenden Aufsichtsper-<br />

sonen für die Kinder gewandelt haben, entnommen werden (ebd.).<br />

Die Designer der neuen Reform haben sich überlegt das zusätzliche<br />

Schuljahr am Anfang der Schullaufbahn einzuführen, damit die jungen<br />

Leute schon mit 17 Jahren ihre berufliche Laufbahn starten können und<br />

möglichst früh, für die für den Staat nützlichen Bereiche, arbeiten. Das<br />

Einfügen eines zusätzlichen Schuljahres am Ende der Schullaufbahn<br />

würde das akademische Lernen intensivieren, der Staat brauchte je-<br />

doch verstärkt Handwerker und Arbeiter für die Industrie ohne akade-<br />

mischer Ausbildung. Shturman stellt eine Studie vor, die 1984 in der<br />

„Literaturnaia gazeta“ in Russland publiziert wurde. Die Studie von dem<br />

Wirtschaftswissenschaftler Shokhin fand heraus, dass die manuelle<br />

Arbeit in der Industrie durch die Mechanisierung und Automatisierung<br />

deutlich abgenommen hat (von 54% auf 37% in der Industrie und von<br />

78% auf 58% in der Baubranche). Eine gewaltige Entwicklung. Die Zah-<br />

len irritieren aber, denn die Studie belegt des weiteren, dass die Ge-<br />

samtanzahl an manuellen Arbeitskräften in der Industrie in den letzten<br />

25 Jahren um 25% gestiegen ist. Es sind sogar neue Berufe entstan-<br />

den, die manuelle Arbeit erfordern (Shturman, 1988 S. 227).<br />

Dieser Trend wurde in der neuen Bildungsreform berücksichtigt. Die<br />

Bildungsreform sollte die Berufsschulen und Technika weiter ausbauen,<br />

aber auch schon in der Schule das praktische, handwerkliche Lernen<br />

unterstützen, um folglich den „un<strong>vollständige</strong>n Mittelschulabschluss“<br />

(basic secondary school (Eklof, 1993 S. 151) ) nach der neunten Klasse<br />

attraktiv zu machen (Shturman, 1988 S. 233).


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

71<br />

_________________________________________________________<br />

Weitere Ziele der Reform waren die komplette Überarbeitung des Curri-<br />

culums, die Verbesserung der Lehrerweiterbildungsmaßnahmen und<br />

Neuschreibung der Schulbücher, aber auch Einführung von Computern<br />

im Unterricht und die Neuregelung der Lehrer-Schüler Beziehung<br />

(Eklof, 1993 S. 7). In den nächsten Jahren haben sich die politischen<br />

Ereignisse in dem Staat überschlagen (Perestrojka, Tschernobyl-<br />

Katastrophe, Erdbeben in Armenien) und die Reform fand nur sehr<br />

schleppend ihre praktische Umsetzung. Dennoch fand die Umsetzung<br />

statt und die Reform spiegelte sich in dem neuen Schülerbild wider. Die<br />

Ziele der russischen Schule der neunziger Jahre waren: die Freiheit der<br />

Persönlichkeit, der Individualität und die Mannigfaltigkeit des Indivi-<br />

duums (Sutherland, 1999 S. 112).<br />

Was auch die neue Reform nicht geschafft hat, ist die Schüler zu ent-<br />

lasten. Eine neue Studie belegt, dass die russischen Schüler etwa 25%-<br />

30% mehr in der Schule belastet sind als die Schüler in Europa. („Kom-<br />

somolskaja Prawda“ (russische Tageszeitung), 17.01.2005.)<br />

Viele deutschsprachige Autoren, wie zum Beispiel Barbara Dietz oder<br />

Line Kossolapow beschreiben in ihren Anmerkungen zu der russischen<br />

Schule eher das klassische sowjetische Schulsystem mit der kollektivis-<br />

tischen Haltung im Sinne von Frontalunterricht und Disziplinärmaßnah-<br />

men. Nach der genauen Betrachtung der Literatur aus dem englisch-<br />

sprachigen Raum müsste diese Haltung überholt und veraltet sein. Die<br />

Reform der Bildungsstruktur ist keine neue Entwicklung, sie fand schon<br />

in den achtziger Jahren ihren Anfang. Daher müssten nicht nur die<br />

Spätaussiedler (zur Erinnerung: Aussiedler, die nach dem 31.12.1992<br />

einen Aufnahmebescheid gemäß § 26 BVFG erhalten haben und sich<br />

seit dem 1.1.1993 in der BRD aufhalten, bekommen einen Spätaussied-<br />

lerstatus) sondern sogar die Aussiedler aus Russland (bzw. aus der<br />

ehemaligen UdSSR) ihre Auswirkungen mitbekommen haben.<br />

Strobl und Kühnel weisen auf eine bestimmte Entwicklung in dem russi-<br />

schen Bildungssystem hin:


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

72<br />

_________________________________________________________<br />

„Seit Anfang der neunziger Jahre steigt der Anteil der Schüler unter den ein-<br />

gewanderten Aussiedlern. Gleichzeitig vergrößerte sich die Gruppe derjeni-<br />

gen, die verglichen mit dem Schulsystem in der Bundesrepublik lediglich über<br />

einen Grund- oder Hauptschulabschluss verfügen. Der Anteil der Aussiedler,<br />

die im Herkunftsland eine weiterführende Schule oder eine Hoch- Fachschule<br />

besuchten, ist zurückgegangen und seit Anfang der neunzige Jahre anhaltend<br />

gering.“ (Strobl, 2000 Zitat S. 32)<br />

Die Autoren vermuten, dass hier die Erfahrung mit dem Bildungssystem<br />

im Herkunftsland eine Rolle spielt, denn dort soll die Mittelschulausbil-<br />

dung mit anschließender beruflicher Spezialisierung die Regel sein<br />

(ebd. S. 185).<br />

Neben der wachsenden Marktwirtschaft entstehen vielseitige legale<br />

oder weniger legale Aktivitäten in unterschiedlichen Wirtschaftszwei-<br />

gen. Diese locken mit schnellen Verdienstmöglichkeiten, ohne eine<br />

langjährige und nun auch teuere akademische Ausbildung vorauszu-<br />

setzen. Eine höhere Ausbildung verspricht nicht mehr notwendig besse-<br />

re Entlohnung oder bessere Karrierechancen (Dietz, 1996 S. 22f). Mög-<br />

licherweise kommt noch dazu, dass die jungen Aussiedler in Deutsch-<br />

land eher nach einer beruflichen Ausbildung als nach einem Studium<br />

streben und schon früh ihr eigenes Geld verdienen wollen, da die neue<br />

Bildungsreform in Russland, die die deutschstämmigen Jugendlichen<br />

erlebt haben, gerade dieses forciert hat. Nämlich:<br />

- die Jugendlichen sollen die schulische Ausbildung mit 17 Jahren<br />

abgeschlossen haben,<br />

- die Jugendlichen haben die Möglichkeit nach der 9. Klasse, also<br />

im Alter von 15 Jahren, einen „un<strong>vollständige</strong>n“ Schulabschluss<br />

zu erlangen und eine berufliche Laufbahn zu starten,<br />

- die Schule soll das praktische, handwerkliche Lernen unterstütz-<br />

ten und auf das Berufsleben vorbereiten.<br />

Im folgenden soll eine tabellarische Darstellung die wichtigsten Punkte<br />

des russischen Bildungssystem zusammenfassen.


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

73<br />

_________________________________________________________<br />

Abb. 9 Bildungsinhalte, Unterrichtsform, Erziehungsideale<br />

Bildungsinhalte<br />

Unterrichtsform<br />

Erziehungsideale<br />

Das russische Bildungssystem<br />

Schule als Bildungs- und Erziehungsinstanz<br />

Einheitliche Lehrpläne<br />

Hoher Stellenwert von naturwissenschaftlichen Fä-<br />

chern<br />

Erlernen von mindestens 1 Fremdsprache<br />

orientiertes Lernen an strikten Vorgaben<br />

Lernen an Fakten, Zusammenhängen und deren Re-<br />

produktion<br />

selbstständiges Arbeiten eher zweitrangig<br />

Meist Frontalunterricht: Soziale Lernformen erst in<br />

Ansätzen<br />

Lehrer als Vermittler und Erzieher (Autorität)<br />

Bedeutung der Ordnung<br />

Förderung der Gemeinschaft<br />

7.2. Aufnahme der Spätaussiedler in der deutschen Schule<br />

Die Form der Eingliederung in die Regelschule unterscheidet sich von<br />

Bundesland zu Bundesland. Nordrhein-Westfalen, zum Beispiel, hat<br />

Schwerpunktschulen eingerichtet, an denen in erster Linie Aussiedler-<br />

Kinder unterrichtet werden. Des Weiteren stehen in Deutschland Ta-<br />

gesinternate, Förderklassen, Förderschulinternate und außerschulische<br />

Förderunterrichte den jungen Aussiedlern in Abhängigkeit von dem<br />

Wohnort zur Verfügung. Durch die Kürzungen der Fördermaßnahmen<br />

hat sich allerdings das Angebot zur schulischen Integration beträchtlich<br />

verringert. Viele Förderschulinternate oder Tagesinternate mussten<br />

schließen, weil die hohen Kosten nicht mehr getragen werden konnten.<br />

Förderschulinternate bieten eine ganztägige Betreuung mit einer hohen<br />

Stundenzahl an Deutschunterricht, vielseitige sozial integrative Aktivitä-


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

74<br />

_________________________________________________________<br />

ten. Tagesinternate betreuen die Kinder und Jugendlichen in den<br />

Nachmittagsstunden und beinhalten Sprach- und Nachhilfeunterricht<br />

sowie sozialpädagogische Hilfen (Dietz, 1996 S. 60f).<br />

Um die Eingliederung in der Regelschule zu erleichtern, werden die<br />

Aussiedlerjugendlichen in der Regel zurückgestuft. Dieses bedeutet in<br />

vielen Fällen eine enorme psychische Belastung für die jugendlichen<br />

Aussiedler. Ein Jugendlicher, zum Beispiel, der in Russland die 10<br />

Klasse besuchte kommt nach Deutschland und wird aufgrund von<br />

Sprachschwierigkeiten und fehlender oder mangelnder Kenntnisse in<br />

der ersten Fremdsprache, wie Englisch oder Französisch, in die neunte<br />

oder gar in die achte Klasse zurückgestuft (ebd. S. 60).<br />

Dass die Kenntnisse der ersten Fremdsprache fehlen, liegt vermutlich<br />

daran, dass die deutschstämmigen Jugendlichen Deutsch als ihre erste<br />

Fremdsprache wählen, weil sie die Sprache als Dialekt von ihren Groß-<br />

eltern kennen oder weil sie sich als Deutsche ihrer Kultur angehörig<br />

fühlen und diese Sprache erlernen möchten. Wenn die Jugendlichen<br />

Deutsch als Fremdsprache gewählt haben, muss es nicht heißen, dass<br />

sie gute Kenntnisse in der deutschen Sprache besitzen, wenn sie nach<br />

Deutschland kommen. Durch die Einschränkungen der Reisemöglich-<br />

keiten unter dem sowjetischen Regime blieb das Erlernen der Fremd-<br />

sprachen in der Schule auch für die Lehrer ohne praktischen Bezug.<br />

Die Fremdsprachen- Lehr- und Lernmittel in Russland sind oft veraltet<br />

und viele kompetente Deutschlehrer sind nach Deutschland ausgereist<br />

oder haben den Beruf aus finanziellen Gründen (z.B. als ÜbersetzerIn)<br />

gewechselt (Dietz, 1999 S.18f).<br />

7.3. Besonderheiten und Probleme in der schulischen Sozialisation<br />

bei den Spätaussiedlern<br />

Für die Jugendlichen in dieser Lebensphase sind ein bis drei Jahre Al-<br />

tersunterschied viel zu groß, um sich in der Klasse wohl zu fühlen oder<br />

gleichwertige Freundschaften unter den Klassenkameraden zu bilden<br />

(Dietz, 1996 S. 60). Laut diesem Beispiel ist dieser Jugendliche 16 Jah-


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

75<br />

_________________________________________________________<br />

re alt und kommt in die neunte oder gar achte Klasse, wo Schüler ge-<br />

wöhnlich 15 oder 14 Jahre alt sind. Es ist anzunehmen, dass die ju-<br />

gendlichen Aussiedler keinerlei Interesse haben mit den jüngeren Klas-<br />

senkameraden ihre Freizeit zu gestalten. In diesem Alter der Pubertät<br />

streben die Jugendlichen nach Vorbildern, nach Beziehungen mit den<br />

Älteren. Ein Mädchen, das 16 Jahre alt ist, ist von der Entwicklung her<br />

einem Jungen, der erst 14 Jahre alt ist, weit voraus. Es ist zu erwarten,<br />

dass die Aussiedler, die zurückgestuft wurden, mit Minderwertigkeitsge-<br />

fühlen zu kämpfen haben („man ist im Kindergarten gelandet“), vor al-<br />

lem, wenn sie die deutsche Sprache noch nicht beherrschen und keine<br />

Gleichgesinnten - ebenfalls gleichaltrigen Aussiedler aus dem gleichen<br />

Land - in ihrer Klasse haben.<br />

Gerade ausgereist aus einem kollektivistisch geprägten Land, sind die<br />

meisten Aussiedler nicht in der Lage die Entscheidungen der Behörden<br />

oder im Allgemeinen der Einheimischen zu kritisieren oder diesen zu<br />

widersprechen. Die Divise der Ostblockstaaten vor den großen politi-<br />

schen Veränderungen hieß: „die da oben“ sind für das Denken zustän-<br />

dig, „die da unten“ haben es stillschweigend auszuführen“. Proteste<br />

gegen die Staatsmacht wurden hart bestraft, das hat sich bei den meis-<br />

ten Sowjetbürgern tief in die Erziehung eingebrannt.<br />

„Mitschwimmen, alles aushalten, sich nicht aufbäumen, eher resignieren, nach<br />

