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Krise und Illusion. Zur Philosophie der ... - Roger Behrens

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<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 1<br />

<strong>Roger</strong> <strong>Behrens</strong><br />

K r i s e u n d I l l u s i o n<br />

Z u r P h i l o s o p h i e d e r<br />

M a s s e n k u l t u r<br />

C h a r a k t e r i s t i k d e r<br />

M a s s e n k u l t u r<br />

»Es ist unwi<strong>der</strong>sprechlich: es mangeln <strong>der</strong> Massakultur unsers<br />

Geschlechts <strong>und</strong> <strong>der</strong> einzig möglichen Massabehandlung <strong>der</strong>selben<br />

wesentliche F<strong>und</strong>amente, <strong>der</strong>en festes, gesichertes Dasein die<br />

Individualkultur desselben wesentlich anspricht <strong>und</strong> ansprechen muss.<br />

– Mehr noch: Sie, die Massakultur unsers Geschlechts, ruht als solche<br />

wesentlich auf F<strong>und</strong>amenten, die den Ansprüchen unserer<br />

Individualkultur unwi<strong>der</strong>sprechlich entgegenstehen. Die Massakultur<br />

<strong>und</strong> mit ihr die wesentlichen Formen <strong>und</strong> Gestaltungen des<br />

gesellschaftlichen Zustands gehen unwi<strong>der</strong>sprüchlich überwiegend von<br />

den Ansprüchen unsers Fleisch <strong>und</strong> Blutes aus.« 1 Diese Sätze des<br />

Bildungstheoretikers Johann Heinrich Pestalozzi von 1823 gehören zu<br />

den ersten Zeugnissen, in denen von Massenkultur die Rede ist. Seine<br />

Sorge über Mangel <strong>und</strong> Mängel <strong>der</strong> Massenkultur akzentuiert bereits<br />

das für das Bürgertum des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts symptomatische Verhältnis<br />

zur Kultur: Die Massenkultur sei in ihrer Entwicklung <strong>und</strong> Wirkung<br />

von einer höheren Kultur gr<strong>und</strong>sätzlich zu unterscheiden; die<br />

Massenkultur bedeute eine Gefahr für die höhere Kultur, habe ihren<br />

Ursprung in nie<strong>der</strong>en Trieben <strong>und</strong> Bedürfnissen, <strong>und</strong> führe kaum zur<br />

Verbesserung des Menschen.<br />

1 Johann Heinrich Pestalozzi, Figuren zu meinem ABC-Buch, in: Ders.,<br />

Auswahl aus seinen Schriften, hg. von A. Brühlmeier, Bd. 1, Bern u. Stuttgart 1977,<br />

S. 286.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 2<br />

Pestalozzi kannte die Massen <strong>und</strong> das durch sie geprägte Alltagsleben in<br />

den Großstädten noch nicht. Erst die nachfolgenden Jahrzehnte zeigten<br />

die Auswirkungen <strong>der</strong> Industrialisierung Europas; die technischen<br />

Voraussetzungen für die heute geläufigen Formen <strong>der</strong> Massenkultur, die<br />

Fotografie, die Massendruckverfahren, schließlich R<strong>und</strong>funk <strong>und</strong> Film,<br />

wurden erst in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts geschaffen.<br />

Der Fortschritt <strong>der</strong> Massenkultur ist von <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />

Hochkultur kaum zu trennen; von den technischen Errungenschaften<br />

<strong>und</strong> von <strong>der</strong> Verlängerung des kulturellen Lebens in den Alltag<br />

profitierte auch <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e die Hochkultur. Jürgen Habermas hat<br />

in ›Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit‹ auf die Funktion <strong>der</strong> Kulturkritik<br />

verwiesen, die sich in einer Reihe von Journalen <strong>und</strong> Magazinen als<br />

bürgerliche Öffentlichkeit etablierte. 2 Die Musik, die in ihrer<br />

sinfonischen Form wie den romantischen Opern das bürgerliche<br />

kulturelle Ideal schlechthin repräsentierte, wurde in den neu gebauten<br />

Konzerthäusern in überwältigenden Instrumentierungen einem<br />

Massenpublikum dargeboten (1876 finden erstmals die Bayreuther<br />

Festspiele statt, 1883 wird die Metropolitan Opera in New York eröffnet),<br />

die großen Sinfonieorchester schließen sich zusammen (1842 die Wiener<br />

Philharmoniker, 1882 die Berliner Philharmoniker). Freilich zeitigt die<br />

Massenkultur auch die bürgerlichen Künste. Die kontemplative<br />

Beschäftigung mit Kunst, die Versenkung ins Werk, wird zunehmend<br />

durch die Unterhaltung <strong>und</strong> das Amüsement verdrängt, das Publikum<br />

wandelt sich »vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden«<br />

(Habermas). Das bringt Kunst ungewollt in die Nähe zu an<strong>der</strong>en,<br />

»trivialen« Formen <strong>der</strong> Unterhaltung; umgekehrt werden unterhaltsame<br />

Veranstaltungen zur Kunst aufgewertet – ein gutes Beispiel für solche<br />

Wechselwirkungen bis hin zur Parodie ist die Operette des ausgehenden<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts, die Siegfried Kracauer eindrucksvoll in seinem Buch<br />

›Jacques Offenbach <strong>und</strong> das Paris seiner Zeit‹ beschrieben hat: »War<br />

diese Zeit nicht eher günstig für Offenbach? Jedenfalls schien durch die<br />

in ihr herrschende Lageweile, von <strong>der</strong> geplagt die bürgerliche<br />

Gesellschaft eine heiter gekräuselte Oberfläche begehrte, die Operette<br />

2 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit, Neuwied <strong>und</strong><br />

Berlin 1962.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 3<br />

geradezu gefor<strong>der</strong>t zu werden … Immerhin nutzte Offenbach jenen<br />

flüchtigen Augenblick zur Komposition seiner ersten selbständigen<br />

Parodie aus <strong>und</strong> entwickelte so doch ein wesentliches Element <strong>der</strong><br />

Operette … Das Pathos <strong>der</strong> Originalmusik wurde durch eingestreute<br />

Gassenhauer <strong>und</strong> Volkslie<strong>der</strong> desavouiert.« 3<br />

Ein Theater-, Museums- o<strong>der</strong> Konzertbesuch dient nur vor<strong>der</strong>gründig<br />

dem Kunstgenuss; tatsächlich ist eine Oper ein kulturelles Ereignis, an<br />

dem eine große Öffentlichkeit Anteil nimmt. Welche Mode getragen<br />

wird, welche Berühmtheiten zum Publikum zählen, welche Starmusiker<br />

zu hören sind – Fragen, die zunehmend das ästhetische Urteil über<br />

Musik <strong>und</strong> ihre Interpretation verdrängen, o<strong>der</strong> auf journalistische<br />

Phrasen reduzieren. So haben sich die heute gebräuchlichen Kategorien,<br />

mit denen etwa <strong>der</strong> Musikjournalismus eine musikalische Darbietung<br />

beurteilt, im vorletzten Jahrh<strong>und</strong>ert herausgebildet: noch zu Beethovens<br />

Lebzeiten waren »Virtuosität«, »Einfall«, die Leidenschaft im Ausdruck<br />

nicht so entscheidend, wie dann zu Zeiten Paganinis; <strong>der</strong> Dirigent, zuvor<br />

eher eine Nebenfunktion in den weitaus kleineren Orchestern <strong>der</strong><br />

