Buch - Integrale Psychotherapie
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100 W. M. Weinreich: <strong>Integrale</strong> <strong>Psychotherapie</strong><br />
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oder verleugnet. Weitere Abwehrmechanismen auf dieser Ebene sind<br />
Idealisierung und Ausagieren. 167 Es ist anzunehmen, daß diese Störung<br />
insbesondere aus einer Überbehütung und Vereinnahmung des Kindes<br />
durch die Mutter erwachsen kann, wodurch eine pathologische Symbiose<br />
entsteht, doch sind auch andere pathogene Einflüsse möglich.<br />
Als zweite Möglichkeit hat der Differenzierungsprozeß begonnen, ist<br />
aber nicht beendet und integriert worden. In diesem Falle kommt es zu<br />
einer Dissoziation, die sich als Borderline-Störung äußert: andere Menschen<br />
durchbrechen ständig die Grenzen des äußerst fragilen ICHs. Da<br />
der Betroffene noch nicht über höhere Abwehrmechanismen verfügt,<br />
muß er auf primitive Formen wie Leugnung, Abspaltung, Projektion und<br />
Introjektion zurückgreifen – zu Abwehrleistungen wie Verdrängung ist<br />
dieses rudimentäre Selbst noch nicht fähig. Die Unfähigkeit, bei sich<br />
selbst und anderen sowohl positive als auch negative Eigenschaften<br />
gleichzeitig zu akzeptieren, führt zu der typischen Spaltung von sich<br />
selbst in ein hilfloses, »braves« und in ein »böses« Partialselbst. Gleicherweise<br />
wird die Welt in korrespondierende »vollkommen gute« und<br />
»vollkommen schlechte« Objekte eingeteilt, um ein möglichst sauberes<br />
Schwarz-Weiß-Bild zu erhalten. Zwischen diesen Polen schwankt der<br />
Borderliner in Willfährigkeit oder Rachsucht beständig hin und her. 168<br />
Die Ursachen für solche Reaktionen können am ehesten in einem ablehnenden<br />
oder ambivalenten Verhalten der Bezugspersonen gefunden<br />
werden – bei gleichzeitiger Sehnsucht des Kindes nach stabiler emotionaler<br />
Nähe. Weiterhin können auch traumatische Einzelerlebnisse für<br />
die Auslösung einer Borderline-Störung infrage kommen. Aufgrund der<br />
präverbalen Speicherung von Erfahrungen in dieser und früheren Entwicklungsphasen<br />
läuft jedoch eine mentale Rekonstruktion von Ereignissen<br />
immer Gefahr, eine Pseudoerinnerung zu sein, so daß sich lediglich<br />
die emotionale Wirkung einigermaßen zweifelsfrei nachweisen läßt.<br />
Kernberg verwendet an verschiedenen Stellen Borderline als Synonym<br />
für Persönlichkeitsstörungen allgemein, oftmals in Verbindung mit ver-<br />
167<br />
vgl. Wilber et al, 1988, S. 118 ff<br />
168<br />
v g l . Wi l be r , 1996a , S. 661; W i l ber , 1997b, S . 219; Wi l be r et al , 1988, S . 101, 120<br />
gekürzte Onlineversion 101<br />
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schiedenen Suchterkrankungen. 169 Aufgrund der hohen Komorbidität<br />
verschiedener spezifischer Einzelstörungen (Sucht, Esstörungen, Angst,<br />
Depression etc.) mit den Persönlichkeitsstörungen 170 stellt sich die Frage,<br />
ob diese nicht die Ausdrucksart der gleichen Störungsebene in den verschiedenen<br />
Quadranten / Linien sind. So könnte sich eine Persönlichkeitsstörung<br />
u.a. sozial als emotionale Instabilität (Borderline), emotional<br />
als depressive Symptome und körperlich als Eßstörung äußern.<br />
U m Pe r s önl i c hk e i t s s t ör ung en deut l i ch von and er en St ör ung s e be nen a b-<br />
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hei t s ei ns i cht (i c h- s ynt on) 171 sowi e da d ur c h, da ß si e g l e i c he r m a ße n di e g e -<br />
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nehm e n und d a dur c h zu ei ner K r a nk hei t s ei ns i cht g el a ng en.<br />
DREHPUNKT 3: Entstehung des mental-begrifflichen Selbst (Selbst-Konzept)<br />
Auf der kognitiven Entwicklungslinie hat das Kind in den letzten 3 Jahren<br />
gelernt, mit der inneren Repräsentation der Welt in Form von Bil-<br />
169<br />
z.B. Kernberg, 1988, S. 38; Wilber et al, 1988, S. 111; Für Freyberger et al<br />
(2002, S. 79, S. 186) ist stofflicher Mißbrauch überwiegend eine Folge der Persönlichkeitsstörungen,<br />
Casriel sieht es umgekehrt: dissoziales Verhalten ist für ihn<br />
Folge von Beschaffungskriminalität und Verheimlichungszwang (vgl. Casriel,<br />
1995, S. 49, 152).<br />
170<br />
vgl. z.B. Reinecker, 1998, S. 265<br />
171 vgl. Reinecker, 1998, S. 252, S. 256 f