dem Motto „Da kann man sowieso nichts machen“(..), vor sich hin leben, sich<br />

arrangieren und dem Leben ein wenig Freude erkämpfen, damit der Alltag<br />

erträglicher wurde – das war die Wirklichkeit der meisten Bürger.“ (Treder,<br />

1997 Zitat S.1)<br />

In Deutschland angekommen ist die kollektivistische Tracht nicht so<br />

einfach und auch nicht so schnell abzulegen. Die Menschen ducken<br />

sich und schwimmen weiter mit. Weil sie es nicht anders gelernt haben<br />

und weil sie sich erst einen „Raum“ für individuelle Entfaltung erschaf-<br />

fen müssen. Einen „Raum“ im bildlichen Sinne, womit gemeint ist, dass<br />

die Aussiedler einfach zu sehr mit Behördengängen, mit bürokratischen<br />

Pflichten und - nicht zu vergessen – mit den enormen Sprachschwierig-<br />

keiten beschäftigt sind, dass die Gedanken nur darum kreisen, “wie


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

76<br />

_________________________________________________________<br />

werde ich den nächsten Tag bewältigen.“ Mit dem „Raum“ für die indivi-<br />

duelle Entfaltung ist auch der Raum im wörtlichen Sinne gemeint, denn<br />

auch in diesem Sinn erfahren die neuen Bürger, zumindest in den ers-<br />

ten Monaten nach ihrer Ankunft in Deutschland, enge Grenzen, die an<br />

das Existenzielle zu denken zwingen.<br />

Da die Eltern vor allem in den ersten Jahren nach der Migration damit<br />

beschäftigt sind ihre eigene Identität und Stellung in der neuen Gesell-<br />

schaft zu finden, stellen sie die Entscheidungen der Behörden und öf-<br />

fentlichen Institutionen nicht in Frage. Unabhängig von den Schulleis-<br />

tungen im Heimatland, werden die meisten Aussiedlerjugendlichen zu-<br />

erst in einer Hauptschule aufgenommen und eine oder zwei Klassen<br />

zurückgestuft.<br />

Der Grund dafür, dass die meisten Aussiedlerkinder oder -jugendlichen<br />

eine Grund- oder Hauptschule besuchen, ist zum einen das Alter und<br />

sind zum anderen Sprachfördermaßnahmen, die nur an den Haupt-<br />

schulen mehr oder weniger intensiv ausgebaut sind. An den Realschu-<br />

len und Gymnasien fehlen diese Maßnahmen fast völlig (Bahlmann,<br />

2000 S. 90).<br />

Die Kinder und Jugendlichen aus Russland bekommen Deutsch-<br />

Förderunterricht und besuchen den regulären Unterricht mit den ein-<br />

heimischen Schülern. Die Kinder sind untergebracht, versorgt und be-<br />

schäftigt. Das Problem ist allerdings, dass sich die Eltern nicht in dem<br />

deutschen Bildungssystem auskennen.<br />

Sie haben zwar eine hohe Bildungsaspiration, ihnen fehlen jedoch In-<br />

formationen und Strategien für den Zugang zu den bestimmten Instituti-<br />

onen, um die Partizipationsmöglichkeiten voll ausschöpfen zu können<br />

(Mies-van Engelshoven, 2002 S. 19).<br />

Die Aussiedler werden entweder nicht aufgeklärt oder wegen der<br />

schlicht und einfachen Überladung an neuen Informationen und Rege-<br />

lungen verstehen sie das deutsche Schulsystem nicht. Denn in Russ-<br />

land ist die populärste Schulform immer noch die allgemeinbildende<br />

Mittelschule, von der ersten bis zur elften Klasse. Die Aussiedler über-<br />

geben ihre Kinder mit gutem Gewissen in die Hände der schulischen<br />

Institution, ohne Imstande zu sein für die eigenen Kinder eine Zukunft


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

77<br />

_________________________________________________________<br />

zu planen. Demnach ist das nicht verwunderlich, dass 24% (ebd. S.18)<br />

(bei den Einheimischen sind es 9% (ebd.)) der Aussiedler eine Haupt-<br />

schule besuchen, weil sie dort zuerst aufgenommen werden und dort<br />

auch stecken bleiben. Weitere Aufteilung ist wie folgt:<br />

Abb. 10 Verteilung auf die Schulformen<br />

(Mies-van Engelshoven, 2002)<br />

Wenn die Lehrer es versäumen, die fleißigen Schüler zu ermutigen die<br />

Schulform möglichst schnell zu wechseln und die Schüler auf diesen<br />

Wechsel auch vorzubereiten, wird es den Eltern im Alleingang mögli-<br />

cherweise sehr schwer fallen den Überblick über die möglichen Per-<br />

spektiven für ihre Kinder zu behalten.<br />

Die Jugendlichen haben nicht nur einen Ortswechsel hinter sich, sie<br />

haben ihre Heimat verlassen, die ihre Freunde, ihre Vergangenheit, ihre<br />

Vorstellungen für die Zukunft behalten hat. Nach diesem enormen psy-<br />

chischen Stress ist es kaum möglich für einen Jugendlichen sich aus<br />

eigenen Kräften sich für einen erneuten Schulwechsel zu entscheiden.<br />

Der Schulwechsel ist nach einer kurzen Zeit in Deutschland schwierig,


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

78<br />

_________________________________________________________<br />

da Aufklärung über die Schulformen und die Energie dafür oft fehlen.<br />

Der Schulwechsel zu einem späteren Zeitpunkt ist ebenfalls nicht un-<br />

problematisch, da die ersten Kontakte und Freundschaften bereits be-<br />

stehen und man sich möglicherweise eine Umgebung geschaffen hat,<br />

in der man sich wohl fühlt, was sehr wertvoll sein kann, um die Migrati-<br />

onstrapazen zu überwinden.<br />

Es ist davon auszugehen, dass viele Aussiedlerschüler, die mit ausge-<br />

zeichneten Zeugnissen nach Deutschland gekommen waren, letztend-<br />

lich in Deutschland „nur“ einen Hauptschulabschluss erworben konnten.<br />

Wie kann es dazu kommen?<br />

Das Lernen fällt diesen Schülern in der Hauptschule einfacher, (als in<br />

Russland, da der Lehrplan in Russland sehr viel kompakter ist und in<br />

den Fächern wie z. B. Mathematik und Physik die Schüler in Russland<br />

den Gleichaltrigen hierzulande um Jahren voraus sind) sie bekommen<br />

gute Noten und besuchen die Deutschförderkurse.<br />

Aussiedlerkinder und –jugendliche sehen es in dem deutschen Schulall-<br />

tag als positiv an, nicht so viel lernen zu müssen, weniger Hausaufga-<br />

ben zu haben und eine lockere Stimmung in der Schule zu erfahren<br />

(Dietz, 1999 S. 38). Das ist für viele eine Motivation auf der Hauptschu-<br />

le zu bleiben, denn unwissentlich herrscht oftmals die Einstellung: lieber<br />

gute Noten auf der Hauptschule, als schlechte Noten auf der Realschu-<br />

le oder auf dem Gymnasium.<br />

Aussiedlerjugendliche schrecken auch vor der längeren Ausbildungszeit<br />

zurück (Dietz, 1996 S. 63), die sich ja dazu noch um ein oder zwei Jah-<br />

re verlängert, weil sie in der Regel aufgrund der fehlenden Kenntnisse<br />

in Deutsch und der ersten Fremdsprache zurückgestuft werden muss-<br />

ten. Wenn sie in Russland mit 17 Jahren schon die Hochschulreife er-<br />

werben konnten, so müssen die Aussiedler hier in Deutschland damit<br />

rechnen, dass sie erst mit 20-21 Jahren die Hochschulreife in der Ta-<br />

sche haben. Das ist ein großer Unterschied und kostet enorme Über-<br />

windung bei den Jugendlichen, deren gleichaltrige Freunde in Russland<br />

mit 21 Jahren schon ein Medizinstudium absolviert haben.


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

79<br />

_________________________________________________________<br />

Des weiteren wollen viele Aussiedlerjugendliche schnell eigenes Geld<br />

verdienen, um das Familienbudget zu entlasten (Dietz, 1996 S. 63).<br />

Viele Jugendliche (unabhängig von der Herkunft) sind in dem Alter, in<br />

dem sie ihren Schulabschluss machen, also mit 16-18 Jahren, nicht in<br />

der Lage eigene Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Oftmals ist es den<br />