Klassik, wird nun zum Star, <strong>der</strong> sein (riesiges) Orchester wie eine Fabrik<br />

führt.<br />

In den großen Städten sorgt die Erfindung <strong>der</strong> Gasbeleuchtung dafür,<br />

dass sich das Leben auf <strong>der</strong> Straße bis weit in die Nacht hinein zieht;<br />

gesäumt sind die Straßen von Geschäften <strong>und</strong> Cafés, große Schaufenster<br />

präsentieren die Waren fast wie Kunstwerke. Edgar Allen Poe hat diesen<br />

Wandel des Straßenlebens in seiner Erzählung ›Der Mann in <strong>der</strong> Menge‹<br />

skizziert: »Diese Straße ist eine <strong>der</strong> Haupta<strong>der</strong>n <strong>der</strong> City; sie war den<br />

ganzen Tag über sehr belebt gewesen. Doch mit zunehmen<strong>der</strong><br />

Dunkelheit wuchs das Gedränge zusehends, <strong>und</strong> im aufflammenden<br />

Licht <strong>der</strong> Laternen sah man draußen die Menschenmenge in zwei<br />

dichten, endlosen Zügen an <strong>der</strong> Tür vorbeifluten. Ich hatte nie gerade<br />

um diese Abendst<strong>und</strong>e ein solches Bild erlebt, <strong>und</strong> die wogende See von<br />

Menschenköpfen bereitete mir eine ganz neue <strong>und</strong> köstliche Art von<br />

Aufregung. Mit <strong>der</strong> Zeit wurde ich gleichgültig gegen alles, was im<br />

3 Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach <strong>und</strong> das Paris seiner Zeit, Frankfurt am<br />

Main 1994, S. 101 f.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 4<br />

Restaurant vorging, <strong>und</strong> versank völlig in die Betrachtung <strong>der</strong> Straße.« 4<br />

In den Restaurants <strong>und</strong> Cafés spricht man über Mode, liest Zeitung,<br />

trinkt neumodische Getränke wie einen Kaffee, <strong>und</strong> beobachtet die<br />

an<strong>der</strong>en Gäste o<strong>der</strong> Passanten – noch heute sprechen wir in diesem<br />

Sinne von <strong>der</strong> Stadtteilkultur o<strong>der</strong> Kneipenkultur eines Stadtviertels.<br />

Keineswegs bezeichnet Massenkultur eine Kultur, die aus den Massen<br />

entspringt <strong>und</strong> von ihnen hervorgebracht wird; Massenkultur meint<br />

eher ein bestimmtes Rezeptionsverhalten, welches <strong>der</strong> Masse entspricht:<br />

Rezeption ist nicht mehr eine produktive Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den<br />

kulturellen Werken, eine Konzentration auf seine geistigen o<strong>der</strong><br />

sinnlichen Bedeutungsdimensionen, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> beiläufige Reiz, die<br />

Zerstreuung, die Sensation. Die Masse konsumiert Kultur, ebenso wie sie<br />

Waren konsumiert. Stärker als bisherige Kulturformen ist Massenkultur<br />

ökonomisch geprägt: sie kann industriell gefertigtes Massenprodukt sein<br />

(man denke an Bekleidungsmode, an kulturelle Alltagsgegenstände wie<br />

Besteck <strong>und</strong> Geschirr, o<strong>der</strong> an Taschenbücher). Der wirtschaftliche<br />

Aspekt ist nicht nur ein entscheiden<strong>der</strong> Faktor in <strong>der</strong> Herstellung <strong>und</strong><br />

beim Verkauf <strong>der</strong> kulturellen Produkte, son<strong>der</strong>n hat bereits Einfluss auf<br />

die Gestalt <strong>und</strong> Struktur <strong>der</strong> Kultur; dass die Kultur zur Ware wird,<br />

bedingt ihre »Kommerzialisierung« <strong>und</strong> »Vermarktung« gewissermaßen<br />

nur als Nebeneffekt, <strong>und</strong> meint vielmehr die warenlogische<br />

Durchdringung <strong>der</strong> Kultur: Massenkultur ist primär nicht authentisch,<br />

kunstvoll, fantasiereich, wi<strong>der</strong>ständig, kreativ <strong>und</strong> <strong>der</strong>gleichen, son<strong>der</strong>n<br />

– wie ihr ökonomischer Zwilling – verdinglichter Gegenstand,<br />

entfremdetes Produkt, sinnentleert, aber voller Rätsel <strong>und</strong> Mucken.<br />

Vermittels <strong>der</strong> Reklame vermag Massenkultur sich als sinnvoll,<br />

interessant, kreativ o<strong>der</strong> nützlich darzustellen. Tatsächlich ist ein<br />

Großteil <strong>der</strong> heutigen Medienkultur – bewusst o<strong>der</strong> versteckt –<br />

eingeglie<strong>der</strong>t in die Reklameindustrie, sei’s Werbung für einzelne<br />

Produkte sie’s Reklame für die Welt wie sie ist. Die Massenkultur zeigt<br />

schon im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert Berührungspunkte mit <strong>der</strong> politischen<br />

Propaganda <strong>und</strong> stellt einige <strong>der</strong> wichtigen Funktionsmechanismen<br />

4 Edgar Allen Poe, Der Mann in <strong>der</strong> Menge, in: Ders., Erzählungen, München<br />

1959, S. 124.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 5<br />

bereit, mit denen die Repräsentation politischer Macht operiert. Auch<br />

diese Aspekte markieren die Warenförmigkeit <strong>der</strong> Massenkultur; nach<br />

Theodor W. Adorno <strong>und</strong> Max Horkheimer entwickelt sich die<br />

Massenkultur zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts zur Kulturindustrie, die<br />

schließlich in Reklame mündet – <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> Information,<br />

wie die beiden Philosophen in ihrem Buch ›Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung‹ es<br />

darlegen: »Kultur ist eine paradoxe Ware. Sie steht so völlig unterm<br />

Tauschgesetz, dass sie nicht mehr getauscht wird; sie geht so blind im<br />

Gebrauch auf, dass man sie nicht mehr gebrauchen kann. Daher<br />

verschmilzt sie mit <strong>der</strong> Reklame.« 5 Indem die Kultur vollends zur Ware<br />

wird, ist auch <strong>der</strong> Fetischcharakter <strong>der</strong> Massenkultur mit dem<br />

»Fetischcharakter <strong>der</strong> Ware«, den Karl Marx beschrieben hat, zu<br />

übersetzen: Der Fetischcharakter <strong>der</strong> Massenkulturware besteht<br />

demnach darin, »dass sie den Menschen die gesellschaftlichen<br />

Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere <strong>der</strong><br />

Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser<br />

Dinge zurückspiegelt.« 6<br />

D i e M a s s e n k u l t u r i m<br />

2 0 . J a h r h u n d e r t<br />

Die Entwicklung <strong>der</strong> Massenkultur ist im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert noch von<br />

einigen Ungleichzeitigkeiten durchsetzt; das heißt, dass einige <strong>der</strong> neuen<br />

Inhalte noch in die alten kulturellen Formen gekleidet waren, o<strong>der</strong> neue<br />

Formen noch nicht ihren massenkulturell adäquaten Inhalt gef<strong>und</strong>en<br />

hatten. Eine Dialektik <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche bestimmt die Dynamik <strong>der</strong><br />

