Buch - Integrale Psychotherapie
Buch - Integrale Psychotherapie
Buch - Integrale Psychotherapie
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
52 W. M. Weinreich: <strong>Integrale</strong> <strong>Psychotherapie</strong><br />
________________________________________________________________________________<br />
sowie von prärationalen Phänomenen unterscheiden zu können. Trotzdem<br />
werden der ursprüngliche Zustand der Kindheit und die Reife der Weisheit<br />
– nicht zuletzt aufgrund des Bibelwortes „… werdet wie die Kinder …“ –<br />
immer wieder verwechselt, was auf eine mangelnde Differenzierung der<br />
prä- und transrationalen Ebenen zurückzuführen ist, die wohl die Ähnlichkeiten<br />
wahrnimmt, nicht jedoch die Unterschiede. So sind z.B. beide Bereiche<br />
eher bildlich statt verbal orientiert. Doch während die Inhalte des ersten<br />
eher gegenständlich sind und auf die eigene Person bezogen werden, sind<br />
die Wahrnehmungen auf den transrationalen Ebenen sehr komplex, kontextualistisch<br />
und abstrakt und lassen die eigene Person im allgemeinen im<br />
Hintergrund.<br />
Die permanente Prä/Trans-Verwechslung stiftet natürlich auch in der Gesellschaft<br />
immer wieder heillose Verwirrung mit oft dramatischen Folgen. So<br />
wird echte transrationale Mystik von vielen Vertretern prärationalmythischer<br />
Religionen 59 voll rechtgläubigem Eifer bekämpft. Anhänger von<br />
Esoterik und New Age versuchen vielfach, spirituelle Irrtümer und Halbwahrheiten<br />
unserer Vorfahren – deren Erkenntnisfähigkeit (bei all den Einsichten,<br />
die sie durch ihren Zugang zu nichtrationalen Sphären auch hatten)<br />
doch noch sehr eingeschränkt war – als uraltes Wissen zu verkaufen, das der<br />
heutigen Zeit weit voraus sei. Befürworter und Kritiker dieser Strömungen<br />
vermischen munter Transpersonalität und Aberglaube: in <strong>Buch</strong>handlungen,<br />
Fernsehsendungen und Bundestagsausschüssen. In Mißinterpretation historischer<br />
Erkenntnisse träumen verschiedene Vertreter der Tiefenökologie sehnsuchtsvoll<br />
vom »Urkommunismus« in den frühen jagenden und Pflanzenbau<br />
betreibenden Stämmen, während einige Feministinnen am liebsten das<br />
Matriarchat einführen würden. So mancher Therapeut glaubt, daß die<br />
Rückkehr zum undifferenzierten Zustand der frühen Kindheit das wahre<br />
seelische Paradies eröffne und unsere Zivilisation eine häßliche Entgleisung<br />
sei. Und alle halten ihre Rückwärtsgewandheit für Fortschritt. 60<br />
59<br />
Wilber unterscheidet deutlich zwischen prärationalem Mythos und transrationaler<br />
Mystik.<br />
60<br />
ausführlich diskutiert in Wilber, 1996a, z.B. S. 205-219, 463-472 etc.<br />
gekürzte Onlineversion 53<br />
________________________________________________________________________________<br />
Für Wilber besteht der grundlegende Fehler all dieser »Retroromantiker« in<br />
ihrer selektiven Wahrnehmung. So sehr er ihre Beweggründe achtet, nämlich<br />
ihr Unbehagen gegenüber der pathologischen Dissoziation von Moderne<br />
und Postmoderne, so sehr kritisiert er ihre eingeschränkte Sicht: Ohne<br />
die Errungenschaften der heutigen Zeit zu würdigen – Demokratie, Pluralismus,<br />
Bürgerrechte, allgemeiner Wohlstand, wissenschaftliche Erkenntnisse,<br />
etc. – würden die Romantiker ihre negativen Auswüchse entweder mit<br />
den Errungenschaften früherer Epochen bzw. mit deren idealisierter Undifferenziertheit<br />
vergleichen. Die Unvollkommenheiten und Probleme früherer<br />
Gesellschaften wie bsw. Gruppenegozentrik, absolutistische Regierungsformen,<br />
Sklaverei, Menschenopfer und die Unterdrückung der Frau (was durch<br />
die jeweiligen Religionen moralisch gerechtfertigt wurde), sowie unsägliche<br />
gesundheitliche Zustände, primitive Produktionsbedingungen, mangelndes<br />
ökologisches Bewußtsein, u.v.a.m. – die durch die Moderne bzw. die beginnende<br />
Postmoderne zum großen Teil gelöst oder zumindest bewußt<br />
wurden – würden dabei wohlweislich übersehen. 61 Und auch der romantische<br />
Psychologe hätte nicht verstanden, daß die Seligkeit des Kleinkindes<br />
nicht aus der All-Einheit mit seiner Umwelt käme, sondern daß es aufgrund<br />
der noch nicht entwickelten kognitiven Fähigkeiten lediglich außerstande<br />
sei, seine völlige Entfremdung, seine Getrenntheit und Abhängigkeit vom<br />
Kósmos sowie seine Sterblichkeit auch nur ansatzweise wahrzunehmen. 62<br />
Für Wilber entsteht Zukunft grundsätzlich durch emergente Selbsttranszendenz<br />
aus der Gegenwart und niemals durch Regression in die Vergangenheit,<br />
wie Romantiker verschiedener Couleur es wünschen – weder zu einer<br />
mythischen Religion, noch zu einer prähistorischen Produktionsweise, noch<br />
zu einer frühkindlichen Bewußtseinsebene. Jede Ebene generiert ihre eigenen<br />
Probleme, die sich immer erst auf der nächsthöheren lösen lassen – Regression<br />
auf eine flachere Ebene führt lediglich zur Problemvermeidung,<br />
nicht zur Lösung. 63 Daher hält er die Ablehnung romantischer Irrungen, weil<br />
sie vor allem auf der prärationalen Unfähigkeit einer differenzierten Wahr-<br />
61<br />
vgl. Wilber, 1999b, S. 66-69, 127-134<br />
62<br />
vgl. Wilber, 1996a, S. 820-826<br />
63<br />
vgl. Wilber, 2001a, S. 165 ff, 271 ff; Wilber, 1999b, S. 133 f