Jugendlichen wichtiger, Freunde in der Schule zu treffen und nicht zu<br />

viele Hausaufgaben zu haben. In diesem Alter ist es immer noch sehr<br />

wichtig, dass die Eltern hilfestellend und beratend beiseite stehen. Die<br />

Eltern der Migranten brauchen jedoch in sehr vielen Fällen selbst Helfer<br />

und Berater an ihrer Seite.<br />

Aus allen diesen Gründen scheint die Schullaufbahn der Aussiedlerju-<br />

gendlichen vorbestimmt: im Allgemeinen erwerben sie den Hauptschul-<br />

abschluss.<br />

Durch die Unterschiede im mitgebrachten Erziehungsstil und Unter-<br />

richtserfahrungen werden die Aussiedlerschüler in ihrem Verhalten von<br />

den Schülern und den Lehrern als irritierend erlebt (Giest-Warsewa,<br />

1999). Die Missverständnisse zwischen Alter und Klassenstufen sowie<br />

mangelnde Deutschkenntnisse lösen gravierende Integrationsprobleme<br />

aus, die von Verweigerungshaltungen, Motivationsverlusten, Isolations-<br />

erscheinungen, Aggressivität und Verhaltensstörungen begleitet wer-<br />

den. Die Schulabschlüsse werden dann entweder gar nicht oder unter-<br />

halb der möglichen Leistungsfähigkeit erreicht (Dietz, 1996 S. 64).<br />

Nach Berichten von Aussiedlerjugendlichen werden sie im Klassenver-<br />

band häufig ignoriert, ein Interesse an ihrem Schicksal und ihrer Heimat<br />

besteht nicht, obwohl weder die Schüler noch die Lehrer Informationen<br />

über die Aussiedlergruppe und über ihre Erfahrungs- und Hintergrund-<br />

geschichte haben (ebd. S. 67).<br />

7.3.1. Integration und Konsum<br />

Durch die eingeschränkten finanziellen Ressourcen während der Ar-<br />

beitslosigkeit ist die Versorgung der Kinder auf das Nötigste begrenzt.<br />

Für Kinderkleidung und die Schulsachen fallen jedoch kontinuierlich


Schulische Sozialisation bei den Spätaussiedlern<br />

80<br />

_________________________________________________________<br />

hohe Kosten an. Gleichzeitig stehen die Kinder und Jugendlichen unter<br />

dem Anpassungs- und Konsumdruck, der seitens einheimischer Bevöl-<br />

kerung erzeugt wird. Durch ihre äußerliche Erscheinung wollen die jun-<br />

gen Aussiedler sich der einheimischen Bevölkerung anpassen und den<br />

üblichen Stigmatisierungen entfliehen. Sie stehen demnach unter Druck<br />

überteuerte Markenartikel zu konsumieren und das stellt die Eltern vor<br />

enorme finanzielle Herausforderungen. Die Aussiedler, die die deutsche<br />

Sprache noch nicht ausreichend beherrschen sind nicht in der Lage<br />

sich kommunikativ gegen die materiell begründete Übergriffe zu weh-<br />

ren.<br />

Die Eltern leiden ebenfalls unter dem Konsumdruck, der bei ihnen das<br />

Gefühl erzeugt, den Eingliederungsprozess der Kinder nicht optimal<br />

unterstützen zu können (Schafer, 1995 S. 82).<br />

Die Teilhabe an der Gesellschaft begünstigt den Verlauf der Integration.<br />

Dadurch werden Kontakte zu den Einheimischen hergestellt und die<br />

neue Kultur erfahren. Nur sind oft zwischenmenschliche Kontakte mit<br />

finanziellen Ausgaben verbunden (ebd. S.83). Die Jugendlichen gehen<br />

oft ins Kino oder nehmen an organisierten Ausflügen und Fahrten teil.<br />

Kostenlos kann man nur spazieren gehen. Mehr oder weniger unfreiwil-<br />

lig müssen sich die jungen Aussiedler isolieren oder sie schlittern ab in<br />

die Kriminalität, in der sie noch eine Chance in der Gesellschaft sehen,<br />

bevor ihnen die Gesellschaft die Freiheit nimmt.<br />

8. Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

8.1. Identitätskrise<br />

Von Aussiedlern oder Spätaussiedlern wird gar nicht gesprochen, es<br />

sind „die Russen“ oder allgemein „die Ausländer“, die Scharenweise<br />

nach Deutschland kommen und die Arbeitsplätze wegnehmen oder<br />

„den ehrlichen Deutschen“ auf der Tasche liegen, weil sie von der Sozi-<br />

alhilfe leben. Nicht mal übertrieben, sondern so oder so ähnlich ist lei-<br />

der die Meinung der Allgemeinheit der in Deutschland geborenen Bun-<br />

desbürger über die spezifische Gruppe der Aussiedler oder der Spät-


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

81<br />

_________________________________________________________<br />

aussiedler. Ich unterstelle diesen Leuten keine Dummheit, sondern der<br />

Gesellschaft, die Unfähigkeit sich selbst zu informieren, oder Wege zu<br />

finden die anderen nicht im Unwissen zu lassen. Denn diese Unwis-<br />

senheit erzeugt einen Teufelskreis aus Feindschaften und Ängsten ge-<br />

genüber den „Fremden Verwandten“.<br />

Die Einstellungen, wer auf der Strasse Russisch spricht, ist ein Russe,<br />

oder wer in Russland geboren ist, muss ein Russe sein, oder wer einen<br />

russischen Vor- oder Nachnahmen trägt und dann noch mit Akzent<br />

Deutsch spricht, ist ein Russe, sind weit verbreitet. An dieser Stelle<br />

möchte ich an den Leser appellieren, die eigenen Stigmata zu überprü-<br />

fen.<br />

Diese Ausgrenzung und Vorverurteilung machen es den Aussiedlern<br />

unmöglich sich der neuen Kultur zu öffnen und sich motiviert zu integ-<br />

rieren, mehr noch: sie machen die Aussiedler krank.<br />

Wohl die meisten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die mit ei-<br />

nem Aussiedler- oder Spätaussiedlerstatus nach Deutschland gekom-<br />

men sind, haben es erlebt als „Russe“ bezeichnet zu werden. Es ist im<br />

üblichen Sinne kein Schimpfwort, als „Russe“ bezeichnet zu werden, es<br />

ist eine Volkszugehörigkeit, eine Nationalität, wie tausend andere. Was<br />

jedoch vielen in Deutschland geborenen Bundesbürgern schwer fällt zu<br />

verstehen ist, dass sich die Aussiedler ihr ganzes Leben lang auf ihre<br />

deutsche Identität beziehen und ihr Deutschtum gegenüber anderen<br />

Ethnien (ob in Russland, Ukraine, Kasachstan, Usbekistan o.a.) ihr Le-<br />

ben lang verteidigt haben. Das Motiv „als Deutsche unter Deutschen<br />

sein“ steht bei der Ausreiseentscheidung auch ganz oben auf der<br />

Wunschliste. Auch die Kinder tragen in sich mit der Sozialisation durch<br />

ihre Eltern, Großeltern und Verwandten das Kollektivschicksal aus<br />

Flucht und Vertreibung (Bahlmann, 2000 S. 19).<br />

„Vieles hatten die Sowjets den Deutschen weggenommen, außer eins: ihre<br />

Sehnsucht nach der Heimat. Das Unrecht, das ihnen angetan wurde, schreit<br />

heute noch zum Himmel. Sie haben ihr Willkommensein in unserem Land<br />

längst und hart „verdient“. (...) Sie haben ihr Ziel erreicht: sie sind in Deutsch-<br />

land und unter den Deutschen. Doch endlich im Land der elterlichen Träume<br />

angelangt, erleben sich fremd in einer völlig anderer Welt. Sie werden mit


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

82<br />

_________________________________________________________<br />

Problemen konfrontiert, die eine Migration mit sich bringt, auf die sie gar nicht<br />

vorbereitet sind. Das Schlimmste, womit sie gar nicht gerechnet hatten ist,<br />

dass sie hier „Russen“ genannt werden.“ (Treder, 1997 Zitat S. 4-5)<br />

Dieses Phänomen erschüttert den ohnehin schon wackeligen Boden<br />

der Identität vieler Aussiedler. Ihnen wird der Positivismus und Opti-<br />

mismus, mit dem sie nach Deutschland kommen, geraubt. Die jüngeren<br />

und die erwachsenen Aussiedler erleben daraufhin einen Identitäts-<br />

bruch (Bahlmann, 2000 S. 31). 5<br />

Dies sind Zitate junger Aussiedlerinnen:<br />

„Aber dort war ich stolz, dass ich eine Deutsche bin. Hier weiß ich selbst nicht,<br />

bin ich Deutsche oder Russin, ich weiß es nicht, denn keiner glaubt, dass ich<br />

deutsch bin. In Russland war ich richtig stolz, deutsch zu sein. Hier bin ich<br />

ängstlich und schüchtern.“<br />

„Ob ich Russin bin oder Deutsche? Ich bin nichts. Ich bin ein leeres Blatt.“<br />

(ebd. Zitate S. 31)<br />

Was die Eltern den Kindern und Jugendlichen vorgelebt haben wird in<br />

der neuen Heimat plötzlich in Frage gestellt. Es kommt zu einer Diskre-<br />

panz zwischen der Selbst- und der Fremddefinition (ebd.). Die Identität,<br />

also die Kontinuität des Selbsterlebens (ebd.), wird gespaltet. In eine<br />

„innere“ und eine „äußere“ Identität. Mit der inneren Identität bezeichne<br />

ich die Identität, die im eigenen Rahmen und im Rahmen der Familie<br />

bekannt und selbstverständlich war, bevor man den Konflikt der Natio-<br />

nalitätszugehörigkeit erfahren hat. Mit der „äußeren“ Identität bezeichne<br />

ich das Selbsterleben eines Individuums, das unabhängig von seinen<br />

Erfahrungen und seiner Vergangenheit durch Fremde und ihre Zu-<br />

schreibungen neu gebildet wird.<br />

Die „äußere“ Identität besteht aus Zuschreibungen, Vorurteilen und Ste-<br />

reotypisierungen. Die „innere“ und die „äußere“ Identitäten stehen kont-<br />

rär zu einander und rufen eine Identitätskrise hervor. Die Persönlichkeit,<br />

5 Zu diesem brisanten Thema empfehle ich den Zeitungsartikel in DIE ZEIT, Kaiser, 2000 / 14<br />

„Deutsch, aber nicht ganz“.


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

83<br />

_________________________________________________________<br />

oder das Ich wird gespalten. Die Aussiedler verlieren an Halt, an Orien-<br />

tierung. Sie wissen nicht wer sie sind.<br />

Eine Möglichkeit ist, gegen die Behauptungen ein/eine Russe/Russin zu<br />

sein zu wiedersprechen, ja zu kämpfen, die zweite Möglichkeit bedeutet<br />

Rückzug. Für die meisten kommt eher die zweite Möglichkeit in Frage,<br />

den die Unsicherheiten in der deutschen Sprache rufen Minderwertig-<br />

keitsgefühle hervor, die die betroffenen Aussiedler in ihrem Selbstwert-<br />

gefühl stark bremsen. Verbale Konfrontation in Konfliktsituationen geht<br />

für die Aussiedler oft unvorteilhaft aus. Vor allem die männlichen Ju-<br />

gendlichen greifen nicht selten zu der primitiven Art Konflikte zu lösen.<br />

Sie nutzen Gewalt, um ihre Wut und Verzweiflung auszudrücken.<br />

Wird die Gewalt nicht als Persönlichkeitseigenschaft verstanden, son-<br />

dern als Resultat sozialer Interaktionsprozesse, so müssen die Ursa-<br />

chen für die Gewaltbereitschaft der Aussiedlerjugendlichen in den sozi-<br />

alen Bedingungen, die das Herkunftsland und auch das Aufnahmeland<br />

bieten, und auch in der Qualität der familiären Sozialisation gesucht<br />

werden. Je geringer die emotionale Unterstützung durch die Familie<br />

aber auch durch andere Sozialisationsinstanzen wie Schule, desto we-<br />

niger können die Verunsicherungen aufgefangen werden (Dietz, 1997<br />

S.87f).<br />

Es ist nicht mein Anliegen die „Aussiedlergewalt“ oder Aussiedlerkrimi-<br />

nalität mit Zahlen zu belegen und so ein Wahrnehmungsmuster der<br />

deutschen Gesellschaft widerzuspiegeln.<br />

„Statistiken über soziale Entgleisungen, Hilfsbedürftigkeit und Straffälligkeit<br />

dürfen kein Tabu sein, bergen aber auch die Gefahr in sich, Opfer als Täter<br />

erscheinen zu lassen, allgemeine Vorurteile weiter zu bestätigen und aus dem<br />

Blickfeld geraten zu lassen, dass die Eingliederung der Aussiedler bislang<br />

ohne größere gesellschaftliche Brisanz verlaufen ist, trotz Massenerwerbslo-<br />

sigkeit und reduzierten Eingliederungshilfen.“ (Bade, 1999 Zitat S. 39)<br />

Die Kriminalstatistiken liefern keine eindeutige Belege dafür, dass die<br />

Kriminalität unter den Aussiedlern gestiegen ist, da in den vorhandenen<br />

Statistiken die jungen Aussiedler in der Regel als deutsche Staatsbür-


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

84<br />

_________________________________________________________<br />

ger geführt werden. Des weiteren kann eine höhere Anzeigeneigung<br />

gegenüber Aussiedlern und eine selektive Sanktionspraxis speziell ge-<br />

genüber dieser Gruppe nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden<br />