Kultur, welche die Ordnung <strong>der</strong> bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft<br />

gr<strong>und</strong>legend kennzeichnete. Diese <strong>Krise</strong>ndynamik drohte im Bereich <strong>der</strong><br />

Kultur in einer »Tragödie« zu münden, wie Georg Simmel es ausgehend<br />

von <strong>der</strong> Marxschen Kritik des Warenfetischismus ahnte: die<br />

5 Theodor. W. Adorno <strong>und</strong> Max Horkheimer, Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung.<br />

Philosophische Fragmente, in: Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt am<br />

Main 1997, S. 185.<br />

6 Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW Bd. 23, Berlin 1972, S. 86.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 6<br />

Massenkultur provoziert eine gr<strong>und</strong>legende Entzweiung zwischen dem<br />

Subjektiven <strong>und</strong> Objektiven, die kulturellen Formen passen nicht mehr<br />

mit den Inhalten zusammen, die Kultur besitzt »für ihre Inhalte keine<br />

konkrete Formeinheit« 7 mehr, die Produkte werden beliebig,<br />

austauschbar, <strong>und</strong> in ihrer Verwertung zugleich entwertet. Edm<strong>und</strong><br />

Husserl verdichtet diese Diagnose 1936 unter dem Titel ›Die Krisis <strong>der</strong><br />

europäischen Wissenschaften‹ zur phänomenologischen Kritik <strong>der</strong><br />

Sinnkrise <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen, verwissenschaftlichten Welt. Im selben Jahr<br />

veröffentlicht Walter Benjamin seinen Aufsatz ›Das Kunstwerk im<br />

Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹, den er gleichsam mit<br />

materialistischen Verweis auf diese <strong>Krise</strong>, die sich in <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong><br />

Kultur ausdrückt, beginnt: »Als Marx die Analyse <strong>der</strong> kapitalistischen<br />

Produktionsweise unternahm, war diese Produktionsweise in den<br />

Anfängen … Die Umwälzung des Überbaus, die langsamer als die des<br />

Unterbaus vor sich geht, hat mehr als ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert gebraucht,<br />

um auf allen Kulturgebieten die Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />

Produktionsbedingungen zur Geltung zu bringen. In welcher Gestalt<br />

das geschah, lässt sich erst heute feststellen.« 8<br />

Damit gibt Benjamin <strong>der</strong> bisherigen kulturkritischen <strong>und</strong> sogar<br />

kulturpessimistischen Einschätzung <strong>der</strong> Massenkultur, wie sie von<br />

Autoren von Friedrich Nietzsche 9 bis Ortega y Gasset 10 geprägt wurde,<br />

7 Georg Simmel, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter<br />

<strong>und</strong> die <strong>Krise</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, Berlin 1998, S. 218.<br />

8 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen<br />

Reproduzierbarkeit, in: Gesammelte Schriften Bd. I·2, Frankfurt am Main 1991, S.<br />

435.<br />

9 Leo Löwenthal nennt Nietzsche einen »unübertrefflichen Kritiker <strong>und</strong><br />

Analytiker <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Massenkultur, wenn nicht überhaupt ihr Entdecker.« In:<br />

Löwenthal, Literatur <strong>und</strong> Massenkultur, Schriften Bd. 1, Frankfurt am Main 1990, S.<br />

14.<br />

10 Vgl. José Ortega y Gasset, Der Aufstand <strong>der</strong> Massen, Reinbek bei Hamburg<br />

1964.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 7<br />

eine Wendung hin zu einer materialistischen Kulturphilosophie 11 . In den<br />

technischen Möglichkeiten von Fotografie, Film, R<strong>und</strong>funk <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong>gleichen erkennt Benjamin nicht nur eine Infragestellung <strong>der</strong><br />

bisherigen kulturellen <strong>und</strong> ästhetischen Kategorien, son<strong>der</strong>n auch die<br />

Gr<strong>und</strong>legung einer neuen Kunstproduktion <strong>und</strong> -reproduktion, die<br />

erstmals Bedingungen bietet, den Massen kulturell gerecht zu werden,<br />

indem sie ihnen neue Weisen <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>und</strong> des Verhaltens<br />

gestattet: Erstens vermögen die neuen Künste technisch viel einfacher<br />

die Inhalte <strong>der</strong> alten Künste zu übernehmen – Benjamin nennt als<br />

Beispiel die Filme Charlie Chaplins, die leicht aufgreifen, was <strong>der</strong><br />

Surrealismus noch mit den herkömmlichen Mitteln <strong>der</strong> Kunst mühsam<br />

umsetzte; zweitens destruieren die neuen Massenkünste den elitären<br />

Charakter <strong>der</strong> alten Kunst <strong>und</strong> ihrer Ästhetik – die gesellschaftliche<br />

Funktion von Kunst wird neu bestimmt <strong>und</strong> nicht mehr an ihren<br />

überkommenen Maßstäben wie Ewigkeits- o<strong>der</strong> Kultwert bemessen;<br />

drittens wird aus den neuen Kategorien, wie zum Beispiel dem<br />

Unterhaltungswert, eine politische Ästhetik begründbar, die das Recht<br />

des Menschen gegenüber dem Kunstwerk verteidigt; viertens vermag<br />

die Massenkultur durch ihre gänzlich an<strong>der</strong>s gelagerte Funktion <strong>und</strong><br />

Wirkung direkt zum Politischen zu werden, indem sie statt<br />

Kontemplation Schockmomente bei den zerstreut Rezipierenden freisetzt<br />

– die ästhetische Dimension verwandelt sich also in eine pädagogische, in<br />

Aufklärung. 12 Künstler wie Bertolt Brecht o<strong>der</strong> Hanns Eisler haben<br />

versucht, diese f<strong>und</strong>amental neuen Maßgaben in ihrer Kunst<br />

umzusetzen, indem sie Verfahren des Kontrastierens (statt Illustrierens),<br />

<strong>der</strong> Montage, des Gebrauchs, aber auch <strong>der</strong> Unterhaltung einsetzten.<br />

Benjamins kunsttheoretischen Begriffe, die »für die Zwecke des<br />

11 Vgl. meinen Aufsatz: Tragische Zeichen. Zum Materialismus <strong>der</strong><br />

symbolischen Formen – Konturen einer kritischen Kulturphilosophie, in: <strong>Roger</strong><br />

<strong>Behrens</strong>, Kai Kresse <strong>und</strong> Ronnie M. Peplow (Hg.), Symbolisches<br />

Kulturphilosophische Spurensuche, Hannover 2001 (im Erscheinen).<br />

Flanieren.<br />

12 Vgl. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen<br />

Reproduzierbarkeit, a.a.O., S. 444: Das Kunstwerk »wird zu einem Gebilde mit ganz<br />

neuen Funktionen, dessen uns bewusste, die ›künstlerische‹, man später<br />

gewissermaßen als eine rudimentäre erkennen wird.«


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 8<br />

Faschismus vollkommen unbrauchbar sein« sollten, 13 beschrieben<br />

allerdings nur das emanzipatorische Potential <strong>der</strong> Massenkultur – im<br />

Zeichen einer Kulturindustrie hatte sich die bestehende Gesellschaft<br />

bereits mit <strong>der</strong> Massenkultur angefre<strong>und</strong>et <strong>und</strong> gelernt, die – wie es<br />

