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Buch - Integrale Psychotherapie

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96 W. M. Weinreich: <strong>Integrale</strong> <strong>Psychotherapie</strong><br />

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seits auch deutliche Unterschiede gibt. 152 Wilber zufolge ist das allen<br />

gemeinsame Element, daß das tiefer-psychische Selbst (Seele) die Persönlichkeit<br />

dominiert und das frontale Selbst (ICH) nur eine untergeordnete<br />

Rolle spielt bzw. (noch) nicht vorhanden ist. Die psychotische Erkrankung<br />

hebt sich aber dadurch ab, daß es aufgrund der traumatischen<br />

Erfahrungen und der oben beschriebenen Versuche, diese zu bewältigen,<br />

zusätzlich zu einer Deformierung der Ebene kommt. Das schließt<br />

nicht aus, daß sich einzelne Persönlichkeitsbereiche durchaus normal<br />

weiterentwickeln bzw. dem durchschnittlichen Stand der sozialen Umwelt<br />

entsprechen und damit die Persönlichkeit noch zerrissener erscheinen<br />

lassen.<br />

Der Streit um die Ursachen solcher Entwicklungen hält bis heute unvermindert<br />

an. Dörner beschreibt detailliert, wie psychische Krankheiten<br />

im Zuge der Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Weltbildes<br />

auf somatische Ursachen eingegrenzt wurden: „Geisteskrankheiten sind<br />

Gehirnkrankheiten!“. Damit wurde die Psychiatrie Domäne der Medizin<br />

und alle ätiologisch unklaren Psychosen erhielten das Etikett »endogen«<br />

als Hinweis darauf, daß auch sie letztendlich auf körperliche Ursachen<br />

zurückzuführen seien, die man eines Tages werde nachweisen<br />

können. 153 Derzeit werden von medizinischen Kreisen die größten<br />

Hoffnungen auf die Neurowissenschaften gesetzt, die detailliert wie nie<br />

die Korrelation von Gehirn und Bewußtseinsfunktionen beschreiben,<br />

aber in Bezug auf die Ursachen gleichfalls auf die Zukunft vertrösten.<br />

Andererseits gibt es viele Vertreter z.B. der dynamischen Psychiatrie und<br />

der gemeindenahen Sozialpsychiatrie, die diese These ablehnen. Sie gestehen<br />

solcherart erkrankten Menschen sehr wohl eine somatische Vulnerabilität<br />

zu, glauben aber nicht daran, daß man ähnlich wie beim<br />

Downsyndrom eines Tages z.B. ein Psychose-Gen finden wird. Statt<br />

dessen sehen sie die Ursachen viel eher im Zusammenspiel eines biop<br />

s y cho- s oz i a l en F a k t or enk om pl ex e s . E i ne r de r F a k t or en k önnt e bs w. ei ne<br />

pathologische soziale Umwelt sein, die in Form extremer Vernachlässi-<br />

152<br />

vgl. Sechehaye, S. 191 ff, 218-223<br />

153<br />

vgl. Dörner & Plog, 1988, S. 470 ff<br />

gekürzte Onlineversion 97<br />

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gung und Feindseligkeit durch die Mutter bzw. totaler Vereinnahmung<br />

oder pathologischer Symbiose 154 dazu führt, daß existentielle Grundbedürfnisse<br />

des Babys nicht befriedigt werden, was wiederum eine Stagnation<br />

der Selbstentwicklung in frühester Zeit hervorrufen kann. Natürlich<br />

können auch Traumata in Form einschneidender Lebensereignisse<br />

verhindern, daß das Kind beginnt, sich von der Umwelt zu differenzieren<br />

und die Ansätze eines ICHs zu entwickeln bzw. daß es aus Gründen<br />

des Selbstschutzes wieder in einen undifferenzierten Zustand regrediert.<br />

155 Da im allgemeinen nicht die gesamte Persönlichkeit betroffen<br />

ist, entwickeln sich die anderen Bereiche weiter. 156 Auch wenn sich die<br />

Entwicklungsstörung oft schon im Kindesalter durch psychische Auffälligkeiten<br />

ausdrückt, kommt sie gemeinhin erst im Jugend- oder frühen<br />

Erwachsenenalter zum Ausbruch, wenn durch ein auslösendes Ereignis<br />

das sensible Verhältnis zwischen stagnierten und normal entwickelten<br />

Selbstanteilen kollabiert. Da der psychotisch Erkrankte lediglich seine<br />

Selbstidentifikation auf eine sehr frühe Entwicklungsebene verlagert, ist<br />

es möglich, daß er in Bereichen, die nicht mit seinem Trauma assoziiert<br />

sind und daher keine emotionale Ladung haben, durchaus auch weiterhin<br />

seinem Alter angemessen auf die Realität reagiert. 157 Neben den innerpsychischen<br />

Spannungen spielt im äußeren Quadranten sicher auch<br />

die Erwartungshaltung seiner Mitmenschen an den inzwischen »Erwachsenen«<br />

eine Rolle – Erwartungen, die der Betroffene aufgrund der stagnierten<br />

bzw. deformierten Selbstentwicklung nicht erfüllen kann. Während<br />

er bisher noch »So-Tun-Als-Ob« konnte, kann er die sozialen Ansprüche,<br />

die er als Druck erlebt, nun nicht mehr kompensieren. Vor<br />

diesem Hintergrund ist die psychotische Episode auch als ein Versuch<br />

der Selbstheilung zu betrachten, um die stagnierten Selbstlinien durch<br />

154<br />

Feindseligkeit und Vereinnahmung können natürlich in Form der Doppelbindung<br />

(Double Bind) auch zusammen auftreten.<br />

155<br />

Urban sieht in der Entstehung von Psychosen starke Parallelen zur posttraumatischen<br />

Belastungsstörung. (vgl. Urban, 2000, S. 405 f)<br />

156<br />

vgl. Wilber, 1997b, S. 204, 211 ff<br />

157 vgl. z.B. Sechehaye, 1992, S. 192

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