(Pfeiffer/Wetzels, 2000 S. 27).<br />

Das Augenmerk soll auf den Bezugsrahmen und den Hintergrund von<br />

devianten Jugendlichen fallen, um dem Verständnis der Folgen einer<br />

Migration etwas näher zu kommen.<br />

Die soziale Identität bildet sich aus den Rollenzuschreibungen von au-<br />

ßen und auch aus den Eigenschaften der eigenen Gruppe. Die Aus-<br />

siedler sind auf der Suche nach der eigenen Identitätsdefinition. Falls<br />

sich das Selbst- und das Fremdbild zu stark unterscheiden, findet die<br />

Selbstdefinition über die eigene Gruppe statt (Bahlmann, 2000 S. 31).<br />

Das bedeutet für viele Spätaussiedler Rückzug auf die eigene ethni-<br />

sche Gruppe, Isolation, Stagnation und sogar Regression im Bezug auf<br />

die Integration (Mendel in: Graudenz, 1996 S. 6f). Eine psychosoziale<br />

Eingliederung in einer fremden Kultur erfordert das Überwinden aller<br />

psychischen Barrieren und zu den größten psychischen Barrieren gehö-<br />

ren eben die Vorurteile der einheimischen Bevölkerung (Schafer, 1995<br />

S. 47f).<br />

Die Vorurteile beinhalten eine Abwertung gegenüber den zugewander-<br />

ten Deutschen, die eine Gleichstellung mit der einheimischen Bevölke-<br />

rung unmöglich macht. Die eigenen Fähigkeiten werden als minder ein-<br />

gestuft und ein Vergleich erst gar nicht gewagt (Bahlmann, 2000 S. 33).<br />

Die so erzeugten Minderwertigkeitskomplexe und Ängste, nehmen auf<br />

das Lernen und auf die soziale Teilhabe in der Schule einen negativen<br />

Einfluss. Die Spätaussiedler bleiben unter sich, bilden eigene Cliquen<br />

und sind im Unterricht eher zurückgezogen, unscheinbar (Schafer,<br />

1995 S. 47f).<br />

Die Vorurteile entstehen sicherlich auch aus den anfänglichen Sprach-<br />

schwierigkeiten der Aussiedler.<br />

Die Sprache ist der wichtigste Inhalt und auch das wichtigste Instrument<br />

der Sozialisation. Aber auch die Körpersprache in unterschiedlichen


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

85<br />

_________________________________________________________<br />

Kulturen bedient sich unterschiedlicher Ausdrucksformen. Fehlen diese<br />

wichtigen Instrumente einer Kultur, kommt es schnell zu Abweichungen,<br />

die zu großen Missverständnissen führen können (Dietz, 1999 S. 111f).<br />

Die Adoleszenz ist die Zeit, in der ein junger Mensch aus der Familie<br />

hinaus in die erwachsene Welt geht und familienunabhängige Bezie-<br />

hungen knüpft. Die Ablösung von der Familie ist jedoch in der Migrati-<br />

onsphase mit der damit verbundenen Identitätskrise nicht möglich.<br />

Aus dieser Identitätskrise rauszukommen ist dementsprechend sehr<br />

schwer, denn die Sprachschwierigkeiten, Ängste und die Orientierungs-<br />

losigkeit erschweren den Spätaussiedlern den Weg zu der professionel-<br />

len Hilfe. Die familieninterne Lösung aller „privaten“ Probleme zeichnet<br />

die Familie als „Konfliktlöseinstanz“ aus (ebd. S. 30f).<br />

Vorurteile, Missverständnisse in der Konfrontation mit der unbekannten<br />

Gesellschaft, eingeschränkte Möglichkeiten seiner Identität Ausdruck zu<br />

geben, stellen für die Sozialisationsprozesse enorme Hindernisse dar.<br />

8.2. Trauma<br />

Ein Identitätsbruch findet nicht nur aufgrund der Vorurteile aus der Rich-<br />

tung der einheimischen Bevölkerung statt. Der Identitätsbruch findet<br />

seinen Anfang in der Entscheidung zur Ausreise.<br />

Die Migrationsforscher und Autoren, die sich mit der Migration beschäf-<br />

tigen, sind sich einig: jede Migration, aus welchen Motiven sie auch un-<br />

ternommen wird, ist ein Trauma (Grinberg, 1990 S. 13f), (Mendel, 1996<br />

S. 4f), (Treder, 1997 S. 5f), (Kronsteiner, 2003 S. 77f), (Müller-Wille,<br />

2002 S. 55f).<br />

In der Psychotraumatologie wird der Begriff Trauma folgendermaßen<br />

definiert:<br />

„Psychische Traumatisierung lässt sich definieren als vitales Diskrepanzerleb-<br />

nis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewälti-<br />

gungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preis-


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

86<br />

_________________________________________________________<br />

gabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Welt-<br />

verständnis bewirkt.“ (Fischer, 1999 Zitat S. 351)<br />

Das Erscheinungsbild des Traumas ist charakterisiert durch Alpträume,<br />

Depressionen mit den einhergehenden Aggressionen und Reizbarkeit,<br />

psychosomatischen Erkrankungen und Isolation (ebd. S. 40f). Das<br />

Trauma löst bei den Migranten Passivität, Gefühl der Verlassenheit,<br />

Hilflosigkeit und Ohnmacht aus (Kronsteiner, 2003 S. 85). Die Folge<br />

davon ist die innere Leere, die die Migranten empfinden. Die innere<br />

Leere und die massive Selbstentwertung werden durch die Abwer-<br />

tungshaltung der einheimischen Bevölkerung noch verstärkt.<br />

Wie kommt dieses Trauma zustande?<br />

Die Migranten leben nicht auf eine Aussiedlung hin. Sie werden zu ei-<br />

nem mehr oder weniger überraschenden Zeitpunkt vor die Wahl ge-<br />

stellt. Sie haben insofern keine Freiwilligkeit, wie bei einer Urlaubspla-<br />

nung. Es gibt keine Migration auf Probe, das bedeutet, dass der bishe-<br />

riger Lebensweg abgebrochen wird und eine Trennung von beinahe<br />

allem, was das bisherige Leben bestimmt hat, erfolgen muss.<br />

Wovon muss sich der Migrant trennen?<br />

Mendel vertieft die Bedeutung der Heimat und der Kultur. Sie bringt<br />

Beispiele, die eine Trennung von der Heimat konkretisieren. Diese Bei-<br />

spiele sind banal aber sehr anschaulich und von größter Bedeutung,<br />

um die Trennungssituation und den Trennungsschmerz der Migranten<br />

nachzuvollziehen.<br />

Laut Mendel wird unser Leben geprägt durch:<br />

- Schriftformen und Sprachen,<br />

- Wasserhähne und Schlüsselformen,<br />

- Gerüche, Töne, Rhythmen,<br />

- Pflanzen, Farben,<br />

- Gesellschaftliche Regularien, Sitten, Gebräuche<br />

- Denkmuster, die Zwischentöne im Privaten und Gesellschaftli-<br />

chen,<br />

- Lehrpläne, Prüfungsrituale,


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

87<br />

_________________________________________________________<br />

- Wissen um Öffnungszeiten von Kindergärten, Bibliotheken, Be-<br />

trieben,<br />

- Wissen um Rituale wie Geburten, Schulabschlüsse, Hochzeiten,<br />

Altwerden,<br />

- Strickmuster auf Tischtüchern und Gewändern,<br />

- Wissen, wo man wie was wann warum und zu welchem Preis<br />

erwerben kann... (Mendel, 1996 S. 4f)<br />

„All das – und noch unzähliges mehr – macht aus, was wir Kultur nennen. Die<br />

Gesamtheit aller menschlichen Lebensäußerungen, von denen sich der Emig-<br />

rant abzulösen hat, um sein Leben in einer anderen Kultur weiterzuführen.“<br />

(ebd. Zitat S. 5)<br />

Die Hoffnungs- und Ausweglosigkeit kann die Menschen dazu bringen,<br />

seine Heimat zu verlassen und sich von dem gewohnten Leben zu ver-<br />

abschieden.<br />

Die Trennung von dem Heimatland erzeugt bei den Emigranten 6 sowohl<br />

bewusste als auch unbewusste Angst. Diese Angst ist die Trennungs-<br />

angst. Nachdem es zu der Trennung von der Heimat gekommen ist,<br />

erlebt der Migrant die Ausreise als eine Befreiung von der vorherge-<br />

henden Angst. Die Trennungsangst geht jedoch nach der Ausreise aus<br />

der Heimat in einen Verlustschmerz über, gefolgt von der Trauer über<br />

das verlorene Heimatland (Treder, 1997 S. 9f).<br />

Treder zitiert eine türkische Mitbürgerin, die ihre Gefühle über die Emig-<br />

ration wie folgt ausdrückt:<br />

„...die Emigration umfasst das Abschiednehmen vom Gewohnten in allen Le-<br />

bensbereichen. Die Trennung von der Heimat ist die Kumulation der Trennun-<br />

gen von allen Bindungen und Beziehungen, die dem Menschen den Lebens-<br />

inhalt und –sinn vermitteln – Familie, Freundeskreis, Beruf, Zugehörigkeit zu<br />

einer Gemeinschaft, Teilhabe an einer gemeinsamen Kultur. Es bleibt kein<br />

gewohnter Lebensbereich weiter bestehen, an dem man sich festklammern<br />

kann. Ich glaube, keine andere Trennung kommt dem Spruch ´Jede Trennung<br />

ist der Tod´ so nah.“ (Treder, 1997 Zitat S. 11)<br />

6 Begriffsunterschiede: Emigration – Auswanderung ; Migration - Wanderung (Duden 1996)


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

88<br />

_________________________________________________________<br />

Dieser Verlustschmerz ist größer, als man sich eingestehen möchte, so<br />

dass die Abwehrmechanismen in Kraft treten, um das Leben in der<br />

Fremde erträglicher zu gestalten.<br />

Einer der wichtigsten Abwehrmechanismen im Verlauf der Migration ist<br />

die Spaltung. Die Migranten spalten das Land, in das sie emigriert sind<br />

in ein „gutes“ und ein „schlechtes“ Land. Das alte Land wird überideali-<br />

siert und das Neue kritisiert, wenn die Erwartungen an das Aufnahme-<br />

land überspannt waren und die künftigen Schwierigkeiten abgewertet<br />

wurden. Dann heißt es zum Beispiel: „in Russland war alles besser“. Es<br />

kommt zur „Entzauberung des gelobten Landes“ (Grinberg, 1990 S. 7).<br />

In diesem Fall neigen die Spätaussiedler dazu sich zu isolieren und<br />

machen den Eindruck, als ob sie sich nicht integrieren wollen.<br />

In den meisten Fällen kommt es aber zu einer umgekehrten Zuschrei-<br />

bung: das Neue Land wird überidealisiert und das Alte kritisiert. Das<br />

Heimatland wird kritisiert und beiseite geschoben. Damit wird bezweckt,<br />

dass die ganze Energie in das Erlernen der neuen Sprache und der<br />

Kultur geleitet wird.<br />

Die beiden extremen Haltungen dienen der Vermeidung von Trauer,<br />

Schuldgefühlen (eher bei der Erwachsenen) und depressiven Ängsten<br />

(ebd. S. 6).<br />

Diese Spaltungsmechanismen können mit einer Scheidungssituation für<br />

ein Kind verglichen werden. Das Kind spaltet die Eltern in gut und böse,<br />

um nicht mit der Angst leben zu müssen, den einen Elternteil zu verra-<br />

ten, wenn es sich dem anderen zuwendet (Treder, 1997 S. 10).<br />

Die Spaltung schafft klare Fronten und Räume zur Wiederfindung der<br />

eigenen Identität, die im Laufe der Migration erschüttert wurde oder gar<br />

verloren gegangen ist.<br />

Die Art der Spaltung ist von dem Migranten nicht bewusst wählbar, sie<br />

ist abhängig von den persönlichen Erfahrungen und vom Ablauf der<br />

vorangegangenen Migrationsprozesse.<br />

Abhängig von der Art der Spaltung werden die Einheimischen entweder<br />

auf den Sockel gestellt oder abgelehnt, aber in jedem Fall fühlt sich der<br />

Migrant gegenüber den Einheimischen unterlegen und minderwertig<br />

(Treder, 1997 S. 10). Dieser Minderwertigkeit kann man in den kultur-


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

89<br />

_________________________________________________________<br />

und sprachenunabhängigen Bereichen entkommen, wie zum Beispiel<br />

im Sport oder Kunst oder Musik.<br />

Weitere Abwehrmechanismen, die die Trauergefühle, wie Trauer,<br />

Schmerz, Wut und Angst kaschieren sollen sind die Verdrängung, Sub-<br />

limierung 7 , Verleugnung und Projektion (Kronsteiner, 2003 S. 79f).<br />

Die Migranten stürzen sich in das Erlernen der neuen Sprache, in das<br />

Erledigen der Behördengänge und später in das Einarbeiten in dem<br />

neuen Job. So können sie es schaffen mehrere Jahre dem Verlust-<br />

schmerz auszuweichen und die Energie für das Erschaffen eines neuen<br />

Lebens zu verbrennen (Treder, 1997 S. 11f).<br />

Des weiteren beobachten Psychoanalytiker bei den Migranten im Laufe<br />

der Integrationsprozesse ein Phänomen, das sie Regression nennen.<br />

Um sich einen Raum zu schaffen, wo man Sicherheiten findet, geben<br />

die Migranten Teile ihrer „erwachsenen“ Identität auf und begeben sich<br />

auf eine niedrigere Entwicklungsstufe ihrer früheren Lebensphase, die<br />

sie bereits durchlaufen haben. Durch dieses Schutzmechanismus kön-<br />

nen sie ebenfalls Energiereserven sparen, die sie benötigen, um ihre<br />

Identität wiederherzustellen.<br />

„Regression im Dienst des Ichs, im Dienst des Überlebens, im Dienst des Um-<br />

Lernens, des Um-Codierens.“ (Mendel, 1996 Zitat S. 6)<br />

Das persönliche Repertoire an Schutzmechanismen kann sehr unter-<br />

schiedlich sein und ist abhängig von den Erlebnissen im Herkunftsland,<br />

den Vorerfahrungen in der Kindheit, der Erziehung. Mendel spricht da-<br />

bei von dem „unsichtbaren Fluchtgepäck“ (ebd. S. 7), das der Emigrant<br />

mit sich in das neue Land bringt.<br />

Diese Abwehrmechanismen des Ichs gegen die Angst können die In-<br />

tegration jedoch hemmen und das Ich schwächen (Grinberg, 1990 S.<br />

105).<br />

7 Sublimierung: Abwehrmechanismus, der es ermöglicht, dass primitive, sozial nicht akzeptierte<br />

Arten der Befriedigung von Bedürfnissen in sozial akzeptable umgewandelt und somit neutralisiert<br />

werden. Es-Impulse werden von einem – vom Über-Ich nicht akzeptierten – Ziel auf ein<br />

sozial akzeptiertes Ziel (Kunst, Caritas) umgelenkt(...) (Lexikon der Psychologie, 2000).