Adorno <strong>und</strong> Horkheimer skizzierten – »Aufklärung als Massenbetrug«<br />

zu inszenieren. Gerade <strong>der</strong> Nationalsozialismus hatte schnell erkannt,<br />

welche Propagandamittel ihm mit <strong>der</strong> Massenkultur zur Verfügung<br />

stehen, <strong>und</strong> perfektionierte das System <strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Masse durch<br />

die Kultur. Der Tourismus, <strong>der</strong> Volkswagen, <strong>der</strong> Massenr<strong>und</strong>funk <strong>und</strong><br />

das Fernsehen sind in Nazideutschland entwickelt worden, auch wenn<br />

sie sich letztendlich erst in <strong>der</strong> demokratisch-liberalen Kultur <strong>der</strong><br />

Vereinigten Staaten durchsetzten.<br />

Die Massenkultur, die im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert noch von Ungleichzeitigkeiten<br />

<strong>und</strong> fantastischen technischen Fehlläufen durchsetzt war (zum Beispiel<br />

die Musikmaschinen wie das Orchestrion, o<strong>der</strong> die Stereoskopie),<br />

verwandelte sich in <strong>der</strong> Phase <strong>der</strong> Kulturindustrie in <strong>der</strong> ersten Hälfte<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in einen scheinbar wi<strong>der</strong>spruchslosen,<br />

allgegenwärtigen <strong>und</strong> unbezwingbaren Apparat – Adorno sprach von<br />

<strong>der</strong> »total verwalteten Welt«. Eine perfekte <strong>Illusion</strong>: »Die ganze Welt<br />

wird durch die Filter <strong>der</strong> Kulturindustrie geleitet … Je dichter <strong>und</strong><br />

lückenloser ihre Technik die empirischen Gegenstände verdoppeln, um<br />

so leichter gelingt heute die Täuschung, dass die Welt draußen die<br />

bruchlose Verlängerung <strong>der</strong>er sei, die man im Lichtspiel kennenlernt.<br />

Das Leben soll <strong>der</strong> Tendenz nach vom Tonfilm nicht mehr sich<br />

unterscheiden lassen.« 14 Leo Löwenthal erläutert ähnlich: »Das Radio,<br />

das Kino, die Zeitungen <strong>und</strong> Bestseller sind zugleich Vorbil<strong>der</strong> für den<br />

Lebensstil <strong>der</strong> Massen <strong>und</strong> Ausdruck ihres tatsächlichen Lebens.« 15 –<br />

Die Mechanismen dieser Kulturindustrie sind als Manipulation, Reklame,<br />

Information, Befehl, Stereotypen, Betrug <strong>und</strong> Amüsement beschrieben<br />

worden; in <strong>der</strong> Kulturindustrie ist alles ähnlich <strong>und</strong> zugleich<br />

13 Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,<br />

a.a.O., S. 435.<br />

14 Adorno <strong>und</strong> Horkheimer, Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung, a.a.O., S. 147.<br />

15 Leo Löwenthal, Literatur <strong>und</strong> Massenkultur, a.a.O., S. 23.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 9<br />

bedeutungslos. Wenn also, nach dem Wort Aby Warburgs, Kultur das<br />

kollektive Gedächtnis <strong>der</strong> Menschen ist, dann ist die Massenkultur im<br />

Stadium <strong>der</strong> Kulturindustrie das kollektive Vergessen. Sie ist Löwenthal<br />

»Psychoanalyse rückwärts«, durch die Kulturindustrie werden die<br />

Menschen »bei <strong>der</strong> Stange gehalten«, so <strong>der</strong> sozialpsychologische Bef<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> kritischen Theorie.<br />

Adorno <strong>und</strong> Horkheimer deuten die Kulturindustrie als Folge einer<br />

monopolitisch organisierten Ökonomie; die Kulturwaren sind Ausdruck<br />

<strong>der</strong> Konzentration von politischer Macht <strong>und</strong> Profit – gerade durch die<br />

Kulturindustrie stabilisiert sich die bestehende gesellschaftliche<br />

Ordnung. Diese Diagnose ist bereits für die Situation <strong>und</strong> Stufe <strong>der</strong><br />

Massenkultur in den Vierziger Jahren, als Adorno <strong>und</strong> Horkheimer die<br />

›Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung‹ verfassten, fragwürdig – zwar zeigt sich<br />

gerade im Hinblick auf die Massendemokratie, ebenso wie auf<br />

Stalinismus <strong>und</strong> vor allem Nationalsozialismus eine totalitäre<br />

Verschränkung von Politik, Ökonomie <strong>und</strong> Kultur, gleichwohl<br />

offenbaren sich auch hier die sozialen Wi<strong>der</strong>sprüche nur als notdürftig<br />

kaschiert. Die Kulturindustrie bezeugt nicht die Stabilität des Systems,<br />

son<strong>der</strong>n seine <strong>Krise</strong>, <strong>und</strong> jenseits <strong>der</strong> großen Monopole – die ohne<br />

Zweifel geradezu diktatorisch das Gesicht <strong>der</strong> Kultur bestimmen <strong>und</strong> den<br />

Profit einstreichen – finden sich kulturelle Subräume, Differenzierungen<br />

<strong>und</strong> Nischen einer heterogenen kulturellen Praxis des Alltags: man muss<br />

nicht gleich den Swing zur großen Kunst erklären, um zu erkennen, dass<br />

etwa die Swingjugend in Nazideutschland immerhin ein störendes<br />

Wi<strong>der</strong>standspotential bedeutete; man muss nicht Kenner des Jazz sein<br />

(<strong>und</strong> Adorno war gewiss kein Kenner), um im Bebop Ende <strong>der</strong> vierziger<br />

Jahre eine »urbane Guerilla« (Mike Davis) <strong>der</strong> kulturellen<br />

Selbstbehauptung <strong>der</strong> Afroamerikaner gegen das rassistische weiße<br />

Amerika zu hören.<br />

In <strong>der</strong> Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts ergeben sich zwei Perspektiven auf<br />

die Massenkultur, die sich nach Umberto Eco in zwei theoretischen<br />

Positionen nie<strong>der</strong>schlagen: Einerseits die »Apokalyptiker« – diejenigen,<br />

die in <strong>der</strong> Massenkultur bloß Sch<strong>und</strong> <strong>und</strong> Zerfall sehen –, an<strong>der</strong>erseits<br />

die »Integrierten« – also die Verteidiger, denen die Massenkultur<br />

demokratischer Fortschritt ist. Tatsächlich kann die Massenkultur, die


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 10<br />

von <strong>der</strong> Filmindustrie <strong>und</strong> den politisch gelenkten Medien verkörpert<br />

wird, als »Bewusstseinsindustrie« o<strong>der</strong> »communication industry« 16<br />

bezeichnet werden, durch die die Welt nur noch als »Phantom <strong>und</strong><br />

Matrize« 17 erscheint. An<strong>der</strong>erseits zeigt gerade diese »hegemoniale<br />

Kultur« (Antonio Gramsci) als Ausdruckszusammenhang einer sozialen<br />

Ordnung, die von f<strong>und</strong>amentalen Wi<strong>der</strong>sprüchen durchsetzt ist, selbst<br />

Anzeichen <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> gesellschaftlichen Spannungsverhältnisse.<br />

Soziale, individuelle <strong>und</strong> psychische Konflikte finden auch kulturell<br />

ihren Ausdruck in einem diffusen System von Symbolen, Codierungen<br />

<strong>und</strong> alltagskultureller Praxis.<br />

D i e k u l t u r p h i l o s o p h i s c h e<br />

u n d ä s t h e t i s c h e<br />

H e r a u s f o r d e r u n g<br />

d e r M a s s e n k u l t u r<br />

Herbert Marcuse interpretiert die Massenkultur als eine Zuspitzung <strong>der</strong><br />

Dialektik <strong>der</strong> Kultur: Die »negativen Aspekte unserer heutigen Kultur<br />

können durchaus ein Zeichen dafür sein, dass die geltenden<br />

Institutionen überaltet sind <strong>und</strong> neue Formen <strong>der</strong> Kultur sich<br />

herauszubilden beginnen: die Unterdrückung wird vielleicht um so<br />

nachdrücklicher geübt, je unnötiger sie wird … Stellt die<br />

Wechselbeziehung zwischen Freiheit <strong>und</strong> Unterdrückung, Produktivität<br />

<strong>und</strong> Zerstörung, Herrschaft <strong>und</strong> Fortschritt wirklich das Prinzip <strong>der</strong><br />

Kultur dar? O<strong>der</strong> resultiert dieser Wechselbezug nur aus einer<br />

spezifischen historischen Organisation des menschlichen Daseins? …<br />

Lässt dieser Konflikt die Vorstellung einer Kultur ohne Unterdrückung<br />

zu, die auf einer völlig an<strong>der</strong>sartigen Daseinserfahrung, auf einer völlig<br />

16 Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie,<br />

Frankfurt am Main 1969; Adorno spricht bereits in den dreißiger Jahren von <strong>der</strong><br />

»communication industry«, zum Beispiel im Aufsatz: Jazz, in: Gesammelte Schriften<br />

Bd. 18, a.a.O., S. 72.<br />

17 Vgl. Günther An<strong>der</strong>s, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im<br />

Zeitalter <strong>der</strong> zweiten industriellen Revolution, München 1987, S. 129 ff.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 11<br />

an<strong>der</strong>en Beziehung zwischen Mensch <strong>und</strong> Natur, auf völlig an<strong>der</strong>en<br />

existentiellen Beziehungen beruht?« 18 Innerhalb <strong>der</strong> bürgerlichen Kultur<br />

konnten sich die Kunstformen entwickeln, die diese, von Marcuse<br />

skizzierte emanzipatorische Dimension <strong>der</strong> Kultur eine ästhetische Gestalt<br />

verleihen; doch diese Künste sind zugleich isoliert – die künstlerische<br />

Avantgarde hat sich in eine Sackgasse fortbewegt; sie vermag nur noch<br />

innerhalb des bürgerlichen Kulturbetriebes ihre Idee vom Leben als<br />

Kunst durchzusetzen, <strong>und</strong> bleibt eingesperrt in den Museen. Die<br />

Massenkultur hingegen bot <strong>der</strong> Vorstellung einer neuen,<br />

lebenspraktischen <strong>und</strong> in diesem Sinne avantgardistischen Kultur neue<br />

Formen, aber noch keine Inhalte; was sich gerade bei den Jugendlichen<br />

als Rock ’n’ Roll o<strong>der</strong> im Jazz kristallisierte, war noch ohne Programm<br />

<strong>und</strong> konnte deshalb schnell von <strong>der</strong> Kulturindustrie absorbiert werden.<br />

– Erst als die Künste einen weiteren Ausbruchsversuch aus den<br />

institutionellen Zwängen unternahmen <strong>und</strong> offensiv sich <strong>der</strong> Mittel <strong>der</strong><br />

Massenkultur bedienten, kam es zu einem entscheidenden Bruch, o<strong>der</strong><br />

besser Aufhebungssprung in <strong>der</strong> Dialektik des kulturellen Prozesses.<br />

Ende <strong>der</strong> sechziger Jahre kann die »klassische« Phase, also die Phase <strong>der</strong><br />

Konsolidierung <strong>der</strong> Massenkultur als abgeschlossen betrachtet werden. 19<br />

Bis zu den siebziger Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts entsprach die<br />

Glie<strong>der</strong>ung von Massenkultur <strong>und</strong> Hochkultur noch weitgehend den<br />

sozialen Verhältnissen des Spätkapitalismus; Massenkultur sollte auf<br />

einfache Weise die Massen unterhalten, sie ohne Anstrengung auf den<br />

Alltag vorbereiten, während die Hochkultur das künstlerische Reservat<br />

für Utopie <strong>und</strong> emanzipatorische Ästhetik blieb. Das än<strong>der</strong>te sich mit <strong>der</strong><br />

Pop-Art: Künstler wie Andy Warhol, Robert Rauschenberg o<strong>der</strong> Roy<br />

Lichtenstein griffen Konzepte <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>und</strong> Avantgarde auf – wie<br />

etwa die Montage, das F<strong>und</strong>stück – <strong>und</strong> verbanden dies mit den<br />

Symbolen <strong>und</strong> Objekten <strong>der</strong> Massenkultur. Wenn die Kulturindustrie<br />

die Kunst zur Ware macht, dann muss jetzt die Ware zur Kunst<br />

verwandelt werden: Warhol malte Suppendosen <strong>und</strong> stellte<br />

18 Marcuse, Triebstruktur <strong>und</strong> Gesellschaft, Frankfurt am Main 1968, S. 10 f.<br />

19 Vgl. dazu: Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg <strong>der</strong><br />

Massenkultur 1850-1970, Frankfurt am Main 1997, S. 265 ff.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 12<br />

Waschmittelpackungen ins Museum. Mit ähnliche Strategien hat es auch<br />

in den an<strong>der</strong>en Künsten Annäherungen zwischen Massenkultur <strong>und</strong><br />

Hochkultur gegeben, übrigens in Formformen schon im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

– so wie die Operette Volkslie<strong>der</strong> verwendete, so griff die Jazzmusik<br />

klassische Themen auf, die Neue Musik verwendete synthetische<br />

Klangerzeugung o<strong>der</strong> das Radio in <strong>der</strong> Komposition. In <strong>der</strong> Literatur<br />

ließen sich die Beat-Poeten vom Jazz <strong>und</strong> vom Großstadtleben<br />

inspirieren. Zugleich verfeinerte sich zu Beginn <strong>der</strong> siebziger Jahre die<br />

Technik – das Farbfernsehen verbreitet sich, die Videotechnik wird<br />

entwickelt; in <strong>der</strong> Musik etablierte sich neben <strong>der</strong> Langspielplatte nun<br />

die Musikkassette (1965 eingeführt), die Studiotechnik – etwa die<br />

Aufnahmequalität – wird verbessert, Musiksynthesizer werden<br />

zunehmend eingesetzt. Auch die Kultur steht schon an <strong>der</strong> Schwelle zur<br />

digitalen Revolution, zur Mikroeletronik <strong>und</strong> Computertechnologie.<br />

Der Abschluss <strong>der</strong> klassischen Phase <strong>der</strong> Massenkultur ist sozial durch<br />

einen Prozess <strong>der</strong> Ausdifferenzierung gekennzeichnet: Die einheitliche<br />

Masse <strong>der</strong> Konsumenten löst sich in Teilgruppen auf, es entstehen<br />

vielfältige Jugendkulturen <strong>und</strong> für manche Segmente <strong>der</strong> neuen<br />

Massenkultur ist ein regelrechtes Expertenwissen gefor<strong>der</strong>t. In diesem<br />