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

90<br />

_________________________________________________________<br />

8.2.1. Trauma im Kindes- und Jugendalter<br />

Die Psychoanalytiker Grinberg, R. und Grinberg, L. erforschten die<br />

Migrationsprozesse in unterschiedlichen Lebensabschnitten und beto-<br />

nen, dass die Probleme der Migration im Kindes- und Jugendalter viel<br />

komplexer sind als die Probleme der Erwachsenen. Denn zu allen Vari-<br />

ablen, die den migratorischen Prozess steuern, kommen noch das Alter<br />

und der Entwicklungsstand des Kindes hinzu.<br />

Es ist falsch zu behaupten, dass das Kind die Migration weniger trau-<br />

matisch erlebt, als ein Erwachsener, weil seine Umgebung auf wenige<br />

Personen reduziert ist, weil das Kind gemeinsam mit der beschützen-<br />

den Familie ausreist, weil das Kind aufnahmefähiger für die neue Kultur<br />

ist. Das alles sind sicherlich Vorteile, die das Kind mitbringt, jedoch lei-<br />

det das Kind auch unter speziellen Entbehrungen. Abhängig von dem<br />

Alter nimmt das Kind bei der Entscheidung zur Ausreise nicht Teil, die<br />

Beweggründe der Erwachsenen sind womöglich nicht verständlich,<br />

auch wenn diese erklärt worden sind. Auch wenn das Kind mit seiner<br />

Familie ausreist, darf man nicht vergessen, dass diese unmittelbare<br />

Umgebung selbst durch die migratorische Erfahrung erschüttet und ver-<br />

letzt ist. Das Selbstvertrauen und das Selbstsicherheitsgefühl, das die<br />

Eltern ihren Kindern vermitteln sollen, befindet sich bei den Eltern in<br />

einer Krise. In der prämigratorischen Zeit kann das Kind bittere Ausei-<br />

nandersetzungen rund um das Thema der Emigration mitbekommen,<br />

sogar Zeuge der Angst- und Paniksituationen der Eltern werden. Die<br />

unerträglichen Ängste können Aggressionen gegenüber dem Kind aus-<br />

lösen. In ihrer Problematik und ihren Sorgen versunken, können die<br />

Eltern leicht die Sorgen und Nöte des Kindes übersehen und das noch<br />

lange über die eigentliche Migration hinaus. Auch die Kinder vermissen<br />

die gewohnte Umgebung, ihre Freunde, Lehrer, ihre Spielplätze und ihr<br />

Haus und das ist nicht weniger schmerzhaft als für einen Erwachsenen.<br />

Sind die frühen Konflikte nicht allzu schwerwiegend und war die Bezie-<br />

hung zu den inneren und äußern Objekten im psychoanalytischen Sin-<br />

ne gut, dann steht einer erfolgreichen Integration nichts im Wege, ob-<br />

wohl die Migration traumatische Erfahrungen mit sich bringt (Grinberg,<br />

1990 S. 129f).


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

91<br />

_________________________________________________________<br />

Eine kindliche Entwicklung kann unterbrochen werden, wenn die Eltern<br />

die Kinder nicht ausreichend auf das Leben in der Schule vorbereiten<br />

können, wie dieses der Fall in vielen migrierten Familien ist. Die Schule<br />

stellt eine größere und weitreichende soziale Gruppe dar, und das Kind<br />

steht vor einer Herausforderung, seinen Platz und seine Identität inner-<br />

halb dieser Gruppe zu finden. Nur allzu oft bekommen die migrierten<br />

Kinder und Jugendlichen zu spüren, dass ihr, in dem Herkunftsland er-<br />

worbenes Wissen, wertlos sei und dass ihnen die Kenntnisse, die wich-<br />

tig wären fehlen.<br />

Die schulischen Probleme finden wiederum Widerhall in dem familiären<br />

Bereich und äußern sich in Vorwürfen und auch Somatisierungen (ebd.<br />

S. 143).<br />

8.2.1.1. Namensänderung<br />

Ein wesentlicher Einschnitt in der Identität der Kinder und Jugendlichen<br />

aus Russland ereignet sich mit der Namensänderung. In der Regel auf<br />

Wunsch der Eltern werden die russischen Namen mit Hilfe einer Über-<br />

setzungsliste eingedeutscht (Bahlmann, 2000 S. 38). Die Namensände-<br />

rung ist zulässig für deutschstämmige Migranten. So wird aus Wladimir<br />

Waldemar, aus Irina Irene, aus Iwan Johann, aus Jelena Helene, aus<br />

Jewgenij Eugen. Und wenn aus Sergej sogar Stefan wird, dann hat der<br />

neue Name gar keine phonetische Ähnlichkeit mehr mit dem Geburts-<br />

namen.<br />

Durch diese Namensänderung wünschen sich die Eltern eine Erleichte-<br />

rung der Integration für ihre Kinder. Ein russischer Name könne in Zu-<br />

kunft sowohl im Berufsleben, als auch im Privatem im Weg stehen.<br />

Dieser, meiner Meinung nach, enorm wichtiger Eingriff in die Identität<br />

eines Kindes, wird anscheinend von vielen MigrationsforscherInnen –<br />

bis auf wenige Ausnahmen – übersehen.<br />

Müller-Wille richtet ihre Aufmerksamkeit besonders auf die Aussiedler-<br />

kinder, für die die Namensänderung ein Umstand ist, der einen massi-<br />

ven Bruch in der kindlichen Entwicklung darstellt.


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

92<br />

_________________________________________________________<br />

Der Name ist das erste was das Kind über sich erfährt. Der Klang des<br />

eigenen Namen aus dem Mund der Mutter ist einem Kind sehr vertraut.<br />

Mit dem Namen hängen die Identität des Kindes, Gefühls- und Erleb-<br />

niswelt stark zusammen. Der Name dient der Identifikation. Er dient der<br />

Identifikation mit der eigenen Familie, Identifikation mit der eigenen Ge-<br />

schichte und der Erinnerungslandschaft und somit der Identifikation der<br />

eigenen Kultur.<br />

„Gerade beim ersten Schritt ins neue Leben ist die eigene Identität, die sich<br />

unter anderem gerade im Vornamen ausdrückt, eine wichtige Voraussetzung<br />

für die Möglichkeiten der Integration.“ (Müller-Wille, 2002 Zitat S. 53)<br />

Wird der Name geändert geht ein Stück der Selbstidentifikation verlo-<br />

ren. Die Namensänderung läuft die Gefahr der Verleugnung (und der<br />

Verleumdung) der Vergangenheit und der eigenen Identität zu dienen.<br />

In wie weit die Namensänderung integrationsfördernd ist, stelle ich in<br />

Frage. Denn nur sehr gute und nach Möglichkeit akzentfreie Kenntnisse<br />

der deutschen Sprache helfen Chancengleichheit mit den Einheimi-<br />

schen herzustellen.<br />

Bahlmann weist darauf hin, dass vielen Lehrerinnen und Lehrern das<br />

Recht der Kinder auf Identität nicht bewusst ist. Es ist jedoch dringend<br />

notwendig die identitätsstabilisierende Faktoren wie der Name, die<br />

Sprache und die Biografie der Migrantenkinder und Jugendlichen nicht<br />

zu ignorieren. Auch in der Schulpraxis ist es wichtig den ersten Vorna-<br />

men der Kinder zu kennen und diesen in der ersten Zeit der Orientie-<br />

rung ebenso zu nennen, wie den neuen. Das kann der Stabilisierung<br />

der Persönlichkeit entgegen kommen. Denn auch in der Familie erfolgt<br />

die Ablösung von dem ersten Namen fließend (Bahlmann, 2000 S. 38).<br />

Hat ein Kind oder Jugendlicher einen Namen, der in Deutschland fremd<br />

klingt oder schwer auszusprechen ist und wird der Name nicht „einge-<br />

deutscht“, so machen sich viele Einheimische nicht die Mühe diesen<br />

Namen zu verstehen, sich diesen Namen zu merken und diesen Na-<br />

men auch zu gebrauchen.


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

93<br />

_________________________________________________________<br />

„Ihre Namen werden verstümmelt oder verballhornt ausgesprochen, selbst<br />

von solchen Personen, die beruflich mit den Kindern befasst sind und eigent-<br />

lich eine besondere Verantwortung zur Vermittlung und Verständigung ha-<br />

ben.“ (Dietz, 1999 Zitat. S. 137)<br />

Die „Verballhornung“ von Namen erzeugt zusätzliche Distanz und<br />

Fremdheit und erschwert eine Annäherung der Kinder und Jugendli-<br />

chen untereinander.<br />

8.2.2. Notwendigkeit der Trauer<br />

Grinberg und Grinberg beschreiben Tragik einer Migration folgender-<br />

maßen:<br />

„Fortgehen ist ein bisschen sterben.“ (Grinberg, 1990 Zitat S. 75)<br />

Wenn „jede Trennung dem Tod nah“ ist und das „Fortgehen ein biss-<br />

chen sterben“ bedeutet, dann müssen sich diesem „Tod“ unweigerlich<br />

die Trauerprozesse anschließen.<br />

Der meist unwiderrufliche Verlust der Kultur und die damit verbundenen<br />

Identitätskrise zeichnen das Trauma der Migration aus. Diese Trennung<br />

zu verarbeiten kostet Zeit. Diese Zeit soll genommen werden, denn das<br />

Gelingen der Reintegration, der bei der Auswanderung verlorenen<br />

Selbstanteile, liegt in der kleinschrittigen, mühsamen Trauer (Kronstei-<br />

ner, 2003 S. 87). Die Trauerarbeit soll geleistet werden, um alte verlo-<br />

rene Bindungen in neue Perspektiven zu verwandeln. Der bewusst ge-<br />

lebte Trauerprozess bietet die Chance der Kraftquelle für das weitere<br />

Leben.<br />

Der Prozess der Trauer erfasst die gesamte Persönlichkeit des Indivi-<br />

duums, alle bewussten und unbewussten Ich-Funktionen und Verhal-<br />

tensweisen, Abwehrmechanismen und die Beziehungen zu den Mit-


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

94<br />

_________________________________________________________<br />

menschen. Der Verarbeitungsprozess ist das Ergebnis der Bewegung<br />

zwischen der Regression und der Progression (Grinberg, 1990 S.109).<br />

Hat der Migrant über ausreichende Verarbeitungsmöglichkeiten verfügt,<br />

dann wird er nicht nur die Krise der Migration überwinden, sondern sei-<br />

ne Persönlichkeit dadurch bereichern. Grinberg und Grinberg sprechen<br />

hierbei über eine Art „Wiedergeburt“, die mit der Weiterentwicklung des<br />

kreativen Potentials einhergeht (ebd. S. 15).<br />

8.2.3. Diathese – Stress – Modell<br />

Die Art und der Schweregrad der Krise und des Traumas der Migration<br />

und die Art der Trauer um die verlorenen Objekte ist abhängig von vie-<br />

len intrapersonellen Faktoren (Grinberg und Grinberg nennen diese<br />

„Prädisposition“ (ebd.)) und auch von den Umständen, die die Migration<br />

umgeben.<br />

An dieser Stelle finde ich es sinnvoll diese Grundannahme mit dem Dia-<br />

these-Stress-Modell nach Eysenck (Eysenck, 1960) - oder auch Vulne-<br />

rabilitäts-Stress-Modell genannt - zu erklären.<br />

Dieses Paradigma verbindet biologische, psychologische und Umwelt-<br />

faktoren und ist dabei nicht auf eine bestimmte Schule festgelegt. Mit<br />

der Diathese ist die genetische Prädisposition für eine Krankheit oder<br />

Störung gemeint. Sie zeichnet eine Tendenz eines Menschen, auf eine<br />

besondere Weise auf Umweltstress zu reagieren. Die Diathese erhöht<br />

die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person eine solche prädisponierte<br />

Störung entwickelt, garantiert jedoch nicht das tatsächliche Auftreten.<br />

Die Komponente Stress beinhaltet schädliche oder ungünstige Umwelt-<br />

einflüsse, sowohl biologischer als auch physiologischer Art. Das Dia-<br />

these-Stress-Modell nimmt an, dass beide Komponenten zur Entwick-<br />

lung einer Verhaltensauffälligkeit vonnöten sind.