Sinne spricht Arnold Hauser vom Aufbruch einer »vierten<br />

Bildungsschicht«, die in ihrem Bildungsniveau quer sowohl zur<br />

unterprivilegierten Masse wie auch zur Bildungselite steht, auffällig<br />

durch eine rebellische, die tradierten Werte ablehnende Haltung. 20<br />

Auch wenn die Kultur insgesamt einen ökonomisch von wenigen<br />

Konzernen verwalteten Apparat darstellt, haben sich »alternative<br />

Rezeptionsformen« herausgebildet, die immer wie<strong>der</strong> neue Formen <strong>und</strong><br />

Genre- o<strong>der</strong> Stilentwicklungen <strong>der</strong> Massenkultur hervorrufen. Der<br />

Kulturindustrie steht eine Alltagskultur gegenüber, <strong>der</strong> für Momente<br />

eine kulturelle Praxis gelingen kann, die mit Diktionen <strong>der</strong> verwalteten<br />

Massenkultur bricht; gleichwohl reproduziert die Alltagskultur die<br />

bestehenden Strukturen, erfüllt auch die strategischen Angebote <strong>der</strong><br />

Massenkultur, sich mit den Verhältnissen, wie sie sind, abzufinden.<br />

Diese Dialektik des Alltags stand im Mittelpunkt <strong>der</strong> Untersuchungen<br />

20 Vgl. Arnold Hauser, Soziologie <strong>der</strong> Kunst, München 1983, S. 684 ff.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 13<br />

von Henri Lefebvre, Agnes Heller <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en. 21 Ähnlich haben die<br />

Cultural Studies für die verschiedenen ›Lesarten des Populären‹ 22 im<br />

Sinne einer textuellen Struktur- <strong>und</strong> Erfahrungsanalyse <strong>der</strong> Massen<strong>und</strong><br />

Alltagskultur plädiert. Ausgehend von den ethnologischen Studien<br />

Claude Levi-Strauss sehen sie insbeson<strong>der</strong>e bei den Jugendlichen ein<br />

kreatives Potential, die vorgegebenen kulturellen Formen für ihre<br />

Zwecke neu zu gruppieren <strong>und</strong> zu montieren – ihre Technik <strong>der</strong><br />

›bricolage‹, das produktive Stil-Basteln, schafft Unabhängigkeit von den<br />

vorgegebenen Stereotypen <strong>der</strong> Kulturindustrie. 23 Autoren wie John<br />

Fiske sehen zum Beispiel im Einkaufen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Teilnahme an<br />

Quizsendungen gr<strong>und</strong>sätzlich eine Wi<strong>der</strong>standspraxis; in den neunziger<br />

Jahren wurde solche Deutungen im Zuge <strong>der</strong> Technomusik <strong>und</strong> ihrer<br />

Massenveranstaltungen (Love Parade) für das Tanzen wie<strong>der</strong>holt –<br />

wogegen sich allerdings dieser Wi<strong>der</strong>stand effektiv richtet <strong>und</strong> welches<br />

emanzipatorische Potential konkret beim Einkaufen o<strong>der</strong> Tanzen<br />

freigesetzt wird, wird von den Autoren lei<strong>der</strong> nicht beantwortet. 24<br />

21 Vgl. Henri Lefebvre, Kritik des Alltagslebens. Gr<strong>und</strong>risse einer Soziologie <strong>der</strong><br />

Alltäglichkeit, Frankfurt am Main 1987; Agnes Heller, Das Alltagsleben. Versuch<br />

einer Erklärung <strong>der</strong> individuellen Reproduktion, Frankfurt am Main 1981.<br />

22 So <strong>der</strong> Buchtitel einer Aufsatzsammlung von John Fiske. Lesarten des<br />

Populären, Wien 2000; Original: Reading the Popular, Bosten 1989.<br />

23 Vgl. dazu: John Clarke, Stil, in: <strong>der</strong>s., Phil Cohen, Paul Corrigan et al.,<br />

Jugendkultur als Wi<strong>der</strong>stand. Milieus, Rituale, Provokation, Frankfurt am Main<br />

1981, S. 138.<br />

24 Es bleibt meist bei vagen Phrasen wie etwa <strong>der</strong>, dass <strong>der</strong> Körper befreit<br />

werde. Vgl. neben Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 26 ff., vor allem: Gabriele<br />

Klein, Electronic Vibrations. Pop Kultur Theorie, Hamburg 1999. Sowie meine Kritik:<br />

Shoppen <strong>und</strong> Tanzen. Gegen den Technoremix <strong>der</strong> Cultural Studies, in: testcard Nr.<br />

11 (im Erscheinen).


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 14<br />

D i e P o p k u l t u r , d a s E n d e d e r<br />

M a s s e n k u l t u r , d i e K r i s e<br />

Die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts sind kulturell vom Pop<br />

bestimmt. Zu Beginn <strong>der</strong> siebziger Jahre ist die Massenkultur von<br />

Publikumsmassen geprägt, die immer größer werden, aber nicht länger<br />

eine ideale Gesamtkultur repräsentieren. Das Woodstock-Festival von<br />

1969, an dem eine halbe Millionen Menschen teilnahmen, ist zwar zum<br />

kulturellen Symbol einer Generation geworden, prägte aber doch nur ein<br />

spezifisches Segment <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Kultur; Ähnliches gilt auch für<br />

beliebte Reiseziele des Massentourismus – exemplarisch Mallorca –, o<strong>der</strong><br />

für große Sportereignisse: die teilnehmenden Massen sind lediglich<br />

ausschnitthafte, wenn auch riesige Teilgruppen. Popkultur bedeutet eine<br />

Ausdifferenzierung <strong>der</strong> Massen- <strong>und</strong> Alltagskultur, <strong>und</strong> auch die<br />

Grenzen zur Hochkultur sind längst fließend, wenn nicht sogar<br />

aufgehoben. Die Popkultur, <strong>der</strong>en ökonomische Formation die bisherige<br />

Kulturindustrie ausmacht, ist zudem durch ein hohes alltagspraktisches<br />

Moment charakterisiert: Pop ist die erste Kultur, die wirklich gelebt<br />

wird, die vollständig den Alltag durchdrungen hat – Radio <strong>und</strong><br />

Fernseher laufen den ganzen Tag, an den Popstars orientiert man sich als<br />

Fan o<strong>der</strong> als Konsument <strong>und</strong> hält sie sich gleichzeitig nahbar; vor allem<br />

durch die Mode, wovon jedes Genre <strong>der</strong> Popkultur seine eigene<br />

beansprucht, verschmilzen Reklame, Kultur <strong>und</strong> Leben. Solche<br />

Verdinglichung des Bewusstseins, die in <strong>der</strong> ökonomischen Sphäre<br />

erzeugt <strong>und</strong> nun in <strong>der</strong> Reproduktionssphäre festgesetzt wird, ist<br />

geschichtlich im Gesamtentwurf <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft verankert,<br />

kein Resultat <strong>der</strong> Popkultur. Insofern behält die Popkultur auch den<br />

Ausdruck <strong>der</strong> <strong>Krise</strong>, ist selbst eine Stufe ihrer Logik.<br />

Gleichzeitig haben sich im Zuge <strong>der</strong> Ausdifferenzierung einer vielfältigen<br />

Popkultur auch sogenannte Subkulturen etabliert, die eine<br />

wi<strong>der</strong>ständige <strong>und</strong> rebellische Kultur vor allem in den Künsten <strong>und</strong><br />

Lebensstilen <strong>der</strong> Jugendkulturen behaupten: Pop meint in diesem Sinne<br />

keineswegs »populär«, son<strong>der</strong>n knüpft an die künstlerische Bedeutung<br />

<strong>der</strong> Pop-Art an, bestehende Strukturen aufzubrechen <strong>und</strong> zu irritieren<br />

(›pop‹ = platzen). In den Künsten <strong>der</strong> Popkultur gelang es schließlich,<br />

eine neue Formsprache zu entwickeln, die den technischen wie sozialen<br />

Bedingungen angemessen ist: so hat sich beispielsweise <strong>der</strong><br />

Schallplattenspieler zum eigenständigen Musikinstrument entwickelt; die


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 15<br />

avantgardistische Technik <strong>der</strong> Montage <strong>und</strong> Collage wird durch<br />

Verfahren wie Samplen, Sequenzen <strong>und</strong> Loopen in eine neue<br />

Kunstsprache übersetzt. Dabei vermag die Popkunst auch die tradierte<br />

Symbolik <strong>der</strong> alten Künste in gänzlich neue Konstellation zu bringen,<br />

neu zu codieren, o<strong>der</strong> allegorische Sinnschichten freizulegen. Schon in<br />

den siebziger Jahren hat die Rockmusik »klassische« Musik verarbeitet,<br />

zum Teil auch ironisch; die sogenannte Camp-Strategie, 25 die popkultrelle<br />

Adaption von Kitsch o<strong>der</strong> Verpöntem, stellt ein städniges Wechselspiel<br />

von Häßlichem <strong>und</strong> Schönem dar. Die permanente Umwertung wwird<br />

bewusst als Provokation jenes Teils <strong>der</strong> Popkultur eingesetzt, <strong>der</strong> sich<br />

zum ›Mainstream‹ verdichtet hat. Der Mainstream ist die populäre<br />

Kultur, die in Anschluss an die kulturelle Hegemonie den Pop zugleich<br />

kanonisiert <strong>und</strong> historisiert. Dieser Konflikt, <strong>der</strong> mitunter sogar zum<br />

sozialen Konflikt werden kann, wie es in <strong>der</strong> anarchischen<br />

Punkbewegung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> von Homosexuellen politisierten Discomusik<br />

Ende <strong>der</strong> Siebziger <strong>der</strong> Fall war.<br />

Bewerkenswert ist das daraus resultuierende Verhältnis zur Zeit; da<br />

sowohl die subversive Popkultur wie auch <strong>der</strong> Mainstream ihren<br />

Rhythmus nach <strong>der</strong> Mode bestimmen <strong>und</strong> sich selbst ausschließlich als<br />

Mode behaupten, sind es häufig nur aufblitzende Ereignisse, in denen<br />

sich eine Poprichtung manifestiert. Gleichwohl wird die bisherige<br />

Kulturgeschichte als Baukasten <strong>und</strong> Steinbruch benutzt, um Moden<br />

ständig zu aktualisieren. Gerade weil dieser Zugriff auf Geschichte nicht<br />

<strong>der</strong> herrschenden Idee chronologischer Erzählung entspricht, haben<br />

durch die Popkultur gerade die unterprivilegierten Gruppen <strong>der</strong><br />

Gesellschaft sich kulturell behaupten können, indem sie vermittels des<br />

Pop ihre Geschichte geltend machten – zum Beispiel wurde durch den<br />

HipHop eine afroamerikanische Geschichte gestärkt. Solche<br />

Behauptungsversuche sind allerdings stets gefährdet <strong>und</strong> ihre<br />

rebellische Kraft kann leicht in den Mainstream integriert werden, da es<br />

sich in <strong>der</strong> Regel nur um symbolischen Wi<strong>der</strong>stand handelt, <strong>der</strong> sich<br />

hier kulturell ausdrückt. Nachdem sich in den letzten dreißig Jahren die<br />

Popkultur fest etabliert hat, zeigt sich, dass es auch zu<br />

25 Vgl. Susan Sontag, Camp, Frankfurt am Main 1987; sowie: José Ragué Arias,<br />

Pop. Kunst <strong>und</strong> Kultur <strong>der</strong> Jugend, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 9.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 16<br />

Gegenbewegungen kommen kann, <strong>und</strong> kultureller Abfall des<br />

Mainstream neu codiert wie<strong>der</strong> in den Kreislauf gebracht wird. Dadurch<br />

stellt sich eine subversive Popkultur gegen das Diktat <strong>der</strong> Mode;<br />

paradoxerweise wird mit diesem Vorgehen allerdings selbst eine neue<br />

Mode gezeitigt, die mittlerweile auch schon von <strong>der</strong> Werbung als<br />

Stilmittel aufgegriffen wird: da die Popkultur selbst kaum über<br />

künstlerische Inhalte verfügt, <strong>und</strong> die Inhalte <strong>der</strong> bürgerlichen Kultur<br />

obsolet geworden sind, muss sie sich beständig wie<strong>der</strong>holen. Die<br />

elektronische Popmusik – von Techno bis Twostep – die die neunziger<br />

Jahre bestimmte, hat zwar die Formsprache des Pop erweitert, inhaltlich<br />

aber kaum neues Material geliefert. So zeigt sich in <strong>der</strong> Mode am Ende<br />

<strong>der</strong> neunziger Jahre erstmals <strong>der</strong> Effekt gleichzeitiger Wie<strong>der</strong>kehr<br />

vergangener Moden <strong>der</strong> Sechziger, Siebziger <strong>und</strong> Achtziger.<br />

P o p i m 2 1 . J a h r h u n d e r t –<br />

e i n R ü c k b l i c k<br />

Damit zeigt sich auch das mögliche Ende <strong>der</strong> Phase <strong>der</strong> Popkultur.<br />

Diedrich Die<strong>der</strong>ichsen spricht von einem Wandel von »Pop I«, dem<br />

spezifischen Pop als »Gegenbegriff zu einem eher etablierten<br />

Kunstbegriff«, zu »Pop II«, dem allgemeinen o<strong>der</strong> verallgemeinerten<br />

Pop. 26 Für subversive Ansätze innerhalb <strong>der</strong> Popkultur wird es<br />

zunehmend schwieriger, sich zu behaupten; ihnen fehlt zugleich auch<br />

eine politische Basis – etwa progressive Jugendkulturen. Statt dessen<br />

wie<strong>der</strong>holt sich in <strong>der</strong> Popkultur das, was Marcuse für die bürgerliche<br />

Kultur ihren »affirmativen Charakter« nannte: <strong>der</strong> Pop erlaubt es den<br />

Individuen, sich zumindest »symbolisch« in <strong>der</strong> Welt zu behaupten;<br />

Pop ist nunmehr <strong>der</strong> perfekte <strong>Illusion</strong>sapparat, dessen repräsentative<br />

Gewalt (die Mode, die Reklame) soweit in den Alltag <strong>der</strong> Einzelnen<br />

vorgelassen wird, dass je<strong>der</strong> Riss, <strong>der</strong> die <strong>Krise</strong> andeutet, zugleich<br />

verdeckt wird. Benjamin schloss seinen ›Kunstwerk‹-Aufsatz mit <strong>der</strong><br />

Formel, dass <strong>der</strong> Ästhetisierung <strong>der</strong> Politik eine Politisierung <strong>der</strong> Kunst<br />

entgegen gesetzt werden müsste; heute hat sich die ästhetisierte Politik<br />

26 Diedrich Die<strong>der</strong>ichsen, Der lange Weg nach Mitte. Der So<strong>und</strong> <strong>und</strong> die Stadt,<br />