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

95<br />

_________________________________________________________<br />

8.3. Psychosomatik<br />

Aufgrund der erlebten Migrationserfahrungen sind die Spätaussiedler<br />

deutlich schwer von funktionalen und depressiven Symptomen betrof-<br />

fen. Kornischka spricht von 50% der Spätaussiedler, die angaben an<br />

psychischen und psychosomatischen Beschwerden zu leiden, wie zu<br />

Beispiel:<br />

- Depressionen<br />

- Kopfschmerzen<br />

- Stress<br />

- Chronische Anspannungen<br />

- Ekzeme<br />

- Magengeschwüre<br />

- Trauerreaktionen<br />

Sie zeigen eine auffällige Überanpassung und ausgeprägtes Konsum-<br />

verhalten. Kornischka betont, dass es nicht mit einer positiven Integrati-<br />

on verwechselt werden darf. Der Konsum stelle vielmehr eine Kompen-<br />

sation für Aussiedlungsbedingte Entbehrungen und Verluste dar (Kor-<br />

nischka, 1992 S. 88).<br />

Depressive Störungen und Alkoholismus sind laut Kornschka die häu-<br />

figsten Störungen der Spätaussiedler.<br />

In ihren Untersuchungen in dem Landeskrankenhaus Osnabrück über<br />

den Zeitraum von 1990-1996 stellt Riecken (Riecken in: Collatz, 2002)<br />

einen signifikanten Zusammenhang zwischen schlechten Deutsch-<br />

kenntnissen und psychischer Erkrankung sowie der Länge der Kran-<br />

kenhausaufenthalte fest. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass schlechte<br />

Deutschkenntnisse ein „Handicap“ im Integrationsprozess darstellen.<br />

Dieses „Handicap“ nimmt einen ungünstigen Einfluss auf das Stresser-<br />

leben und auf die Stressbewältigung, was maßgeblich zur einer Störung<br />

beitragen kann (ebd. S. 223).<br />

Riecken gibt gemeinsam mit Schwichtenberg auch einen Einblick in ihre<br />

Erfahrungen mit Aussiedlern in Osnabrück bei der suchtmedizinischen<br />

Versorgung. Dabei kommen sie zu dem bedrückenden Schluss, dass<br />

die Suchtkarriere bei den Aussiedlern im Vergleich zu einheimischen


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

96<br />

_________________________________________________________<br />

Drogenabhängigen schneller und gesundheitsschädlicher verläuft (ebd.<br />

S.238).<br />

Die Gruppe der Aussiedler wird oft mit den Begriffen Drogen, Alkohol,<br />

Gewalt assoziiert. Einen überdurchschnittlich hohen Alkohol- und Dro-<br />

genkonsum bei jugendlichen Aussiedlern konnten Strobl und Kühnel<br />

nicht bestätigen. Die bei einer Stichprobe von jugendlichen Spätaus-<br />

siedlern aus verschiedenen Schulformen in Nordrhein-Westfalen ge-<br />

messenen Werte lagen eher unter denjenigen einer einheimischen Ver-<br />

gleichsgruppe (Strobl, 2000 S. 173f).<br />

Die Psychotherapeuten und Psychiater sind sich einig, dass mutter-<br />

sprachliches Therapieangebot entscheidende Bedeutung für die erfolg-<br />

reiche therapeutische Arbeit hat. In Beispiel dafür ist die westfälische<br />

Klinik Warstein, dort besteht eine russischsprachige Therapiemöglich-<br />

keit seit 1998. Novikov vom Klinikum Nord in Hamburg plädiert noch<br />

einmal vehement für eine Förderung der Kenntnisse über die Herkunft<br />

der Aussiedler bei der einheimischen Bevölkerung:<br />

„Ohne das Wissen über die Geschichte der Ursprungsländer der Migranten<br />

gibt es kein gemeinsames Deutschland“ (ebd. S. 260).<br />

Eine Studie von Sabine Loof aus dem Jahr 1993 stellt Messungen über<br />

Körperbeschwerden, Ängstlichkeit, Depression und Selbstbild von Aus-<br />

siedlerkindern und -jugendlichen aus Polen im Vergleich zu Einheimi-<br />

schen vor. Sie kommt zu dem Schluss, dass es signifikante Abwei-<br />

chungen bei den Aussiedlern gibt, die durch „Fremdheitsgefühle“ und<br />

„Enttäuschungen über das Leben in Deutschland“ ausgelöst sind (Col-<br />

latz, 2002 S. 268). Ich nehme an, dass diese Ergebnisse auch auf die<br />

Gruppe der Aussiedler aus Russland übertragbar sind, denn im Grunde<br />

ist die Tatsache einer Migration in eine fremde Kultur entscheidend, um<br />

diese Fremdheits- und Enttäuschungsgefühle wahrzunehmen und diese<br />

in den somatischen Beschwerden wiederzufinden.<br />

Auch aus der psychoanalytischen Sicht kann die Migration (...) den Aus-<br />

bruch einer latenten Pathologie begünstigen, oder die potentielle Ausgangs-


Psychosoziale Probleme auf dem Weg der Integration<br />

97<br />

_________________________________________________________<br />

punkt für mehr oder weniger ausgeprägte psychische Störungen sein, beson-<br />

ders bei labilen Persönlichkeiten (Grinberg, 1990 Zitat S. 101).<br />

9. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sozialisation<br />

der Spätaussiedler<br />

Das Geschlecht bestimmt den Verlauf der Sozialisationsprozesse.<br />

Wenn die Sozialisation der Spätaussiedler spezifische Unterschiede zu<br />

der Sozialisation der Einheimischen aufweist, dann stellt sich die Frage:<br />

ob, und inwiefern die Migration geschlechtsspezifisch auf die Sozialisa-<br />

tion der Aussiedler Einwirkung nimmt?<br />

Zwischen Mädchen und Jungen (oder Frauen und Männern) bestehen<br />

deutliche Unterschiede im Hinblick auf die Bewältigung von Desintegra-<br />

tionsprozessen. Mädchen (oder Frauen) reagieren nur selten mit Ge-<br />

walt gegenüber den anderen, sie tendieren eher dazu autoaggressiv zu<br />

reagieren (Dietz, 1997 S. 88).<br />

Das nach „außen“ treten bei den männlichen jungen Aussiedlern ist<br />

nicht nur mit dem Gewaltverhalten zu verbinden, die männlichen Ju-<br />

gendlichen tragen ihre Freizeit eher nach außen als die weiblichen Ju-<br />

gendlichen. In Russland standen wesentlich größere Naturräume, die<br />

die Jugendlichen frei nutzen konnten, zur Verfügung. Sie veranstalten<br />

Grillparties, angelten ohne einen Angelschein zu besitzen, machten<br />

Pferderennen durch die unendlichen Steppen (Bahlmann, 2000 S. 82).<br />

In Deutschland treffen sich die jungen Aussiedler auf der Straße oder<br />

bestimmten öffentlichen Plätzen. Das körperliche Expansionsverhalten<br />

wird vor allem in den Übergangswohnheimen stark eingeschränkt.<br />

Die weiblichen Aussiedlerjugendlichen verbringen ihre Freizeit in<br />

Deutschland öfter zu Hause. Dieses hat zur Folge, dass sich die Aus-<br />

siedlerinnen tendenziell stärker isolieren (Dietz, 1996 S. 86), wobei sie<br />

dadurch weniger auffallen, als die männlichen Aussiedler. Dadurch,<br />

dass sie weniger „aus der Rolle“ fallen, besteht die Gefahr, dass sie mit<br />

ihren Problemen weniger Beachtung finden bzw. als unauffällig gelten.


Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sozialisation<br />

98<br />

der Spätaussiedler___________________________________________<br />

Besonders die jungen Aussiedlerinnen haben auffällig geringes Selbst-<br />

vertrauen und leiden stärker an psychosomatischen Beschwerden, als<br />

die männlichen Aussiedler (Mies-van Engelshoven, 1999 S. 19).<br />

Eine andere psychologische Studie zu sozialen Ängsten und Unsicher-<br />

heiten jugendlicher Spätaussiedler fand bei den Mädchen häufiger<br />

Angstsymptome, Angst vor Misserfolgen, Blamagen und öffentlicher<br />

Beachtung (Bahlmann, 2000 S. 79).<br />

Strobl und Kühnel fanden heraus, dass das Geschlecht den größten<br />

Einfluss auf die Psychosomatik ausübt. Sie stellen fest, dass die Frauen<br />

erheblich stärker unter psychosomatischen Beschwerden leiden als die<br />

Vergleichsgruppe der Männer.<br />

In der folgenden Abbildung (Strobl, 2000 S. 168) wird der Einfluss des<br />

Geschlechts auf die Integrationstypologie dargestellt.<br />

Abb. 11 Der Einfluss des Geschlechts auf das Ausmaß psychosomatischer Beschwerden<br />