Köln 1999, S. 275.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 17<br />

durchgesetzt, die Popkultur ist von <strong>der</strong> Politik durchdrungen: die<br />

politische Symbolik ist ebenso austauschbar ist wie die politische<br />

Haltung <strong>der</strong> Konsumenten – aber sie ist politisch. Dennoch ist die Kunst<br />

<strong>der</strong> Popkultur entpolitisiert, privatisiert <strong>und</strong> individualisiert.<br />

Subkulturen sind Moden, Effekte <strong>der</strong> auf Sensation bedachten Reklame,<br />

<strong>und</strong> auch ökonomisch profitiert die Kulturindustrie von den<br />

alternativen Experimenten in <strong>der</strong> Peripherie des Mainstream – die<br />

sogenannten Indie-Labels, unabhängige, kleine Plattenfirmen, dienen<br />

den Majors, <strong>der</strong> großen Plattenindustrie, als kostengünstiges<br />

Versuchsfeld. Kurzum: Die Popkultur zu Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

ist zum ›Mainstream <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heiten‹ geworden. 27<br />

Hat sich nach knapp zweih<strong>und</strong>ert Jahren also Pestalozzis Verdacht<br />

bestätigt? O<strong>der</strong> ist die Popkultur, als Kulmination <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Kultur <strong>und</strong> Massenkultur, nicht vielmehr die Verwirklichung eben <strong>der</strong><br />

Individualkultur, als krude Offenbarung <strong>der</strong> <strong>Illusion</strong> vom Individuum?<br />

Die bürgerliche Kultur hat es samt ihrer Avantgarden nicht vermocht,<br />

eine emanzipatorische Perspektive zu realisieren; mittlerweile empfängt<br />

sie ihre wichtigsten Impulse aus <strong>der</strong> Popkultur (man denke an die<br />

Inszenierung <strong>der</strong> documenta X). Ob die Popkultur in ihren Nischen noch<br />

ein subversives Potential birgt, entscheidet sich in den Nischen selbst –<br />

ästhetisch progressive Tendenzen können sich nur dort zur<br />

»kulturrevolutionären« Kraft entwickeln, wo Menschen sie in Praxis<br />

umsetzen. Dafür bietet die Popkultur jedoch genauso wenig wie je schon<br />

die Massenkultur Bedingungen, unter denen sich ein solches Potential<br />

praktisch konkretisieren könnte. Im Schatten <strong>der</strong> vermeintlichen, da<br />

lediglich auf die Massen quantitativ bezogenen Demokratisierung <strong>der</strong><br />

Massenkultur stand von Anbeginn das Zerrbild je<strong>der</strong> Kultur, die<br />

Regression, <strong>der</strong> Ausschluss <strong>und</strong> die Unterdrückung. Es hat über ein<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert gebraucht, bis <strong>der</strong> Rassismus, <strong>der</strong> Nationalismus <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

27 Vgl. Mark Terkessidis u. Tom Holert (Hg.), Mainstream <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heiten.<br />

Pop in <strong>der</strong> Kontrollgesellschaft, Berlin 1996, insbes. die Einführung in den<br />

Mainstream <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heiten, S. 5–19, <strong>und</strong> Ruth Mayer, Schmutzige Fakten, S.<br />

153–168. Vgl. ferner: Dick Hebdige, Wie Subkulturen vereinnahmt werden, in: Karl<br />

H. Hörning u. Rainer Winter, Wi<strong>der</strong>spenstige Kulturen. Cultural Studies als<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung, Frankfurt am Main 1999, S. 379–392.


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 18<br />

Sexismus <strong>der</strong> Massenkultur wahrgenommen wurde – <strong>und</strong> schon ist das<br />

Kokettieren mit <strong>der</strong> Menschenverachtung zum Programm geworden, als<br />

sei die Massenkultur immer schon auf <strong>der</strong> sicheren Seite <strong>der</strong> Humanität<br />

gewesen <strong>und</strong> könne den Humor gut vertragen (zum Beispiel<br />

Musikgruppen wie Rammstein). – Tatsächlich wurde in den Vereinigten<br />

Staaten die Unterscheidung von »highbrow« <strong>und</strong> »lowbrow« auf <strong>der</strong><br />

Gr<strong>und</strong>lage rassistischer Physiognomie eingeführt, <strong>und</strong> gegen die<br />

niedrigstirnigen Schwarzen spielte man Wagner. Noch heute ist die<br />

Popkultur durchgängig von Frauenfeindlichkeit geradezu definiert, <strong>und</strong><br />

dass <strong>der</strong>zeit ausgerechnet Neonazis sich als Popkultur präsentieren,<br />

verweist nicht auf <strong>der</strong>en subversive Qualität, son<strong>der</strong>n auf die nahtlose<br />

Anschlussfähigkeit an den dafür offenbar perforierten Mainstream.<br />

Allein in dieser Hinsicht können die positiven Aspekte <strong>der</strong><br />

Massenkultur gar nicht genug unterschätzt werden. Wenn<br />

Demokratisierung heißen soll, dass heute in den reichen<br />

Industrielän<strong>der</strong>n Alle einen Fernseher haben, dann unterstellt das eine<br />

Kontinuität in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Massenkultur, die selbst schon zu<br />

ihrer großen <strong>Illusion</strong> dazugehört. Dass die Massenkultur ihren größten<br />

Entwicklungsschub in demokratischen Län<strong>der</strong>n erfuhr, darf über ihren<br />

gr<strong>und</strong>sätzlichen antidemokratischen Charakter nicht hinweg täuschen,<br />

<strong>der</strong> mit Zensur <strong>und</strong> Verboten (etwa <strong>der</strong> Production Code,<br />

Kommunistenverfolgung vor allem in Hollywood) ebenso namhaft zu<br />

machen ist wie durch die Arbeitsbedingungen, die in <strong>der</strong><br />

Kulturindustrie freilich genauso schlecht sind wie überall.<br />

Unbeschadet hat die Massenkultur sich trotz zweier Weltkriege<br />

kontinuierlich fortentwickelt. Die <strong>Krise</strong> durchbricht die Normalität des<br />

Lebens, die Massenkultur zugleich verspricht – das ist ihre größte<br />

<strong>Illusion</strong>, auch weil solches Normalitätsversprechen zurückschlägt zur<br />

sozialen Gewalt, die Michel Foucault »Normierungsmacht« nannte.<br />

Auschwitz führte zum Umschlag <strong>der</strong> Kultur in die Barbarei, so <strong>der</strong><br />

Bef<strong>und</strong> <strong>der</strong> ›Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung‹; war durch den Massenmord<br />

je<strong>der</strong> Rest des bürgerlichen Kulturideals diskreditiert, so ist <strong>der</strong><br />

ideologische Wie<strong>der</strong>aufbau, als ob nichts geschehen wäre,<br />

massenkulturell geleistet worden. – »Millionen Juden sind ermordet<br />

worden, <strong>und</strong> das soll ein Zwischenspiel sein <strong>und</strong> nicht die Katastrophe


<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> <strong>Illusion</strong> | 19<br />

selbst. Worauf wartet die Kultur eigentlich noch?« 28 – Die gegenwärtige<br />

Kultur schämt sich nicht, diese Frage Adornos aus den ›Minima Moralia‹<br />

hämisch zu beantworten: auf die nächste Mode.<br />

28 Adorno, Minima Moralia, in: Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt am Main<br />

1997, S. 63 f.

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