Betrachtet man die geschlechtsspezifischen Aspekte im Hinblick auf die<br />

schulische Sozialisation, so fällt es auf, dass die Mädchen zu einem<br />

höheren Anteil die Realschule und das Gymnasium besuchen, als ihre<br />

männlichen Landsgefährten. Dieses Phänomen ist allerdings kein Aus-<br />

siedlerspezifikum und trifft auch auf die Einheimischen zu. Es ist gene-<br />

rell zu beobachten, dass Schülerinnen zu einem höheren Anteil einen


Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sozialisation<br />

99<br />

der Spätaussiedler___________________________________________<br />

höheren Schulabschluss erreichen als die Jungen (Mies-van Engelsho-<br />

ven, 1999 S. 15). Aus der Erfüllung der schulischen Erwartungen ge-<br />

winnen die Mädchen ein höheres Selbstvertrauen; bei den Jungen re-<br />

sultiert das Selbstvertrauen aus den positiven Mitschüler-Beziehungen<br />

(Hurrelmann/Ulich, 2002 S. 395).<br />

Auch im häuslich-familiären Bereich zeigt die Geschlechtszugehörigkeit<br />

ihre Auswirkungen. Viele Eltern sind verunsichert durch die vielen An-<br />

gebote und Freiheiten in Deutschland, weshalb die jungen Mädchen<br />

besonders strengen häuslichen Kontrollen unterliegen. Ihnen wird es<br />

teilweise nicht erlaubt die Diskotheken oder das Kino zu besuchen. Vie-<br />

le Eltern erleben die einheimische Gesellschaft als freizügig und erle-<br />

ben diese Umwelt als Angriff auf die sexuelle Integrität der Töchter. Zu<br />

einem Konflikt zwischen Familie und Schule kann es bei Klassenfahrten<br />

oder Schwimmunterricht kommen. Bahlmann warnt jedoch vor einer<br />

negativen Bewertung dieses beschützenden Verhaltens seitens der<br />

Eltern. Die eigenen Maßstäbe der Aussiedler müssen nicht völlig beisei-<br />

te geschoben, aber relativiert werden (Bahlmann, 2000 S. 79).<br />

Es wird angenommen, dass sowohl Mädchen als auch Jungen hausar-<br />

beitsnäher sozialisiert sind, als einheimische Jugendlichen. Sie orientie-<br />

ren sich jedoch an traditionellen Geschlechterrollen. In dem Herkunfts-<br />

land lernten die Mädchen früh den Haushalt zu organisieren, da die<br />

Mütter in den meisten Fällen berufstätig waren. Die Jungen übernah-<br />

men die männlich-väterliche Rolle und übten Tätigkeitsfelder im Haus-<br />

halt und draußen aus.<br />

10. Betrachtung nach unterschiedlichen Aspekten<br />

Der Verlauf der Migration und die Erfahrung der Integration ist von vie-<br />

len Faktoren abhängig. Diese Faktoren, also die abhängigen Variablen<br />

der Integration sollen im folgendem herausgearbeitet werden.<br />

In Anbetracht der Migrationshintergründe, der spezifischen Sozialisati-<br />

onsbedingungen und der Kenntnisse der kollektivistischen Gesell-


Betrachtung nach unterschiedlichen Aspekten<br />

100<br />

_________________________________________________________<br />

schaftsstrukturen stelle ich sechs - auf die Integration Einfluss nehmen-<br />

den - Aspekte hypothetisch in die Diskussion.<br />

10.1. Geschlechter-Aspekt<br />

Die Integration als ein wichtiger Bestandteil der Sozialisation der ju-<br />

gendlichen Aussiedler ist abhängig von dem Geschlecht. Das Umgehen<br />

mit kritischen Lebensereignissen und die Bewältigungsmechanismen ist<br />

geschlechtsabhängig.<br />

10.2. Zeitpunktaspekt<br />

Zu welchem Zeitpunkt, also in welchem Alter die Migration erfolgt spielt<br />

eine wichtige Rolle im Integrationsverlauf.<br />

Erfolgt die Migration zum Beispiel in der Pubertätsphase, in der<br />

Selbstfindungs- und Selbstbehauptungsprozesse stattfinden, kann die<br />

Identität durch diese kritischen Lebensereignisse schwer erschüttert<br />

werden.<br />

Aber auch kleine Kinder kann eine Migration schwer treffen. Die Tren-<br />

nungserfahrungen werden nur anders wahrgenommen, als von Jugend-<br />

lichen oder Erwachsenen.<br />

10.3. Freiwilligkeitsaspekt<br />

Die Ausreiseentscheidung wird meist von den Eltern oder Großeltern<br />

getroffen und auch durchgesetzt. An den Diskussionen und Entschei-<br />

dungen um die Ausreise sind die Kinder oft nicht beteilig. Das entspricht<br />

der Normalität der überwiegend traditionalen und patriarchalischen Fa-<br />

milienbeziehungen, in denen die Kinder aufgewachsen sind (Silberei-<br />

sen, 1999 S. 263).


Betrachtung nach unterschiedlichen Aspekten<br />

101<br />

_________________________________________________________<br />

Ob sich der Freiwilligkeitsaspekt auf die Eingliederungsprobleme aus-<br />

wirkt, konnten Strobl und Kühnel in ihrer Studie nicht eindeutig belegen.<br />

Einige Fälle zeigten einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer<br />

eher unfreiwilligen Ausreise und einer distanzierten Haltung zur bun-<br />

desdeutschen Gesellschaft. Diese Fälle können jedoch nicht als typisch<br />

gelten (Strobl, 2000 S.127f).<br />

10.4. Bildungsaspekt<br />

Zu betrachten gilt der Bildungshintergrund der Eltern der jungen Aus-<br />

siedler. Die Kinder aus Familien der Akademiker finden sich eher in den<br />

weiterbildenden Schulen, als Kinder deren Eltern eine berufliche Aus-<br />

bildung absolviert haben (Bade, 1999). Dieses gilt im höheren Maße<br />

auch für die einheimischen Kinder (Hurrelmann, 1986).<br />

10.5. Herkunftsaspekt<br />

Mit dem Herkunftsaspekt ist der Herkunftsort gemeint. Die meisten<br />

Aussiedler (45,8%), lebten vor der Migration in Dörfern; 19,5% lebten in<br />

Kleinstädten, 16,4% in mittelgroßen Städten und 17,6% in Großstädten 8<br />

(Strobl, 2000 S.73).<br />

Ein sehr hoher Anteil der Aussiedler war im Herkunftsland in dem land-<br />

wirtschaftlichen Sektor beschäftigt. Die Lebensbedingungen und somit<br />

die familiäre und schulische Situation unterschieden sich beträchtlich<br />

von den Lebensbedingungen in einer Großstadt.<br />

Das Stadt-Land-Gefälle ist in Russland erheblich größer, als in<br />

Deutschland, was den Lebensstandard betrifft. Das Leben in einer<br />

Großstadt bedeutet größere Unabhängigkeit, breitere Ausbildungs- und<br />

Arbeitsplatzchancen, größere Kultur- und Bildungsangebote. Das Le-<br />

ben auf dem Land bedeutet dagegen größere Nähe zur Natur, einfa-<br />

cheres Leben, weniger Abwechslung, geringere Aufstiegsmöglichkeiten<br />

8 Diese Werte beziehen sich auf ehm. Sowjetunion.


Betrachtung nach unterschiedlichen Aspekten<br />

102<br />

_________________________________________________________<br />

in schulischer und beruflicher Hinsicht. Unterstützungsmechanismen in<br />

Verwandtschaft und Nachbarschaft sind sowohl auf dem Land als auch<br />

in einer Großstadt von großer Bedeutung (Kossolapow, 1987 S. 101).<br />

Leider liegen mir keine Untersuchungen zu diesem Aspekt vor. Es wäre<br />

interessant zu erfahren, inwiefern der Herkunftsort einen Einfluss auf<br />

die Integration und die Sozialisation nehmen kann. Gibt es Unterschie-<br />

de in der Schülerverteilung auf unterschiedliche Schulformen in<br />

Deutschland in Abhängigkeit von dem Herkunftsort?<br />

10.6. Abschiedsaspekt<br />

Der Abschiedsaspekt soll das Ausmaß an subjektiv empfundenen Ver-<br />

lusten ausdrücken und in Beziehung zu der Integration und Sozialisati-<br />

on setzen.<br />

Viele Familien emigrieren nach Deutschland, um die Familie wieder<br />

zusammenzuführen mit jenen Verwandten, die schon vor Jahren aus-<br />

gesiedelt waren. Andere Familien emigrieren nach Deutschland und<br />

hinterlassen im Herkunftsland nahe Familienangehörige, da diese keine<br />

Ausreiserlaubnis bekommen können. Die Familien mit gemischten E-<br />

hen werden sehr oft mit Familientrennung konfrontiert. Eine 1995/1996<br />

durchgeführte Befragung von Aussiedlerjugendlichen, die zwischen<br />

1990 und 1994 nach Deutschland gekommen waren zeigte, dass 39%<br />

der interviewten Jugendlichen aus Familien mit einem nichtdeutschen<br />

(zumeist russischen) Elternteil kamen (Dietz, 1999 S. 31).<br />

Auch die Kinder empfinden diese Trennung als sehr schmerzvoll, wo-<br />

möglich müssen sie sich von einer nahen Bezugsperson, wie zum Bei-<br />

spiel der Großmutter, trennen. Die Trennung von Bezugspersonen ist<br />

sicherlich gravierender für die Entwicklung eines Kindes, als die Tren-<br />

nung von den Freunden. Wobei auch der Verlust von Freundschaften<br />

nicht zu unterschätzen wäre.


Betrachtung nach unterschiedlichen Aspekten<br />

103<br />

_________________________________________________________<br />

Eine etwas ältere Studie von Kossolapow stellt fest, dass 94% der be-<br />

fragten Jugendlichen wichtige soziale Bindungen im Herkunftsland zu-<br />

rückgelassen haben. Gegenseitige Besuche und Telefonate fallen aus<br />

Kostengründen eher selten aus (Kossolapow, 1987).<br />

11. Integrationshilfen<br />

11.1. Sichtwechsel<br />

Kommen wir noch einmal zurück zu dem Integrationsbegriff. Bisher<br />

wurden die Integrationsmodelle für die Migranten und auf die Migranten<br />

„maßgeschneidert“, mit einem Nachteil: Die Migranten werden als Ob-<br />

jekte der Integration wahrgenommen, denen die Ziele der bundesdeut-<br />

schen Gesellschaft von dieser auferlegt werden.<br />

Einen Sichtwechsel, der eine besondere Beachtung verdient, wagt die<br />

Soziologin Irene Tröster (Tröster, 2003). Sie untersucht mit sozialwis-<br />

senschaftlichen Methoden, wie sich Russlanddeutsche ihre Integration<br />

in Deutschland vorstellen. Es zeigt sich, dass diese „Objekte der Integ-<br />

rationsbemühungen“ eigene Konzepte für den Integrationsprozess ha-<br />

ben, die nicht unbedingt mit den Zielen der Aufnahmegesellschaft und<br />

ihrer Sozialarbeit übereinstimmen.<br />

In gewissen Sinne wird mit diesem Buch also den deutschen Integrati-<br />

onsbemühungen ein Spiegel vorgehalten, der zeigt, dass im Integrati-<br />

onsprozess verschiedene Vorstellungen über die Ziele dieses Prozes-<br />

ses vorherrschen.<br />

Es erklärt sich auch das Problem, dass manchmal deutsche Sozialar-<br />

beiter/innen und Russlanddeutsche aneinander vorbeireden.<br />

Irene Tröster stellt drei Grundtypen der russlanddeutschen Integrati-<br />

onsziele heraus: „Zurechtkommen“, „Mithalten“, „Gleichen“.<br />

Das Ziel „Zurechtkommen“ orientiert sich an dem Erreichen eines<br />

selbständigen Lebens in Deutschland. Wer von sich sagen kann, er<br />

habe dieses Ziel erreicht, kann ohne fremde Hilfen leben. Dazu gehört


Integrationshilfen<br />

104<br />

_________________________________________________________<br />

bei einer Untergruppe der Befragten auch die Fähigkeit, Alltagskontakte<br />

mit Einheimischen reibungslos zu bewältigen. Dieses Ziel wird häufig in<br />

relativ kurzer Zeit erreicht. Menschen mit dieser Zielvorstellung finden<br />

sich häufig in der älteren Zuwanderungsgruppe, sind also vor 1995 ge-<br />

kommen. Die Vertreter dieses Integrationszieles haben schnell ihr „per-<br />

sonales Gleichgewicht“ wiedergefunden. Sie betrachten ihr Ziel als et-<br />

was, das sie durch eigene Anstrengungen erreichen konnten. Sie leiden<br />

dementsprechend wenig an Frustrationen im Integrationsprozess. Ihr<br />

Integrationsziel unterscheidet sich allerdings deutlich von den Erwar-<br />

tungen der deutschen Gesellschaft (ebd. S. 129f).<br />

Das Ziel „Mithalten“ orientiert sich überwiegend an materiellen Fakto-<br />

ren. Die Vertreter dieses Zieles wollen ihren, in den Herkunftsländern<br />

innegehabten – zumeist hohen – Lebensstandard wieder erreichen und<br />

in Deutschland einen Lebensstandard haben, der vergleichbar ist mit<br />

den materiellen (und zum Teil ausbildungsmäßigen) Standards der Ein-<br />

heimischen. Dieses Ziel wird aber bei weitem nicht so häufig erreicht<br />

wie das Ziel des „Zurechtkommens“. Da die materiellen und sozialen<br />

Bedingungen für das Erreichen dieses Ziels in Deutschland zur Zeit<br />

nicht gut sind, erleiden die Menschen, die mit diesem Ziel gekommen<br />

sind, häufig hohe Frustrationen. Das Erreichen des Zieles „Mithalten“ ist<br />

stark umgebungsabhängig und erweist sich dadurch als besonders kri-<br />

senanfällig. Die Betroffenen sehen für sich selbst kaum Chancen, ihr<br />

Integrationsziel durch eigene Anstrengungen zu erreichen (ebd. S.<br />

144f).<br />

Das Ziel „Gleichen“ kommt dem umgangssprachlichen Begriff „Integ-<br />

ration“ der deutschen Mehrheitsgesellschaft am nächsten. Dabei lassen<br />

sich zwei signifikante Untertypen differenzieren.<br />

a) Menschen, die eine <strong>vollständige</strong> Assimilation anstreben. Sie verhal-<br />

ten sich oft überangepasst und versuchen, die von ihnen als minder-<br />

wertig empfundene russische Kultur aus ihrem Leben zu verbannen.<br />

b) Menschen, die nur eine äußerliche Assimilation anstreben, sich aber<br />

bemühen bestimmte Anteile ihrer russischen kulturellen Prägung beizu-<br />

behalten (ebd. S. 157f).


Integrationshilfen<br />

105<br />

_________________________________________________________<br />

Die Gemeinsamkeit der beiden Gruppen ist, dass sie selbst bemerken,<br />

dass ihr eigenes Ziel unerreichbar bleibt.<br />

Die Gruppe, die eine äußerliche Integration anstrebt, ist in der Lage,<br />

das als einen lebenslangen und generationsübergreifenden Prozess zu<br />

verstehen, während die Gruppe, die <strong>vollständige</strong> Assimilation anstrebt,<br />

unreflektiert darauf vertraut, dass es ihren Kindern und Enkeln durch<br />

die schlichte Tatsache der Teilhabe an der deutschen Normalbiografie<br />

gelingen wird, dieses Ziel zu erreichen.<br />

Bei beiden Gruppen ist die Frustration sehr hoch.<br />

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Integrationsbemü-<br />

hungen für die Betroffenen um so schwieriger sind, je abhängiger ihr<br />

eigenes Integrationsziel von der Umgebung, den materiellen Bedingun-<br />

gen und der „Fremdenfähigkeit“ der aufnehmenden Gesellschaft ist<br />

(ebd. S.179).<br />

Bikulturalität<br />

Die einzige Möglichkeit den Integrationsprozess unbeschadet zu über-<br />

stehen - und noch wichtiger – die Integration für sich als eine Nährquel-<br />

le zu nutzen (und da sind sich die Migrationsforscher einig), ist die ei-<br />

gene Bikulturalität ausleben zu dürfen.<br />

Der fremde Migrant soll sein „Umzugsgepäck“, in dem ganz individuelle<br />

Schätze, wie Farben, Töne, Bilder, Gerüche, Literatur, Strickmuster und<br />

Handwerkstechnicken, verborgen sind, öffnen dürfen. Über sein Mitge-<br />

brachtes würde er gewiss gern im neuen Land berichten und in sein<br />

neues Leben integrieren, wodurch er von seinem Status des Fremd-<br />

lings erlöst werden kann.<br />

Grosjean vertieft die Definition der bikulturellen Person folgenderma-<br />

ßen:<br />

„Sie ist weder die Summe der zwei zur Diskussion stehenden Kulturen, noch<br />

das Sammelbecken zweier unterschiedlicher Kulturen, sondern eine Entität,<br />

welche die Aspekte und die Züge dieser beiden Kulturen auf neuartige und<br />

persönliche Art kombiniert und verschmilzt. Sie hat also ihre eigene kulturelle


Integrationshilfen<br />

106<br />

_________________________________________________________<br />

Kompetenz, ihre eigene Erfahrung und ihre eigene Ökologie.“ (Grosjean, 1996<br />

Zitat S. 183)<br />

In der Interaktion mit der neuen Kultur entsteht etwas neues, etwas<br />

qualitativ anderes als das Nebeneinander zweier unterschiedlicher Kul-<br />

turen.<br />

Stärken stärken<br />

Die individuelle Stärken von Jugendlichen sind oft hinter der Fassade<br />

des „auffälligen Verhaltens“ versteckt. Diese Stärken sind auch den Ju-<br />

gendlichen selbst nicht immer bewusst.<br />

Viele Integrationsmaßnahmen leiden immer noch an „Fürsorgeritis“<br />

(Begriff aus: Kornischka, 1992). Es reicht bei weitem nicht aus den<br />

Migranten die Schwierigkeiten abzunehmen und sie im Glauben zu las-<br />

sen, sie wären nicht fähig ihr Leben selbst zu meistern.<br />

Die Erkenntnis und der Ausbau der eigenen Leistungsfähigkeit führen<br />

zu Stärkung und Stabilisierung des Selbstvertrauens und des Selbst-<br />

wertgefühls. Das Prinzip – an den Stärken der jungen Migranten anzu-<br />

setzen – ist eine deutliche Absage an die integrationsspezifische Maß-<br />

nahmen, die – wenn auch in guter Absicht – allein Defizite zum Aus-<br />

gangspunkt pädagogischer Hilfestellung machen.<br />

Vor allem im schulischen Bereich sollten die Stärken endlich als Stär-<br />

ken gesehen werden. Der Wissensvorsprung in naturwissenschaftli-<br />

chen Fächern, wie Mathematik, Chemie, Physik, soll nicht als beque-<br />

mer Vorteil gesehen werden, der den Schülern aus Russland erlaubt<br />

sich in diesen Fächern zurückzulehnen und sich zu langweilen, bis die<br />

Regelklasse ihr Wissensniveau erreicht hat. Das kann eventuell einige<br />

Jahre dauern, da viele Aussiedlerjugendliche wegen mangelhafter<br />

Deutschkenntnisse ein bis zwei Jahre zurückgestuft werden. Das ein-<br />

richten von „Schwerpunktlerngruppen“, die die Aussiedlerjugendlichen<br />

da abholen würden, wo sie stehen geblieben sind, würde der Lange-<br />

weile und dem auch dadurch bedingtem auffälligem Verhalten entge-<br />

genwirken und sie in ihrem Selbstwertgefühl bestärken.


Integrationshilfen<br />

107<br />

_________________________________________________________<br />

Sichtverzerrung<br />

Der Einfluss, in der Öffentlichkeit agierenden Multiplikatoren, wie zum<br />

Beispiel Medien oder Migrationsforschern, tragen bekanntlich beträcht-<br />

lich zum Entstehen der öffentlichen Meinung über die Minoritätgruppe<br />

Aussiedler bei.<br />

Integrationserfolge kommen bei den Medien bei weitem nicht so gut an,<br />

wie zum Beispiel das Berichten über die Gefährdung der Gesellschaft<br />

durch die russische Mafia.<br />

Zu bemängeln ist die unwissenschaftliche Inkonsequenz einiger Migra-<br />

tionsforscher im Bezug auf die Bezeichnung der Aussiedler. Die Wis-<br />

senschaftler können dazu beitragen, die Vorurteile in der Gesellschaft<br />

zu verfestigen, wenn sie in ihren Publikationen, wie zum Beispiel Mies-<br />

van Engelshoven die einheimische SchülerInnen als „Deutsche Schüle-<br />

rInnen“ und daneben die AussiedlerInnen als „AussiedlerInnen“ be-<br />

zeichnen (Mies-van Engelshoven, 2002 S. 18; Abbildung 7 hier im<br />

Text).<br />

Beide Begriffe getrennt von einander betrachtet sind absolut unbedenk-<br />

lich. Wenn die Autoren jedoch die Gruppen vergleichend gegenüber-<br />

stellen, dann haben wir auf der einen Seite die deutschen Jugendlichen<br />

und auf der anderen die Aussiedlerjugendlichen, somit wird – von den<br />

Autoren bewusst oder unbewusst – den Aussiedlern die Deutschstäm-<br />

migkeit aberkannt.<br />

Die Integrationsforscher Strobl und Kühnel begehen den gleichen defi-<br />

nitorischen Fehler mehrmals in ihrem Buch. Hier einige Textpassagen,<br />

die eine Kritik verdient haben.<br />

„Aussiedler finden sich mehrheitlich mit ihresgleichen zusammen. Nur diejeni-<br />

gen, die keiner Clique angehören, haben etwas häufigere Kontakte zu Deut-<br />

schen.“ (Strobl, 2000 Zitat S. 185) Aussiedler versus Deutsche.<br />

„Wir nehmen an, dass Aussiedler gute Teilhabechancen haben, wenn sie die<br />

deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, sehr gut oder perfekt Deutsch spre-<br />

chen können (...) sich in materieller Hinsicht etwa gleich viel wie deutsche Ju-


Integrationshilfen<br />

108<br />

_________________________________________________________<br />

gendliche oder sogar mehr als deutsche Jugendliche leisten können (...).“ (Zi-<br />

tat ebd.) Aussiedler versus deutsche Jugendliche.<br />

Es wird viel Geld in die Integrationsmaßnamen investiert und viel über<br />

Integrationshilfe gesprochen. Dieses Kapitel soll nicht die einzelnen<br />

integrativen Maßnahmen, die unbestritten für die Migranten von großer<br />

Bedeutung für das Einleben in der neuen Kultur sind, auflisten, sondern<br />

die Wahrnehmung schärfen, die als Substanz der Integrationsmaß-<br />

nahmen den Aussiedlern und der aufnehmenden Gesellschaft förderlich<br />

dienen kann.<br />

12. Fazit<br />

Nicht alle Autoren, die sich mit der Integration der Aussiedler beschäfti-<br />

gen, verwenden die Begriffe „biographischer Bruch“ oder „Identitäts-<br />

bruch“ im Zusammenhang mit der Migration. Bahlmann spricht sich so-<br />

gar gegen diese Bezeichnung aus:<br />

„Ein Stück der alten Identität bleibt in der neuen aufgehoben, deshalb ist es<br />

auch falsch von einem „Bruch“ zu sprechen (...).“ (Bahlmann, 2000 Zitat S. 38)<br />

Und trotzdem finde ich die Bezeichnung „Bruch“ als eine Umschreibung<br />

der Erfahrung der Migration am präzisesten. Das Leben der Migranten<br />

wird wie mit einer Schere in zwei Teile zerschnitten, ein Teil ist das „Le-<br />

ben vor dem Abschied“ und das zweite Teil ist das „Leben nach dem<br />

Ankommen“. Was die beiden Teile verbindet ist das Trauma der Immig-<br />

ration.<br />

Das Leben vor dem Abschied ist die Kindheit, die ganz bestimmten<br />

Baumarten, die kalten verschneiten Winter und die trockenen heißen<br />

Sommer, es sind Kindergedichte und die wilden blauen Wiesen aus<br />

Vergissmeinnicht. Das Leben nach dem Ankommen lässt das Leben<br />

vor dem Abschied auf Dauer mit jenem Winkel im Gedächtnis begnü-<br />

gen, der für das Gestern bereitgehalten wird.


Fazit<br />

109<br />

_________________________________________________________<br />

An dem mitgebrachten Fluchtgepäck können sich die Migranten auf-<br />

wärmen, sich einen Moment erfreuen oder auch Tränen vergießen, a-<br />

ber nutzen können sie es nicht, denn das Leben nach dem Ankommen<br />

stellt ihnen ein neues Gepäck zusammen, das ihnen helfen soll ihr neu-<br />

es Leben zu meistern.<br />

Der biographische Bruch oder der Identitätsbruch, den die ganze Fami-<br />

lie erlebt, macht die Besonderheit der Sozialisation aus und betrifft alle<br />

Bereiche des Lebens der Kinder und Jugendlichen, wie zum Beispiel<br />

das soziale Netzwerk, die sozioökonomische Stellung und die kulturel-<br />

len Werte.<br />

Die unterschiedlichen Integrationsmodelle oder Theorien können die<br />

stattgefundenen Prozesse einordnen oder vielleicht auch erklären, aber<br />

mildern können sie die Umstände der Migration wohl kaum.<br />

Was zu tun bleibt, ist die Aufnahmegesellschaft über die Geschichte der<br />

Migranten über ihre Migrationsursachen und -umstände aufzuklären<br />

(und dabei geht es nicht nur um die Aussiedler), denn Deutschland ist<br />

und bleibt ein multikulturelles Einreiseland und die junge Generation ist<br />

und bleibt Träger der Werte, des Weltbildes und der Zukunftsperspekti-<br />

ven einer Kultur.


Literaturverzeichnis<br />

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Erklärung gemäß §22 Abs. 7 MPO 1997<br />

Ich habe die Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als die an-<br />

gegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt.<br />

Datum, Ort Unterschrift<br />

Hannover, 5.04.05 Nelly Simonov

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